Two Couples - Two Christmas Lovestories von Aphrodi ================================================================================ 10. Dezember ------------ Marseille, 10. Dezember 2016, 23:38 Uhr   Das seichte Licht der Nachttischlampe erhellte das simpel eingerichtete Hotelzimmer. Stille beherrschte den Raum, sodass Phichit sogar das Atmen hören konnte, das zu der sich auf und ab bewegenden Brust gehörte, worauf sein Kopf bettete. Er konnte seinen Herzschlag an seiner Wange spüren, stetig, ruhig, angenehm. Der Thai seufzte leise, wohlig. Er genoss den Moment in vollen Zügen, doch ein bisschen Wehmut schwang mit. Nicht ewig würden sie so liegen bleiben können, viel zu bald musste die Person, die er am meisten auf der Welt liebte, wieder verlassen. Zärtlich malte er ungesehene Kreise auf die nackte Brust, die er längst zu seinem persönlichen Kissen auserkoren hatte. Quittiert wurde dies mit einem kurzen Kuss auf seinen Hinterkopf. Selbst wenn er nicht allzu viel davon spüren konnte, zauberte ihm die Geste ein kurzes, glückliches Lächeln aufs Gesicht. Glücklich sein – das sollte er eigentlich. Dankbar für das Glück, dass er hatte, für die Liebe, die er bekam. Und dennoch blieb das Lächeln nicht kurz. Es war ungewöhnlich für ihn, so ein Gesicht zu machen, doch immer, wenn sie dem Abschied entgegen blickten, wurde er traurig. Das war doch normal, nicht wahr? Niemand verabschiedete sich gerne von der Person, die er liebte. Vor allem dann nicht, wenn die Trennung Wochen dauern würde.   „Ciao Ciao?“   „Mh?“   „Willst du wirklich über Weihnachten nicht herkommen?“   Stille. Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber sprachen, aber Phichit konnte es einfach nicht gut sein lassen. Er wusste, dass sowohl in Italien als auch in den USA Weihnachten ein wichtiges Fest war. Ihm war klar, dass es nicht an einen Ort wie Bangkok gehörte. Und sicherlich hatte er Besseres zu tun, als Weihnachten genau dort zu verbringen – seine Familie besuchen zum Beispiel. Zusammen mit ihnen sitzen, feiern, Geschenke austauschen. Phichit wusste zumindest so viel über das Fest. Es gehörte zwar nicht zu seiner Religion, dennoch wurden vereinzelte, öffentliche Anlagen und Hotels dezent weihnachtlich geschmückt zu dieser Zeit, was dem Tourismus geschuldete war. Wenn Touristen Weihnachten in Thailand verbringen konnte, dann konnte Ciao Ciao das doch auch, so wünschte er.   Ciao Ciao seufzte schwer. „Ich kann nicht.“   Allein bei den Worten kuschelte sich Phichit beinahe protestierend mehr an die Brust des Älteren. Er wusste, dass die Frage, die in seinem Kopf herumschwirrte, falsch war. Sie durfte nicht ausgesprochen werden, wenn er nichts zerstören wollte. Dennoch kam sie wieder auf – wie so oft schon.   Bin ich dir nicht wichtig?   Das angenehme Gefühl von Ciao Ciaos Hand, die durch seine Haare strich, zauberte ihm eine Gänsehaut in den Nacken, die sich weiter über seinen Rücken ausbreitete. Ein schwacher Trost. „Wegen deinen Eltern, deiner Schwester und ihren Kindern. Ich weiß...“, murmelte Phichit schmollender klingend, als er war.   „Familie ist wichtig, da wo ich herkomme.“   „Da wo du herkommst, wohnen Männer auch noch bei ihren Eltern, bis sie heiraten“, sagte Phichit trotzig, angestachelt von seinen Worten. Familie war wichtig. Und er war es nicht? Gehörte er denn nicht zur Familie? War er nur ein Zeitvertreib? Phichit hob den Kopf bei Ciao Ciaos leisem, rauem Lachen, sah zu ihm, in das erheiterte Gesicht. Bei dem Licht sah er nur schöner aus, seine langen Wimpern zogen Schatten bis zu seinen Wangenknochen.   „Das sollte nicht witzig sein“, merkte Phichit an, stützte sich auf dem Bett auf, um hochzurutschen und sich hinzusetzen. Ciao Ciaos Hand schmiegte sich an seine Wange, kurz schloss er die Augen, während er seine eigene dazu legte. „Ich will nicht, dass du mich immer alleine lässt...“   „Und ich will dich nicht alleine lassen“, sagte Ciao Ciao ruhig, ernst. „Trotzdem kann ich nicht für immer in Bangkok bleiben, das weißt du.“   „Ich weiß“, bestätigte er kaum hörbar. Phichit hatte es schon gewusst, bevor er Detroit verlassen hatte. Er hatte immer gewusst, dass es nicht leicht sein würde, nachdem sie sich jahrelang beinahe täglich gesehen hatten. Damals dachte er, er würde das schon schaffen, schließlich hatte er es auch immer geschafft, wenn Ciao Ciao mit Yuuri bei einem Wettkampf gewesen war. Nun war es völlig anders als erwartet. Er musste naiv gewesen sein.   „Wir könnten heiraten“, kam es plötzlich aus seinem Mund, ohne, dass er groß darüber nachgedacht hatte. Es war ein kleiner, heimlicher Wunsch, der für ihn alles besser machen würde. Sie wären eine Familie, er wäre ein viel größerer Teil von Ciao Ciaos Leben. Er wäre wichtiger als nur sein Geliebter zu sein – und ganz oben drauf könnten sie zusammen wohnen, selbst wenn das bedeutete, dass er zurück nach Detroit gehen müsste. Thailand war schön. Es war schön, dass er in seinem Heimatland Eislaufen konnte, so wie früher, als er klein war. Ohne Ciao Ciao allerdings war es nicht halb so schön, wie sein Leben sein könnte, da war er sich sicher. Wenn er sich zwischen der heimischen Eishalle und seinem Trainer entscheiden musste – er würde letzteres wählen.   „Manchmal sagst du verrückte Dinge, Phichit.“   „Ich meine es ernst. Ich bin jetzt erwachsen und längst nicht mehr der Junge, der ich war, als ich nach Detroit kam. Das musst du doch selbst sehen“, stellte Phichit klar, energisch, drückte die Hand an seiner Wange dabei fester. Er konnte in Ciao Ciaos Gesicht sehen, dass er überrascht war, lächelte ihn an, zuversichtlich, dass ein besseres, schöneres Leben vor ihm liegen würde, zusammen mit Ciao Ciao. „Stell dir vor, wie ich in einem weißen Anzug aussehen würde. Du würdest es nicht bereuen“, sprach er weiter, da von seinem Liebhaber nichts kam. Er verlor sich ein wenig in seiner Euphorie bei der Vorstellung. Ciao Ciao allerdings lächelte nur, wanderte mit der Hand von seiner Wange in den Nacken und zog ihn daran zu sich in einen Kuss. „Ich weiß...“, murmelte es an seine Lippen.   Gefangen in einem Kuss, der mehr und mehr intensiv wurde, verdrängte Phichit den Gedanken wieder ein ganzes Stück in die Zukunft und genoss das, was er direkt vor sich hatte. 13. Dezember ------------ Memphis, 13. Dezember 2016, 14:35 Uhr   Henri traute seinen Augen kaum bei dem Bild, das sich ihm bot. Er hatte schon vieles gesehen und er wusste, dass er noch viel mehr von Aguri erwarten konnte, was ihm das Glauben erleichterte. Wollen tat er es allerdings nicht. „Du verarscht mich“, nörgelte er und sah völlig entgeistert zu dem Japaner, der nicht nur einen furchtbar hässlichen Pulli trug, sondern einen ebenso schrecklichen in der Hand hielt. Eines musste man ihm lassen: Sie waren nicht im Partnerlook. Besser machte es das allerdings trotzdem nicht.   „Nein, ich meine das ernst!“, sagte Aguri fröhlich und hielt Henri den Pulli mit einem breiten, stolzen grinsen entgegen. „Ich wusste, dass du ihn mögen würdest!“   „Du wusstest das also, so so... Du bist doch bescheuert. Den kannst du gleich wieder zurück bringen.“ Damit war das Thema für Henri beendet. Er drehte ab und ging an dem Japaner vorbei aus der Eishalle. Weiter hinten auf dem Eis hatte schon jemand anderes Wind von der ganzen Aktion bekommen, der niemals davon erfahren hätte sollen.   „Henri! Warte!“, hörte er hastig Aguri hinter ihm rufen, hörte seine Schritte auf dem Boden des Ganges. Er wurde verfolgt. Natürlich wurde er das. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass der Japaner ihm einfach so hinterher lief und es würde nüchtern gesagt auch nicht das letzte Mal bleiben. „Willst du den Pulli nicht mal anprobieren? Lass mich sehen, ob er passt!“   Henri verzog das Gesicht. Nein, er wollte den Pulli nicht anprobieren. Er musste auch nicht passen, denn Aguri sollte ihn direkt wieder umtauschen. „Ich will deinen Pullover nicht. Hast du ihn dir mal angesehen? Das Teil ist total hässlich.“   „Ist das nicht Sinn der Sache?“   „....Was?“ Henri drehte sich tatsächlich zu ihm um und sah mit einem Blick zu dem Japaner, der irgendwo zwischen fassungslos und ernsthaft irritiert lag. Er wollte doch nicht, dass Henri hässlich rumlief, damit ihn keiner mehr haben wollte, oder? Das traute er Aguri nicht zu.   „Na, diese hässlichen Weihnachtspullis. Die sind doch total beliebt in den USA.“   Ernüchterung mischte sich mit der stillen Erkenntnis, dass Aguri wirklich ein riesiger Idiot war.   „Nicht bei mir. Außerdem bin ich Kanadier, die haben weit mehr Geschmack.“   „Oh... Findest du nicht, dass-“   „Nein.“ Er brauchte sich Aguris Worte gar nicht zu Ende anhören, wusste direkt, dass Nein, die richtige Antwort auf alles war, was aus seinem Mund kommen könnte.   „Du hast mich gar nicht ausreden lassen!“   „Brauche ich auch gar nicht.“   Während Aguri ein empört-beleidigtes Gesicht machte, ging Henri weiter in die Umkleidekabine, um sich aus seiner Trainingskleidung zu befreien und unter die Dusche zu springen. Natürlich folgte Aguri ihm weiterhin, aber immerhin war er für den Moment ruhig. Henri hatte ihn endlich einmal zum Schweigen gebracht – ein seltener Moment, der viel Anerkennung forderte. Der Kanadier zog seine Kleidung aus, versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass Aguri einfach nur da auf der Bank saß, mit dem Pulli auf dem Schoß und ihn ansah. Creepy, war sein erster Gedanke, unverschämt sein zweiter. „Ich schwöre dir, wenn du mich unter die Dusche verfolgst, werf ich dir mein Duschgel an den Kopf“, drohte Henri, schielte kurz zu ihm und griff sich dann seine Sachen, um aus der Umkleide zu verschwinden.   „Dich hab ich schon oft genug nackt gesehen, was ist da noch bei?“, fragte Aguri verständnislos, ließ seinen mit einem Handtuch bekleideten Freund dennoch einfach gehen. Er würde warten, das wusste Henri – ein Grund mehr extra lang zu duschen, egal ob das die Haut austrocknete oder nicht. Verstehen, was das alles sollte, konnte er nicht. Dass Aguri anfällig dafür war, irgendwelchen Plunder zu kaufen, war bekannt. Aber einen hässlichen Pulli, der obendrein nicht aussah, als wäre er für Männer geschnitten? Schwarz mit rosa und blau, dazu noch Schneeflocken und Eisbären... Welcher Mann trug das? Aguri konnte nicht im Ernst glauben, dass er so etwas anziehen würde. Was für einen Schwachsinn hatte er sich dieses Mal wieder dabei gedacht? Es war immer schwer, Aguri zu verstehen – seien es nun seine Worte, die zugegeben besser geworden waren mit der Zeit, die er in den USA verbrachte, oder auch den Sinn, den er in Dingen sah, die er tat. Um Aguri zu verstehen, musste man vermutlich Aguri sein. Etwas, auf das Henri dankend verzichten konnte, übrigens.   Sollte er den Pullover doch selbst anziehen, wenn er ihm so gefiel. Alberne Pullis mit kitschig-peinlichen Motiven passten sowieso besser zu ihm.   Als er die Dusche wieder verließ, hörte er Stimmen, die sogleich seine Skepsis hervorriefen. Eine war Aguris, eine war... Lynns. Einmal tief ein und aus atmend ging er gespielt unbekümmert zu seinem Platz zurück. Dabei wusste er schon, was als nächstes passieren würde – er mochte den Gedanken nicht.   „Da kommt ja der Glückliche“, witzelte Lynn und sein ach so nettes Lächeln war für Henri schon längst viel mehr als das. So lange, wie sie sich schon kannten, wusste er, dass sehr vieles, was bei seinem Eiskunstlauf-Kollegen nett aussah oder klang, absoluter Sarkasmus und Boshaftigkeit war. Direkt verzog er – wenn auch nur kurz – die Mundwinkel nach unten, wandte den Blick dann aber von Lynn und Aguri ab. Wenn Henri etwas konnte, dann war es ignorieren und so zu tun, als interessierte ihn das alles null. Aber Lynn reichte das noch nicht. „Dein Bonbon hat mir erzählt, der Pullover ist aus der Damenabteilung. Ist das nicht niedlich? Ich versteh nicht, warum du ihn nicht anprobieren willst, wo er sich so viel Mühe gegeben hat und sogar dort nach dem perfekten Pullover gesucht hat~“   Henri hatte es ja gleich gewusst, dass dieses Ungetüm mit pastellfarbenen Eisbären niemals woanders in dieser Größe hängen konnte. An die Kinderabteilung wollte er gar nicht denken. Mädchenpullover, die ihm passen würden – nein! „Du könntest auch einfach deine Klappe halten“, schlug er betont ruhig, aber deutlich bissig vor.   „Könntest mich ja zum Schweigen bringen. Aber dazu wärst du nicht mal in der Lage, wenn du nicht so ein kleiner Fliederbusch sein würdest. Zu dumm~“   „Wieso wehrst du dich so dagegen?“, mischte sich schließlich auch Aguri wieder ein, sah tatsächlich ein wenig traurig zu ihm. Es war ungewohnt ihn mit so einem Gesicht zu sehen. Es musste schon viel passieren, um ihm sein dämliches Grinsen aus dem Gesicht zu wischen oder nicht wenigstens einen trotzigen Blick heraufzubeschwören. Dass Henri seinen mit viel Mühe ausgesuchten Pullover – ernsthaft, Henri konnte nicht glauben, dass da wirklich viel Mühe hinter steckte! - nicht wollte, machte ihn anscheinend wirklich traurig, enttäuschte ihn.   „Dass es für dich nicht offensichtlich ist, sagt doch alles“, merkte Henri genervt seufzend an. Bevor er sich noch erkältete, weil sie ewig diskutierend in der Kabine herumstanden, zog er sich seine Kleidung über und als er seinen Pullover über den Kopf zog, war es endgültig. Er würde Aguris Mitbringsel nicht überziehen. Wer zog schon einen Pullover über einen Pullover? Er jedenfalls nicht.   „Du bist echt herzlos, Igelchen“, merkte Lynn an und zuckte die Schultern.   „Und du bist schlecht darin zu verbergen, dass du Ugly nur deswegen unterstützt, weil du dich darüber lustig machen willst.“   „So böse~ Wie könnte ich?“   Als wollte er die Aufmerksamkeit zurückerlangen, mischte sich auch Aguri wieder ein. „Wenn du ihn wirklich nicht magst, hole ich dir einen anderen“, schlug er vor – Henri war nicht begeistert. Einen anderen? Er hatte überhaupt nicht begriffen, dass er gar keinen wollte, so wie es aussah. Genervt seufzte er, schulterte seinen Rucksack.   „Mach, was du willst. Mit Pullover kommst du mir nicht in die Wohnung.“   Damit war die Geschichte für Henri erledigt. Für Aguri aber nicht. 17. Dezember ------------ Bangkok, 17. Dezember 2016, 12:41 Uhr   Phichit fühlte sich längst einsam ohne Ciao Ciao. Nach dem Grand-Prix-Finale waren sie getrennte Wege gegangen. Sein Trainer war zurück nach Detroit geflogen und würde es erst vor Neujahr wieder zu seinem Training nach Bangkok schaffen. Zumindest hatte er das verkündet. Die Feiertagen waren stressig und Phichit musste wohl oder übel noch ein paar Tage darauf verzichten, dass er ihm wieder beim Eislaufen zusah. Für seine Karriere gesehen, war es schwer genug – dieses Training auf Entfernung. Doch das war für Phichit gar nicht das Wichtigste. Es war nicht schlimm, im Vergleich zu dem, was es mit seinem Herzen machte. Der Thailänder vermisste ihn. Er konnte einfach nicht aufhören an ihn zu denken, aber das war doch normal, nicht wahr? Wenn man verliebt war... Phichit seufzte schwer – etwas, das man selten von ihm sah. Aber in Zeiten wie diesen war er längst nicht mehr ein ausgelassener Strahlemann. Wenn Ciao Ciao bei ihm war, konnte er ausgelassen sein. Er genoss die Zeit so gut er konnte, aber hauptsächlich war es sein Herz, dass so schnell schlug, wie könnte er dabei unglücklich oder ernst sein? Mit jedem Satz, den es machte. Mit jedem Blick in Ciao Ciaos Gesicht. Das wissen alleine, dass er da war, bei ihm. Es ließ ihn sprudeln vor Glück.   Mit Ciao Ciao an seiner Seite konnte er der Welt die Freude aufs Eis bringen, die es verdient hatte.   Aber ohne ihn...   „Phichit, ich sehe, dass du dich anstrengst. Aber das ist nicht dein Bestes, das weiß ich“, sprach Satsuki ihn von hinter der Bande aus an. „Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen.“   „Nein! … Nein“, brach es aus ihm heraus. Es war ein Problem, dass er in den Griff kriegen müsste, das war ihm klar. Trotzdem wollte er deswegen nicht das Training abbrechen. Phichit war bewusst, dass er sich mehr konzentrieren musste. Auf das Eis. Auf seine Kür. Ciao Ciao wäre enttäuscht, wenn er von dieser Leistung hören würde. Er musste immer sein Bestes geben, nur so konnte er seinem Trainer noch mit einem guten Gefühl begegnen. „Tut mir leid... ich werde mich mehr konzentrieren, versprochen.“ Direkt nach seinen Worten drückte Phichit seiner Trainerin sein Handy in die Hand, welches er aus seiner über die Bande hängende Jackentasche gegriffen hatte, als Austausch gegen die Wasserflasche.   „Kannst du ein Video machen? Ich möchte es Ciao Ciao zeigen.“ Phichit war sich sicher, dass es helfen würde. Es wäre genug Ansporn und ehrlich gesagt wollte er sich bei ihm melden – und sei es nur so ein banaler Grund wie Trainingsfortschritt. Dass sein Trainer viel beschäftigt war, nicht nur mit Weihnachtsvorbereitungen sondern auch mit seinen anderen Schülern, das wusste der Thai. Deshalb – egal wie gerne er ihn auch mit Nachrichten, Anrufen und Liebe bombardieren wollte – meldete er sich selten. Er hielt sich zurück. Natürlich nutzte er so jede kleine Gelegenheit, die sich ihm bot, oder die er für sich selbst erschaffen konnte. Außerdem wusste er, dass Ciao Ciao ihm bei Instagram folgte.   „Wenn du das möchtest“, stimmte Satsuki nickend zu, dann lächelte sie etwas. „Dann musst du jetzt aber dein hellstes Scheinen aufs Eis bringen.“   Nichts Anderes hatte er vor.   ~   Später am Abend kündigte sein Smartphone unverhofft einen Videoanruf an. Phichit sah auf den Bildschirm, kurz enttäuscht, doch dann setzte er ein Lächeln auf. „Yuuri~“, sagte er und während sein ehemaliger Rinkmate auf dem Bildschirm erschien, wurde die Freude ehrlicher. Der Thai mochte es, vertraute Gesichter zu sehen, besonders wenn er mit ihnen eine so große Freundschaft verband wie mit dem Japaner. Nicht nur Ciao Ciao sah er viel zu selten, sondern auch seinen besten Freund. „Sawadee khap!“   „Sawadee khap“, echote der Japaner, hatte den Sprachgebrauch längst übernommen. „Wie geht es dir?“   „Bestens! Und dir sicher auch. Ist das Viktor im Hintergrund~?“   „Ja, er ist gerade am Kochen“, antwortete Yuuri verlegen. „Viktor, willst du auch Hallo sagen?“ Bei der Frage hob der Russe die Hand und winkte überschwänglich. „Hallo~!“, hörte er ihn rufen, doch vom Herd bewegte er sich nicht. War sicher auch besser so für das Essen, nicht, dass am Ende was anbrannte, weil er so abgelenkt war. Phichits Lächeln blieb dadurch ungesehen, als er zurück grüßte. Dann bekam Yuuri wieder die volle Aufmerksamkeit.   „Schön, dass du anrufst. Gibt es dafür einen besonderen Grund?“ Immerhin wartete er schon eine ganze Weile darauf, von ihrer Hochzeit zu hören, wo sie doch nun schon eine halbe Ewigkeit verlobt waren, sie hatten die Jahresgrenze schon überschritten. In erwartungsvoller Neugierde hob er seine buschigen Augenbrauen, grinste wissend.   „Ja, du hast mich erwischt“, gab der Japaner zu und kratzte sich an der Wange. Und schon wurden Phichits Augen größer. „Ich hab dein Video gesehen“, begann er, was erstmal mit einem Seufzen quittiert wurde. Dahin waren die großen Neuigkeiten. „Du bist echt wahnsinnig gut gelaufen, da musste ich irgendwie zum Telefon greifen.“   Phichit lachte trocken auf. „Mein ganzes Herz liegt in diesem einen Lauf und die Person, der er gewidmet ist, schafft es nicht mich vor meinem besten Freund anzurufen.“ Am anderen Ende saß ein ziemlich verdutzter Yuuri am Telefon. Erst als Phichit anfing abzuwinken und herzlich zu lachen, lockerte sich der Japaner wieder. „Was war das gerade?“   „Nicht so wichtig! Erzähl mir lieber mal, wann ihr zwei endlich heiratet. Wenn ihr euch noch länger Zeit lasst, dann tanzt ihr am Ende zuerst auf meiner Hochzeit, statt auf eurer eigenen.~“   „W-Was?! Phichit, bist du etwa-?!“   „Nein~! Aber was nicht ist, kann ja noch kommen“, sagte er grinsend, dann zwinkerte er ihm zu. Das entsetzte Gesicht des Japaners war lustig anzusehen, selbst da noch, als es sich schon wieder ein wenig beruhigte. Ein gewisses Maß an Aufregung war ihm allerdings immer noch anzusehen.   „Dann gibt es da jemanden?“   „Vielleicht~“, schmunzelte Phichit, zuckte ganz unwissend tuend mit den Schulter.   „Das freut mich für dich, ehrlich.“ In Yuuris milde lächelndem Gesicht konnte der Thai nur zu gut sehen, wie ehrlich er es meinte. „Wenn er dich auf dieses Level hebt, muss ich mir allerdings auch gleichzeitig Sorgen machen...“   „Yuuri~ willst du etwa aufgeben?“, mischte sich Viktor vom Herd ein. „Ohne Goldmedaille gibt es keine Hochzeit.“   Während Yuuri bedröppelt versuchte, Viktors Worte mit irgendwelchen Lauten zu übertönen begann Phichit wieder herzlich zu lachen. Er wünschte sich jetzt genau das zu haben, was sie hatten. Er wollte mit Ciao Ciao zusammen sein können – immer. Er wollte, dass er für ihn kochte, ihn heiratete, ob nun mit oder ohne Goldmedaille. Diesen Plan würde er auf keinen Fall aufgeben!   „Ich sagte ja, am Ende tanzt ihr zuerst auf meiner Hochzeit~“ 22. Dezember ------------ Belleville, 22. Dezember 2016, 18:15 Uhr   „Es ist alles so bunt!“, stellte Aguri begeistert fest, als er aus dem Autofenster die in allen möglichen Farben erhellten Häuser, Bäume und Brücken bestaunte. Überall – aber ganz besonders an so manchem Wohnhaus waren Lichterketten in verschiedenen Farben angebracht. Manche komplett bunt, manche rot, blau, grün oder gelb. Alles zusammen mischte sich in ein unglaublich verstörendes Bild von Weihnachtsbeleuchtung zusammen, das man so wohl kaum woanders auf der Welt fand. Es hatte keine Ordnung, keinen Sinn für Ästhetik. Wild sah es aus, auf eine unangenehm hässliche Art. Für Henri war es ein altbekanntes Bild, schließlich war er damit groß geworden, doch eigentlich mochte er einfarbige Weihnachtsdeko lieber – ganz besonders die in warmweiß. Dass Aguri Begeisterung für dieses Augenkrebs erzeugende Dekospektakel aufbringen konnte, verwunderte ihn aber nicht. Das mit dem Geschmack war nicht gerade seine Paradedisziplin.   „Henri, schau doch mal hin! Du siehst ja gar nichts davon!“   „Vielleicht will ich es ja auch gar nicht sehen.“   „Aber die Weihnachtsbeleuchtung!“   Henri seufzte, startete aber nicht einmal einen Versuch aus dem Fenster zu sehen. „... sieht nicht anders aus als jedes Jahr. Wenn ich Augenkrebs will, kann ich genau so gut dich ansehen“, stellte er trocken fest, denn wie immer war sein Outfit modisch als ebenso wild einzuordnen wie die bunten Lichter. Böse Zungen würden sagen, dass die Kombination von pink, rot und blaukarriert ein Anschlag auf jedermanns Sehnerv war. Aber Lynn war nicht da.   „Das ist gemein“, beklagte sich Aguri, zog eine Schnute und griff an Henris Ärmel. „Wenn du das denkst, warum hast du mir das nicht vor dem Abflug gesagt?“   „Als ob du auf mich gehört hättest...“ Mal ehrlich, so naiv war er jawohl nicht. Natürlich machte Aguri was er wollte, dazu gehörte auch die Auswahl seiner Kleidung. Kleidung, die Henri niemals anziehen und gar nicht erst kaufen würde. Und obwohl er sie nicht mochte, trug der Japaner sie trotzdem immer noch. Was sagte das darüber aus, wie sehr sich Aguri von ihm reinreden ließ? Alles.   „Wir treffen doch aber gleich deine Eltern!“   Henri hob eine Augenbraue, sah ihn an. Es war wirklich ein Segen, dass es im Taxi so dunkel war. „Na und?“   „Was, wenn sie genau so denken wie du?“   „Ist ja niedlich, dass du einen guten Eindruck machen willst“, spöttelte Henri ein wenig, zuckte dann aber mit den Schultern. „Glaubst du, Leute, die ihr Haus so schmücken, haben ein Problem mit deinem Outfit?“   Dass keine Antwort kam, gab Henri zu verstehen, dass Aguri ihm nicht folgen konnte. Stattdessen wurde er nur angesehen mit einem Blick, den er schon viel zu oft gesehen hatte, wenn der Japaner ihn nicht verstanden hatte – sei es nur wegen fehlender Englischkenntnisse oder weil er angeblich in Rätseln sprach. Ziemlich simple Rätsel, wenn man ihn fragte. Für Aguris Gehirn offenbar nicht simpel genug. „Du wirst es schon noch verstehen.“ Oder auch nicht.   Als das Taxi schließlich an der beschriebenen Adresse hielt, stiegen sie aus und standen vor einem bunt geschmückten Einfamilienhaus. Unter dem Dach hingen viele blaue Lichter herunter, um die Fenster herum leuchtete es bunt. Auch die Bäume und Büsche im Garten waren voll behangen mit Lichtern, manche in grün, manche rot, andere völlig bunt. Dazu standen beleuchtete Figuren im Vorgarten. Aus jedem Fenster heraus leuchtete es, so als wäre jeder Raum betreten – eigentlich war das aber nur Dekoration auf der Fensterbank. Um das ganze würdig abzurunden, hingen leuchtende Kränze in den Fenstern. Henri stellte ernüchtert fest, dass das ganze Dach dieses Mal immerhin nicht beleuchtet war. Schade fand er das allerdings nicht.   „Woah!“, brach es erst einmal aus Aguri heraus. Henri drückte ihm seinen Koffer in die Arme, doch der Blick vom Japaner blieb weiter auf dem Haus, das mit seinen Augen um die Wette strahlte. Also bezahlte Henri den Taxifahrer...   „Nun komm endlich, es ist kalt“, forderte Henri ihn auf, denn er hatte keine Lust, länger draußen zu stehen, um das Grauen zu bestaunen, wo die kanadischen Außentemperaturen nochmal deutlich kälter waren als in Tennessee. Ein Grund mehr übrigens, warum er im Winter nicht gerne in Japan war. In Kanada war es zwar sehr kalt, er konnte sich aber wenigstens ins warme Haus verkriechen und dort ausharren. Bei Aguris Familie dürfte es im Haus nicht viel wärmer sein als draußen... Ein schrecklicher Gedanke.   „Komme!“, bestätigte Aguri freudig und eilte los – er war eben ein Idiot.   „Vorsicht, der Weg ist-“ Weiter kam er nicht, da spürte er einen Ruck und zwei klammernde Hände an seinen Schultern, die nach Halt suchten. Beinahe hätten sie ihn selbst umgerempelt. „...vereist...“ Aguri lachte verlegen, nutzte aber die Chance, um seine Arme von hinten vollends um den Kleineren zu schlingen. Zu Henris Unmut blieben sie so stehen – aber immerhin war es nicht ganz so kalt mit diesem Idioten an seinem Rücken.   „Was ist neuerdings mit dir los?“, fragte Henri verständnislos. Und wie lange wollte er noch so vor dem Haus herumstehen?   „Denkst du, sie werden mich mögen?“   Eine Frage, die so überraschend kam, dass Henri kurz selbst die Worte fehlten. Deshalb standen sie hier rum? Weil er Angst hatte? Angst davor, was hinter dieser Tür lauern würde? Weil er die Ablehnung seiner Eltern fürchtete? Seit wann machte er sich überhaupt solche Gedanken? „Daran hast du bei mir doch auch nie gezweifelt – völlig zu unrecht übrigens. Also fang jetzt nicht damit an.“   „Bei dir hatte ich aber auch Recht, immerhin magst du mich mehr, als du gerade zugibst. Du liebst mich.“ Unter Knuddeln begann Henri zu grummeln. Bestätigen würde er das jetzt nicht. Aguris Kopf sank schwer auf Schulter. „Aber wenn deine Eltern mich nicht mögen, wie soll ich dann bei ihnen um deine Hand anhalten?“, sprach er ruhig, leiser und so ernst, wie Henri es selten von ihm gehört hatte. Offenbar machte er sich wirklich Sorgen deswegen. So wichtig war ihm der elterliche Segen?   „Unglaublich, dass ich das mal sagen würde... „“, begann Henri, seufzte schwer, als würde eine tragische Pause alles besser machen. „Du solltest ehrlich weniger denken.“   „...Eh?“   „Sei einfach der fröhliche, dumm vor sich hin grinsende Kerl – wie immer. Benutz nicht dein Gehirn, aber dein großes Herz. Unmöglich, dass sie dich dann nicht mögen werden.“ Bevor er Aguri etwas erwidern hörte oder er selbst noch anmerken konnte, dass sie doch jetzt endlich zur Tür gehen sollten, spürte er eine Hand an seiner Wange, die bestimmend seinen Kopf zur Seite drückte – nur um dort auf ein warmes, weiches Lippenpaar zu treffen. Dieser Idiot.   „Geht's dir jetzt besser?“, fragte Henri unnötig, nachdem er den Kuss – der länger ausgefallen war als geplant – gelöst hatte.   „Ja!“, antwortete Aguri sofort, breit grinsend.   „Dann können wir ja jetzt endlich“, merkte Henri an und deutete zur Tür. Die von ihm zu Aguri ausgestreckte Hand wurde erst einmal wie ein Autounfall ungläubig angesehen, dann aber sofort ergriffen. „Ach... und noch was.“   „Ja?“   „Keine Heiratsanträge.“   „...“ 24. Dezember (1) ---------------- Belleville, 24. Dezember 2016, 17:53 Uhr   Im Wohnzimmer erhellten leise, weihnachtliche Klänge die Umgebung. Kleine Dekorationen sprachen davon, dass Weihnachten nahte, ganz besonders großer Zeuge davon war allerdings der Weihnachtsbaum. Manchmal fragte er sich, was Aguri alles durch den Kopf ging, schließlich war es sein erstes „richtiges“ Weihnachtsfest – so ganz anders als das, was sie in Japan an Heiligabend taten. Die Weihnachtsdekoration hatte es zwar auch dorthin geschafft, genau wie die Geschenke, aber hier war es doch nochmal etwas völlig Anderes. Doch Aguri wäre nicht Aguri, wenn er keinen Spaß an so viel Kulturschock hätte. Henri war sich sicher, dass er das alles total genoss. Japaner eben.   „Henri!“, sprach er ihn plötzlich an, wodurch er erst einmal aus seinen Gedanken hochschreckte. Mit grummeligem Gesichtsausdruck sah er in das Gesicht des Japaners, das sofort ein besänftigendes Grinsen aufsetzte – das übrigens keine Wirkung zeigte.   „Erschreck mich nicht so“, tadelte Henri und so wendete er den Blick wieder ab zum Fernseher. Sie saßen schließlich nebeneinander auf dem Sofa, da würde er ihn jawohl auch verstehen, wenn er ihn nicht ansah.   „Was passiert denn jetzt noch?“ Aguris Worte klangen ungeduldig – und nicht nur das. Seine ganze Ausstrahlung war so hibbelig, dass es schon nervte, wenn er nur neben ihm saß.   „Nichts?“, zuckte er mit den Schultern und nahm den Blick nicht vom Fernseher. „Nachher gibt es noch Essen.“   „Wie, es passiert nichts? Es ist doch Weihnachten.“   „Weihnachtsabend“, korrigierte Henri ihn. „Ist nichts besonderes. Oder willst du etwa in die Kirche gehen? Ansonsten...sitzt man halt zusammen.“   „Und was ist mit den Geschenken? Wann geb ich dir mein Geschenk?“   Henri zog die Augenbrauen hoch, löste den Blick vom Fernseher. Wie schlecht informiert war er denn? Hatte er noch nie einen Weihnachtsfilm gesehen? Die Frage konnte sich Henri schneller beantworten, als ihm lieb war. Nein, sicherlich schaute Aguri keine amerikanischen Weihnachtsfilme. Und kanadische noch weniger. Er stand eben total auf Animes. „Geschenke gibt es morgen früh, wenn Santa sie gebracht hat. Du weißt schon, man geht schlafen und wenn man aufwacht, war Santa da.“   „Also tun wir heute... wirklich nichts?“ Aguris Worte klangen enttäuscht. Henri seufzte.   „Was willst du denn machen?“   „Ein richtiges Weihnachts-Date haben“, verkündete Aguri und hinter ihnen konnte Henri seinen kleinen Bruder prusten hören. Irgendwo zwischen schockiert und empört ging sein Blick in die Richtung, in der das grinsende Gesicht von Thierry ihn ansah, bevor der die Treppe hinauf verschwand.   „Ein Weihnachts-Date“, wiederholte Henri monoton. „Und wie soll so ein Weihnachts-Date aussehen?“   „Zuerst gehen wir raus und sehen uns die ganzen Lichter an!“ Und schon war die Begeisterung auf Aguris Gesicht zurück. Henri bereute direkt, gefragt zu haben. Nie im Leben würde er freiwillig einen Fuß vor die Tür setzen. Draußen war es kalt und die Lichter waren es seiner Meinung nach nicht wert, vom Sofa aufzustehen. Aber der Japaner wollte, das konnte er ihm ansehen. Nichts, aber auch wirklich nichts war schlimmer, als ein unzufriedener Aguri, den man den ganzen Abend ertragen musste. Also stand er bereitwillig auf. „Dann komm, zieh dir deine Jacke an“, forderte er, nachdem er in den Flur ging, um sich selbst in Jacke und Stiefel kleidete.   Erst gingen sie nur die Straße entlang, betrachteten die Häuser, die selbst so auffällig geschmückt waren, dass sie sich eigentlich einen öffentlich geschmückten Ort sparen konnten. Während Aguri zufrieden umher sah, die Hand dabei in Henris Jackentasche, sah er selbst eher aus wie ein angefrorener Igel, den man aus seinem Winterschlaf geholt hat. Dabei hatte er in seinem Unterschlupf alles gehabt, was er brauchte. Wärme. Essen. Einen Fernseher. Es war überraschend, dass Aguri so ruhig sein konnte, wenn er zufrieden war. Aber auf eine Art war es auch angenehm. „Und? Weihnachts-Date genug?“   Aguri lachte auf, drückte die Hand in Henris Jackentasche fester. „Noch lange nicht genug! So viele Lichter, wie es hier anzusehen gibt, da höre ich doch nicht nach einer Straße auf.“   „Ich hatte befürchtet, dass du das sagst...“   „Muss man eben ausnutzen – alles einfach. Außerdem ist es viel ruhiger hier draußen. Bei uns in Japan wären die Straßen so voll, dass man es gar nicht richtig genießen könnte. Aber das hier...“ Eine Straßenlaterne erhellte beim Vorbeigehen Aguris Augen so, dass es aussah, als würden sie leuchten. „Ich bin glücklich, dass ich mit dir diese Lichter hier sehen kann, Henri!“   Henri hüllte sich in Schweigen dazu. Er wollte in der Situation nichts Grummeliges sagen, aber er wollte auch nicht kitschig sein. Da hatte er gar keine Wahl, als dass er einfach den Mund hielt und Aguris Worte so hinnahm. Der Japaner nahm es sachte lächelnd zur Kenntnis, kam mit der wieder aufkommenden Stille offenbar nicht so ganz klar. Irgendwie musste er sein Glück ja nach außen kehren und so streichelte er mit dem Daumen über Henris warme Hand, löste seine Finger, um liebevoll mit Henris zu spielen.   „Also... wie geht so ein Weihnachts-Date jetzt weiter?“, fragte Henri schließlich, nachdem sich ihre Blicke getroffen hatten und eigentlich nach einem Kuss verlangten. Ablenkend genug war seine Frage dann doch gewesen, sodass die Stimmung vorerst wieder verpufft war. Für Aguri dürfte das ziemlich schade sein, hatte er heute erst einen einzigen Kuss bekommen, weil Henri es einfach zu unangenehm und peinlich war, es vor seinen Eltern zu tun – oder wenn auch nur irgendjemand in der Nähe sein konnte. Sein kleiner Bruder sah schließlich alles!   „Man hat ein romantisches Candle-Light-Dinner“, antwortete Aguri hilflos, so als würde er selbst wissen, dass sie das heute wohl nicht haben würden. Erstens, weil sie gar kein Geld dabei hatten, um eine Restaurantrechnung zu bezahlen. Zweitens, waren sie nicht mal dafür angezogen und drittens – am wichtigsten von allen – würde seine Mutter für sie alle das Abendessen kochen.   „Okay, und dann?“   „Tauscht man mit seinem Partner Geschenke.“   „... Und dann?“, fragte Henri genervt, als würde er sich wiederholen. Ziemlich kläglich, für ein Weihnachts-Date. Warum hatte Aguri nochmal drauf bestanden, wenn doch nahezu nichts von dem ausführbar war, was so als Weihnachts-Date durchging?   Aguri schwieg, was Henri ein ungutes Gefühl bereitete. Sein Blick war zugleich fordernd als auch fragend und formte unausgesprochen erneut die Worte. Und dann?!   „Dann hat man Sex!“, platzte es schließlich aus Aguri heraus, wo Henri ihn so unter Druck gesetzt hatte. Er wollte es ja unbedingt wissen. Bei der Antwort allerdings entgleiste ihm das Gesicht. Undenkbar, dass es dazu kommen würde, wenn seine Eltern und Thierry im Haus waren...   „Das Date ist beendet.“   „Henri!“ 24. Dezember (2) ---------------- Bangkok, 24. Dezember 2016, 19:13 Uhr   Phichit war ehrlich enttäuscht gewesen, denn in all den Tagen nach dem Video war der ersehnte Anruf, die ersehnte Nachricht, nicht gekommen. Andere Leute hatte ihn kontaktiert – angefangen bei Yuuri, Guang-Hong und Leo. Doch Ciao Ciao hatte sich nicht gemeldet. Wie immer tröstete er sich mit den Gedanken, dass er als Trainer einfach noch viel mit anderen zu tun hatte und dann waren da ja noch die Feiertage, die vorher für reichlich Stress sorgten. Geschenke mussten gekauft werden, Flüge gebucht und Häuser geschmückt. Zwar hatten sie die Tage über noch ein paar Nachrichten ausgetauscht, doch waren es lediglich kleine Liebesbotschaften, in denen sie sich entweder einen schönen Tag oder schöne Träume gewünscht hatten. Zu seinem besonders guten Lauf war kein Wort gefallen. Der Thai glaubte nicht, dass Ciao Ciao ihn überhaupt gesehen hatte.   Langsam zog ihn diese Vermutung wieder runter und so fiel es ihm schwer, sich richtig ins Training reinzuhängen. Ihm war bewusst, dass er sich nicht hängen lassen durfte, schließlich lag schon bald das nächste Turnier vor ihm und er musste, egal ob Ciao Ciao nun anwesend war oder nicht, Leistung bringen. Er musste besser werden, wenn er eine Medaille ergattern wollte. Bei der Vier-Kontinente-Meisterschaft würde die Konkurrenz nicht kleiner sein, wo schließlich Yuuri, Leo, Guang-Hong und JJ ebenfalls dabei waren. Und obwohl viele Neulinge es dieses Jahr nicht ins Grand-Prix-Finale geschafft hatten, waren auch sie starke Konkurrenten. Würde er schwächeln, könnten gleich mehrere von ihnen an ihm vorbeiziehen und ihm den Platz auf dem Treppchen streitig machen.   „Gleich nochmal!“, forderte Satsuki ihn auf und das völlig zurecht. Er musste noch mehr liefern, konnte es nicht immer nur von Ciao Ciao abhängig machen. Genau so wenig durfte er sich von all dem herunterziehen lassen. Sie startete die Musik seiner Kür erneut, als er sich auf dem Eis in Position gebracht hatte. Gleich nochmal. Er würde es so oft wiederholen, wie es nötig war. Reiß dich zusammen, Phichit, dachte er sich. Seine Kür war er diese Saison schon so oft gelaufen, er kannte jede Bewegung im Schlaf, dennoch musste er sich an einigen Stellen konzentrieren, an denen sein Körper eben nicht von alleine funktionierte. Sprünge, Pirouetten und das Achten auf genug Abstand zur Bande forderten ihn noch immer und gerade ersteres war es, das er noch schwer verbessern musste. Höher, weiter, mehr Umdrehungen. Schwierigkeitsgrad und der GOE waren schließlich das, was ihm mehr Punkte bringen konnte, ohne das Programm im Allgemeinen zu verändern.   Während er lief, versuchte er sich zu konzentrieren, sah nur das Eis und nichts um ihn herum. Die Musik ließ ihn wie immer in eine andere Welt sinken, in der es nur ihn gab – und deutlich zu viele Gedanken. Innerlich kämpfte er mit ihnen, damit sie nicht die Macht über ihn bekamen, schließlich wollte er seine Konzentration aufrecht erhalten. Es gelang, mehr oder minder. Applaus riss ihn aus seiner Endposition, in der er schwer atmend nicht lange verharrte. Phichit hob den Kopf, sah zu Satsuki, doch erblickte er viel mehr als sie. Neben ihr stand der Mann, den er mehr liebte als Eiskunstlauf. Sein Herz fing an unstetige Sprünge zu machen, er war aufgeregt, glücklich. Seine Beine konnten ihn gar nicht so recht in der Geschwindigkeit vom Eis tragen, wie Phichit wollte. Weich waren sie wie Pudding und das lag nicht nur an seiner körperlichen Erschöpfung.   „Ciao Ciao!“, rief er hastig aus, mit einem Strahlen auf dem Gesicht, wie es die letzten Wochen nicht mehr zu sehen gewesen war. Schnell war er an der Bande angekommen, sah zu seinem Trainer herauf. „Du bist hier!“   Ciao Ciao lachte auf, tauschte kurz einen Blick mit einer freudig lächelnden Satsuki, die sich kurzerhand aus dem Staub machte. „Merry Kissmas“, sagte sie schmunzelnd, als sie an ihrem Trainerkollegen vorbei ging - es war ein Runninggag, der sich längst bei ihnen in Thailand eingebürgert hatte. Viele Thais hatten eben Probleme mit der englischen Aussprache. In der Zwischenzeit hatte es Phichit vom Eis geschafft und fiel ihm um den Hals – das war besser als in jedem Film, wie er fand. Starke Arme schlossen sich um ihn und drückten seinen Körper an den seines Trainers. Er war so unfassbar glücklich. Wie sehr hatte er dieses Gefühl vermisst? „Du hast mir so gefehlt!“   „Du mir auch, mein Kleiner“, entgegnete er ihm leise an sein Ohr. Phichit genoss es, seine Stimme zu hören, seinen Atem auf seiner Haut zu spüren. Mit geschlossenen Augen bettete er seinen Kopf auf Ciao Ciaos Schulter.   „Aber warum? Ich dachte, du wolltest Weihnachten bei deiner Familie verbringen...“ Nicht, dass er etwas dagegen hatte, dass Ciao Ciao hier war. Andererseits fühlte er sich auch ein wenig schlecht. Phichit wusste doch, wie wichtig ihm das alles gewesen war und nun war Weihnachten, doch Ciao Ciao war hier in Thailand – sehr weit weg von seiner Familie und das um eine Tagesreise mit dem Flugzeug. Unmöglich, dass er es jetzt noch rechtzeitig schaffen würde.   „Weil du jetzt auch zu meiner Familie gehörst“, schmunzelte Ciao Ciao, als wüsste er etwas Unterhaltsames, von dem Phichit noch nicht gehört hatte. Den Kopf fragend von seiner Schulter hebend, sah er ihm ins Gesicht. Ciao Ciao lächelte ihn heiter an und war gnädig genug, fortzufahren. „Meine Familie hat mich förmlich aus dem Haus getreten, als sie gesehen hat, dass ich alleine aufgetaucht bin.“   „Das heißt- Sie wissen von mir?!“   „Nicht direkt. Sie wussten nicht, wem mein Herz gehört, aber sie wussten, dass ich es an jemanden verloren habe. Und jetzt wollen sie dich kennenlernen.“   Phichit traute seinen Ohren nicht. Das, was er sich immer gewünscht hatte, schien wahr zu werden. Er wollte Teil von Ciao Ciaos Familie sein und jetzt war er es. Ehrlich gesagt machte ihn das nervös. Ciao Ciaos Hand strich ihm liebevoll über die Stirn, schob seinen Pony ein wenig zur Seite. Wenn er ihn so ansah, verschwand jede Sorge im Flug. Er vertraute Ciao Ciao in jeglicher Hinsicht – egal ob auf dem Eis oder daneben. Wenn er es seiner Familie erzählt hatte, dann würde es schon in Ordnung sein. Mit einem Kuss – der lange überfällig war, übrigens – verflog schließlich jeder unnötige Gedanke.   „Merry Kissmas, Ciao Ciao“, murmelte Phichit an seine Lippen, erntete dafür ein leises Lachen von seinem Liebsten.   „Merry Kissmas.“ 25. Dezember ------------ Belleville, 25. Dezember 2016, 0:41 Uhr   „Also Santa kommt diese Nacht, ja?“   „Ja.“   „Wir können wach bleiben und-“   „Nein“, unterbrach Henri sofort, noch bevor der Japaner aussprechen konnte. Es war aber auch gar nicht nötig, seinen Satz zu beenden, denn er hatte nicht vor, mit ihm wach zu bleiben, um auf Santa zu warten. Es gab ihn nicht und es war kindisch, zu versuchen, ihn zu Gesicht zu bekommen.   „Warum nicht? Bist du nicht neugierig?“   Henri hob seinen Blick von seinem Tablet, an dem er gerade ein wenig im Internet surfte. Gemeinsam lagen sie auf dem Bett, waren schon in Schlafklamotten und so langsam fing die Situation an auszuarten. Es erinnerte ihn stark daran, wie er und Thierry als kleine Kinder in ihren Schlafanzügen beschlossen hatten, die Nacht wach zu bleiben, um Santa zu erwischen. Sie hatten ihn unbedingt sehen wollen, wie er durch ihren Karmin kam, um ihnen die Geschenke zu bringen. Wie viele Jahre war das nun schon her? Und wie oft hatten sie es versucht? Henri wusste es nicht mehr. Was er noch wusste war, dass sie jedes Mal irgendwann eingeschlafen waren, egal wie wach sie sich am Anfang noch gefühlt hatten. Die Augen wurden schwer, sie wurden müde und wurden immer erst viel zu spät wieder auf seinem oder Thierrys Bett wach. Jedes Mal war Santa dann schon da gewesen und einige Zeit später war der Glaube an ihn längst verflogen. Sie wurden eben älter.   „Es gibt ihn eben nicht, warum soll ich wie ein Kleinkind wach bleiben und auf ihn warten?“   Aguri schien davon nicht überzeugt. „Wer sagt, dass es ihn nicht gibt? Irgendwoher kommt dieser Glaube doch her. Warum ist es sonst so verbreitet, dass Santa die Geschenke bringt?“   Längst hatte das Tablet seine Aufmerksamkeit wieder. Ruhig wurden die Pullover begutachtet, während er immer wieder ein Stück herunter scrollte. Aguri nutzte seine Möglichkeiten, versuchte, irgendwie die Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, indem er sich an seine Seite kuschelte und seinen Arm auf Henris Bauch bettete. Den Kopf lehnte der Japaner an seine Schulter und schaute mehr unzufrieden als interessiert zu, wie ein Pullover nach dem anderen begutachtet wurde. „Henriiiii...“, quengelte er, als kein Ton von ihm kam.   „Es gibt ihn einfach nicht. Das ist nur ein Märchen, das man Kindern erzählt, mehr nicht. Also hör auf zu nerven.“   „Aber das weißt du nicht!“   „Ich weiß es sehr wohl“, sagte er genervt und drehte sein Gesicht zu ihm. Sogleich suchte Aguri seinen Blick ebenfalls, schaute ihn trotzig an. Es war leicht zu sehen, dass er nicht zufrieden mit Henris Aussage war.   „Wenn du nur sagst, es gibt ihn nicht, weil du ihn nie gesehen hast, dann zählt das nicht!“   Genervt legte Henri sein Tablet zur Seite und setzte sich auf, was Aguri kaum mit seinem Klammern verhindern konnte. Er seufzte schwer. Allein das sollte dem Japaner schon zu verstehen geben, dass er genug von dem Thema hatte, doch dieser zog nur eine Schmollschnute, bevor er sich ebenfalls aufsetzte und wieder die Arme um ihn schlang – er war eben einfach unfassbar aufdringlich und nervig, wie Henri fand.   „Wie du willst.“   „Henri!“   „Aber ich werde schlafen. Du kannst alleine wach bleiben und auf Santa warten.“   Und plötzlich war die aufgekommene Euphorie wieder verflogen, Aguri selbst verstummte kurz. Zu kurz. „Das ist gemein. Komm schon, wir können auch zusammen wach bleiben.“   Henri hatte nicht vor, die ganze Nacht wach zu bleiben. Er brauchte viel Schlaf, war jetzt schon müde und er wusste nicht einmal, was sie die ganze Zeit über machen sollten. Wenn sie einfach im Bett herum lagen, würden sie so oder so schläfrig werden. Es war hoffnungslos, wozu sollten sie es überhaupt erst versuchen? „Können wir nicht. Am Ende schläfst du sowieso ein und ich darf mir später dein Gejammer anhören.“   „Dann halt mich wach“, forderte Aguri und drückte ihn fester an sich. Es war unmöglich, sich aus seiner Umklammerung zu lösen, das musste Henri leider einsehen. Und dann fingen diese Hände auch noch an zu wandern...   „Hab ich nicht gesagt, dass wir es hier nicht tun werden?“   „Hast du gesagt“, bestätigte Aguri ihm, wirkte aber nicht so, als ob ihn das davon abhalten würde. Die Hände, die unter sein Longsleeve wanderten, bestätigten Henri, was er schon vermutete. Der Japaner war eben in vielerlei Hinsicht hartnäckig und unbelehrbar - anstrengend eben. Er hatte seinen eigenen Kopf und ließ sich nicht abhalten. Küsse wurden auf seinem Nacken verteilt. Sein warmer Atem glitt über die empfindliche Haut dort, während seine Finger ihm eine Gänsehaut auf die Brust zauberten und den Stoff mit sich hochzogen.   Wie dringend wollte er seinen Weihnachts-Date-Sex? Bedenkend, dass das vermutlich sein erstes Weihnachts-Date überhaupt war, war der Wunsch danach sicher riesig. „Du schaffst es doch nicht mal, leise zu sein“, gab Henri seufzend von sich – wobei es weniger genervt als lustvoll klang. Aguri bestätigte das sicherlich in seinem Tun.   „Natürlich schaffe ich das. Wenn es nötig ist, kann ich leise sein. Wirklich!“   „Kannst du nicht.“   „Und ob ich das kann! Du wirst schon sehen!“   Das musste Aguri ihm wirklich erst einmal beweisen, doch dafür musste er den Japaner zuerst von seinen Brustwarzen wegbekommen und ihn selbst zum Stöhnen bringen. Bestimmend legte er die Hände auf Aguris, zog sie unter seinem Oberteil hervor. Die Küsse allerdings hörten nicht auf, stattdessen gesellte sich die Zunge des Japaners zu seinen Lippen und hinterließ eine warme, feuchte Spur an seinem Hals. Nichtmal ein klagender Laut verließ seine Lippen, als die Hände vollends vertrieben waren. Stattdessen kniete er sich auf und krabbelte vor Henri, um ihn nach kurzem, eindringlichen Augenkontakt richtig zu küssen. Henri erwiderte eher zaghaft, Aguri dagegen wurde schnell intensiver. Und schon fand er sich niedergedrückt auf der Matratze wieder. So viel zu seiner Dominanz, um Aguri zum Stöhnen zu bringen...   Spätestens jetzt war klar, wie dringend der Japaner seinen Weihnachts-Date-Sex wollte.   Er hatte Henri vorerst vollends mit seinen innigen Küssen zum Schweigen gebracht. Würde Lynn davon Wind bekommen, würde er ihn sicherlich total auslachen. Umso besser war es also, dass es unter ihnen blieb. Nie im Leben würde Henri freiwillig derartiges verraten – weniger sicher war dieser Moment bei Aguri... Wirklich lange darüber nachdenken wollte und konnte Henri aber auch gar nicht, denn der Japaner forderte auf ziemlich erotische Art all seine Aufmerksamkeit.   Wenn er Aguri wirklich so lange wach halten sollte, bis Santa kam, würde das eine verdammt lange Nacht werden... 26. Dezember ------------ Belleville, 26. Dezember 2016, 10:14 Uhr   Mit argwöhnischem Blick musterte Henri den Japaner, was dem immerhin direkt auffiel. „Was ist? Hab ich was im Gesicht?“, fragte er ein wenig verunsichert, lächelte aber trotzdem viel zu glücklich, so als wäre es ihm gar nicht peinlich, selbst wenn er wirklich etwas dort hatte. Henri vermutete, dass er sich tatsächlich mehr darüber freute, dass er seine Aufmerksamkeit hatte.   „Nicht im Gesicht“, verneinte Henri zum Teil seine Frage – er deutete aber damit ebenfalls an, dass er woanders etwas hatte, das seine Aufmerksamkeit erregte. Und das war nicht positiv, ganz und gar nicht. Aguri forderte das nur dazu auf, näher zu kommen und ihn neugierig anzusehen.   „Was ist dann?“   Als Henri den Blick zur Seite abwendete, folgte der Japaner ihm mit dem Gesicht und blickte ihn wieder mit einem genau so blöden Gesicht wie vorher an. Unfassbar, dass der Kerl überhaupt nichts von Abstand verstand. Viel zu nah kam er ihm, was Henri nur wieder dazu bewegte, den Kopf zu drehen. Aguri schien es völlig gleich zu sein, kicherte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Ernsthaft? Als ob er ihn so zu einer Antwort bewegen könnte...   „Nun sag schon“, forderte Aguri und legte die Hände an Henris Hüften. Eines musste man ihm lassen: Dieses Mal behielt er seine Finger anständig. Andererseits hatte Henri ihm auch schon längst genug für den Rest des Jahres gegeben. Hier würde er es ganz sicher nicht nochmal tun. Unwahrscheinlich allerdings auch, dass Aguri mehr auf Tuchfühlung ging – so mitten im Flur. Hier konnte sie schließlich jeder sehen, der von der Küche ins Wohnzimmer wollte oder anderswohin. Bevor Aguri noch aufdringlicher wurde, ergab sich Henri und antwortete sinnvoll.   „Du hast diesen furchtbar hässlichen Pullover an.“   „Was?! Das ist doch ein voll cooler Ugly Christmas Sweater!“   „Es ist ein Ugly Christmas Sweater – natürlich ist er furchtbar hässlich.“   Aguri wirkte nicht gerade zufrieden mit dieser Aussage, schaute runter und besah sich den rosafarbenen Pullover mit Schachbrettmuster und Schneeflocken. So lange, wie er guckte, bekam Henri den leisen Verdacht, dass er ernsthaft die Hässlichkeit in dem Pullover suchte, was ihm ein resignierendes, schweres Seufzen entlockte. Es erinnerte ihn an vorletzte Woche, als Aguri mit diesem furchtbaren Teil beim Training aufgetaucht ist und ihm selbst noch einen Ugly Christmas Sweater schenken wollte.   „Ich finde ihn gut. Du solltest deinen auch anziehen, immerhin ist heute der letzte Weihnachtstag, oder nicht?“ Aguri sah ihn an, als suchte er die Bestätigung dafür, dass er ausnahmsweise mal gut recherchiert hatte. Dass er nicht wusste, wie man in Kanada Weihnachten feierte, war ja nicht schlimm. Ihm seine Welt zu zeigen, war schließlich Henris Aufgabe. Es wäre vollkommen ausreichend so, doch Aguri selbst musste sich ja immer irgendwelche komischen Gerüchte – er nannte sie Informationen – aus dem Internet ziehen. Oder er verstand es nicht ansatzweise so, wie es gemeint war. Aber Moment mal...   „Meinen?“, fragte Henri ungläubig, als er die tiefere Bedeutung von Aguris Aussage bemerkt hatte. Es war ihm neu, dass er so einen Pullover besaß.   „Ja, den, den ich dir doch gekauft habe.“   „Du solltest den zurückbringen! Hab ich dir doch gesagt!“ Er empörte sich wirklich sehr darüber, dass Aguri ihn scheinbar überhaupt nicht umgetauscht hatte. Wie undeutlich hatte er sich damals ausgedrückt? Henri war sich sicher, er hatte es klar und deutlich gesagt, das konnte er doch gar nicht missverstanden haben.   „Hast du? Aber Lynn meinte zu mir-“   Henri schnaufte, die Empörung wuchs. Lynn? Er hatte ernsthaft auf Lynns Worte gehört? Wie naiv war er bitte? Natürlich hatte er Aguri absichtlich etwas völlig Falsches erzählt, nur, damit er seinen Spaß daran hatte. Selbst wenn er jetzt nicht hier war, so wusste er, dass dieser Moment vor ihnen lag und allein die Vorstellung musste Lynn seit Tagen oder gar Wochen amüsieren. Dieser elende Mistkerl.   „Hab ich was falsch gemacht?“   Immerhin erkannte Aguri es mittlerweile an seinem Schnaufen, wenn er wieder Mist gebaut hatte. „Natürlich hast du. Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass Lynn nicht zu trauen ist?“   „Oft. Eigentlich finde ich ihn aber ganz nett.“   Ernsthaft? „Er tut doch nur so. Und Idioten wie du fallen reihenweise drauf rein.“   „Dann gibt es also gar keinen jährlichen Ugly Christmas Sweater Contest?“   „Natürlich nicht!“, sagte Henri für seine Verhältnisse nicht mehr besonders ruhig, auch wenn man ihm nach wie vor kaum eine allzu starke Emotion anmerken konnte. Das war eben seine Art. Doch für Aguri, der ihn mittlerweile lange genug kannte, musste klar sein, dass er wirklich außer sich war wegen seiner Dummheit. Allein der Klang seiner Stimme war heller als die trägen, ruhigen Laute, die er sonst von sich gab, wenn er den Mund aufmachte. Wie konnte jemand überhaupt so naiv sein und nicht misstrauisch werden, wenn Lynn sowas sagte? Nach wie vor war es Henri unmöglich, die Gedankenwelt von Aguri vollends zu verstehen.   „Ich dachte wirklich, du brauchst einen. Eigentlich wollte ich nur helfen. Außerdem finde ich, dass er dir wirklich sehr gut stehen würde. Gib ihm eine Chance!“   „Was soll denn das jetzt werden? Du klingst wie ein schlechter Kuppler“, merkte Henri träge an. Er hatte wirklich genug von dem ganzen Thema. Nach wie vor wollt er den Pullover nicht – es war für Frauen und hatte lächerlicherweise Eisbären gestrickt.   „Ich bin auch dafür, dass du ihm eine Chance gibst, Henri“, mischte sich seine Mutter ein, was Henri nicht gerade freudig aufnahm. Natürlich war sie auf Aguris Seite, sie waren sich schließlich sehr ähnlich. Beide waren naiv, beide mochten peinliche Sachen. Sie war schon völlig begeistert gewesen, als Aguri ihr kitschig verziertes, japanisches Essen gezeigt hatte. Kirschblüten, die man aus Karotten schnitzte zum Beispiel. Henri hatte schon eine böse Vorahnung, was seine Mutter die nächsten Wochen so auftischen würde, von daher war er froh, dass er nicht mehr lange blieb. Mit wenig Begeisterung blickte er seine Mutter an, die ihm liebevoll entgegen lächelte. Sie war natürlich schon völlig abgehärtete von dem Blick und auch Aguri war auf einem verdammt guten Weg dahin. Damit wurde sein Unmut ignoriert.   „Komm schon, zieh ihn an. Ich möchte sehen, was für einen wundervollen Pullover Aguri dir gekauft hat~“   „Siehst du, er ist wundervoll!“, mischte sich Aguri wieder ein, der sich von seiner Mutter natürlich bestätigt fühlte. Und jetzt würden die beiden sich hochschaukeln und Henri so lange nerven, bis er den Pullover anprobierte – ganz sicher. Er musste nachgeben, wenn ihm seine Nerven lieb waren.   „Wie ihr wollt...“   So kam es, dass Henri den Ugly Christmas Sweater doch noch zu Weihnachten trug und damit nicht nur Aguri ein tolles, zusätzliches Weihnachtsgeschenk machte. Auch Lynn bekam seines in Form eines Selfies auf Aguris Instagram-Account.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)