Das Schweigen hat ein Ende von lulubluelau (Ein Hiwatari hält sein Wort) ================================================================================ Prolog: Die Hatz ---------------- Der Schuss dröhnte nach wie vor in seinen Ohren. Sein Herz raste und seine rechte Schulter pochte dumpf unter dem gleissend scharfen Schmerz der frischen Schusswunde. Seine Beine, seine Lungen; seiner ganzer Körper war auf das Gelingen dieser Flucht ausgelegt. Alles, ja wirklich alles hing davon ab.   Er hetzte durch ein Gewirr von schmalen Gassen mit hohen, dunklen Wänden. Nicht unweit hinter sich vernahm er seine Treiber, deren Rufe und schweren Schritte laut an den Wänden wiederhalten. Kraftvoll wetzte er um eine enge Biegung und hielt sich dabei haltsuchend an der inneren Mauer fest, als er unverhofft ins Schlittern kam.   Komm schon. Weiter. Schneller.   Verbissen trieb er sich voran. Bald schon hätte das elende Versteckspiel ein Ende. All den Aufwand, welchen er dafür auf sich genommen hatte, durfte und konnte nicht umsonst gewesen sein. Nicht heute. Nicht jetzt.   Er entkam dem Labyrinth der schmalen, tückischen Gassen, als er sich, mit einem gewagten Sprung, über eine Gruppe stinkender Mülltonnen hinwegsetzte und unmittelbar in die Mündung eines belebten Bürgersteigs stiess. Grob kollidierte er dabei mit einem Mann mittleren Alters, dessen schwarzer Regenschirm unheilvoll über seinem Kopf schwebte, wie die nassen Schwingen eines todbringenden Raben. Klar und deutlich hörte er die wüsten Beschimpfungen die nur seiner Person galten, und doch war er in der gerade herrschenden Situation aus Getriebenheit, Hektik und unermesslichem Stress unfähig auch nur ein einziges Wort in sich aufzunehmen. Energisch und mit aller ihm verbleibenden Kraft, entriss er sich dem harschen Griff des empörten, schimpfenden Mannes und blickte dessen wütendem Augenpaar fiebrig entgegen. Sein rechter Arm war schon fast gänzlich taub.   Die Hetzjagd und dieser unglaublich präsente Schmerz in seiner Schulter zehrten schwer an seinen körperlichen Ressourcen, was auch sein Gegenüber im Bruchteil einer Sekunde plötzlich zu erkennen schien. Der Mann stockte, sah an ihm hinunter und blieb mit den Augen an seiner rechten Hand hängen, die, zu seinem eigenen Entsetzen, im Blut getaucht war.   Scheisse, ich werde verbluten. Durchfuhr in ein plötzlicher, schrecklicher Gedanke.   Er schwankte, fühlte wie sein Adrenalinpegel beim Anblick des vielen Blutes schlagartig abfiel und ihm im Austausch dafür eine gebündelte Ladung körperlichen Schmerzes entgegen geschmettert wurde, die ihn, für einen kurzen Moment, fast in die Knie zwang. Sein Gegenüber öffnete den Mund und sprach zu ihm, diesmal leiser, eine Spur wärmer aber auch bedeutend zaghafter. Ganz kurz verschwamm seine Sicht. Er blinzelte, torkelte 1, 2 Schritte rückwärts und wurde erneut am Arm ergriffen. Seine Sicht kehrte in dem Moment zurück, als seine Ohren das laute Scheppern auf den Boden krachender Mülltonnen vernahmen. Hektisch blickte er über seine Schulter und entriss sich dabei dem zaghaften Griff des Mannes, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Sie hatten ihn eingeholt. Die Einsicht kam schnell. Kreidebleich sah er sich seinem Ende gegenüber; Ein Mann, eine Handfeuerwaffe und er selbst, das Ziel.   Nein. Nicht jetzt. Oh bitte.   Ein ohrenbetäubender Knall versetzte die Passanten um ihn herum in blanke Panik. Sein Gehör wurde von einem einzigen lauten Pfeifen dominiert, welches keine anderen Geräusche mehr zuliess. Er fuhr herum, weg von der Gasse. Er stiess eine vor Schreck versteinerte Frau zu Boden und fiel hart auf die Knie, nur um sich gleich darauf sofort wieder aufzurappeln. Er hinkte, schlug die bedrohlich schwarzen Regenschirme zur Seite und hastete so schnell er konnte über eine rege befahrene Querstrasse während er ein allerletztes Mal über seine Schulter zurückblickte. Und dann war da nur noch Stille.   Von einem Moment auf den anderen verlor er jegliches Gefühl von festem Boden unter seinen Füssen. Nur ganz, ganz weit entfernt vernahm er das grollende Donnern von Blech auf Blech als er, wie eine Puppe, durch die Luft geschleudert wurde. Keine Schreie, keine Menschen. Nach einer schier endlosen Schwerelosigkeit, gepaart mit vollkommener Orientierungslosigkeit, war der dumpfe Aufprall seines Hinterkopfes auf dem nassen, rauen Asphalt das Einzige was er wahrzunehmen glaubte. Augenblicklich zog sich die Nässe in seine Kleidung. Kalte Regentropfen prasselten auf sein Gesicht, wobei er intuitiv blinzelte, als diese seine Augen trafen. Geblendet vom gelblichen Scheinwerferlicht eines stehenden Wagens war er so gut wie blind. Er schnappte nach Luft, welche ihm durch den plötzlichen Aufprall auf den Boden weggeblieben war. Er keuchte. Seit wann war Atmen nur so schwer?   Den Blick starr in den nächtlichen, wolkenverhangenen Himmel gerichtet, lauschte er einer plötzlichen und von Sekunde zu Sekunde dominanter werdenden, faszinierenden Ruhe. Es fröstelte ihn, als er seine Augen schloss und seine Lippen bei einem weiteren kläglichen Versuch tief einzuatmen, stark erzitterten. Die dumpfen Laute um ihn herum verstummten, ebenso wie das gleichmässige Prasseln des kalten Regens. Seine Sinne zogen sich in sein tiefstes Inneres zurück und liessen ihn in einer schier luftleeren Blase der Ruhe, der unsäglichen Müdigkeit und einer vollkommenen Schmerzfreiheit zurück, die keine klaren Gedanken mehr zuliess. Dann kam die Kälte. Nur noch Kälte.     Kapitel 1: Schlagzeilen ----------------------- Sechs Jahre war es nun her. Sechs lange Jahre seit der ersten gewonnenen Weltmeisterschaft der BBA Revolution und des darauffolgenden, für die Medienwelt völlig unerwarteten Rücktritts aller Blade Breakers der ersten Stunde. Alle vier hatten sie ihren ganz persönlichen Zenit im wohl populärsten Sport ihrer Jugendzeit erreicht und waren zu diesem Zeitpunkt die unangefochtene Elite im Beyblade, auch wenn sie an ihrer letzten Meisterschaft nicht als Team angetreten waren. Jeder von ihnen war hochtalentiert, nahezu unbezwingbar und zeigte immer ein Höchstmass an Respekt vor den Gegner.   Ihre Spielweise hatte sie zu einem Phänomen gemacht, weshalb sie für den Sport bereits in kürzester Zeit unentbehrlich geworden waren. Die Entscheidung aufzuhören, war ihnen alles andere als leicht gefallen und doch hatten sie sich einstimmig zu ihrem gemeinsamen Rücktritt entschieden – ganz zu Mister Dickensons Missfallen. «Schade, schade …» waren die wenigen Worte gewesen, welche die unsägliche Trauer über den definitiven Rücktritt seiner Jungs hatte vermitteln sollen. Zu mehr war der ältere Herr einfach nicht im Stande gewesen. Auch andere wie die PPB All Starz und die White Tigers verstanden die Entscheidung ihrer wohl wertvollsten Spieler nicht gänzlich, andere wiederum folgten ihrem Beispiel. So löste sich unmittelbar nach der Verkündigung der Blade Breakers auch das russische Team der Blitzkriegboys auf.   Der Sport veränderte sich von einem Tag auf den anderen und schuf Raum für neue Talente. Doch auch nach sechs verstrichenen Jahren, schien der Sport nie mehr solch eine Popularität und Klasse erlangt zu haben, welche diese talentierten Spieler ihm einmal eingehaucht hatten.   Sie waren als Freunde, sehr gute Freunde mit dem Versprechen, ihre Verbindungen zueinander zu pflegen, auseinandergegangen. Doch wie sehr sie ihre Freundschaft in den ersten beiden Jahren auch unterhielten, so abrupt versandete der Kontakt als das reale Leben anklopfte und neue Zeiten anbrachen. Sportprofi hin oder her, nach einer dreijährigen Lebensphase als Star, waren Studien- und Berufswahl weit schwieriger als erwartet. Jeder sah sich seinen eigenen, neuen Problemen gestellt, und das diesmal ohne unterstützendes Team. Auch ihre zeitweise lange Schulabwesenheit zahlte ihren Tribut, wodurch es manche von ihnen bedeutend schwieriger hatten, mit dem verlangten Niveau des Unterrichtstoffs mitzuhalten.   Ihr letztes Treffen lag nun schon rund vier Jahre zurück. Es war die letzte Zusammenkunft gewesen, an welcher sich alle Teammitglieder an ein und demselben Ort eingefunden hatten. Alle waren sie der Einladung Reis gefolgt und hatten ihn für eine Woche inmitten der wunderschönen Berglandschaften seines Heimatdorfs in China besucht. Ein Jahr zuvor hatte es sie in die Südstaaten der USA verschlagen, wo Max, seit der Beendigung ihrer Profisportkarriere, sein Medizinstudium im Sonnenstaat Florida begonnen hatte. Ein halbes Jahr davor hatten sie einige Tage bei Takao verbracht und wie in alten Zeiten im Dojo seines Grossvater logiert. Doch nie, wirklich nie hatten sie es zu Stande gebracht, der Einladung Kais nachzukommen und ihn im dritten Jahr ihres sportlichen Ruhestands in Russland zu besuchen.   Pläne wurden stetig aufs neue verschoben und ganz andere Dinge wie Semesterprüfungen, ein neuer Job oder eine frische Beziehung genossen ihren Vorrang. Selbst die einfachste Kommunikation des digitalen Zeitalters wurde durch Zeitverschiebungen und private Privilegien zu einer Unmöglichkeit, und aus Freundschaft wurde schlussendlich Selbstverständlichkeit.   Aus den Augen, aus dem Leben. Sie vergassen sich, vergassen den Wert ihrer Freundschaft und die Probleme mit denen die jeweils anderen sich herumschlugen. Kein Dialog, nur noch Monolog. Ihrem kläglichen Versagen wurden die ehemaligen Blade Breakers jedoch erst bewusst, als eine furchtbare und zutiefst erschütternde Schlagzeile die internationale Sportwelt aufrüttelte und sie realisieren liess, dass die neu gewonnene Einsicht über ihr Versagen wohlmöglich viel zu spät gekommen war.   —   Dreifacher Beyblade Vize-Weltmeister und ehem. Kapitän der Blade Breakers Kai Hiwatari (24) bei tragischem Unfall schwer verletzt. Aktueller Gesundheitszustand unklar. Fremdeinwirkung der Polizei zufolge auszuschliessen.   Sport, Seite 11   —   Vor Entsetzen hielt Manabu die Luft an und liess seinen Coffee-To-Go auf dem belebten Bürgersteig vor dem Kiosk fallen, als seine Augen vollkommen beiläufig an besagter Schlagzeile auf der Frontseite der Tageszeitung Yomiuri Shimbun hängen blieben. Gleich darüber ein Porträt von Kai, welcher ihm mit arrogantem Blick entgegensah.   «Passen Sie doch auf!» empörte sich eine Frau im Businesslook, deren hohe Stilettos er unweigerlich mit seinem Kaffee besudelt hatte. Der Schock über das gerade Gelesene sass ihm so tief in den Knochen, dass seine sonst so guten Manieren kurzerhand auf der Strecke blieben. Er riss die Zeitung förmlich aus dem Zeitschriftenständer und schubste die schimpfende Frau im Vorbeigehen, wohl eher aus Zerstreutheit als mit Absicht, zur Seite und trat zielstrebig an den Tresen des warm eingekleideten Verkäufers heran. Auch Manabu klebte seine Hose, dank der verschütteten, brauen Plörre, an den Beinen. «Wollen Sie vielleicht noch einen Kaffee?» erkundigte sich der bärtige Mann hinter der Theke, wobei sein Atem durch die frühwinterliche Kälte als weisse Wolke in den grauen Himmel Tokios empor stieg.   Kommentarlos klatschte Manabu die Zeitung auf den Verkaufstresen und grub dabei mit tiefsitzender Brille in der Innentasche seines olivgrünen Mantels. Klimpernd fiel die Hälfte seines Kleingelds auf den Boden, während er dem Verkäufer die andere Hälfte in die Hand drückte. «Den Rest behalten Sie.» überging er die Frage des Verkäufers, klemmte sich die Zeitung unter den Arm und marschierte mit grossen Schritten weg vom Kiosk, weg von der angrenzenden Bushaltestelle von wo aus er zur Arbeit hatte fahren wollen und weg von der zeternden Frau und ihren hohen Stilettos.   Er überquerte die belebte Hauptstrasse, zog sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und führte es zu seinem Ohr. «Dizzy, bitte ruf für mich im Büro an und sag für heute alle Kundentermine ab, es ist etwas schreckliches passiert.» sprach er mit matter, abwesender Stimme. «Wird sofort erledigt Chef.»   Gerade noch so wich er einem herannahenden Radfahrer aus, welcher ihn im Vorbeifahren energisch und laut fluchend zurechtwies. Auf der anderen Strassenseite angelangt, rückte er seine Brille zurecht und strich sich, mit dem Blick starr gegen Himmel gerichtet, fahrig durch die wilden, brauen Haare. Einen Moment lang hielt er inne, griff erneut zu seinem Mobiltelefon und stöberte zielstrebig in den Kontaktdaten. Er wählte und zögerte ein allerletztes Mal, ehe er das Mobiltelefon erneut zu seinem Ohr führte. Mit der freien Hand entfaltete er derweil die Titelseite der Yomiuri Shimbun und musterte Kais Porträt ein weiteres Mal voller Unglauben.   «Takao, ja, ich bin’s. Ich weiss, es ist viel zu lange her. … Hör zu, ich möchte dich nicht überrumpeln aber wir müssen reden, dringend. … Am besten sofort. …»     Kapitel 2: Anrufe in Abwesenheit -------------------------------- Schwer seufzend schloss Hiromi ihre Augen und massierte sich mit den Fingerkuppen ihre leise pochenden Schläfen. In der Abteilung herrschte eine rege Betriebsamkeit, so wie es in einem Grossraumbüro eben üblich war. Weit über 80 Menschen auf engstem Raum, die Hälfte davon so gut wie kontinuierlich telefonierend, derweil die Anderen laut und ununterbrochen mit- und übereinander redeten. Wie um Himmels Willen sollte sie sich also konzentrieren können, wenn sie bei dieser Lautstärke noch nicht einmal ihr eigenes Wort verstand? Und nebst alledem drückte ihr auch noch diese unmögliche Deadline für heute Nachmittag aufs Gemüt.   Als sie sich die Worte ihrer Kommunikationschefin in Erinnerung rief, verspürte sie ein vielsagendes und gemeines Piksen in ihrer Magengegend. Würde sie die Arbeit heute Nachmittag nicht abliefern können, so würde sie Morgen unausweichlich wieder mit ein und demselben Auftrag konfrontiert werden – ganz zu schweigen von dem Ärger den sie sich mit dem Nichteinhalten des Abgabetermins einhandeln würde. Ihre Devise für heute war folglich schnell und einfach definiert: Augen zu und durch.   Sich innerlich Mut zusprechend, hörte sie den Vibrationsalarm ihrer Mobiltelefons erst, nachdem bereits mehrere Sekunden verstrichen waren. Unvermittelt schrak sie aus ihren Gedanken auf, hob ihre Tasche vom Boden hoch auf den Schoss und durchwühlte die Seitenfächer mit ungeahnter Hektik.   Erfolgreich gefunden, hielt sie ihr Mobiltelefon zunächst jedoch erst mal mit einem wunderlich fragenden Blick in den Händen. «… Takao?» murmelte sie in Gedanken mit sich selbst redend. Er war einer dieser wenigen Menschen, von denen sie nie und nimmer einen Anruf erwarten würde.   Den eingehenden Anruf verdutzt betrachtend, zögerte sie einen Moment, ehe sie das Mobiltelefon wieder zur Seite legte und ihren Blick auf den Bildschirmmonitor vor sich richtete. Sie hatte keine Zeit zum plaudern, dafür hatte sie just in diesem Moment einfach viel zu viel zu tun. Kurz noch blieb sie mit ihren Gedanken bei ihrem alten Schulfreund hängen, immerhin war es schon gut drei Jahre her, seit sie das letzte Mal in Kontakt gestanden hatten.   So schnell wie die Gedanken gekommen waren, schüttelte sie diese aber auch wieder ab und fand sich sogleich in ihrem Berg aus Arbeit wieder. Es dauerte jedoch gerade mal fünf Minuten, da wurde sie in ihrer neu erlangten Konzentration erneut von einem eingehenden Anruf gestört. Ein kurzer Blick bestätige, dass es schon wieder Takao war. Sie ignorierte den Anruf gekonnt, doch kaum wurde die Sprachbox aktiviert, kam auch schon der nächste Anruf rein.   Sie schnaubte – seine Hartnäckigkeit verärgerte sie schon jetzt. Begriff Takao denn nicht, was es zu bedeuten hatte, wenn jemand seinen Anruf mal nicht direkt entgegennahm? Sie rollte mit den Augen und versuchte sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren.   Typisch Takao. Als aber nach weiteren fünf Minuten der nun schon siebte Anruf bei ihr einging, riss ihr dann schliesslich doch der Geduldsfaden. Sie schnappte sich das Mobiltelefon vom Tisch und wollte den Anruf gerade mit einem bissigen «Was?!» entgegennehmen, da stand ihre Kommunikationschefin, wie aus dem nichts, plötzlich neben ihr und musterte Hiromi mit einem abschätzenden Blick. «Liebe Hiromi, bist du nicht auch der Meinung, dass es zielführend wäre, wenn du dich nun umgehend um die Präsentationsvorlagen für heute Nachmittag kümmern würdest? Ich vertrete nämlich die Meinung, dass private Angelegenheiten definitiv nichts an deinen Arbeitsplatz zu suchen haben.»   Das sass. Mit gesenktem Blick legte Hiromi ihr Mobiltelefon zurück auf die Tischfläche und schaute mit ehrlich beschämtem Gesichtsausdruck zu ihrer Vorgesetzten hoch. «Bitte entschuldigen Sie meine Nachlässigkeit, Frau Yamamoto. Ich werde mich sofort an die Arbeit machen.» Und als wäre die Demütigung nicht schon gross genug gewesen, rief Takao sie in exakt diesem Moment ein achtes Mal an. Mit strengem Blick fixierte ihre Vorgesetzte das penetrant vibrierende Mobiltelefon, ehe sie sich auf dem Absatz umkehrte und sich von Hiromis Arbeitsplatz entfernte.   Hiromi selbst, durch die harsche Zurechtweisung von Frau Yamamoto gekränkt und zeitgleich ziemlich verärgert, drückte Takaos Anruf einfach weg.       Was will der überhaupt?! Dachte sie wütend.   Und noch bevor Takao überhaupt ein weiteres Mal anrufen konnte, aktivierte Hiromi den Flugmodus und legte das Mobiltelefon kurzerhand zurück in ihre Tasche. Schulfreund hin oder her, sie hatte zu tun und er musste nun erst mal hinten anstehen. Und jetzt mal ehrlich, Takao konnte doch wohl nicht ernsthaft von ihr erwarten, dass sie ihm nach drei Jahren totaler Funkstille sofort ihr Ohr leihen würde, wenn er plötzlich auftauchte und etwas von ihr wollte, oder?  Sie seufzte. Sie kannte Takao und seine Ungeduld, und ja, sie hatten sich deswegen schon oft genug in den Haaren gelegen. Doch trotz ihres Ärgers war sie nicht in der Lage, das ungute Bauchgefühl über diesen plötzlichen, sprichwörtlichen Telefon-Terror komplett beiseitelegen.   —   Der Morgen im Grossraumbüro war grauenerregend gewesen, der Nachmittag noch weit schlimmer, und als Hiromi gegen 19 Uhr endlich Feierabend hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als auf dem schnellsten Weg nach Hause zu gehen und in ihren wohligen Trainer zu schlüpfen. Als sie aus der grossen Eingangshalle des 14-stöckigen Bürogebäudes heraustrat, wurde sie von den ersten Schneeflocken des frühen Winters überrascht. Frech zerrte der Wind an ihrer Jacke, woraufhin sie diese noch ein wenig enger um ihren Körper schlang.   Wie jeden Tag waren auch heute viele Menschen auf den abendlichen Strassen Tokios unterwegs und einige von ihnen hatten das gleiche Ziel wie Hiromi, die nächstgelegene U-Bahnstation nur wenige Strassen von hier.   Sie setzte sich in Bewegung und in der Hoffnung eventuell eine gute Anschlussverbindung zu finden, fischte sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und stellte sogleich überrascht fest, dass sie den Flugmodus aktiviert hatte.   Stimmt, Takao hat heute früh angerufen. Schoss es dir durch den Kopf.   Sie deaktivierte den Flugmodus und schaute im nächsten Augenblick äusserst ungläubig wenn nicht gar ziemlich verdattert drein.   43 Anrufe in Abwesenheit?! Du meine Güte!   Und zusätzlich noch stolze drei Nachrichten auf ihrer Sprachbox. Sie schlug sich die Hand vor die Stirn und schüttelte den Kopf. Ihr Ärger von heute Vormittag war mit einem Male zurückgekehrt. Ja, Takao und die Geduld, dass war eine Sache für sich, aber das hier schlug nun wirklich alles.   Sie beschloss zuerst die Sprachbox abzuhören ehe sie ihn zurückrufen würde, vielleicht hatte sich sein Anliegen ja schon lange erledigt. Sie führte das Mobiltelefon zu ihrem Ohr und hob augenblicklich die Augenbrauen, als sie Takaos wohlbekannte Stimme hörte, welche jedoch anders als gewohnt, mit einer unüberhörbaren Unruhe durchsetzt war.   9:02 Uhr «Hey Hiromi, ich bin’s Takao. … Du hör mal, ruf mich doch bitte zurück wenn du das hier hörst, ja? Es ist total dringend. … Danke dir.»   11:24 Uhr «Seufz… Hiromi, ich weiss du hast bestimmt viel los, aber du musst mich unbedingt zurückrufen … es ist wirklich, wirklich dringend hörst du. …»   Schrittweise verlangsamte Hiromi ihren Gang, auch wenn wohl eher unbewusst. Takaos Stimme hatte sie hellhörig gemacht. Was war da bloss passiert, dass er so neben sich zu stehen schien? Irritiert runzelte sie die Stirn, als sie die dritte und letzte Nachricht auf der Sprachbox abspielte.   17:37 Uhr «… Hiromi hör mal … ich weiss nicht recht wie ich dich erreichen soll … habs den ganzen Tag versucht und bin irgendwie grad am Ende mit meinem Latein … tut mir leid. Ich, ich wollte dir das wirklich persönlich sagen, aber da ich nicht weiss, wann und ob ich dich heute überhaupt noch erreiche, hoffe ich, dass du zumindest deine Sprachbox abhörst. … Ich weiss auch nicht genau, aber vielleicht weisst du ja auch schon lange bescheid. …   Mit ehrlich besorgten Gesichtszügen lauschte sie jedem Wort, das Takao an sie richtete. Ihre Beine hatten aufgehört sie voranzutragen. Inmitten einer bewegenden Menschenmasse, wartete sie bangend auf die nächsten Zeilen.  … In der Yomiuri Shimbun, da, da war heute ein Artikel auf der Titelseite … und in dem stand … da stand drin, dass Kai, also unser Kai, du weisst schon wen ich meine … er, ja also er hatte einen, einen schweren Unfall. … Keine Ahnung, Manabu hat den Artikel heute gesehen und das Ganze gleich auf seine Gegebenheiten überprüft. … Frag mich nicht wie, aber er hat Yuriy in Russland erreicht und der, ja der hat … hat es bestätigt. …   Was folgte war eine lange, lange Stille. Takao schluckte schwer und kämpfte hörbar mit seinen Emotionen.   … M-Manabu und ich, wir t-treffen uns heute Abend im Suke6 Dinner und wollen besprechen, ob wir nach Russland aufbrechen sollen. … W-wir alle, wir waren mal das beste Team der Welt u-und du hast auch dazu gehört. Deswegen wollte ich dich einfach informieren und ja … b-bitte ruf mich doch k-kurz zurück wenn du das hier abhörst, o-okay? …   Takaos Schluchzen war herzzerreissend. Hiromis Augen waren derweil mit dicken Tränen gefüllt, ihre Hand vor Schock und Ungläubigkeit vor ihrem Mund platziert.   … E-entschuldige Hiromi. …»   Und dann war es still.   «Oh Gott, nein. Bitte nicht.» wisperte sie leise, als sie ihre Stimme wieder fand. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Allesamt mussten sie sich getäuscht haben.   Wie aus dem nichts, stiess ein mit schnellen Schritten hinter ihr herannahender Passant im Vorbeigehen grob und völlig unvermittelt mit ihr zusammen, wodurch ihr das Mobiltelefon aus ihrer erstarrten Hand glitt. Trotz des tiefsitzenden Schocks über die eben gehörten Worte reagierte sie sofort und ging in die Knie um das Gerät vom kalten Asphalt hochzuheben. Die böse Bemerkung des anderen Passanten entging ihr dabei gänzlich.   Durch den unbarmherzigen Aufprall auf den Boden, war das Display ihres Mobiltelefons unweigerlich zu Bruch gegangen. Wie dicke Lebensadern zogen sich die langen Risse über den gesamten Touchscreen.   Immer noch am Boden kniend öffnete sie die News-App der Yomiuri Shimbun und fügte Kais Vor- und Nachnamen fast schon routiniert aber mit zittrigen Fingern in das Suchfeld der Benutzeroberfläche ein. Ihre Suche ergab einen einzigen Treffer.   Unaufhaltsam rollten dicke Tränen über ihre geröteten Wangen, als ihr ihr Kai hinter dem geborstenen Display kühl entgegenblickte – direkt darunter die wohl schlimmste Schlagzeile, die sie in ihrem Leben je gelesen hatte.   Kapitel 3: AB Negativ --------------------- Monoton piepten verschiedenste, grosse sowie kleine Monitore ihren Takt, und versicherten Bryan damit, dass Kai noch immer am Leben war. Darüber hinaus war es still im Krankenzimmer. Und weiss. Und steril. Aber allen voran, war die Atmosphäre hier erdrückend. Sehr sogar.   Mit ineinander gefalteten Händen und den Ellenbogen auf den Knien abgestützt, wachte Bryan neben dem Krankenbett des Jüngeren. Für den Hünen selbst, glich es jedoch vielmehr einer Totenwache.   Kai hatte es arg erwischt und so sah er auch aus. Ungebremst hatte ihn der Personenwagen von den Beinen gerissen und ihn wohl wie eine Puppe durch die Luft geschleudert, ehe er auf dem Asphalt aufgeschlagen war. So zumindest, berichteten es die Medien.   Ein dicker Druckverband zierte Kais Stirn, welcher die grosse Platzwunde an seinem Hinterkopf geschlossen halten sollte. Hinzu kam eine gebrochene Schulter, mehrere schlimme Prellungen an den Beinen und am Torso, sowie eine beachtliche Menge gebrochener Rippen – doch das bei weitem Schlimmste an Kai, war seine Farbe.   Er war kreidebleich, ja zeitweise fast schon grau gewesen, wodurch seine Augenringe, welche von dunklem Violett bis hin zu Schwarz reichten, hart aus seinem Gesicht hervorstachen.   Er sieht aus, als wäre er schon einmal gestorben. Dachte sich Bryan und senkte bei diesem Gedanken seufzend den schweren Kopf.   Die letzten 36 Stunden waren unglaublich kräfteraubend gewesen. Unmittelbar nachdem sich der schwere Unfall ereignet hatte war Yuriy, als Kais nächststehende Person, über dessen Einlieferung in die Notaufnahme informiert worden. Umgehend waren er und Bryan zum Krankenhaus aufgebrochen. Es war die Hölle gewesen.   Durch die grosse Anzahl gebrochener Rippen, hatte Kai bereits in der Ambulanz künstlich beatmet werden müssen. Das Ärzteteam hatte ihn noch gerade so unter den Lebenden halten können. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, hatte er bei seiner Ankunft in der Notaufnahme bereits soviel Blut verloren, dass er dem Tod für kurze Zeit wohl näher gestanden hatte, als dem Leben. Ob Kai das wohl wusste?   Ein Glück besassen Kai und er die gleiche Blutgruppe – AB Negativ. Infolgedessen hatte Bryan in den letzten Stunden so viel Blut gespendet, dass er beinahe selbst das Bewusstsein verloren hatte – ganz zu Schweigen von seiner furchtbaren Angst vor Nadeln jeglicher Art.   Nun war es etwa 24 Stunden her, seit Kai aus der Notaufnahme entlassen und in sein Krankenzimmer verlegt worden war. Wie gross die Schäden waren, konnte Bryan nur abschätzen. Früher oder später würde der Arzt sie genauer über Kais Zustand informieren und hoffentlich, ja hoffentlich würde Kai schon bald aus diesem Koma erwachen, in welches er gefallen war. Dann könnte er ihnen immerhin erklären, was ihn dazu gebracht hatte, vor dieses verdammte Auto zu laufen.   Bryan seufzte. Kais Tat, blindlings über die Strasse zu hetzen, hatte ihm wohlmöglich den sicheren Tod erspart. Denn in einem waren Yuriy und er sich einig, dass das was Kai widerfahren war, zweifelsfrei kein Unfall gewesen war.   Trotz seiner überbordenden Müdigkeit, waren Bryans Sinne noch immer gespitzt und so hörte er Yuriys Stimme weit im Voraus und noch bevor dieser das Krankenzimmer überhaupt betrat.   «… Wenn du kommen willst, dann komm lieber schnell. Es sieht böse aus.» Yuriy beendete den Anruf abrupt und ohne jegliche Verabschiedung, als er das Krankenzimmer betrat und Bryan dabei vielsagend entgegenblickte. Auch Yuriys Haut hatte eine fahle Farbe. Ob er selbst wohl auch so beschissen aussah?   Seufzend liess Yuriy sein Mobiltelefon in die vordere Hosentasche gleiten und schritt an das Krankenbett heran, neben dem Bryan noch immer vorübergebeugt sass.   «So, es ist raus. Rei wird noch heute Abend in Moskau sein und die Anderen aller Wahrscheinlichkeit nach Morgen am späteren Nachmittag.»   Bryan brach den Blickkontakt ab und strich sich mit den Händen fahrig durch das kurze, struppige Haar. «Ich weiss nicht, ob das so eine gute Idee war Yuriy.» Sein Kopf pochte vor Schmerz und Übermüdung. «Was meinst du damit?» erwiderte Yuriy mit direkter Gegenfrage und band seine rote Haarpracht zu einem Dutt zusammen.   «Das weisst du ganz genau Yuriy. Du hängst das hier an die grosse Glocke. Was wenn noch mehr Leute kommen um Kai zu sehen? Was wenn die falschen Leute kommen? Was dann Yuriy?» Bryans Blick war vorwurfsvoll, die Stimme gesenkt, als er seinen Blick hob und dem Rothaarigen entgegensah.   «Ausser den Blade Breakers wird keiner kommen. Kai hat sich keine Freunde gemacht, auch nicht während der Weltmeisterschaften. Also hör auf dich aufzuregen. Manabu hat uns kontaktiert, schon vergessen?» Bryan schwieg, fühlte sich unverstanden und dass sah man ihm an. «Ausserdem haben sie ein Recht darauf ihn zu sehen, sie sind seine Freunde, Bryan.» setzte Yuriy nach.   Bryan war wütend und müde zugleich, doch allem voran war er voller Sorge. Energisch erhob er sich und trat zügigen Schrittes an Yuriy heran, welchen er um einen halben Kopf überragte. Gefährlich musterten ihn die eisblauen Iriden des Anderen – auch in Ihnen lag die Wut.   «Du weisst so gut wie ich, dass dies kein Unfall war …» zischte Bryan weit bedrohlicher, als gewollt. «… und wir haben bis zum jetzigen Zeitpunkt auch nur die geringste Einsicht über das, was Kai zugestossen ist.» Yuriy legte den Kopf leicht in den Nacken, und erwiderte Bryans Blick so mit einem Hauch von Arroganz.   «Darum sag mir Yuriy, wie hilfreich ist es dann, wenn wir noch andere mit da reinziehen, obgleich wir uns über das Ausmass dieser Tat momentan noch in keinster Weise im klaren sind?». Bryans Blick konnte töten, und als Yuriy einen Schritt zurück machte um Abstand zwischen sich und den Hünen zu bringen, griff dieser grob nach seinem Arm.   Energisch befreite Yuriy sich aus Bryans Griff und hob abwehrend die Hände, als dieser erneut bedrohlich nahe an ihn herantrat.   «Verdammt Bryan, jetzt beruhig dich bitte mal. Wir sind im selben Boot du Idiot!» erwiderte Yuriy verärgert aber bestimmt – nun hatte er Bryans Aufmerksamkeit.   «Mir ist bewusst, dass wir uns sehr glücklich schätzen können, dass Kai überhaupt noch am Leben ist. Wenn er sich wirklich mit ihm angelegt hat, dann hat er grosses Glück gehabt.»   «Und warum strapazierst du dieses verdammte Glück dann so?!»   «Bryan, hör zu.» zischte er scharf und taktierte den Hünen mit einem stechenden Blick. «Ich hab das im Griff. Je mehr wir sind, desto mehr Augen und Ohren haben wir. Denk an die Anderen, denk an Hiromi. Wer weiss, vielleicht hat sie …» «Halt den Mund.» unterbrach Bryan ihn forsch. «Nicht hier.» wisperte er beinahe und wandte seinen Blick zu Kai, welcher immer noch reglos in seinem Krankenbett lag.   Bryan hatte die Hände zu Fäusten geballt, weiss stachen seine Knöchel unter der angespannten Haut hervor. Er seufzte bebend.   «Ich vertraue dir Yuriy, aber wir müssen vorsichtig sein.» Yuriy derweil, legte seine Hand auf Bryans Schulter und drückte diese brüderlich.   «Ganz gleich, in welche Scheisse sich Kai da geritten hat, wir werden ihn raus holen.» versicherte Yuriy. «So wie früher.» Bryan nickte kaum merklich, löste seine verspannten Schultern und schleppte sich zurück zum Krankenbett, wo er sich wieder auf dem unbequemen Stuhl niederliess.   «Lass uns den Bericht des leitenden Arztes abwarten, dann wissen wir wohlmöglich mehr.» und in exakt diesem Moment öffnete sich die Zimmertüre für beide Russen nahezu komplett unerwartet.   «Dr. Beloussow.» begrüsste Yuriy den leitenden Arzt förmlich. «Und wir dachten schon, Sie heute nicht mehr anzutreffen.»   Kapitel 4: Wiedersehen ---------------------- Es waren nicht viele Menschen im Suke6 Dinner, und als Hiromi atemlos und mit zerzaustem Schopf im Eingangsbereich des Restaurants stand, hatte Takao sie schnell ausgemacht.   Mit lautem, langgezogenem Ton schoben die Stuhlbeine über den dunklen Holzboden, als Takao sich mit einem Rück erhob und zielgerichtet zu der jungen Japanerin aufschloss.   Schluchzend und vor Kälte schlotternd fiel Hiromi ihrem alten Freund in die Arme und drückte ihr gerötetes Gesicht vor Kummer und Scham in den dunkelblauen Pullover ihres Gegenübers.   «Ich hätte es besser wissen müssen.» wimmerte sie. «Ich hab dich einfach warten lassen. Es tut mir so leid, ich …» ihre Stimme brach jäh ab. Behutsam legte Takao seine Arme und Hiromis bebenden Oberkörper und drückte sie an sich. Er war warm, roch nach einem dieser herrlichen Männerdüfte und der Stoff seines Pullovers war unglaublich weich. Sie hatte diesen Kerl vermisst. Sehr sogar.   Manabu schloss gerade zu ihnen auf, als Takao ihre innige Umarmung auflöste, seine Hände sachte auf ihre Schultern legte, und ihr einen prüfenden Blick zuwarf.   «Danke dass du gekommen bist.» sprach er mit ruhiger Stimme und wirkte mit einem Male unglaublich müde. Takao hatte den ganzen Tag über gelitten, dass sah Hiromi ihm an. Denn auch wenn ein aufrichtig echtes Lächeln auf seinen Lippen lag, so war sein Blick zerstreut und seine Gesichtszüge angespannt. Manabus Hand auf ihrem Rücken liess sie sich um ihre eigene Achse drehen. Der an der letzten WM noch so kleine Kerl war in den vergangenen 6 Jahren wie Unkraut in die Höhe geschossen und überragte mit einer stattlichen Grösse von 1,87 Meter sogar Kai.   Verlegen dreinschauend breitete er seine Arme aus und begrüsste die Japanerin mit einer festen Umarmung. An Tisch 3 angekommen wischte Hiromi sich den letzten Rest ihres verschmierten Mascaras aus dem Gesicht. Was folgte war ein Moment der Stille. Ein Wiedersehen unter solchen Umständen hatten die 3 sich in ihren schlimmsten Vorstellungen nicht auszumalen gewagt. Manabu tat schliesslich den ersten Schritt, als er sich aus seiner Starre löste, die Tageszeitung auf dem Tisch auslegte und seinen Laptop hochfuhr. «Ich bedaure es, dies so direkt aussprechen zu müssen, aber Kais Unfall ist definitiv keine Erfindung der Medienwelt.» sprach er mit ernster Stimme.   Bedrückt senkte Hiromi ihren Blick und starrte auf ihre kalten Hände, welche vor ihr auf der Tischplatte ineinandergelegt ruhten. Takao neben ihr schluckte schwer.   «Weisst du genaueres über seinen Zustand? Was hat Yuriy gesagt?» durchbrach Takaos Stimme die kurze, beklemmende Stille.   Resignierendes Kopfschütteln seitens Manabu. «Nichts genaueres. Nur, dass es schlimm um Kai steht.»   «Was ist mit den anderen?» fand Hiromi ihre Worte. «Wissen Max und Rei bescheid?» Takao seufzte. «Rei hab ich erreicht. Er fliegt auf eigene Faust nach Moskau. Wenn ich es recht im Kopf habe, dann sitzt er jetzt wohlmöglich schon im Flieger.»   Hiromis Herz zog sich für einen kurzen Moment schmerzlich zusammen. Hätte sie doch nur früher auf Takaos Anrufe reagiert, dann sässen sie jetzt wohlmöglich auch schon im Flugzeug. Ihr schossen die Tränen in die Augen, während sie sich schmerzhaft auf die Unterlippe biss. Ganz kurz nur blitzte Kais Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah seine markanten Gesichtszüge, die amüsiert funkelnden Augen, seinen Mund, den er zu einem leichten Lächeln verzogen hatte und spürte wie … Völlig unvermittelt legte Takao seine warme Hand auf die ihren woraufhin Hiromi, aus den Gedanken gerissen, den Kopf hob und seinen Blick zerstreut und kummervoll entgegnete. «Hätten wir einen früheren Flug in Aussicht gehabt, dann sässen wir bereits in der Luft. Die erstbeste Maschine fliegt jedoch erst nach Mitternacht.»   Sie nickte um ihm zu signalisieren, dass sie ihn verstanden hatte – ihre Tränen konnte sie damit jedoch nicht zurückhalten. Mit bibberndem Kinn schloss sie die Augen, woraufhin dicke Tränen über ihre Wangen kullerten. «Was ist mit Max?» versuchte Hiromi die ungewollte, ja für sie gar beschämt anfühlende Aufmerksamkeit von sich wegzulenken, was ihr mehr schlecht als recht gelang. Nun war es Takao der machtlos den Kopf schüttelte und sich mit der Hand gedankenverloren durch seine volle, dunkle Haarpracht strich.   «Keine Spur von Max.» erwiderte er matt und legte ein, für Takaos Verhältnisse, unsagbar entmutigtes Lächeln auf. Hiromi hielt inne und schenkte Takao einen irritierten und zugleich besorgten Blick. «Was hat das zu bedeuten?»   Takao zog die Schultern hoch. «Ich weiss es auch nicht. Über sein Mobiltelefon ist er nicht weiter erreichbar, die All Starz wissen von nichts und Judy hat seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihm.» «Judy hat was?!» erwiderte Hiromi ungläubig und sah zwischen Takao und Manabu hin und her. Bedürftig wischte sie sich dabei die nassen Bahnen von den Wangen.   «Keine Ahnung. Vielleicht gab es Streit. Wer weiss das schon.» versuchte Manabu die Frage zu beantworten, obwohl auch er nur mutmassen konnte.   «Und jetzt?» fragte Hiromi unsicher. «Wir haben unser möglichstes versucht. Ich denke mehr können wir im Moment nicht tun.» antwortete Manabu resigniert. Die Antwort schien für Takao mehr als nur unbefriedigend zu sein – bei Manabus Worten versteifte sich seine Haltung nahezu direkt. Was folgte war eine erneute, betretene Stille. Takao mahlte mit dem Kiefer und fixierte einen wahllosen Punkt auf dem Tisch. Unruhige tippte er dabei mit den Fingerkuppen auf die polierte Holzplatte.   «Was heisst das für unseren Plan?» Hiromis Stimme wurde bei jeder Frage unsicherer. Die Jungs hatten vor ihrer Ankunft im Suke6 über eben dieses Thema gestritten, das spürte sie genau. «Wir werden heute Nacht nach Russland fliegen. Max können wir auch von Moskau aus erreichen.» erwiderte Manabu bestimmend und erntete dafür einen scharfen Blick seitens Takao. Der sture Japaner wollte und konnte niemanden einfach so im Ungewissen lassen – das ging gegen seine Prinzipien.   Takao schnaubte, reckte seinen Hals und wollte gerade zu einem bissigen Kommentar ansetzen, doch Hiromis plötzliche Berührung kam dem zuvor. Gerade noch bevor er seine strapazierten Nerven endgültig verlor, drückten ihre kühlen Hände die Seinen, und ihre Augen schrien vor Kummer. «Takao bitte. Ich … Wir müssen da hin.» ihre Stimme bebte und dicke Tränen kullerten über ihre geröteten Wangen.   Der Blick in ihre Augen offenbarte ihm so unendlich viel Leid, dass Takao für einen kurzen Moment schlichtweg die Worte wegblieben.   «Hiromi. Hey. … Jetzt beruhig dich doch bitte.» setzte er sanft an und strich ihr mit seinem breiten Daumen über die Wange. «Ich will auch so schnell wie möglich nach Russland, aber wir können Max nicht einfach …» «Takao …» unterbrach sie ihn heiser. «… du verstehst das nicht. Ich muss, ich m-muss da hin. Wir, ich …» zum zweiten Mal an diesem Abend brach ihre Stimme ab. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.   Takao zögerte keinen Moment, legte den Arm um Hiromi und zog die kleine Japanerin beherzt an seine Seite. Er seufzte geschlagen und wechselte dabei einen vielsagenden Blick mit Manabu. Sie würden heute fliegen, keine Frage.   «Keine Sorge Hiromi. Vor das du dich versiehst sind wir da.» versuchte Manabu sie von der anderen Tischseite aus zu beruhigen. Sie nickte schluchzend, drehte den Kopf zu Takaos Schulter hin und vergrub ihr Gesicht in seinem Pullover. Mit ruhigen Bewegungen strich er über ihren Arm und spürte bei jeder Berührung, wie unglaublich stark dieses elendige Geschehnis die Japanerin heimsuchte.   Tröstend drückte er ihr einen Kuss auf den braunen Schopf und suchte ihren traurigen Blick. «Vergiss eins nicht Hiromi. Hier geht es um Kai – und den kriegt man nicht so schnell klein.»   Was Takao da bloss so sicher machte …   Kapitel 5: Kaltes Land, kalte Menschen -------------------------------------- «Liebe Fluggäste, wir beginnen nun mit dem Landeanflug. Wir bitten Sie sich auf Ihre Plätze zu begeben, die Sicherheitsgurte umzuschnallen und Ihre Sitzlehnen in eine aufrechte Position zu bringen. Stellen Sie sicher, dass all Ihre mobilen Geräte sich ab jetzt im Flugmodus befinden und Ihr Handgepäck ordnungsgemäss unter dem Sitzplatz vor Ihnen verstaut ist.»   Reis Augenlieder flackerten leicht, als die Durchsage der weiblichen Chef de Cabine an seine Ohren drang. Er seufzte, versuchte sich trotz der beengten Sitzverhältnisse einmal kurz zu strecken und tastete mit noch immer geschlossenen Augen nach den beiden Enden seines Sicherheitsgurts.   Klackend rasterten beide Teile der Schnalle ineinander, woraufhin Rei den Umfang des Gürtels durch das Ziehen am Seitenband routiniert verkleinerte und die Hände danach ineinander gefaltet auf seinem Schoss ruhen liess.   Schon seit dem Boarding, vor rund 8 Stunden, pochten seine Schläfen dumpf und schmerzhaft. Plausibel, wenn er bedachte dass er seit gestern Vormittag nicht mehr wirklich geschlafen hatte. Keine einzige Sekunde lang.   Den gestrigen Tag hatte er vollends damit verbracht, von den Bergen aus bis nach Peking zu gelangen.   Die lange und beschwerliche Reise hatte ihn mehr als einfach nur ausgelaugt und dennoch realisierte er immer wieder, dass er von Glück reden konnte, dass Takao ihn überhaupt erreicht hatte. Denn in einem chinesischen Dorf ohne wirklichen Medienzugang, wäre die Nachricht über Kais schweren Unfall wohlmöglich einfach so an ihm vorbeigegangen. Der blosse Gedanke daran liess ihn frösteln, weshalb er ihn schnell wieder von sich abschüttelte. Er erinnerte sich gut und gerne an die Zeit, als er und die Blade Breakers inmitten des Beyblade Hypes gestanden hatten. Die vielen Reisen, die Erlebnisse und die Freundschaften – ja vor allem die Freundschaften waren was besonderes gewesen.   Sie alle hatten sich sehr schnell mit den Mechanismen des Profisports arrangiert und wohl vor allem durch Takaos und Max’ guten Draht zueinander, hatten sich seine und Kais Wege bereits sehr früh gekreuzt. Denn hätten die beiden Youngsters nicht schon von Beginn an wie Pech und Schwefel aneinander geklebt, wäre es wohlmöglich gar nie zu ihrer altbewährten Zimmereinteilung gekommen. Ja sogar bei ihren jährlichen Treffen, weit über die Zeit des Profisports hinaus, hatte sich das alte Muster weitgehend fortgesetzt. Vom ersten Tag an hatte Kai ihm dazumal deutlich zu verstehen gegeben, dass er keinen Bock auf Teamwork hatte und viel lieber für sich alleine hatte sein wollen. Nichtsdestotrotz hatte sich, nach dem ersten Jahr und der ersten gewonnenen Weltmeisterschaft, eine echte Freundschaft zwischen ihm und dem Russen etabliert.   Kurz und ohne Ankündigung legte sich ein amüsiertes Lächeln auf Reis Lippen. Gott, was sie als Team nur alles erlebt und durchgestanden hatten. Gutes sowie weniger Gutes.   Im ersten Jahr hatte sich die Spirale vor allem um Kai gedreht. Die Abtei, Russland und dieser schwarze Höllenvogel hätten das Team beinahe auseinandergerissen noch bevor es sich überhaupt richtig hatte formen können. Noch bis heute liefen Rei kühle Schauer über den Rücken, wenn er sich an Black Dranzer erinnerte.   Das Flugzeug rumpelte leicht, als es durch die dicken, mit Schnee gefüllten Wolken sackte und eine starke Böe die Unterseite des Rumpfs erfasste.   Intuitiv umfasste Rei mit seinen Fingern den glatten Bit Chip Driggers welchen er sich, wie eine Münze, in eine der langen, schwarzen Haarsträhnen geflochten hatte.   Rei trug seine Haare schon seit längerem offen. Lang und schwarz, wie ein stilles Gewässer bei Nacht, fiel die dicke Haarpracht über seine breiten Schultern hinab und verlor sich auf seinem Rücken, wo sie knapp über seinem Gesäss endete. Drigger ist unruhig. Das ist er nie.   Rei hatte ein ungutes Gefühl bei dieser Sache. Nebst seiner immensen Sorge um Kais Gesundheitszustand und dem völligen Unwissen über was war und was wohlmöglich noch kommen würde, hatte der kurze Kontakt mit Yuriy das Ganze nicht wirklich besser gemacht. Vielmehr hatte es ihn weiter verunsichert – und zwar ziemlich stark.   «Wenn du kommen willst, dann komm lieber schnell. Es sieht böse aus.»   Rei seufzte.   Yuriy war im Grunde immer recht kurz angebunden. Aber bei so was? Kai und der Rothaarige waren im Grunde ja mehr Brüder als Freunde.   Ganz gleich wie er es kehrte und wendete, in einer Sache war Rei sich jedoch sicher: Wenn Yuriy keine Fakten zu den Geschehnissen rund um Kais Unfall benennen wollte oder gar konnte, dann war dieses Kapitel wohl weit dunkler, als dass es ohnehin schon war. Und ganz gleich was es ihn kosten würde, wenn nötig würde er jede noch so kleine Information aus dem Rothaarigen herausquetschen – völlig egal wie.   —   Die Piloten hatten nach mehreren missglückten Versuchen zum Ende hin eine harte Ladung auf der weissen Piste des Moskauer Flughafens hingelegt.   Die Wetterbedingungen waren mehr als schlecht und beim Verlassen des Flugzeugs sah Rei nicht viel mehr, als eine weiss rauschende Wand aus Schnee.   Unwillkürlich erinnerte er sich an den Moment, als er zusammen mit den Blade Breakers zum allerersten Mal in Moskau gelandet war. Bald schon würde diese Erinnerung 10 Jahre alt sein. Sie waren Kinder gewesen und er erinnerte sich noch gut daran, dass sie alle diese albernen, hellblauen Kittel hatten tragen müssen.   Er grinste, verzog den Mund daraufhin jedoch zu einer Grimasse. Da war schon wieder die Abtei die seine Gedanken heimsuchte und Bilder vom Baikalsee aufblitzen liess, wo sie Kai bei einem waghalsigen Battle um ein Haar verloren hätten.   Der Chinese schnaubte verächtlich.   Dieses kalte Land barg für ihn eigentlich nur schlechte Erinnerungen.   —   Da er seine Reise ausschliesslich mit Handgepäck angetreten hatte, hatte er die Passkontrolle schnell hinter sich gebracht und passierte bereits zügig die Gepäckbänder.   Zu dieser nachtschlafenden Stunde war der Moskauer Flughafen weitgehend menschenleer und als Rei die Ankunftshalle mit geschulterter Sporttasche betrat, sah ihm ein einziges, müdes, lilanes Augenpaar aus den leergefegten Sitzreihen entgegen.   Der blasse Russe sass tief in der harten Sitzschale seines Stuhls, hatte die langen Beine von sich weggestreckt und lehnte mit dem Hinterkopf gegen die verputzte Wand hinter sich. Der Typ sieht einfach nur fertig aus. Dachte Rei als sich ihre Blicke kreuzten.   Ruhigens Ganges schloss Rei zu Bryan auf, und als er schliesslich vor ihm stand hatte dieser es gerade so geschafft, sich zurück auf die Sitzschale zu kämpfen.   Freundschaftlich bot Rei dem Hünen die Hand an, woraufhin Bryan dankend dessen Unterarm ergriff und sich von dem Chinesen auf die Beine ziehen liess.   «Du siehst beschissen aus.» bemerkte Rei ziemlich monoton und mustern den grossen Russen skeptischen Blickes von oben bis unten. Als Erwiderung erhielt er eines dieser kecken Grinsen, die nur Bryan Kuznetsov drauf hatte. «Ich geb’ dir 12 Stunden und glaub mir, du wirst genau so aussehen.»   Kapitel 6: Nerven ----------------- Rei war nicht fähig zu rekonstruieren, wie lange er nun schon in dieser einen Körperhaltung verharrt hatte, doch als er sich das erste Mal wieder rührte, fühlte er sich steif und völlig entkräftet.   Kais blosser Anblick hatte seine allerschlimmsten Befürchtungen bei weitem in den Schatten gestellt. Es fühlte sich für ihn so an, als sässe er bereits seit Stunden neben diesem Bett, die Augen dabei ausnahmslos auf Kais blasses, fast schon totes Gesicht gerichtet.   Nach ihrer Ankunft in Kais Krankenzimmer war Bryan ohne weitere Umschweife in einem dieser unbequemen, pseudo-ergonomischen Stühle in der Ecke direkt am Fenster, zusammengesackt – sein Körper holte sich nun schonungslos die Ruhe, die er nach seiner mehr als grosszügigen Blutspende so dringend benötigte. Trotz schlechtester Wetterbedingungen hatte der Hüne ihn die ganze Strecke vom Flughafen bis hin zum Moskauer Krankenhaus gefahren – ein völliges Unding wenn man bedachte, was in den letzten 24 Stunden vorgefallen war.   Nach ihrer Ankunft hatte der Hüne bei Yuriy über starke Kopfschmerzen geklagt und nachdem er daraufhin innert weniger Minuten bereits völlig weggetreten war, fuhr der Rothaarige Bryan mit den Fingern seiner rechten Hand gedankenverloren und ungeahnt sanft durch die kurzen, blassen Haare.   «Ein Glück dass die beiden die gleiche Blutgruppe haben.»   Reis Stimme war wie ein scharfes Messer welches die plagende Ruhe urplötzlich durchschnitt, weshalb Yuriys Augen überraschend und unvermittelt auf seine gelben Iriden trafen. Kurz schien es beinahe so, als hätte Yuriy die Anwesenheit des Chinesen schlichtweg vergessen. Mit einem Nicken in Bryans Richtung gab Rei dem Rothaarigen zu verstehen, wen er mit seiner Aussage meinte, auch wenn dies wohl auf der Hand lag.   «Bryan hat zwar arg zu kämpfen, aber Kai wird er wohl das Leben gerettet haben.»   Kurz hielt der rothaarige Russe inne ehe er bestätigend nickte, zu Bryan hinabsah und ihm ein letztes Mal durch die Haare strich, bevor er seine Hand in der Hosentasche seiner hellen Jeans verschwinden liess.   «Der Idiot hat sich einfach übernommen.» erwiderte Yuriy trocken, «Hinzu kommt, dass er eine wirklich bescheuert grosse Angst vor Nadeln hat.» Letzteres murmelte er jedoch mehr zu sich selbst. Eigentlich hätte seine Aussage wohl kühl und spöttisch klingen sollen, doch Yuriys Stimme fehlte der gewohnte Klang. Statt sich zu sammeln und das Gespräch weiterzuführen schweifte sein Blick kurzum zum Fenster hinaus. Der weisse Schnee fiel seit Reis Ankunft in groben Massen vom wolkenverhangenen Himmel herab und doch war er Totenstill als er in der rabenschwarzen Nacht zu Boden segelte.   Das Auftreten des Rothaarigen bot einen durchaus ungewohnten Anblick. Der sonst so selbstsichere und reservierte Russe schien unkonzentriert, wirkte ruhelos und schaute von Zeit zu Zeit bedenklich oft zum Fenster hinaus. Wer demnächst wohl unangekündigt in dieses Krankenzimmer eintreten würde? Vor welchem Besuch fürchtete sich Yuriy am meisten? Voltaire Hiwatari? Oder gar Boris Balkov?   Seit Yuriy und Bryan von rund 10 Stunden von Dr. Beloussow erfahren hatten, dass Kais rechte Schulter nicht, wie bei der Krankenhausaufnahme vermutet, durch den Zusammenprall mit dem Personenwagen sondern durch das Eindringen einer Pistolenkugel zertrümmert worden war, hatte das ohnehin schon äusserst undurchsichtige Ereignis rund um Kai einen weiteren, düsteren und sehr bedenklichen Charakterzug angenommen.   Rei wusste von der Kugel – unmittelbar nach seiner Ankunft im Krankenhaus hatte Yuriy ihn darüber in Kenntnis gesetzt. Viel damit anfangen konnte er jedoch nicht. Sein Vorstellungsvermögen liess es gar nicht erst zu das er sich überhaupt vor Augen führen konnte, dass Kai angeschossen und schwer blutend von einem Personenwagen erfasst worden war. In was war Kai da bloss reingeraten? Das ganze stank in jedem Fall zum Himmel und lediglich eins wusste Rei mit Sicherheit, dass auch Yuriy von einer ungeahnten Verunsicherung heimgesucht wurde, seit dieses markante Unfalldetail bis zu ihnen vorgedrungen war.   Rei wurde unvermittelt aus seinen Gedanken gerissen, als ein gequältes Wimmern die Stille des Krankenzimmers jäh durchbrach. Intuitiv sah er zu Kai, doch der Halbrusse regte sich nicht. Es war Bryan, welcher aus seiner überaus unkomfortablen Haltung erwacht war und sich versuchte, mit schmerzverzerrtem Gesicht, auf dem Stuhl zurechtzurücken.   Bryan war immer noch ungewöhnlich bleich, sogar für seine Verhältnisse. Yuriy war direkt zur Stelle um dem Hünen im Schein der wenigen im Zimmer noch brennenden Lichtquellen aus dem Stuhl hoch zu helfen und verlor gleich darauf beinahe das Gleichgewicht, als Bryan völlig unvermittelt ins Wanken kam. Von starkem Schwindel erfasst machten seine rund 100kg auf unsanfte Art und Weise beinahe Bekanntschaft mit dem harten Klinikboden, hätte Rei nicht direkt reagiert. Fast schon reflexartig war er aufgesprungen und liess Bryan, zusammen mit Yuriy, unter grossem Kraftaufwand halbwegs kontrolliert zu Boden sinken.   Kaum sass der Hüne auf dem weissen Linoleum, ging Yuriy energisch vor ihm in die Knie. «Du bist so ein Trottel, weisst du das?!» zischte er verärgert und tätschelte Bryans Wange so lange, bis dieser ihn endlich, mit schummrigen Blick, ansah. «Warum musst du auch immer gleich so übertreiben?»   «Ich kotzt gleich.» waren die einzigen Worte die Bryan gerade noch so zu Stande brachte, ehe seine Augenlieder unvermittelt zu flackern begannen. Der grosse Kerl machte hier gerade schlapp.   «Yuriy es ist sein Kreislauf, vielleicht gar Blutarmut. Ich denke es ist am besten wenn wir einen Arzt ...»   «Halt die Klappe Rei!» kam die urplötzliche und überaus forsche Erwiderung seitens Yuriy, ohne das Rei überhaupt eine Chance gehabt hätte, ausreden zu können. «Ausser Dr. Beloussow kommt hier keiner rein. Verstanden?!»   Rei, vollkommen vor den Kopf gestossen, versuchte seine Ruhe zu bewahren, doch die forsche, ja gar schon aggressive Zurechtweisung des Rothaarigen liess auch ihn unvermittelt aus seiner sonst so ruhigen Haut fahren. Die Nerven waren hochstrapaziert, allesamt.   «Das hier ist kein Spass Yuriy.» erwiderte er mit ruhiger, aber drohender Stimme und fixierte den Rothaarigen dabei scharf.    «Und du denkst wirklich, dass ich das nicht weiss?!» erwiderte Yuriy verächtlich zischend, während er Bryan eher grob als zart auf den Rücken beförderte, die Beine des Hünen ergriff und sich beim Erheben neben Rei aufbaute bis er ihn mit seiner Grösse überragte. Völlig beiläufig stemmte er dabei Bryans Beine in die Höhe um dessen Blutzirkulation wieder auf Trab zu bringen.   «Pass auf Yuriy.» donnerte Rei.   Doch noch ehe einer der beiden Kontrahenten die Lage überhaupt eskalieren lassen konnte, war es Bryan der den Riegel vorschob, auch wenn er dabei nur halb bei Bewusstsein zu sein schien. «Ihr haltet jetzt beide eure nervige Klappe oder ich kotz euch gleich die Schuhe voll!»   Und dann, wohl nicht mal sosehr um seinen eigenen Worten Nachdruck zu verleihen, musste er kurzerhand überraschend würgen, glücklicherweise aber ohne sich darauffolgend übergeben zu müssen.   Yuriy hatte sich indes schnell wieder gefangen. «Na du fängst hier doch mit der ganzen Scheisse an.» erwiderte er wütend, «Fällst hier spontan einfach mal so in Ohnmacht. Erzähl mir lieber mal wie ich diese Scheisse stemmen soll, wenn du hier jetzt auch noch rumliegst?!»   War da ein Hauch von Verzweiflung? Verunsicherung? Sorge?   «Dann lass mich das hier stemmen. Du kannst mir nicht weiss machen, dass es keinen guten Grund dafür gibt das ich hier bin.» mischte sich Rei unvermittelt in das Streitgespräch ein und erhielt dafür einen gefährlich funkelnden, herablassenden Blick seitens Yuriy.   Volltreffer.   «Macht doch was ihr wollt.» grollte Yuriy im ersten Moment scheinbar geschlagen. Doch dann, von einen auf den anderen Moment, liess er völlig unvermittelt Bryans Beine los und schritt schnurstracks zur Türe woraufhin er das Zimmer ohne jeden weiteren Kommentar rauschend verliess.   Rei hatte die fallenden Beine Bryans gerade noch zu fassen gekriegt und schaute anschliessend ehrlich besorgt auf dessen aktuell doch sehr jämmerlich wirkende Person hinunter.   «Gehts? Soll ich einen Arzt rufen?»   «Besser nicht.» erwiderte Bryan mehr schlecht als recht. «Yuriy hat recht – je weniger Ärzte desto besser. Bitte verzeih ihm seine Worte Rei, es meint es nicht so.» kurz verzog Bryan sein Gesicht, lächelte dann aber müde. «Und so ganz nebenbei: Ich hasse Menschen in weissen Kitteln. Wirklich.»     Kapitel 7: Paralyse ------------------- :: Beginn der Rückblende ::   Der kalte Wind blies ihr so kräftig ins Gesicht, dass sie den Blick schützend zur Seite richtete. Dicke, schwere Schneeflocken stoben quirlig durch die kühle Nachmittagsluft und verwandelten den Himmel in eine sich unruhig bewegende, weiss rauschende Daunendecke. Nur ganz vage erkannte sie die zahlreichen sturmerprobten Möwen, welche sich hoch oben im Schneegestöber vom bissigen Wind flussaufwärts ziehen liessen.   Mütze als auch Schal verbargen ihr Gesicht fast gänzlich und waren mit einer stetig wachsenden Schicht der kalten, weissen Pracht bedeckt. Die sensible Haut rund um ihre Augenpartie war gerötet und kribbelte bereits vor Kälte als …   :: Ende der Rückblende ::   Das Ruckeln des Flugzeuges brachte Hiromi zurück in die Gegenwart. Unfähig um auch nur eine einzige Sekunde zu schlafen, öffnete sie ihre müden Augen und sah im ersten Moment lediglich die bläulich schimmernden Monitore, welche in sämtliche Rückseiten der zahlreichen Kopfstützen eingelassen waren.   Im Flugzeug war es kalt. Nebst der dünnen Decke, welche alle Passagiere vom Flugpersonal erhalten hatten war sie, zu ihrem eigenen Glück, mitunter in einen dicken Kapuzenpullover von Takao gehüllt. Ihre zierlichen Hände hatte sie in den viel zu langen Ärmeln vergraben als sie, ohne ihren schlafenden Sitznachbar zu stören, die Beine näher an ihren Körper heranzog, in der Hoffnung so vielleicht noch ein kleinwenig mehr Wärme zu speichern.   3 Reihen weiter vorne, direkt am Gang, sass Takao. Mit seinem linken Bein geradeheraus in den Gang gestreckt und dem Kinn auf der Brust gelehnt schien zumindest er endlich seinen Schlaf gefunden zu haben. Wo im Flugzeug Manabu genau sass wusste sie nicht. Vermutlich würden er und Dizzy jedoch, wie bereits am Gate, mit der Auswertung der Recherchedaten zu Kais Unfall beschäftigt sein.   Es war ein gespenstischer Flug in Richtung Hauptstadt. Beinahe schon fühlte es sich an, als wäre das Flugzeug mit den düsteren Vorahnungen der neusten Geschehnisse aufgeladen – umso überraschter war sie daher, als sie sich völlig unvermittelt an einen dieser vielen Linienflüge zurückerinnerte, welche sie mit den Blade Breakers vor Jahren beinahe wöchentlich unternommen hatte. Zum Beispiel damals, als Takao sein Team, und wohlmöglich auch die restlichen Passagiere inklusive Crew, mit seinem Geprahle über die Teilnahme an der Weltmeisterschaft beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte oder aber als Kai Max, nach mehreren missglückten Versuchen dem Amerikaner ein paar extra Trainingsstunden anzudrohen, diesen ehrlich anflehte um mit ihm den Sitzplatz zu tauschen:   — Der sture und schon damals viel zu coole Russe hatte zu derzeit, wohl durch ungeplante Buchungsänderungen, einen Sitzplatz fernab der Gruppe erhalten. Was den Grauhaarigen zuallererst noch sichtlich erfreut hatte, entpuppte sich bereits wenig später als sein grösster Albtraum. Eingepfercht zwischen zwei Hälften einer bunt zusammengewürfelten Grossfamilie, hatte er den kompletten Flug zwischen laut kreischenden Kindern und hysterischen Müttern verbracht. Und als wäre der ganze Radau für sein ruhiges Gemüt nicht schon Tortur genug gewesen, landete in einem Geschwisterstreit krönend auch noch ein lauwarmer Orangensaft auf seinem Hosenbein.   — Du meine Güte, was hatte sie gelacht. Kai mit seinen damals 17 Jahren, viel zu cool für die Welt und doch noch vollkommen unfähig darin, sich mit lauten, kleinen Kindern auseinanderzusetzen. Sie musste sich eingestehen, schadenfroh war sie schon gewesen – hielt sie den Halbrussen zu dieser Zeit doch noch für einen eingebildeten, grossspurigen Schnösel. Was hatte sie sich doch getäuscht.   Es hatte Jahre gedauert bis sie an ihn rangekommen war und anschliessend hatte es nochmals viele weitere Jahre in Anspruch genommen um ihn «richtig» kennenzulernen – von Mensch zu Mensch eben. Heute konnte und wollte sie ihn nicht mehr missen – nie mehr.   Der dicke Kloss in ihrem Hals war mit einem Male zurück.   Seit dem Moment als sie Takaos Nachrichten auf der Sprachbox ihres Mobiltelefons abgehört hatte, war sie nicht mehr in der Lage gewesen auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Die grenzenlose Furcht und Sorge um Kai hatte sie kaum Atmen lassen und so kam der lange und monotone Langstreckenflug gerade zur rechten Zeit.   Ihr ging vieles durch den Kopf – sehr vieles sogar. Und als sie den ersten, grausamen Schrecken über das Geschehen rund um Kai halbwegs hatte platzieren können, schwelgte sie in Erinnerungen. Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit mit den Blade Breakers, allem voran aber in Erinnerungen an den Halbrussen – und das waren bei weitem nicht wenige. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie in diesem russischen Krankenhaus zu Gesicht bekommen würde, die Angst davor paralysierte sie seitdem aber jede Minute.   —   Trotz des langen, bedrückenden Flugs fühlte Hiromi eine tief verwurzelte Freude und Erleichterung, als sie mit den Jungs in die Ankunftshalle des Moskauer Flughafens hinaustrat. Sie kannte diesen Ort nur zu gut und wäre die Thematik eine andere gewesen, wäre ihre Freude über ihre Ankunft in Moskau wohl kaum zu dimmen gewesen.   Es war ein durchweg geschäftiger Tag am Moskauer Flughafen, schliesslich waren sie an einem gewöhnlichen Wochentag, kurz nach 13 Uhr in die Metropole angereist.   Mit seiner feuerroten Haarpracht und stattlichen Grösse war Yuriy in der Menschenmenge denkbar schwer zu übersehen. Lässig lehnte er an einen marmorierten Pfeiler nahe des allgemein zugänglichen Meeting Points und quittierte die Dreiergruppe mit einem strengen Blick, als er ihnen in der Ankunftshalle zielstrebig wenngleich auch bedächtig entgegenkam.   Yuriy wirkte nicht weniger müde als die 3 Tokioter, was Hiromi an seinem erschreckend fahlen Hautton und den tiefsitzenden Augenringen nur zu gut erkennen konnte.   «Kommt. Die Parkuhr hält nicht ewig.» Kein «Hallo». Kein «Danke». Nichts.   Stumm wechselten Takao und Manabu einen vielsagenden Blick. Keiner der beiden ging vorerst jedoch weiter auf die harsche Begrüssung des Russen ein, sofern man diesen einseitigen Wortwechsel überhaupt als solches hätte betiteln dürfen.   Yuriy hatte nicht mal eine Entgegnung abgewartet. Er hatte schlichtweg auf dem Absatz kehrt gemacht und ging allem Anschein nach einfach davon aus, dass die 3 Neuankömmlinge ihm schon folgen würden. Und fürs Erste taten sie dies auch.   Als sie den angenehm warmen Terminal gegen die frühwinterliche Kälte der Hauptstadt eintauschten, liess Hiromi es dankend zu, das Takao seinen Arm wärmend um ihre Schultern legte. Per direkt stiess ihr Atem als weisse Wolke in den bedeckten Himmel Moskaus empor und sie fühlte sich, als sei sie in einer anderen Welt gelandet.   Die Strassen waren knöcheltief mit Schnee bedeckt und an den Gehsteigen türmte sich die weisse Masse beinahe Hüfthoch! Eine Vielzahl an veralteten Benzinern spuckte ihre Absage ungehemmt in die winterlich kühle Atmosphäre und raubte dem wundersam üppigen, ersten Schneefall dieses Jahres dadurch jeglichen Zauber. Moskau war einfach nur dreckig und stank, vor allem heute, bis zum Himmel.    Auch Yuriys schwarze Alltagslimousine war alt und abgetakelt. Die Scheiben des 5-Türers waren allesamt mit Kondenswasser angelaufen, die Luft im Innenraum war klamm und es roch nach längst Vergangenem.   Intuitiv peilte Hiromi die rechte Hintertüre des alten Lada an, dessen Scharniere ächzend knarzten als sie die Türe gänzlich aufzog. Manabu, mit seinen langen Beinen, wählte den Beifahrersitz und Takao setzte sich neben Hiromi, und folglich hinter Yuriy, auf die Rückbank.       Wider erwarten sprang der Motor beim ersten Startversuch direkt an und liess die Tank- und Tachonadel lebhaft nach oben schiessen. Behelfsmässig aber überaus routiniert wischte Yuriy mit seinem Ärmel ein kreisförmiges Sichtfeld zur Fahrtrichtung hin frei und auch Manabu beteiligte sich schweigend an der Verbesserung der prekären Sichtverhältnisse rechts von ihm.   Die Fahrt hätte beklemmender nicht sein können. Nicht nur waren die Platzverhältnisse in der kleinen Klapperkiste unverhältnismässig, auch die Stimmung unter den Anwesenden lag weit unter dem Gefrierpunkt. Das einzig wärmende war die Abluft des Motors, welche die Temperatur des Innenraums im Laufe der Fahrt nach und nach von kalt zu erträglich wandelte.   Takao schaute seit der Abfahrt vom Flughafen gedankenverloren aus seinem Seitenfenster auf die verschneiten Strassen Moskaus hinaus, seine Beine durch Yuriys Platzbedürfnisse seitlich zur Fahrtrichtung hin angewinkelt.   Mit jedem Meter den sie näher an ihr Ziel herankamen wurde Hiromi nervöser. Sie würde Rei und Bryan wiedersehen, hoffentlich mit Yuriy sprechen und sich ein Bild davon machen, für was sie alle an diesen einen Ort in der Welt zusammengekommen waren.   Ihr Blick schweifte gedankenverloren durch den Innenraum des Lada und blieb völlig unvermittelt am zittrigen Rückspiegel des Gefährts hängen, durch welchen Yuriy sie mit seinen blauen Augen wohl bereits seit längerem fixierte.   Verzeih mir.   Ihr intensiver Blickkontakt war nur von kurzer Dauer und doch stellte Hiromi in den wenigen Sekunden in denen er standhielt erschreckend fest, dass sein sonst so selbstbewusster und starker Ausdruck mit Kummer und Verunsicherung zersetzt war, was ihre Furcht vor dem Bevorstehenden ins unermessliche steigen liess. Kapitel 8: Übelkeit und Hysterie -------------------------------- Ihm war einfach nur übel.   Am Gate in Tokio Narita war ihm bereits übel gewesen, während des gesamten Langstreckenfluges nach Moskau und die beschwerliche Fahrt über in Yuriys viel zu kleinem, klapprigen 5-Türer. Genau genommen hatte Takao seit Manabus unerwartetem Anruf keinen einzigen Bissen mehr herunterbekommen und sogar er wusste dass dies für seine Verhältnisse mehr als ungewöhnlich war.   Gerade eben betraten sie den sterilen Lift dieses riesigen Krankenhauskomplexes und noch immer hatte niemand auch nur ein einziges Wort gesprochen. Yuriy, mit seinem bleichen Teint und der ausgeprägten Wortkargheit eines Steins, wirkte auf Takao wie ein wandelndes Gespenst, während Manabu leise und in sich gekehrt, auch noch während der Autofahrt, in seine Analyse der Unfallrecherchen vertieft gewesen war. Hiromi jedoch besorgte den Blauhaarigen besonders.   Die zierliche Japanerin wirkte seit ihrem Wiedersehen als wäre sie gedanklich ganz wo anders. Natürlich, das waren sie ja alle auf irgendeine Art und Weise – aber bei Hiromi war es anders. Es war schwerwiegender. Takao wusste sich, im Hinblick auf die Gründe, zwar selbst nicht recht zu helfen, aber eins wusste er mit Sicherheit: Noch nie zuvor hatte er solch einen schrecklichen Kummer in diesen herzlichen, braunen Augen gesehen wie kurz vor ihrer Abreise vom Suke6.   Da war was von dem Takao nichts wusste, das spürte der Japaner genau, und es schmerzte ihn einfach wahnsinnig, dass er noch nicht dahintergekommen war was es war. Er wollte für seine Schulfreundin da sein, obwohl er wohl selbst auch noch eher schlecht als recht mit der aktuellen Situation umzugehen wusste.   Der leise Signalton des Lifts bestätigte ihm, dass sie soeben den 7. Stock der Pflegeabteilung erreicht hatten. Yuriy ging vor und führte die Gruppe einen langen, verwinkelten Krankenhaustrakt entlang welcher zur Linken als auch zur Rechten mit unzähligen Krankenzimmern bestückt war. Krankenhäuser weckten wohl in jedem Menschen unschöne Erinnerungen – und so erinnerte sich Takao beim Gang durch die Pflegeabteilung unwillkürlich an die letzten Stunden seines geliebten Grossvaters.   Heute wusste Takao, dass sein Grossvater mit seinem stattlichen Alter von sage und schreibe 98 Jahren ein reich erfülltes Leben gehabt hatte. Doch trotz dieser Einsicht war der Verlust seiner einzig wahren Bezugsperson bis heute ein Geschehnis, welches noch täglich an ihm nagte. Und zu allem übel war nur kurz nach dessen Tod dann beinahe auch noch alles andere in die Brüche gegangen:   —   Weil er die anfallenden Rechnungen des alten Dojo durch den sehr plötzlichen und schmerzlichen Todesfall nicht hatte stemmen können verlor er, kurz nach Grossvaters Tod, nicht nur sein Haus sondern wurde in folge dessen wenig später auch von seiner damaligen Freundin in den Wind geschossen. Plötzlich war er das erste Mal in seinem Leben, ganz auf sich allein gestellt, und das mit 22 Jahren.   Er hatte gekämpft und unzählige Stunden gearbeitet. Zum Ende hin hatte er es gerade noch geschafft die bevorstehende Zwangsversteigerung von Grossvaters altem Grundstück abzuwenden – das Dojo war nun alles war er noch hatte. Seine Liquidität war durch sein damaliges Handeln zwar bis heute immer noch alles andere als gegeben und doch war er froh dass er es getan hatte. Ja, rückblickend würde er es wieder tun.   —   Völlig in Gedanken versunken bemerkte Takao erst spät das Yuriy vor einer der letzten Zimmertüren zu stehen gekommen war und sich vor dem Eintreten ins Krankenzimmer nun erstmals zu ihnen umdrehte.   «Wir sind da.» Yuriys Blick war stechend, so als fordere er von ihnen gerade jetzt ihre gesamte Aufmerksamkeit.   «Es gibt eine einzige Regel: Nur wir und Dr. Beloussow kommen hier rein. Verstanden?» «Verstanden.» erwiderte Takao mit gedämpfter Stimme, während Manabu und Hiromi nur schweigsam nickten.   «Gut.»   Mit der rechten Hand zur Faust geformt klopfte der Russe zweimal lautstark an die breite Zimmertüre. Was folgte war ein angespannter Moment erdrückender Stille ehe Takao gedämpfte Geräusche aus dem Raum vernahm und sich die Tür, kurz darauf, von innen entriegelte. Die Türe öffnete sich nur marginal und durch den schmalen Türspalt blitzten die gelben Iriden Reis, welche erst verteidigend und beim Anblick der Neuankömmlinge sichtlich erleichtert dreinschauten.   «Hey Leute.» Reis Stimme klang gelöst, fast so als empfinde er tiefe Dankbarkeit für die Tatsache, endlich wieder vertraute Gesichter vor sich zu haben. Es dauerte keinen weiteren Moment, da trat der Chinese durch die breite Zimmertüre und zog Takao in eine feste, freundschaftliche Umarmung. Kraftvoll klopfte Rei ihm auf den Rücken, ehe sie beide einen Schritt zurücktraten um sich nach so langer Zeit es Nichtsehens genau zu beäugen.   Rei wirkte so athletisch wie eh und je, mit dem winzigen Unterschied dass seine Haare kürzer waren und er sie neu offen zu tragen schien. Gerade eben trug er die schwarze Haarpracht jedoch als lose zusammengebundenen Pferdeschwanz, wodurch Driggers Bitchip Takao auf Anhieb ins Auge stach als dieser, eingeflochten in eine der lange vorderen Haarsträhnen, für einen Sekundenbruchteil das Licht der grellen Deckenlampen glänzend reflektierte. Reis Blick wirkte wach und Takao war froh, das immerhin er eine einigermassen gesunde Hautfarbe vorwies.   Als Rei sich von ihm abdrehte und Hiromi zuwandte, welche sich vor Anspannung, im Hinblick auf was noch kommen würde, in Reis Armen wohlmöglich wie ein Pfeiler anfühlte, erhaschte Takao einen kurzen Blick in das Krankenzimmer – erkennen konnte er auf die Schnelle aber nicht sehr viel. Yuriy hatte die Türklinke stramm in der Hand und verkleinerte den Türspalt augenscheinlich bewusst, beinahe so als wolle er dadurch genauestens bestimmen, was sie von ihrem Standpunkt aus zu sehen bekamen.   Durch Yuriys fragwürdiges Benehmen irritiert suchte Takao Hiromis Blick, doch die Japanerin war noch immer wie versteinert und fixierte lediglich den Eingang ins Zimmer. Hatte sie es auch gesehen? Rei indes hatte sich an Manabu gewandt, welchen er überraschend von unten bis oben musterte und gleich wie die anderen beiden freundschaftlich in die Arme schloss.   Für diesen einen Moment bewegte sich die Situation zwischen ehrlicher Wiedersehensfreude und berechtigter Anspannung, bevor sie, zur Überraschung aller Männer, urplötzlich und von jetzt auf gleich in einem unvorhergesehenen, explosiven Durcheinander endete.   Während Takao noch versuchte sich zu erklären, warum Yuriy ihnen den Blick ins Zimmer verwehrte, staunte er nicht schlecht als Hiromi sich, wie aus dem Nichts und ungeahnt forsch, an ihm vorbeidrängelte und den unvorbereiteten, rothaarigen Russen heftig von der Türe wegstiess. Yuriy stolperte nach hinten in den Raum hinein wobei ihm die Türklinke aus der Hand glitt, was Hiromi ungehinderten Einlass in Kais Krankenzimmer verschaffte.   Mit zusammengebissenen Zähnen fluchte Yuriy wohl ein russisches Wort für «Scheisse» ehe er sich aufrappelte und Hiromi zügig nachsetzte.   Erstmals seit ihrer Ankunft hatte Takao nun einen freien Blick in Kais Krankenzimmer und doch wäre ihm dieser rückblickend wohl am liebsten erspart geblieben. Auch wenn er nicht ganz verstand, was sich da gerade vor seinen Augen abspielte, würde es sich wohl für Jahre, wenn nicht gar das ganze Leben lang auf seiner Netzhaut einbrennen.   Hiromis Ziel ihres forschen Handelns war unverkennbar Kais Krankenbett gewesen. Und da stand sie nun. Verzweifelt klammerte sie sich an das runde Metallgeländer des Bettgestells, gleich am Fussende wo die  Patientenkartei des Grauhaarigen hing. Yuriy indes war an die zierliche Japanerin herangetreten und zog sie, gegen ihren Willen, mit scheinbar grober Gewalt wieder weg vom Bett. Sie drohte dabei auf die Knie zu fallen und schrie und schlug nach Yuriy als dieser es schaffte auch ihre zweite Hand vom Metallgeländer zu lösen und sie bestimmt vom Krankenbett wegzureissen.   Takao war mit der herrschenden Situation masslos überfordert – und da war er nicht der Einzige. Rei als auch Manabu waren durch die Szene und Hiromis hysterische Schreie wie erstarrt und Takao was der Erste der vortrat um ihr zur Hilfe zu eilen.   «Hey! Lass sie gefälligst los ja!» sprach er mit lauter, forscher Stimme und lief schnurstracks auf die beiden in ihr Handgemenge verstrickten Personen zu. Je näher Takao der Szene kam umso klarer vernahm er, dass Yuriy scheinbar versuchte auf Hiromi einzureden, anders als erwartet aber nicht in Japanisch. Der Russe fixierte die Japanerin an ihren schmalen Schultern und liess es zu, dass sie wie eine Furie unbändig auf seinen ungeschützten Torso einhämmerte. Takao reichte es. Doch gerade als er in die Szene eingreifen wollte, schickte Yuriy ihm einen glasklaren, stechenden Blick, jedoch keinen arroganten so wie er es sonst immer tat.   Warte kurz. Bitte.   Takao hielt abrupt inne. Er liess Yuriy weiter auf Hiromi einreden, ohne das die beiden Männer dabei aber ihren Blickkontakt unterbrachen und in Folge dessen wurden Hiromis Schläge allmählich schwächer. So schwach, das ihre vor Impulsivität zitternden Fäuste schliesslich auf dem Brustkorb des Russen zur Ruhe kamen, sich öffneten und anschliessend haltsuchend in dessen Pullover krallten – fast so als wäre er der Einzige, der ihr in diesem Moment wirklichen Halt geben konnte.   «Shh…»   Vorsichtig löste Yuriy seine Hände von ihren Schultern und führte sie auf ihren zierlichen Rücken bevor er Hiromi behutsam in eine trostspendende Umarmung zog. Ihr Körper zitterte wie Espenlaub und sie schluchzte herzzerreissend als sie ihr Gesicht in Yuriy Pullover vergrub.   «Rei, holst du bitte ein Glas Wasser für Hiromi?»   «Kommt sofort. Sonst noch wer?»   Takao war zu perplex um darauf zu antworten und schickte Rei nur ein steifes Kopfschütteln als dieser ein zweites Mal bei ihm nachhakte. Yuriy derweil führte Hiromi behutsam an Takao vorbei, nach hinten zu einem der Stühle direkt am Fenster. Dort setzte sie sich wimmernd hin derweil Yuriy vor ihr in die Hocke ging und dabei weiterhin leise auf sie einredete.   Und zum ersten mal seit über 3 Jahren, sah Takao Kai. Sein grösster Sportfreund und Konkurrent seit ihrer gemeinsamen Karriere als Blade Breakers – oder zumindest das, was von ihm übrig war.   Als hätte er einen Geist gesehen, taumelte Takao an das Krankenbett heran und umklammerte mit seinen Händen haltsuchend das kühle Metallgeländer am Fussende des Bettes. Kai war kaum wieder zu erkennen. Die vielen Verbände und allem voran die unzähligen Schläuche die ihn mit einer Vielzahl an Maschinen zu verbinden schienen, liessen Kai auf den ersten Blick wie eine Marionette wirken.   Takao bemerkte erst gar nicht, das Manabu sich neben ihn ans Fussende stellte und wohl mit der gleichen gedanklichen Leere und Ungläubigkeit auf ihren früheren Kapitän heruntersah wie er.   Der Kopf des Blauhaarigen war leer. Desperat versuchte er das Bild das sich ihm bot zu verarbeiten, doch er schaffte es nicht. Als sein Verstand anschliessend soweit war um ihn verstehen zu lassen, dass Kai ohne diese vielen, blinkenden Maschinen wohlmöglich einfach so vor seinen Augen sterben würde, brachen seine Emotionen wie eine gewaltige Welle über ihn ein.   Fassungslos atmete er aus, führte seine Hand zu seinem vor Entsetzen leicht geöffnetem Mund und liess den aufkommenden Tränen freien Lauf. Takao war schon immer ein emotionaler Mensch gewesen, das wusste so mancher der ihn besser kannte – doch dafür schämen tat er sich heute nicht.   Beinahe gaben seine wackeligen Beine unter ihm nach, so dass er fast auf die Knie zu sinken drohte als sich eine stützende Hand auf seine Schulter legte.   «Ganz ruhig Takao, versuch zu atmen.»   Manabu war schon immer ein Ruhepol der Gruppe gewesen, wenn auch ein kleiner und oft unterschätzter. Doch heute war Takao einfach nur dankbar und froh, dass er sich von seinem langjährigen Schulfreund stützen lassen durfte und schämte sich zeitgleich zutiefst dafür, dass er Manabu in den letzten 3 Jahren kein einziges Mal weder aufgesucht oder angerufen hatte – obwohl sie immer noch in der gleichen Stadt lebten und arbeiteten.   «Es tut mir so Leid, Manabu. Ich bin ein mieser Freund.» wimmerte Takao, beugte sich nach vorne und vergrub sein Gesicht in seiner Armbeuge, mit welchen er stützend auf dem Geländer lehnte.   «Sei nicht albern.» Manabus Stimme war die Ruhe selbst und das auch wenn Takao mit Sicherheit sagen konnte, dass auch Manabu bei Kais Anblick kaum fähig war einen klaren Gedanken zu fassen. «Es klingt wie ein mütterlicher Rat, aber du musst jetzt stark sein – wir alle müssen das. Für Kai.» Takao hob seinen Kopf leicht an und sah seitlich zu Manabu hoch, die Wangen nass vor Tränen.   «Er braucht uns jetzt mehr denn je. Verstehst du? Wir müssen für ihn da sein.»   Takaos Blick schweifte von Manabu hinüber zu Kai und für einen ganz kurzen Moment blendete er alles um sie herum aus. Er sah nur noch Kai und hörte für diesen einen Moment keine einzige der piependen, lebenserhaltenden Maschinen rund um seinen guten Freund.   Manabu hatte Recht. Tapfer stemmte er sich hoch, zurück in eine aufrechte Position und stellte sich seinen weichen Knien. Dies war der falsche Zeitpunkt um sich selbst zu bemitleiden. Er würde Kai zur Seite stehen, ganz gleich was auf sie zukommen würde. Vorsichtigen Schrittes lief er um das grosse Krankenbett herum und betrachtete Kais Profil schweigend von der Seite. Schon krass, zwar trug Kai seit ihrem gemeinsamen Rücktritt bereits keine blauen Dreiecke mehr auf seinen Wagen und doch vermisste Takao sie jedes Mal als er ihn sah. Sie gaben dem Halbrussen etwas kriegerisches, ja gar was gefährliches.   Aber ganz gleich ob Kai die Dreiecke nun trug oder nicht, ein Krieger war der Grauhaarige ohnehin und wenn jemand ihm gefährlich werden wollte, dann hatte er sich definitiv mit dem Falschen angelegt. Egal was käme, Takao würde Kai zur Seite stehen.   Behutsam und fast ein wenig ängstlich legte Takao seine Hand auf Kais und drückte sie denkbar sanft.   «Hey Kumpel. Es ist schön dich wiederzusehen.» Kapitel 9: Hilflosigkeit ------------------------ Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Diese unglaublich tiefe Trauer drückte ihr so schwer aufs Herz dass sie fürchtete vor den Augen der Anderen zusammenzubrechen. Sie schnappte vergebens nach Luft und versuchte dabei erfolglos ihre letzte, noch verbliebene Würde zu wahren. Ihr Blick war starr auf ihre Knie gerichtet, die zitternden, zierlichen Hände beklommen zwischen die Oberschenkel geklemmt. Yuriy nahm gar nicht erst wahr. Der rothaarige Russe kniete noch immer vor ihren Füssen. Mit seinen beiden Händen umschloss er die Sitzlehnen ihres Stuhls, sein mitfühlender Blick war vollends auf sie gerichtet. Ihre Hände schmerzten unsäglich. War es das verzweifelte Klammern am Bettgestell gewesen, oder doch die unzähligen Schläge welche Yuriy hatte einstecken müssen? Die letzten, 24 grausamen Stunden würden nun doch nicht etwa in diesem, noch sehr viel aussichtsloser erscheinenden Desaster enden? Oder? Beinahe mechanisch hob sie ihren Blick, als ein Schatten über sie hinweg zog und eine warme Hand sachte ihre Schulter drückte. Es war Rei. Wortlos bot er ihr ein Glas Wasser an. Vor lauter Tränen konnte und wollte sie dem Chinesen nicht antworten – sie hatte das Gefühl ihre Stimme verloren zu haben. Sie verneinte mit einem schlichten Kopfschütteln, gefolgt von einem lauten Schluchzer. «Nun nimm schon.» erwiderte er leise aber nachdrücklich. Rei meinte es gut mit ihr. Das tat er immer. So nahm sie das Wasserglas, gegen ihren Willen, entgegen und führte es mit zittrigen Händen zu ihren Lippen, um einen kleinen Schluck vom kühlen Nasse zu trinken. Es tat gut. Die Ablenkung liess ihren Körper entspannen und es folgte ein stiller Moment. Rei hielt noch kurz inne, ehe er sich anschliessend entfernte um Takao und Manabu beizustehen. Sie folgte dem athletischen Chinesen mit ihrem Blick, sah wie er zu den Anderen stiess, seine Hand tröstend auf Takaos Rücken legte und der Japaner mit seiner Fassung rang. Erneut übermannte ihre Trauer sie in Form von dicken Tränen. Ihr Kinn bibberte und in ihren Händen hielt sie noch immer dieses Wasserglas, welches sie eigentlich gar nicht hatte haben wollen. Sie kniff die Augenlieder zusammen und dicke Tränen kullerten über ihre geröteten Wangen, als Yuriy ihr das Wasserglas sanft aus den Händen nahm und es neben sich zu Boden stellte. Als sie ihre verweinten Augen öffnete, traf sie sogleich auf die blauen des Russen. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte – das konnte sie in seinen Augen lesen. Als ein erneutes, unsäglich trauriges Wimmern ihrer geschundenen Kehle entwich, löste Yuriy sich jedoch aus seiner anhaltenden Starre. «Oh Hiromi …» flüsterte er mit hilflosem und bemitleidendem Gesichtsausdruck, löste dabei seine rechte Hand von der Sitzlehne ihres Stuhls und legte sie auf das rechte Knie der Japanerin. Er versuchte der Lage in irgendeiner Form Herr zu werden, schaffte es aber nicht, die junge Frau zu beruhigen. Hiromi war gefangen zwischen tiefster Trauer, einem Gefühl von Aussichtslosigkeit und erschreckender Furcht. Ja, es war schon oft genug vorgekommen, dass Kai ihnen das eine oder andere Mal berechtige Sorgen bereitet hatte – das war schon lange kein Geheimnis mehr. Aber nie, wirklich nie hatte sie in solch einem Moment irgendwelche Zweifel oder gar Hilflosigkeit seitens Yuriy verspürt. Die beiden Männer kannten sich ja bekanntlich in- und auswendig, waren Freude seit Kindertagen – beinahe Brüder. Und wenn Yuriy schon nicht weiter zu wissen schien, wie sollte sie dies können? Erneut trafen sich die stechend blauen Augen des Russen mit den glasig Braunen von Hiromi. Sie kommunizierten nonverbal. Versuchten die Situation verzweifelt zu verstehen, und kamen dennoch keinen einzigen Schritt voran. Für Hiromi fühlte es sich an wie eine Übersprungshandlung, als Yuriy sich überraschend vom Boden erhob, die Arme ausbreitete und sie, mit gebeugtem Rücken, in eine feste Umarmung zog. Augenblicklich liess sie den kleinen Rest ihrer noch verbliebenen Fassung fallen, wimmerte laut und kläglich als sie sich, in ihrer Trauer, vom Rothaarigen auffangen liess und ihr Gesicht in seiner Schulter vergrub. Yuriy seinerseits war es egal, wie das gerade aussehen musste. Sie brauchte seine Hilfe, und dass auch wenn Umarmungen nicht seine, sondern eher Bryans Stärke waren. Er verstand sie, und hoffte, dass sie ihn auch verstand. Kapitel 10: Update ------------------ Die schweren, dunklen Vorhänge waren weitestgehend zugezogen und so erkannte Yuriy beim Eintreten in seine und Bryans Wohnung im ersten Moment sehr wenig. Die Luft in der 2.5-Zimmer-Wohnung war stickig und aus der Küche trat der verdorbene Geruch von gekippten Essensresten an seine Nase. Wenn er richtig rechnete, und das war nach den letzten Geschehnissen nun doch relativ schwierig, war er die letzten 2 bis 3 Tage nicht mehr in der Bude gewesen.   Wie schnell so eine Wohnung verkümmern konnte!   Okay, als Bryan und er von der Notaufnahme über Kais verheerenden Unfall informiert worden waren, hatten sie alles stehen und liegen gelassen. Nicht das sie immer in solchen Verhältnissen hausten – das auf keinen Fall. Trotzdem konnte er wohl behaupten, dass er selbst bedeutend reinlicher war als Bryan, zumindest was die Ordnung in der Wohnung anging.   Bedächtig streifte er die schwere, gefütterte Winterjacke von seinen Schultern und klopfte den letzten Schnee von ihr ab bevor er sie an den Türknauf hing und über den kurzen Gang ins angrenzende Wohnzimmer trat. In selbigem Augenblick zog eine kräftige Biese durch die angrenzende Häuserschlucht und drückte sich mit voller Wucht gegen die Fensterfront des Wohnzimmers, wodurch die Fensterrahmen unter dem hohen Druck leise knarrten. Eine Tatsache beruhigte ihn vorneweg – es war warm in der Wohnung. Die Heizung schien, bis anhin, noch einwandfrei zu funktionieren.   Leisen Schrittes liess er den Wohnbereich hinter sich und betrat das angrenzende, geräumige Schlafzimmer mit breitem Doppelbett und grosszügigem Ankleidebereich. Auch hier war es dunkel und da wo die wenigen Lichtstrahlen zwischen den Vorhängen hindurchblitzten, tanzte der Staub.   Bryan bewegte sich keinen Millimeter, auch als Yuriy an das Doppelbett herantrat und sich auf die hohe Bettkante direkt neben ihm niederliess. Der Hüne war fix und fertig. Nach der schlaflosen ersten Nacht und seinem späteren Zusammenbruch in Kais Krankenzimmer, hatte Yuriy ihn in einem Anflug von wachsender Sorge nach hause geschickt – auch wenn er dies ungern zugab. Er hatte die Hoffnung, dass Bryan sich zuhause besser von der Bluttransfusion erholen könnte. Jetzt wo er ihn hier aber so liegen sah, kamen ihm berechtige Zweifel. Ganz vorsichtig fuhr er mit seiner Hand durch das blasse, struppige Haar des anderen und erstmals seit seiner Ankunft bewegte sich Bryan, wenn auch nur marginal.   «Na.» meinte Yuriy leise und mit ungeahnter Wärme in der Stimme.   Bryan seinerseits hatte sein linkes Auge einen kleinen Spalt breit geöffnet und wirkte in seiner aktuellen Situation, als wäre er unfähig sich zu orientieren.   Yuriys Hand fuhr von Bryans hellem Haarschopf über dessen Ohr, streifte dabei seine leicht stoppelige Wange und zeichnete anschliessend einmal sanft die Kontur seines markanten Kinns nach. Dies entlockte Bryan ein leichtes Schmunzeln gefolgt von einem tiefen Seufzer. Behutsam beugte Yuriy sich zum Hünen hinunter und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Schläfe. «Bis auf Max sind jetzt alle da. Es ist es ruhig geblieben und Kais Gesundheitszustand scheint stabil zu sein.» informierte er den angeschlagenen Russen mit sanfter Stimme ehe er sich wieder aufrichtete.   «Gut.» antwortete Bryan dankend und mit kratziger Stimme, während er die viel zu seltenen Streicheleinheiten seitens Yuriy genoss.   Wie Bryan den Weg bis in ihre gemeinsame Wohnung, in diesem Zustand, überhaupt gefunden hatte war Yuriy ein Rätsel. Es war idiotisch gewesen, den grossen Kerl einfach so ziehen zu lassen, vor allem nachdem er sich Minuten zuvor beinahe auf dem Klinikboden übergeben hatte. Nur manchmal schämte sich Yuriy für seine aufbrausende Art und die darauffolgende Ignoranz – heute war so ein Tag.   Bryans Schmunzeln wurde bei den Worten Yuriys ein kleinwenig breiter. Es raschelte unter der Decke und hervor kam seine linke Hand, welche er beschwichtigend auf den Oberschenkel des Rothaarigen legte.   «Vielleicht solltest auch du dich mal für ein paar Stunden schlafen legen – für deine Verhältnisse bist du heute wirklich selten sentimental.» Yuriy indes schüttelte verständnislos den Kopf, was Bryan ein belustigtes Schnauben entlockte.   «Spass beiseite. Danke Yuriy – kein Ding.»   Ganz vorsichtig drehte Bryan sich von der Seitenlage auf den Rücken, streckte seine Gliedmassen kurz aber intensiv und setzte sich langsam in eine aufrechte Position, um auf gleicher Höhe mit Yuriy zu sein. Kurz nur schwieg der Hüne, so als suche er nach Worten.   «Weisst du, meistens wissen wir es ja, wenn Kai sich wiedermal in irgendeine Scheisse reingeritten hat und oftmals wissen wir dann auch, mit wem er sich angelegt hat. Aber diesmal …» Bryan brach jäh ab und schaute nachdenklich zur hohen Zimmerdecke hinauf.   «Würde es um die Abtei gehen, dann hätte er uns doch sicherlich involviert, meinst du nicht? Und darüberhinaus waren wir uns doch sowieso alle einig, als wir sagten dass wir die Vergangenheit endlich ruhen lassen wollten – auch wenn sie uns nach Ians plötzlichem Suizid vor einem Jahr wieder von neuem beschäftigt hat.»   Es war still im Zimmer. Yuriy hatte schlichtweg keine Antworten auf Bryans indirekte Fragen. Auch für ihn war die aktuelle Lage die reinste Blackbox. Er konnte keine Parallelen feststellen, sah kein eindeutiges Motiv – und das obwohl ein Psychopath wie Boris Balkov wahrscheinlich gar keines brauchte um einen von ihnen umzulegen. Und das, obwohl der Kerl doch alles hatte was er wollte. Es erschien ihm so … surreal. Ja, surreal traf es wohl am ehesten.   «Ich hoffe Kai wacht bald auf.»    «Das hoffe ich auch.»   Kurz trafen sich ihre Blicke. Sie sahen sich an, als versuchten sie sich gegenseitig Mut und Zuversicht zuzusprechen und in ihrer aktuellen Zweisamkeit fühlte sich dies aufrichtig und bekräftigend an. Yuriy griff daraufhin in seine Hosentasche, nahm eine handelsübliche Medikamentenverpackung hervor und überprüfte sie kurz, ehe er sie in die Hände des Hünen drückte. «Die nimmst du ab heute. Ist ein Eisen-Boost für deine Anämie. Hiromi hat sie für dich mitgegeben. Ich soll dir eine gute Besserung wünschen. Sie dankt dir für dein selbstloses Handeln.»   «Wie geht es ihr?» erwiderte Bryan ohne Umschweife, denn Blick von der Verpackung in seinen Händen wieder zurück auf Yuriy gerichtet.   «Wie wohl.»   Bryan seufzte. Dumme Frage. Wie würde er sich wohl fühlen, wenn Yuriy im Krankenhaus läge?   Yuriy hatte seine Worte knapp gewählt und sie hatten einen bitteren Beigeschmack. Kurz nur dachte er an den chaotischen Moment vor dem Krankenzimmer zurück, als Hiromi in ihrem Schock, ihrer Wut und erfasst von abgrundtiefer Trauer innerhalb von wenigen Minuten alles an ihm ausgelassen hatte. Sie war nicht sie selbst gewesen und er verstand ihr Verhalten – verdammt gut sogar. Und doch schmerzte es ihn, ihr nicht mehr Halt gegeben zu haben, als das es für ihn möglich gewesen war. «Bestell ihr liebe Grüsse von mir.» war das einzige was Bryan daraufhin erwiderte und Yuriy nickte bejahend.   «Gehst du gleich wieder, oder bleibst du heute hier?»   «Schön wär’s. Ich muss zurück und weiterhin die Stellung halten. Takao ist mir eine grosse Stütze und das ist nicht nur dummes Geschwätz. Der Typ ist erwachsen geworden.» «Zumindest einer von uns.» meinte Bryan mit amüsiertem Gesichtsausdruck und legte die Eisentabletten bei Seite. «Ich komme nach sobald ich wieder gehen kann, ohne wie ein Betrunkener zu torkeln. Gib mir 1, maximal 2 Tage – das muss reichen.»   Yuriy nickte zustimmend und erhob sich wieder willen von der Bettkante. Zum Abschied beugte er sich ein letztes Mal zu Bryan hinunter und küsste ihn mit ungeahnter Zärtlichkeit.   «Pass auf dich auf und melde dich wenn du was brauchst. Ansonsten sehen wir uns im Krankenhaus wieder.»   Bryan nickte, liess sich zurück in die Matratze sinken und verzog sich wieder unter die warme Daunendecke, während er Yuriy beim Verlassen des Zimmers mit den Augen folgte.   «Und vor dass ich’s vergesse: Vergiss diesmal nicht was zu Essen, du Dummkopf.» Der Schalk in Yuriys Stimme war unüberhörbar, die keck hochgezogenen Mundwinkel unübersehbar. Mit einem letzten, koketten Schulterblick fing er Bryans müden aber amüsierten Blick und verschwand daraufhin aus dem Türrahmen. «Ich dich auch, Yuriy. Ich dich auch.» Kapitel 11: Medienhype ---------------------- Suizidversuch. Von wegen!   Yuriy zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, ehe er sie verächtlich in den Schnee schnippte. Der Morgen war kühl und nachdem er seit mittlerweile 4 Tagen das erste Mal endlich wieder eine halbwegs vernünftige Anzahl an Stunden geschlafen hatte, fühlte sich der mediale Hype rund um Kais Person wie eine unbarmherzig harte Faust an, die ihn mitten in sein verschlafenes Gesicht boxte.   Energisch und lange bliess er den blauen Zigarettenrauch aus seinen Lungen, den Blick dabei starr gegen Himmel gerichtet und mit einem Fuss nervös auf den Boden tippend. Die Medien machten ein Spiel daraus. Und wer wiederum die russischen Medien kontrollierte, das wusste Yuriy nur zu genau.   Niemals würde Kai sich freiwillig aus dem Leben verabschieden – NIE. Ganz im Gegenteil. Kai war ein Kämpfer, überaus zäh und intelligent, aber nicht unverwundbar.   Aktuell schien es nicht schlecht um den Grauhaarigen zu stehen, so zumindest schätze Dr. Beloussow die Lage ein. Seinem Bericht zu Folge waren Kais Werte seit der Notoperation stabil geblieben und wiesen einen positiven Trend auf. Yuriy vertraute dem jungen Arzt so, wie er selten einer Person in weissem Kittel vertraut hatte. Dr. Beloussow war keiner vom alten Schlag, er wollte seinen Patienten helfen und nicht einfach nur Geld verdienen.   Unruhig fuhr Yuriy mit seinem Finger über den Touchscreen seines Mobiltelefons und suchte nach weiteren, aus der Luft gegriffenen Medienmitteilungen rund um Kais Unfall. Würde das wohl zum Problem werden? Und wäre es klug mit einer Antwort an die Medien zu treten?   Nein das wäre es nicht, es würde doch nur noch mehr Schnee aufwirbeln. Jetzt, da fast die komplette Meute der Blade Breakers sich in und um das Krankenhaus bewegte, wären die medialen Konsequenzen undenkbar. Man stelle sich doch nur vor, wenn die Medien etwas über Kai und Hiromi herausfinden würden. Oder schlimmer noch, was wenn Boris Balkov davon Wind bekäme? Na ja, der Mistkerl hatte sicherlich schon über den Fall gelesen, immerhin hatte die erste Schlagzeile es nicht nur in Russland in die grossen Zeitungen geschafft. So war es ja Manabu gewesen der Yuriy, nach der Entdeckung des Artikels auf der Frontseite der Yomiuri Shimbun, telefonisch kontaktiert hatte.   Und im übrigen: Warum dachte er seit seinem Gespräch mit Bryan ständig an diesen Scheisskerl von Balkov? Sie hatten sich doch darauf geeinigt, dass eine Beteiligung seinerseits an diesem Ereignis nicht in Frage kommen könnte.   Ein schier rassendes Knurren entwich seiner Kehle als der Touchscreen seines Mobiltelefons nicht mehr zuverlässig auf seine Fingerbewegungen reagierte – was bei minus 14 Grad nicht verwunderlich war. Gehässig hätte er das Ding beinahe in den Schnee geschmettert, besann sich jedoch im letzten Moment und steckte es in seine Hosentasche zurück. Er würde das Ding die kommenden Tage wohl oder übel noch brauchen.   Er seufzte.   Eins lag auf der Hand. Solange die Medien nicht ausplaudern würden, dass Kais Zustand sich verbesserte und er gar durchkommen würde, wäre sein Schutz wohl weiterhin gewährleistet. Denn wenn wirklich jemand nach dem Leben des Halbrussen trachtete, so würde dieser zweifellos alles daran setzten es auch zu beenden.   Lang lebe die russische Arbeitsmoral. dachte der Rothaarige spöttisch, ehe er sich zurück zur Eingangshalle des Krankenhauskomplexes aufmachte.   —   In Kais Krankenzimmer war es ruhig. Die Anspannung der letzten Tage war zwar nicht wirklich verflogen, aber die Atmosphäre unter den Anwesenden hatte sich bedeutend entspannt. Nachdem sich vor allem Takao und Co. von ihrem Schrecken über Kais Zustand erholt hatten, schien eine neugewonnene Zuversicht die Gruppe in eine positive Richtung zu lotsen. Klar, Kai war noch nicht über den Berg, und doch hatten sie das gute Gefühl ihm durch ihre blosse Anwesenheit mehr geben zu können, als sonst irgendwie möglich gewesen wäre.   Rei und Takao waren gerade beim Frühstück in der Mensa, als Yuriy das Zimmer betrat. Manabu, Hiromi und Bryan hatten die beiden durchnächtigten Männer von ihrer Spätschicht abgelöst und befanden sich gerade zu dritt im Zimmer.   Hiromi sass dort wo man sie meistens antraf, direkt an Kais Bett, während Bryan und Manabu sich gerade mit den Auswertungen Dizzys zu beschäftigen schienen. Bildete Yuriy sich das nur ein, oder wirkten die beiden Jungs leicht aufgebracht?   Hiromi drehte ihren braunen Schopf in Yuriys Richtung und lächelte ihm mit traurigen Augen an, ehe sie sich wieder Kai zuwandte. Als Yuriy an das Bett herantrat, strich sie ihm gerade eine lange, ungewaschene Haarsträhne aus dem Gesicht.   «Kai würde es hassen sich uns so zeigen zu müssen.»   Yuriy verstand was sie meinte und nickte zustimmend. Nichts von alledem was passiert war, ging spurlos an dem Halbrussen vorbei. Schon nach 4 Tagen wirkten seine Gesichtszüge mager und das langsame Dahinschreiten der Stunden liess ihn mehr und mehr ungepflegt erscheinen.   «Lieber so, als nicht mehr unter uns. Da würde Kai uns sicher zustimmen.»   Hiromi antwortete nicht auf Yuriys Aussage, strich nur nochmals behutsam über Kais Schläfe und fuhr den Kiefer des jungen Mannes mit ihren Fingern nach. Hiromi litt. Sie litt schrecklich und das verstand Yuriy. Er hoffte nur, dass auch sie den aktuellen Entwicklungen irgendwann, und sei es auch nur ein ganz klein wenig, Positivität abgewinnen konnte.   Ihr knappes Gespräch schien beendet. Kurz noch verharrte Yuriy in seiner Position und betrachtete Kai, dessen Brustkorb sich regelmässig hob und wieder absenkte.   «Мой дорогой.» Hiromis Stimme war kaum mehr als ein Hauchen.   Irritiert blinzelte Yuriy ein paar Mal und horchte – aber alles schien wie immer. Für einen ganz kurzen Moment nur meinte er eine Beschleunigung von Kais Herzschlag ausgemacht zu haben. Die Herz-Lungen-Maschine gab jedoch, wie bereits in den letzten Tagen, einen unverändert langsamen aber regelmässigen Herzschlag Kais wieder. «Yuriy, kommst du bitte mal?»   Aus den Gedanken gerissen drehte Yuriy seinen Kopf zur Seite und streifte dabei Manabus Blick.   Was war denn nun schon wieder? Der Rothaarige entfernte sich vom Krankenbett und schloss zu den beiden in der Ecke des Zimmers sitzenden Jungs auf. Auf halben Wege nickte Yuriy Manabu auffordernd zu, er solle schonmal das Wort ergreifen – doch Manabu blieb stur und schwieg.   «Was los?» erkundigte Yuriy sich mit leiser, ungeduldiger Stimme.   Bei Manabu angekommen zeigte dieser nur wortlos auf den Bildschirm seines Laptops und kommentierte seine Handlung mit folgenden, trockenen Worten: «Das solltest du dir mal ansehen.»   Yuriy indes drehte sich so dass er einen guten Blick auf den Bildschirm hatte und verkniff sich gleich darauf einen wütenden Ausruf.   —   Waren Rauschmittel im Spiel? Staatsanwaltschaft überprüft den Tatbestand und ordnet polizeilichen Durchsuchungsbefehl an.   Aktuelles, Seite 3   —   Das ging in die falsche Richtung. Es war gerade einmal 9.30 Uhr am 4. Tag seit Kais verheerendem Unfall und schon jagte eine Schlagzeile die nächste. Das nun auch noch die Polizei eingeschaltet wurde, war äusserst bedenklich. Und ganz generell, ohne einen wirklich dringlichen Verdacht würde sich kein Polizeikommando in solch ein Unterfangen einmischen – zumindest nicht in Russland. Yuriy wollte es nicht aussprechen, aber das hier lief gerade gehörig aus der Hand.   Auch Manabu schien das zu wissen, denn als sich ihre Blicke trafen nickte der Japaner Yuriy bestätigend zu.   «Sag bescheid wenn es ein Update dazu gibt. Wir müssen da dran bleiben.»   Sein letzter Blick gehörte Hiromi und das obwohl sie, mit dem Rücken zu ihm gekehrt, wohl nichts davon bemerkte. Sie alle mussten tunlichst verhindern dass Hiromi etwas davon aufschnappte, denn diese alles menschenverachtenden Schlagzeilen würden der ohnehin schon stark angeschlagenen Japanerin sonst noch den Rest geben.   Leise verliess der das Krankenzimmer – er wollte die anderen beiden suchen und sofort informieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)