Wölfe, Würfel, Weihnachtsbäume von Alaiya (Adventskalender) ================================================================================ Teil 1: Unerwiderte Gefühle --------------------------- Schneematsch türmte sich zu beiden Seiten der Straße auf, als Matthew endlich die Grenze des Trossachs erreichte. Die Temperaturen waren knapp über dem Gefrierpunkt, was allerdings kaum bis nach Sonnenuntergang halten würde. Umso besser. Ein Grund die Nacht in der Jagdhütte zu verbringen. Vielleicht hatte er ja Glück und es gab einen Schneesturm, so dass er den Wochenendbesuch bei seinen Eltern sich gänzlich ersparen konnte. Nun vorsichtiger fuhr er auf die kleine Waldstraße, die ihn weiter in Richtung Loch Ard und Hütte führte. Das Wetter sorgte dafür, dass er für die Strecke, die normal eine Viertelstunde in Anspruch nahm, beinahe eine halbe brauchte, doch fuhr er schließlich auf den Platz vor der Garage, überrascht gleich zwei Wagen dort zu finden. Thias und Seans. Ob das bedeutete …? Er stieg aus seinem Wagen aus, schloss ab und schritt zur Eingangstür hinüber. Drinnen brannte Licht und grauer Rauch stieg aus dem Schornstein hinauf. Jemand musste den Kamin angemacht haben. Warum er eigentlich hier war, konnte er auch nicht genau sagen. Seinem Vater sagte er, dass er hier besser lernen konnte, dass er außerdem schneller da war, wenn etwas im Wald geschah. Die Wahrheit war etwas anders. Es war ruhiger hier, ja, und die Menschen, die hier waren, ließen ihn meistens in Ruhe. Es war außerdem der eine sichere Rückzugsort. Der eine Ort, an dem sein Vater sich nicht beschwerte, an den er einfach gehen konnte. Er zückte den Schlüssel, öffnete die Tür und wurde beinahe von mehreren Gerüchen erschlagen. Die feine Nase eines Werwolfs hatte Vor- und Nachteile. Sie erlaubte ihm, bereits jetzt einen unerwarteten Geruch wahrzunehmen, sorgte jedoch dafür, dass der übelkeitserregende Geruch des Lötzinns ihn noch härter traf. Also hatte Sean eins seiner Bastelprojekte hergebracht. Seltsam. Normal bevorzugte es Sean, allein zu sein, allein daheim zu basteln und … Nun, und zu tun, was auch immer es war, das Sean sonst mit seiner Freizeit machte. Ein anderer Geruch war jedoch auch da. Ein Geruch, der ihn in den letzten fünf Wochen vertraut geworden war. Sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Also war Jason wieder hier. Wie die meiste Zeit. War er seit vorgestern hier gewesen oder hatte Thia ihn gefahren? „Hey!“, rief er in den holzvertäfelten Flur hinein. Er hob die Stimme nicht sonderlich. Es gehörte sich halt einfach. „Hey“, erwiderte Jasons Stimme, begleitet von Thias Brummen, aus dem Kamin- oder eher Wohnzimmer. Nun, sofern man heutzutage etwas als Wohnzimmer bezeichnen konnte, wo es keinen Fernseher gab. Doch wenigstens hatten sie neuerdings WLAN, etwas, dass er bis vor zwei Wochen nicht für möglich gehalten hätte. Er schloss die Tür, schlüpfte aus seinen Schuhen und zog seinen viel zu teuren Wintermantel aus, hängte ihn an die Garderobe, die abseits von Thias Mantel leer war. Sein Herz hämmerte, als er in das Wohnzimmer lugte und überrascht feststellte, dass er Recht gehabt hatte. Der Geruch von zuvor war der Geruch einer Tanne gewesen. Eines Tannenbaums. Jason stand davor und versuchte eine Lichterkette daran zu befestigen, schwankte jedoch bei dem Versuch sie weiter oben festzumachen. Derweil saß Thia auf einem der abgenutzten alten Ohrensessel. Sie hatte den kleinen Tisch, der normalerweise vor dem Bücherregal stand und dort nun von dem Weihnachtsbaum ersetzt wurde, hierher gezogen und ihren Notizblock darauf abgelegt, während gleich drei verschiedene Bücher daneben und ein viertes in ihrer Hand lag. Matts Blick wanderte von Jason zu Thia und zurück zu Jason. „Ein Weihnachtsbaum?“ Jason drehte sich um und grinste. „War vorhin mit Thia essen holen. Unten im Dorf haben sie welche von den weniger schönen für zwölf Pfund verkauft.“ „Und er meinte, dass es sich gut machen würde“, murmelte Thia. Ihr Unterton sagte deutlich, was ihr Gedanke war: „Offenbar will er hier auch über Weihnachten wohnen bleiben.“ „Ach, ich dachte, es würde einfach nur ein wenig weihnachtliche Stimmung …“ Jason verlor den Faden, fixierte die Rückseite des Stuhls. Ja, da war er wieder, dieser Blick, den Matthew öfter auf Jasons Gesicht gesehen hatte. Nun räusperte er sich. „Ich meine, wir sind doch alle immer wieder hier und …“ Matt lächelte. „Sieht gut aus, Jay“, meinte er. „Und riecht gut.“ Beinahe automatisch schnüffelte Jason. „Findest du?“ „Ja. Jedenfalls für mich.“ Er wandte sich um. Noch stand die Wohnzimmertür offen und gab die Sicht auf Sean frei, der im Esszimmer saß, eine Tischdecke auf dem alten Holztisch ausgebreitet hatte und Lötkolben, -zinn, Feinwerkzeug und ein paar alte Modellbahnen vor sich ausgebreitet hatte. „Anders als andere Sachen“, murmelte er. Sean schnaubte. Natürlich hatte er ihn gehört. „Was soll ich denn tun? Die über mir haben Wasserschaden. Ich kann erst morgen wieder in die Wohnung.“ Matt seufzte. „Schon okay.“ Dann ging er zur Wohnzimmertür zurück und schloss sie. Immerhin brannte der Kamin, was ihm wohl genug Grund gab. Unschlüssig blieb er stehen. „Soll ich dir helfen, Jay?“ Schon wieder hatte Jason angefangen, zu versuchen die Lichterkette festzumachen. Natürlich bat er Thia nicht, die vielleicht nicht wirklich größer, sehr wohl aber geschickter als er war. Er wollte sie beeindrucken. Wie immer. Jetzt aber drehte er sich um. „Ähm. Ja. Sicher.“ Er hielt die Kette empor und wartete, dass Matt zu ihm kam und mit der Hilfe seines Geschicks die Schlaufe der Kette über einen der oberen Äste bekam. Nun war auch klar, warum der Baum billiger gewesen war. Die hintere Seite, die Jason dem Bücherregal zugewandt hatte, war ziemlich zerfleddert. „Danke“, murmelte Jason nun. Er machte die unteren Schlaufen fest. „Gern.“ Matt schenkte ihm ein kurzes Lächeln, ehe er die untere Ecke des Regals fixierte. Es fühlte sich falsch an, Jason die ganze Zeit anzusehen. Falsch. Es war ihm unangenehm. „Hast du noch anderen Schmuck?“ Jason machte einen verlegenen Laut. „Nicht wirklich, nein.“ „Nicht schlimm“, meinte Matt. „Ich finde die Idee schön. Danke, Jay.“ Er mochte es diesen Namen zu nutzen. Darauf antwortete Jason nicht, sondern hing den Rest der Kette auf. „Ich bin immer noch der Meinung, dass wir draußen einen Baum hätten behängen können“, murmelte Thia. Das Lächeln auf Jasons Gesicht flackerte für einen Moment. „Na ja, wir können keine Lichterkette draußen aufhängen und …“ Schon wieder brach er ab. Dafür, dass er gerne und viel redete, versagten ihm bei Thia oft die Worte. Wie konnte Thia nur so blind sein? Ignorierte sie es absichtlich? Matt war selbst nie gut darin gewesen, Leute zu lesen, doch war es offensichtlich, dass Jason ein Auge geworfen hatte. Fraglos würde Thia diese Gefühle nie erwidern, doch solange sie Jason keinen Korb gab, würde er es wohl weiter versuchen. Und da Jason unsicher und Thia blind war, würde das wohl eine Weile brauchen. War Matt ein schlechter Mensch, ein schlechter Freund, weil er es nicht beschleunigte, indem er Thia nicht darauf aufmerksam machte? Aber wenn Thia etwas sagte … würde Jason dann wieder nach Edinburgh gehen? Er hatte aber auch noch Croinneach hier, oder? „Ich finde es nett von Jason“, meinte er vorsichtig. „Und es riecht gut.“ Dankbar strahlte Jason ihn an. Er schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, ehe er wieder das alte Parkett begutachtete. Anders Thema. Anderes Thema. „Bleibst du über Nacht, Thia?“, fragte er. Meistens fuhr sie nachts nach Edinburgh zurück. „Ne. Melanie hat ihren Freund da“, murmelte Thia, ohne vom Buch aufzusehen. Jetzt kramte sie mit einer Hand in ihrer Federtasche, die ebenfalls auf dem kleinen Tisch stand und fischte ein paar Post-Its heraus, um eine Stelle im Text zu markieren. Sie versuchte wirklich ihr Studium zu beenden. Nicht, dass es so leicht werden würde. Bei ihrem Glück würde bis zu den nächsten Prüfungen wieder einmal ein Dämon, ein Fae, ein paar Vampire oder sonst irgendetwas auftauchen. Etwas, dass zumindest laut den Ältesten, also vor allem laut Matts Vater, Beseitigung bedurfte. Seine eigene Hoffnung in näherer Zukunft auch nur den Bachelor abzuschließen war schon lange verflogen. Er holte tief Luft. „Du sagtest, ihr habt vorhin zu Essen gekauft?“ Er zögerte. „Wollen wir kochen?“ Auch Jason zögerte. Er schaute zu ihm, er schaute zu Thia und dann zum Feuer. „Äh. Ja. Warum nicht.“ Ein weiteres Räuspern folgte. „Soll ich dir noch einen Tee bringen, Thia?“ Sie murrte eine kaum verständliche Verneinung, entlockte Jason ein Seufzen. Matt schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und öffnete die Tür, bemüht Sean keine Aufmerksamkeit zu schenken. Sean hatte immer miese Laune und es gab nun einmal wenig, was man daran tun konnte. Er wollte nicht reden, wurde aggressiv, wenn man es nur versuchte und war die meiste Zeit nun einmal ein Arschloch. Früher war es besser gewesen, doch mittlerweile … Lange hatte Matt versucht, ihm Verständnis entgegen zu bringen, soweit es in seiner Möglichkeit lag, aber es ging nicht mehr. Er wollte sich nicht auch noch hier von jemanden die ganze Zeit dumm anmachen lassen. „Was hast du mitgebracht?“, fragte er Jason stattdessen, als sie in die Küche gingen. „Ich dachte, wir könnten Kartoffelgratin machen“, erwiderte er. „Wir haben eh noch Kartoffeln im Vorratsschrank, die sonst noch anfangen zu sprießen.“ Matt nickte. „Klingt gut.“ Jason öffnete die Tür zur Vorratskammer und kramte darin. „Nimmst du?“, fragte er und reichte ihm die Kartoffeln an. Dann holte er etwas anderes heraus. „Die hier sind okay, oder?“, fragte er und zeigte ihm die Packung. Vegetarischer Hackfleischersatz. Das war einer der Gründe, warum Matt ihn mochte. Er war die erste Person, die nicht selbst vegetarisch lebte, die bereit war, für ihn vegetarisch zu kochen. Seine Wangen brannten, doch er nickte. „Ja. Das ist okay.“ Er holte tief Luft. „Danke, Jay.“ Jason zuckte mit den Schultern. „Ist kein Problem.“ Matt brachte die Kartoffeln zur Spüle und leerte gleich das ganze Netz hinein, um sie zu waschen. Sie hatten sie von Carla bekommen, seine Großtante, die selbst welche im Garten anbaute. Was gut war, da sie so kostenlos waren, allerdings auch bedeutete, dass sie noch nicht so sauber gewaschen waren, wie die Kartoffeln im Supermarkt. Jason sagte gar nichts. Ohne groß darüber zu sprechen, packte er den Sojaersatz aus und las sich die Anleitung auf der Rückseite noch einmal durch, während Matt begann die ersten der Kartoffeln zu schälen. „Ich denke, das kann warten, bis wir mit den Kartoffeln fertig sind“, beschloss Jason schließlich, nahm ein weiteres Messer und machte sich ans Schneiden. Während die Kartoffeln kochten, brieten sie das Sojahack an, ehe sie sich um die Soße kümmerte. Jason machte eine ziemlich gute Bechamel-Soße. Generell konnte er erstaunlich gut kochen. „Wie läuft Uni im Moment?“, fragte er nach einer Weile. Matt zuckte mit den Schultern. „Es geht. Ginge besser würde ich halt mehr da sein, ne?“ Jason nickte bedächtig. „Und die Arbeit?“ „Ach, ich habe ein paar Artikel für Edinburgh News geschrieben.“ Er verdrehte die Augen. „Immer dieser Kleinkram.“ „Besser als nichts“, erwiderte Matt. „Und es bezahlt die Rechnungen.“ Jason nickte erneut. „Ja.“ „Was ist eigentlich mit deiner Mitbewohnerin?“ „Kyra?“ Jason verzog den Mund, seufzte dann sehr lang. „Ja … Ich nehme an … Sie lernt halt Magie oder so, ne?“ Das war nicht, was Matt gefragt hatte und Jason wusste das ziemlich sicher. Dennoch schwieg er. Immerhin wollte er nicht so klingen, als ob er sich über Jasons Anwesenheit hier beschwerte. Schweigen senkte sich über sie, während draußen erneut einzelne Flocken vom Himmel fielen. Es war ein wirklich verschneiter Winter. Endlich schnitten sie die gekochten Kartoffeln noch einmal, um sie in die Auflaufform zu geben. „Wollen wir nachher vielleicht noch ein wenig … Kampagne spielen?“, fragte Matt, als das Gratin endlich im Ofen war. Jason sah ihn an. Ein zurückhaltendes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. „Ja. Sicher. Gern.“ Teil 2: Elfen, Spinnen, Explosionen ----------------------------------- Matt war nicht überrascht, dass Sean meckerte, als es Essen gab. „Ich dachte, es gibt richtiges Essen.“ Er tat das immer, hatte das immer getan. Seit sie Jugendliche gewesen waren. Er hatte sich immer beschwert. Ein richtiger Werwolf aß doch Fleisch. Als ob er wirklichen Stolz darin hätte. „Du kannst hungern, Sean“, meinte Thia. „Oder dir selbst etwas machen.“ Sean schnaubte, verdrehte die Augen, aß aber. Dabei konnte man den Unterschied kaum Schmecken. Gerade Hackfleisch war doch vorrangig durch seine Textur und Gewürze bestimmt. Müde schüttelte Thia den Kopf und schenkte Matt ein kurzes, aufmunterndes Lächeln. Sie wirkte wieder müde. Tiefe Ringe zeigten sich unter ihren Augen. Wie wenig Schlaf sie wohl in der letzten Woche bekommen hatte? „Wir können uns um den Abwasch kümmern“, bot sie schließlich an. Matt nickte nur, ohne sie anzusehen, stand auf. Unsicher blieb er stehen, überlegte. Dann wandte er sich Jason zu. „Ich werde den Bogen und alles holen.“ „Klar.“ Wenigstens dabei hatten sie vor Sean Ruhe. Nicht dass es eine unbedingt positive Sache war, nur zu zweit zu spielen. Doch Thia konnte sich für Pathfinder – oder irgendein Rollenspiel – nicht erwärmen und Sean … Sean fand es genau so albern, wie alles andere. So holte er seine Sachen aus dem Wagen, seine Umhängetasche, in der auch sein Laptop war. Wenigstens hatten sie nun das Wohnzimmer für sich. Als Matt dorthin zurückkehrte, hatte Jason bereits neue Holzscheite im Kamin nachgelegt und seine Sachen vor eben diesem ausgebreitet. Charakterbogen, Regelwerk und ein paar Würfel. „Wo waren wir das letzte Mal?“, fragte er. „Als deine Schwester gestorben war.“ Jason lachte. „Nein!“, rief er übertrieben aus und Matt fiel in sein Lachen mit ein. Sie verstanden beide die Referenz. Als sie sich endlich beruhigten sammelte sich Matt. „Ich glaube wir waren in der alten Bibliothek.“ Dabei war es erst wenige Tage her, dass sie das letzte Mal gespielt hatten. „Ach ja. Die alte Bibliothek.“ „Für den Zauberspruch.“ „Für den Zauberspruch des gar nicht bösen Professors.“ Matt schenkte ihm ein mystisches Grinsen. Da sie nur zu zweit spielten und beide einen Charakter hatten, wechselten sie sich in der GM-Rolle ab. Immer abwechselnd ging es darum, welcher ihrer Charaktere die zentrale Rolle in einem Abenteuer spielte. Da Jason einen Magus spielte, waren seine Abenteuer meistens weit magischer, als die von Matts Haudegen. „Was weißt du denn noch vom letzten Mal“, fragte er schließlich. „Rufus war von seinem Mentor nach Dirnbirge geschickt worden, wo er einen absolut nicht misstrauenserweckenden Professor der dortigen magischen Universität getroffen hat. Und dessen Assistentin, die auch ganz sicher kein Dämon ist.“ Matt hob eine Augenbraue, während er den Stadtplan auf seinem Block herauskramte, den er selbst gezeichnet hatte. Sie nutzten selten die offiziellen Karten, da sie von diesen nicht so viele hatten und ein paar bereits Alex zum Opfer gefallen waren. „Ich weiß gar nicht, was du meinst.“ „Ja, absolut nicht.“ Jason runzelte die Stirn. „Ähm. Ja. Jedenfalls. Geheime Bibliothek. Er meinte, er bräuchte einen bestimmten Zauber, um einen Geist zu vertreiben, der die Universität heimsucht und er glaubt, dass dieser Zauber in einem alten Grimoire, das in einer versunkenen Bibliothek unter der Stadt ist, zu finden sei. Also hat er Rufus und Fendiel beauftragt, das für ihn zu besorgen. Und er hat auch garantiert keine anderen, irgendwie fiesen Pläne damit.“ Wieder lachte Matt. Er bemühte sich die tiefe Stimme, die er für Professor Kadibeck genutzt hatte erneut zu immitieren: „Es ist alles nur für ein größeres Gut.“ „Größeres Gut“, echote Jason im Sinne der Dorfbewohner aus Hot Fuzz. „Genau“, bestätigte Matt in der Stimme. „Das größere Gut.“ Rufus hielt eine Fackel in die Höhe. Vor ihnen lag ein alter, verstaubter Gang. Spinnenweben zogen sich über die Decke, selbst wenn kein einziges der achtbeinigen Tiere zu sehen war. Ein Glück. Er mochte Spinnen nicht. Da war immerhin die ganze Geschichte in Valenzia gewesen. Er bibberte. „Wir sollten auf Fallen achten, Freund Magus“, merkte Fendiel an, die elfischen Augen wachsam den Gang hinab gerichtet. „Ja. Sollten wir.“ Rufus wagte den ersten Schritt in diesen Gang. Wie lange irrten sie schon unter der Stadt herum? Der alte Professor – der garantiert nichts Böses im Schilde führte – war sich sicher gewesen, dass es einen Weg von der Kanalisation fort gab. Und einen Weg hatten sie gefunden. Ja, hier hatte einmal jemand gelebt, doch von Büchern fehlte jede Spur. Nur Spinnenweben und eine rissige Decke. „Wir sollten außerdem darauf achten, dass die Decke uns nicht auf den Kopf fällt“, kommentierte Fendiel und folgte ihm. Rufus schnaufte. „Ja, auch das sollten wir.“ Sein Freund machte ihm das Leben nicht leichter. Die Wände des Tunnels waren gemauert. Das hier war sicher von Menschen oder Elfen errichtet worden. Sicher keine Zwerge. Zwerge würden nicht mauern. Sie würden hauen. Oder so. Was auch immer Zwerge machten. Am meisten überraschte ihn soweit, dass es keine Gegner gab. Meistens lauerte an Orten wie diesem immer etwas. Irgendetwas. Und seien es – sein Blick wanderte zur Decke – irgendwelche Riesenspinnen. „Dann würfel doch einmal auf Wahrnehmung“, verlangte Matt. Jason holte tief und melodramatisch Luft. „Wieso wusste ich nur, dass das jetzt kommt?“ „Ich weiß ja auch nicht, Freund Magus.“ Matt hob vielsagend die Augenbrauen. Er war sich sicher, dass Jason mit dem Charakter etwas kompensierte. Und sei es den Neid auf seine Mitbewohnerin. Er konnte es ja verstehen oder hätte es verstehen können, wäre er nicht selbst Teil einer magischen Welt gewesen. Also nahm Jason den zwanzigseitigen Würfel und ließ ihn über den alten Parkettboden rollen. Er murrte, als der Würfel zum Liegen kam. „Fünf.“ „Mit deinem Grundwert von vier macht das …“ „Neun“, seufzte Jason. Matt lächelte sanft und nahm selbst den Würfel. Langsam schlich Rufus voran. Er achtete auf seinen Schritt, leuchtete mit der Fackel auf dem Boden vor sich, nur um sicher zu gehen, dass er keine Schnurr zu einer Falle übersah. In Fluren wie diesem, gab es immer Fallen, das hatte er spätesten in der Gruft von Nosferu gelernt. Eine Schnur oder vergleichbares gab es jedoch nicht. Leider bemerkte er einen Moment zu spät, dass er ein anderes Fallenkonzept vergessen hatte, denn im nächsten Moment versank der Stein, auf dem er stand, im Untergrund. „Rufus!“, rief Fendiel warnend, doch es war schon zu spät. Ein Grummeln ging durch die sie umgebenen Felsen, ließ den Boden, die Wände erzittern. Dann … „Rollte eine riesige Steinkugel hinter ihnen den Gang hinab?“, schlug Jason vor. „Das wäre zu klischee!“ „Sagt derjenige, der in Boden versinkende Steine als Fallen nutzt?“ Dann hörten sie ein anderes Donnern in der Ferne. Hinter ihnen. Das Donnern einer Explosion. Dann folgte ein weiterer Knall. Dann noch einer. „Das klingt nicht gut“, meinte Fendiel, als sei das nicht offensichtlich. „Explosionsfallen!“, rief Rufus nur aus, packte den Elf bei der Hand und zog ihn mit sich. Sie rannten den langen Gang entlang, ohne ganz zu wissen wohin. Sie wussten ja nicht einmal, wo sie waren. Doch hinter ihren donnerte und rumorte es, während die Staubwolke der einstürzenden Decke sie bereits einzuhüllen drohte. So kamen sie hier nicht weg. Jemand musste eine Falle mit Absicht so gestellt haben, dass die Wege versperrt würden. Ja. Wer nur? Was konnte er tun. Jason runzelte die Stirn. „Okay. Ich möchte gerne den Erde bewegen mit meinem Amulett einsetzen.“ Matthew schenkte ihm einen kurzen Blick über den oberen Rand des Regelbuches hinweg. „Um was zu tun?“ „Um einen Seitengang zu schaffen!“ Matthew seufzte. „Kannst du so viel schaffen?“ „Muss ja.“ Jason schnappte sich den Würfel und hob ihn. „Also. Irgendwelche Modifizierungen.“ Darauf zuckte Matt nur mit den Schultern. Er wollte Jason diese Lösung nicht verderben. „Probiere es.“ Also hob Jason den Würfel und ließ ihn über den Parkettboden klackern. Er hatte ein wenig zu viel Schwung genommen, so dass der Würfel gegen die erhobene Steinplatte unterhalb des Kamins prallte, davon reflekiert wurde und dann noch ein Stück über den Boden tänzelte, ehe er liegen blieb. „Sechszehn, ha!“ Jason setzte ein triumphierendes Grinsen auf. „Mit meinem Grundwert macht das 27. Also, was passiert?“ Ein mattes Lächeln breitete sich auf Matts Gesicht aus. Jason konnte so niedlich sein, wenn er sich freute. Er rückte ein wenig zurück, um sich besser gegen die Wand lehne zu können, um weiter zu erzählen. Rufus sammelte all seine magische Energie und dirigierte sie in Richtung der Wand. Es war die einzige Möglichkeit für sie hier heraus zu kommen. Wahrscheinlich würde der ganze Gang einstürzen. Der Zauber brauchte nur eine Sekunde, vielleicht zwei, dann Grummelte das Gestein zur Seite des Gangs und gab einen Spalt frei, gerade groß genug, als dass sie sich hindurchdrücken konnten. „Komm!“, rief er seinem Kumpanen zu und zerrte den Elf am Handgelenk in den Gang hinein. Schon pressten sie sich durch den Spalt hindurch, während Rufus mehr Energie sammelte. Die Vibration des Felsens um sie herum war deutlich zu spüren. Hoffentlich war hier nichts, dass sie zusammendrückte. Oh, das wäre ein dramatisches Ende für ihre Abenteuer. Erneut bewegte er die Felsen vor sich, während die Staubwolke in den dünnen Spalt hineinflutete. Der Geruch alten Sandes und Schimmel stieg in seine Nase, ließ ihn niesen, während Fendiel die Fackel so weit es ihm möglich war hinter sie hielt. Da strömte Luft in den Spalt hinein, fraglos durch das fallende Geröll bewegt, ließ die Fackel flackern und erlöschen. Jason räusperte sich. „Das möchte ich sehen. Dass eine solche Fackel von ein wenig Wind ausgeht.“ „Du bist noch nie mit einer Fackel im schottischen Herbst durch den Wald gelaufen“, erwiderte Matt. „Woher willst du das wissen?“ „Dann wüsstest du, wie schnell solche Falken ausgehen.“ Jason spielte übertrieben empört. „Ach ja? Aber Rufus und Landiel sind professionelle Abenteurer. Die sind sicher besser darin, Fackeln zu wickeln, als so ein paar Werwölfe.“ Matt verdrehte nur die Augen, setzte ein überlegendes Lächeln auf und fuhr fort: „Es ist Dunkel um euch herum.“ Die Dunkelheit war im ersten Moment allgegenwertig, erdrückend. Ein Gefühl, das nicht dadurch gebessert wurde, dass Rufus zwischen den Felsen eingeklemmt war. Nur langsam konnte er sich vorwärts bewegen. Von allem, was er wusste, würde er im nächsten Moment auf irgendein Monster stoßen oder auf eine Spinne. Ein Schauer lief über seinen Rücken, doch er fing sich. Noch ein wenig. Nur ein wenig. Dann kamen sie hoffentlich auf einen anderen Gang oder etwas in der Art. Das oder sie wären auf ewig hier eingeklemmt und würden nie wieder herausfinden! „Nicht panisch werden, Rufus“, meinte Landiel, der offenbar seinen raschen Atem bemerkt hatte. „Ich, panisch?“ Rufus Stimme klang ein Stück höher als normal. „Wir kommen hier schon raus. Und wenn wir uns am Ende nach oben vorarbeiten. Weiter. Sobald wir mehr Platz haben, mache ich die Fackel wieder an.“ Rufus wimmerte. Er war ein großer Abenteurer. Ein mutiger Abenteurer. Aber er bevorzugte es sich einer etwaigen Gefahr zu stellen, wenn er diese sah, und nicht blind in sie hineinzustolpern. Die Hand seines Kumpanen fand die seine, drückte sie. „Komm schon. Halt durch.“ So holte Rufus tief Luft, so weit es ihm die Enge des Gangs erlaubte und schob sich weiter voran, Stück für Stück den Spalt weiter in den Felsen treibend. Da. Auf einmal fanden seine Finger keinen Fels mehr, nur Leere. Konnte es sein? Konnte es wirklich sein? Er atmete auf. „Du stolperst auf einen offenen Platz. Ein dämmriges Licht umgibt dich“, erklärte Matt. „Mache einen Wurf auf Wahrnehmung.“ „Schon wieder?“ „Wir wollen doch sehen, ob du in die nächste Falle reinstolperst.“ „Großartig.“ Erneut nahm Jason den Würfel, würfelte. Dieses Mal blieb er auf der elf liegen. „Fünfzehn.“ „Mit einem Malus von vier wegen Schlechter Sichtbedingungen.“ „Hey, ich komme gerade aus dem Stockdunklen Flur.“ „Das habe ich schon mit einberechnet.“ „Menno.“ Ein dämmriges Licht umgab Rufus. Er konnte ausmachen, dass er auf einem weiterem Gang war. Der Boden unter seinen Füßen war gepflastert, wie auch in dem Gang zuvor und doch anders. Während der Boden des anderen Ganges mit glatten Steinen ausgelegt gewesen war, so schien das hier einfaches Kopfsteinpflaster zu sein. Wie in der Stadt. Konnte es sein? Mehrfach drehte er sich um, in der Hoffnung zu sehen, woher das Licht war. Ja, wie er es sich gedacht hatte. Magische Kristalle. Zauberkatalysatoren. Das hier waren einmal Straßenlampen gewesen, selbst wenn sie durch ihre lange Zeit unter der Erde und ohne neue Magie einen guten Teil ihrer Potenz verloren hatten. Sie glommen nur schwach in der Finsternis, wurden schon im nächsten Moment von Landiels Fackel überleuchtet. Doch er hatte Recht gehabt. Eine Straße. Eine richtige Straße, wie in einer Stadt. Nur dass es eine Decke gab. „Die Stadt unter der Stadt“, murmelte er. Er hatte nicht gedacht, dass es so wortwörtlich zu nehmen war. Irgendwie hatte er sich mehr ein Höhlenlabyrinth vorgestellt, in das vielleicht hier und da bewohnbare Höhlen gedeichselt worden waren. Sein Blick glitt über den Boden. Er hatte nicht vor, in die nächste Falle zu treten. „Nun, ich denke, wir sollten versuchen, die Bibliothek zu finden, oder?“, meinte Landiel und hielt seine Fackel hoch. Rufus fing sich. Ein wenig gruselig war dieser Ort ja schon. Selbst wenn hier erst einmal keine Spinnenweben zu sehen waren. „Ja.“ Damit schritt er voran, als wüsste er, wohin er ging. Er kramte in seiner Tasche. Irgendwo hatte er doch diese Karte gehabt. Er wusste nicht, ob sie die richtige war und er hatte keine Ahnung wo in der Karte sie waren, doch er hatte aus der neuen Bibliothek eine der alten Stadt kopiert. Ah, da, da war das Pergament. Wieder schaute er sich um. Wo konnte es sein? Das hier sah aus, als wäre es einmal eine Marktstraße gewesen. Diese Holzhaufen am Rand der Straße mussten einmal Stände oder so etwas gewesen sein. Jetzt aber lagen sie zersplittert und zerstört dort. Moment. Zerstört? Aber warum sollten sie zerstört worden sein? War es die Zeit gewesen, die dafür gesorgt hatte? „Ich möchte die Stände genauer untersuchen“, sagte Jason. Matt lächelte. Darauf hatte er gehofft. Immerhin hatte er sich eine Vorgeschichte für die Stadt ausgedacht. Mal sehen wie viel davon Jason herausfinden konnte. „Dann Würfel einmal.“ „Natürlich.“ Schon wieder griff Jason nach dem zwanzigseitigen Würfel, als ein Kratzen von der Fronttür zu hören war. Jason drehte sich um, während Matt seufzte. Es war klar, was es zu bedeuten hatte. Wenigstens für ihn, doch selbst Jason sollte mittlerweile daran gewöhnt sein. „Alex …“ Er schenkte Jason einen entschuldigenden Blick und stand auf, um die Tür zu öffnen. Dabei hatte Alex einen Schlüssel, doch um diesen zu benutzen, musste sie sich in ihre menschliche Gestalt verwandeln, was sie meistens mied. Sie mochte es nicht ein Mensch zu sein, beschwerte sich in der Gestalt ständig über alles. Vielleicht konnte er auch einfach warten, dass Sean die Tür öffnete, doch das würde er wahrscheinlich aus Prinzip nicht machen. Also ging er zur Wohnzimmertür, erhaschte einen kurzen Blick auf Sean, der wieder am Basteln war, und stiefelte rasch an der Badezimmertür rechts vom Wohnzimmer zur Haustür, um sie zu öffnen. Alex schüttelte sich und kleine Klumpen Schneematsch verteilten sich im Windfang des Flurs. „Brr“, machte die kleingewachsene Wölfin und schlich an ihnen vorbei. Zwei junge, knapp vier Monate alte Welpen folgten ihr. „Es schneit schon wieder.“ „Und deine Höhle ist nicht geschützt?“, erwiderte Matt hilflos. Dabei wusste er genau, dass Alex vorrangig für Essen hier war und für das warme Kaminfeuer, das unter ihrem Kin generell beliebt war. „Ich habe Hunger“, erwiderte Alex. „Die Kleinen auch.“ Dann schnüffelte sie, schnüffelte noch stärker und steckte dann ihre Schnauze durch die Wohnzimmertür. „Warum steht da ein Baum?“ Die beiden Welpen japsten und rannten ins Wohnzimmer hinein, um sich das genauer anzusehen und während ein verwirrter Jason vor dem Kamin saß und gerade rechtzeitig seinen Laptop hob, um einen übereifrigen Welpen davon abzuhalten, darüber zu springen, seufzte Matt. „Wir haben nur vegetarisches Essen da“, meinte er. Noch einmal schüttelte Alex sich. „Nehm ich auch.“ Teil 3: Die Hüter ----------------- Selbst wenn sein Blick auf das Regelwerk geheftet war, so bemerkte Matt doch, wie Jasons Blick immer wieder nervös zu Alex wanderte, die mit ihren Welpen unter dem Weihnachtsbaum balgte. Die beiden Jungtiere waren wie so oft um diese Zeit äußerst aktiv und lebhaft, sprangen ein wenig hin und her und versuchten ihre Mutter zu Fall zu bringen, schafften es jedoch nicht. Verspielt schnappte Alex ihre Tochter beim Nacken und drückte sie auf den Boden, bellte aufgeregt. Matt holte tief Luft und schaute Jason für einen kurzen Moment direkt an. Dann jedoch war da wieder dieses angespannte Gefühl in seiner Magengegend, brachte ihn dazu den Blick zum Feuer zu wenden. „Wollen wir noch weiter machen?“, fragte er. Jason zuckte zusammen, als er ihn ansprach. Offenbar hatte er die Welpen die ganze Zeit angespannt beobachtet. Während er nie ein Problem mit Matt oder Thia hatte, Sean meistens einfach aus dem Weg ging, machte Alex ihn öfter nervös. Vielleicht genau, weil sie ihn durchaus interessant fand. Kurz flackerte Jasons Blick, dann nickte er jedoch und lächelte. „Entschuldige. Ja. Natürlich. Immerhin will ich dieses Buch endlich finden.“ Matt lächelte seicht und holte wieder seinen Plan hervor, den er wegen Alex vorher zur Seite gelegt hatte. „Also, Rufus und Landiel stehen auf einer Straße …“ Hier waren weniger Spinnenweben zu sehen. Generell wirkte alles erstaunlich ordentlich. Hätten die kleinen Stände noch normal gestanden, hätte man vielleicht glauben können, dass die Straße einfach nur wegen der Gefahr eines Drachenangriffs geräumt worden war. Doch so … Es war wie eine Geisterstadt. Eine echte Geisterstadt. Nur ohne Geister … bisher. Rufus schaute nach links, nach rechts, suchte nach einem Hinweis wo in dieser Stadt sie nun waren. Ach, hätte er doch nur einen Orientierungszauber gelernt. Doch so schwer konnte es nicht sein. Wenn er nicht gänzlich irrte, war die Kanalisation, von der sie gekommen waren, rechts von dem Spalt durch den sie auf die Straße gekommen waren. Das hieß, wenn er sich den alten Stadtplan ansah, dass das Stadtzentrum links davon liegen musste. Also geradeaus. Noch einmal wandte er sich zu dem Spalt um, der offenbar zwischen zwei Häusern war. Seltsam. Er war sich sicher gewesen, dass er vorher durch festen Stein gekommen war, durch Felsen. Doch es waren Hauswände gewesen. Hauswände aus Lehm und Holz. „Was ist, Rufus?“, fragte Landiel und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter. Rufus schüttelte den Kopf. „Dieser Ort ist gruselig“, murmelte er. „Wir sollten uns vor Geistern hüten.“ „Geister wären definitiv …“ Landiel verstummte kurz, während er die Straße hinab sah. „Ungut …“ Vorsichtig musterte Rufus ihn, folgte dann seinem Blick. „Alles in Ordnung, Freund Elf?“ „Ja.“ Landiel löste sich aus seiner kurzen Starre. „Ja. Ich dachte nur ich habe etwas gehört. Doch vielleicht war es nur eine weitere von diesen Fallen.“ Rufus schauerte, schaffte es jedoch sich zu beherrschen. Er schluckte schwer und machte dann den ersten Schritt die Straße hinab. Alex richtete die Ohren auf. „Aber wenn er etwas gehört hat, warum sollte er es dann nicht sagen.“ Matt seufzte. Er hätte damit rechnen müssen, dass Alex nicht lange würde ruhig sein können. Sie verstand Menschen und menschliche Aktivitäten nicht immer. Gerade Fantastik nahm sie in jeder Hinsicht zu ernst. Nur ein einziges Mal hatte er versucht ihr Tolkien näher zu bringen. „Weil wir es nicht immer sagen, wenn wir Angst haben jemanden nicht beunruhigen zu wollen.“ „Dann gibt es also etwas, dass Rufus beunruhigen sollte, eh?“ Jason hob vielsagend eine Augenbraue. Ein weiteres Seufzen verkniff Matthew sich. Er schenkte Jason einen kurzen Blick. „Du kannst dich gerne noch einmal umsehen …“ Eigentlich waren das schon deutlich zu viele Würfe, die er ihm abverlangte, doch war es besser, als ihn vor vollendete Tatsachen zu setzen. Außerdem war es weniger hinderlich, solange sie bloß zu zweit spielten. So wurde aus einem einfachen Wahrnehmungswurf keine Würfelorgie. Schon klapperte der Würfel wieder über das Holz, streng verfolgt von gleich sechs Wolfsaugen. „Warum sollte der Würfel eine Aussage für die Geschichte haben?“, fragte Alex nun, während einer ihrer Welpen zustimmend japste. „Weil so das Spiel funktioniert“, erwiderte Matthew leise. Rufus schloss seine Augen und lauschte, in der Hoffnung zu hören, was auch immer Landiel gehört hatte. Doch für den Moment war alles still. Da war nichts. Nur ein fernes Rauschen, wie von Wind, der durch einen Spalt wehrte. Während Landiel die Flamme hin die Höhe hob, ging Rufus voran. Er folgte der Straße, schlich weiter voran, weiter an toten Häusern vorbei, durch deren leere Fenster ihnen die Blicke schon lang verstorbener und vergessener Bewohner zu folgen schienen. Was machte diese Stadt hier unten? Warum war sie noch so komplett erhalten? Warum sah sie aus, wie etwas, das erst vor kurzem verlassen worden war? Er hatte hier gelebt? Und wo waren die Toten? Doch all das musste sie nicht interessieren. Sie mussten nur die alte Bibliothek finden. Die alte Bibliothek und dann das Grimoire. Die Straße schien sich ewig in die Länge zu ziehen. Die flackernden Flammen ließen die Schatten zum Leben erwachen. Hinter jeder Häuserecke schien ein Geist zu lauern, ein Dämon, doch es war nur Rufus Fantasie, die ihm einen Streich spielte, da war er sicher, jedenfalls bis nach einer ganzen Weile ein Donnern durch die Höhle dröhnte. Der Boden unter Rufus' Füßen vibrierte. Wie angewurzelt blieb er stehen. „Was war das?“ Auch Landiel hatte inne gehalten. „Etwas nicht weit von hier …“ Das konnte nichts Gutes bedeuten, oder? Rufus löste sein Schwert aus der Scheide, zog es und machte sich bereit, nur für den Fall, dass etwas sie angriff. „Komm“, hauchte Landiel nun mit gesenkter Stimme und zog ihn zum nächsten Haus hinüber. Der Elf dimmte die Fackel mit einer geübten Geste und drückte sich gegen die Hauswand, während Rufus voranschlich. War es die Dunkelheit oder endete die Straße drei Häuser weiter? Ja. Sie schien sich auf einen Platz zu öffnen. Da fielen seine Augen auf das große Wesen, das sich von einem Moment auf den anderen aus der Dunkelheit erhob. Sicher gute zwölf Ellen groß und aus einem seltsamen, schwarzen, selbst im matten Licht funkelnden Material zeichnete sich der Golem in der Dunkelheit ab. Ein dumpfes Feuer glühte in den Augen des Ungeheuers. Ein Feuer, dass dort von Magie entzündet worden war. Rufus wusste, was es war: Ein Golem. Alex schnaubte laut und schenkte ihnen einen erneuten, langen Blick. „Golems sind selten und garantiert nicht so groß.“ „In dieser Welt schon“, erwiderte Matt leise. Beinahe schon war er sich sicher, dass Alex diese Anmerkungen machte, um sie zu nerven, nicht, weil sie ein wirkliches Interesse daran hatte. „Das ist dann aber eine komische Welt.“ Alex' Ohren zuckten leicht. „Ich meine, Golems sind per Definition künstlich erschaffen und wenn das so leicht wäre, warum laufen dann keine ganze Golem-Armeen durch die Gegend?“ „Nur weil sie häufiger vorkommen, als in der Realität, heißt das nicht, dass sie leicht herzustellen sind. Es gibt halt einfach mehr fähigere Magier.“ „Aber …“, setzte Alex an. Matt unterbrach sie: „Alex. Das hier ist ein Spiel. Wir haben daran Spaß. Kannst du uns nicht einfach spielen lassen?“ Es war doch schlimm genug, dass die anderen sie nicht ernst nahmen, dass Sean darüber ständig Witze machte. Jason schwieg, als wäre er sich nicht sicher, ob er etwas sagen konnte. War er nur von Alex eingeschüchtert oder stimmte er ihr sogar zu? Schämte er sich mit ihm zu spielen? Matts Eingeweide zogen sich bei diesem Gedanken zusammen. Natürlich wusste er, dass es nicht so war, dass Jason Spaß hatte, doch eine leise Stimme in seinem Unterbewusstsein sagte etwas anderes, redete ihm ein, dass es gar nicht sein könnte. Wer hatte schon Spaß mit ihm? „Ich meine doch nur“, murrte Alex und legte sich wieder auf die Seite. „Es ist ein komisches Spiel.“ Wieder schnaubte sie leise. Ein Niesen? „Du bist ein Werwolf. Du weißt, wie es richtig ist.“ „Vielleicht spielen wir aber einfach nicht, um die Realität nachzubilden“, meinte Jason. „Es ist ein Spiel. Nicht die Realität.“ Dankbar schaute Matt zu ihm hinüber. Er hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass Jason doch noch etwas sagen würde. So leicht gab sich Alex nicht zufrieden. „Aber warum spielt ihr dann?“ Meinte sie die Frage ernst? Vielleicht schon. Immerhin spielten Wolfswelpen, um Jagd und Rangkämpfe zu üben. „Um Spaß zu haben“, erwiderte Jason. „Das machen Menschen so.“ Er schenkte Matt ein sanftes, beruhigendes Lächeln. „Gibt so schon genug andere Sachen, die nerven.“ Darauf murrte Alex etwas Unverständliches, wandte sich dann aber dem Welpen zu, der an ihren Zitzen nibbelte. Matt sah zu Jason. „Wollen wir weitermachen oder …“ Kurz nickte er in die Richtung der Wölfin. Ein Schulterzucken war Jasons erste Antwort. „Ach, lass mir den einen Kampf“, meinte er dann. Ein Golem. Ein Golem aus dunkler Erde. Konnte es sein? Vulkangestein? Aber hier in der Nähe war nicht einmal ein Vulkan. Wer hatte das Gestein hergebracht? War es wirklich geschehen, um den Golem zu erschaffen. Die glühenden Augen des Golems waren auf sie gerichtet. Für einen Moment war er auf eine Art erstarrt, wie es nur ein magisches Wesen konnte, ein Wesen, dass durch Magie belebt war. Wie eine Statue saß er da. Auch wenn er keine Pupillen hatte, schien sein Blick von Rufus zu Landiel und dann zur Rufus zurückzuwandern. Das Schwert vibrierte in Rufus' Händen. Oh Gott. Das war keine gute Idee. Wenn der Golem ein Beschützer war, ja, dann würde er das Schwert gar nicht gerne sehen. Zu spät fiel Rufus dies ein. Er versuchte das Schwert wegzustecken, doch es war bereits zu spät. Der Golem ballte eine Faust, fixierte die beiden und Schlug einen Moment später zu. BÄMM. Laut donnernd traf Stein auf Stein, während Rufus und Landiel davonsprangen. Gerade so rollte sich Rufus unter dem Arm des Ungeheuers davon. Dann mussten sie also kämpfen. Er hob sein Schwert, sammelte seine Energie und sprang empor. Kurz glitt sein Blick über den freien Platz, der den Golem umgab. Wie er es gedacht hatte: Es war das Stadtzentrum, das alte Stadtzentrum, das er gesucht hatte. Ein großer, runder Platz, sicher gute fünfzig Ellen lang. In der Mitte stand ein großer Brunnen, der noch immer mit magisch glimmenden Steinen besetzt war. Warum hatte sie niemand gestohlen? Ein weiterer Schlag des Golems, der donnernd auf die Straße stand, während Landiel sich weiter zurückzog. Der Golem musste diesen Ort schon lange bewachen. Er hatte andere Diebe abgehalten. Andere Diebe? Sie waren nicht wegen der Steine da. Dennoch würden sie den Golem bekämpfen müssen. Rasch sammelte Rufus seine magische Energie im Schwert, verzauberte es so, ehe er zuschlug. Dankbarerweise waren Golems wie alle Erdelementare langsam. Er konnte zuschlagen, noch bevor der Golem sich erneut auf ihn fixieren konnte. Also schlug er zu, versuchte den Arm des Biestes zu durchtrennen, nur um festzustellen, dass es so einfach nicht war. Die Klinge drang nur eine Hand breit in den erdigen Körper des Golems ein, ehe sie auf steckenblieb. Dabei hatte er sie doch schon verzaubert! „Das klingt nach einer unfairen Mischung“, murmelte Jason und runzelte die Stirn. Matt lachte leise. Er hatte sich ein paar Gedanken um diesen Gegner gemacht, zugegebenermaßen auch ein paar Regeln gemischt. Es war doch recht langweilig das Spiel gerade heraus zu spielen. So konnte Jason sich ein wenig ausprobieren. „Jetzt komm schon, du weißt, dass ich es dir nicht so leicht machen kann.“ „Für einen Erdelementar wäre es sicher besser, einen richtigen Magier dabei zu haben“, murmelte Alex. Sie ignorierten sie. Darüber mussten sie nicht auch noch eine Diskussion anfangen. „Dann lass mich einmal probieren“, murmelte Jason. Er warf verspielt den Würfel empor, während sein Blick auf seinen Charakterbogen fixiert war. „Ha, ich glaube, ich habe eine Idee“, meinte er dann und schob den oberen Zettel zur Seite, um einen Blick auf seine Ausrüstung und sein Inventar zu werfen. Rufus zog sein Schwert aus dem Körper des Golems, der nun mit der großen Hand nach ihm schlug. Golems waren stark und verdammt widerspenstig. Es gab wenig, was er tun konnte, um ihm etwas entgegen zu setzen. Seine Magie war nicht stark genug. Was für einen Zauber benutzte man überhaupt gegen ein solches Ungeheuer? Allerdings hatte er eine Erfahrung gemacht: Golems waren langsam, ungelenk und das musste er ausnutzen. „Landiel!“, rief er. „Kannst du ihn ablenken?“ Der Elf grinste und zog seine kurzen Doppelschwerter. Die Fackel legte er vorsichtig auf den Boden, wohl in der Hoffnung, dass sie nicht verlosch, und stürmte dann auf den Golem zu. Derweil eilte Rufus hinter den Brunnen und begann dort in seiner Tasche zu kramen. Er hatte etwas. Es gab etwas, das ihm helfen konnte. Eigentlich hatte er es für etwas anderes aufbewahren wollen, doch hier war es förmlich wie gerufen. Golems waren an die Erde gebunden und auch wenn es unter der Erde nicht so viel bedeuten mochte, so sollte das Ungeheuer Probleme mit einem fliegenden Gegner bekommen. Umso praktischer, dass er einen Flugtrank hatte. Er hatte ihn vor etwas mehr als einer Woche von einer Fee in einem Tauschgeschäft erhalten. Da. Da war das kleine Fläschchen mit der bläulich leuchtenden Flüssigkeit. Rasch zog er den Korken heraus und würgte die magische Flüssigkeit hinab. Sofort spürte er die Leichtigkeit durch seinen Körper fluten. Der Boden würde ihn nicht länger halten. Er stieß sich ab und erhob sich in die Luft, soweit es der hier vielleicht zwanzig oder dreißig Ellen große Tunnel erlaubte. An dieser Stelle konnte sich Alex doch nicht länger beherrschen: „Was? So einfach geht fliegen in eurem Spiel?“ „Hey, ich habe für den Trank questen müssen“, erwiderte Jason empört. „Du hast gar nichts gemusst“, entgegnete Alex kühl. „Du hast irgendetwas mit Matthew hin und her erzählt und dann hat er dir gesagt, dass du eine fiktionale Flasche haben kannst.“ „Heißt nicht, dass ich nicht ein wenig Zeit darein investiert habe.“ Alex seufzte und verdrehte die Augen, während ihre Ohren angespannt zuckten. „Ich sage nur: Weißt du eigentlich wie kompliziert Fliegen im richtigen Leben ist?“ Matt runzelte die Stirn. Er wollte nicht noch weiter unterbrochen sein. Verdammt, eigentlich hatte er gehofft, wenn sie spielten, einfach ein wenig Zeit mit Jason allein zu haben. Doch Jason war zu neugierig. Für einen Moment schien das Spiel vergessen zu sein. „Wie kompliziert ist Fliegen denn?“ „Du musst mindestens einen großen Geist beschwören“, antwortete Alex. „Und dann lange verhandeln. Und dann kannst du es auch nur, wenn der Geist es dir erlaubt.“ „Auch als Magier?“ Alex schnaubte. „Nehme ich doch arg an. So mächtig sind Magier nun auch wieder nicht.“ Wahrscheinlich war es der Stolz einer Geistersprecherin, der ihre Worte erfüllte. Allerdings war sich Matt nahezu sicher, dass es nicht so war. Magier waren anders als sie. Ihre Magie kam nicht immer von Geistern. Sie konnten auch der Umgebung Energie klauen, ja, sogar ihren Gegnern. Davor hatte sein Vater ihn immer schon gewarnt. Ein Grund mehr, warum dieser auch gegenüber Jasons Mitbewohnerin misstrauisch blieb. Vielleicht sogar zurecht. Jedenfalls wenn sie wirklich zum Rat der Magier gehörte. Er räusperte sich. „Jay?“, fragte er leise. Jason wandte ihm wieder seine Aufmerksamkeit zu, schaute dann auf die Skizze zwischen ihnen und fing sich. „Sorry. Ähm. Ja. Ich fliege zu dem Golem hinüber und möchte versuchen, ihn mit Brennender Schlag anzugreifen.“ Das Schwert wieder verzaubert und die Energie für einen Wasserzauber sammelnd flog Rufus zu dem Golem hinüber. Ach, er wünschte sich endlich fliegen lernen zu können. Er wollte das hier, das, was der Trank ihm erlaubte, selbst machen können. Einfach so ohne Anstrengung durch die Luft gleiten. Dann könnte er vielleicht auch endlich die Himmelsinseln erforschen. Später. Jetzt sollte er sich konzentrieren. Landiel hatte die Aufmerksamkeit des Golems auf sich gezogen. Immer wieder trafen seine kurzen Klingen die Beine des Golems, der versuchte den Elfen zu erwischen, sich jedoch schwer damit tat. Immer wieder trafen seine Angriffe ins Leere. Jetzt aber wich der Golem zurück, machte sich kleiner, kauerte sich zusammen. Oh. Er wollte Landiel stürmen! „Pass auf!“, rief Rufus und feuerte nun seinen Zauber ab. Die Kugel aus Wasser traf den Kopf des Golems. Dort irgendwo musste auch sein, was dieses bisschen Erde mit Leben versetzt hatte. Er musste es nur finden. Dankbarerweise wandte der Golem ihm den Kopf zu, richtete seine glühenden Augen auf ihn. Da. Zwischen ihnen. Mit erhobenen Schwert flog Rufus auf ihn zu, sammelte seine ganze Energie in dem Angriff, wohl wissend, dass er es bereuen würde, wenn es schief ging. Noch während der Golem umgelenk einen Arm hob, rammte Rufus ihn die magische Klinge zwischen die Augen. Der Golem erstarrte. Dann ging ein Zittern durch den dunklen Körper, ehe er zu schwarzem Sand zerfiel. „Ha!“, rief Jason triumphierend aus. „Wer ist der beste Magier weit und breit?“ „Wahrscheinlich irgendjemand an der magischen Universität“, meinte Matt sanft, um ihn zu ärgern und lächelte. Wieder schnaubte Alex, verkniff sich aber einen weiteren Kommentar. Stattdessen schloss sie die Augen, während ihre Welpen an ihrem Bauch eingeschlafen schienen. Matt nickte. „Dann schreib dir die Erfahrungspunkte auf“, meinte er zu Jason. „Und? Gibt es auch ein Item?“ Matt lächelte, schaute in das Feuer. „Sicher.“ Dann holte er Luft. „Wollen wir es für heute vielleicht besser …“ „Beenden?“, fragte Jason. „Ach, komm. Ich will zumindest die Bibliothek finden.“ Teil 4: Elfenkrieger -------------------- Sechs breite Straßen trafen im Stadtkern auf den Brunnen. Eine davon sollte sie direkt zur Bibliothek führen. Dankbarerweise konnte Rufus halbwegs nachvollziehen, aus welcher Richtung sie gekommen waren. Es war Südosten gewesen, wenn er nicht irrte. Also müsste die zweite Straße rechts von der, in der noch immer Landiels Fackel auf dem Boden lag, diejenige sein, die ihn ans Ziel brachte. Dann würde er der Sache endlich auf den Grund gehen können. Noch wusste er nicht, was er finden würde, doch etwas sagte ihm, dass es hier noch mehr gab, als er bisher erkannt hatte. Da war irgendetwas an dem alten Professor gewesen, dass ihn noch immer falsch vorkam. Warum? Vielleicht war es auch die Masse schlechte Erfahrungen mit alten Magiern gewesen. Immerhin waren zu viele von ihnen korrumpiert. Bevor man wusste, was geschah, fand man sich auf einmal als das lebendige Opfer in einem Ritual. Landiel hob die Fackel auf und klopfte ihm auf die Schulter. „Das war ein guter Plan“, meinte er. „Bist du auch wirklich okay?“ „Ja, natürlich.“ Rufus grinste. Wenn er so weiter machte, würde seine Schule ihn irgendwann auch noch anerkennen. Für einen Moment blieb Landiels Hand auf seiner Schulter liegen, doch dann löste sich sein Begleiter von ihm. „Also, wohin geht es?“ Noch einmal sah Rufus prüfend auf den Stadtplan, zeigte dann aber auf die Straße, für die er sich vorher schon entschieden hatte. „Wenn ich richtig liege, sollte die Bibliothek in dieser Richtung sein.“ Landiel nickte. Er schaute ebenfalls auf den Stadtplan, schien aber keine Einwände zu haben. „Was glaubst du. Ob hier noch weitere Golems sind?“ Das war eine gute Frage. Leider hatte er keinen weiteren Flugtrank mehr und würde sich wohl etwas anderes einfallen lassen müssen. „Hoffen wir nicht …“ Dabei wusste er, dass die Hoffnung vielleicht vergebens wäre. Wahrscheinlich war der Golem ein Wächter gewesen. Und selten war es so, dass eine magische Stadt nur einen Wächter hatte. „Was machen wir, wenn es noch einen gibt?“, fragte Landiel. Nun, es gab nur eine vernünftige Antwort, auch wenn Rufus sie hasste. „Vielleicht sollten wir besser die Fackel löschen. Dann ziehen wir weniger Aufmerksamkeit auf uns.“ Für einen Augenblick musterte Landiel ihn, seufzte dann aber. Dann löschte er die Fackel mit einem Schnipsen seiner Finger. Dunkelheit senkte sich um sie. Ja, weiterhin erfüllten die magischen Steine ihre Umwelt mit dem ausgebleichten Glühen, doch reichte das Licht gerade einmal um grobe Formen auszumachen. Grobe, geisterhafte Formen, die im blassen Glimmen wie Geister aussahen. Anspannung machte sich in Rufus breit, als er Landiel beim Handgelenk griff und ihn mit sich zog. Sie konnten es sich nicht erlauben, einander in der Dunkelheit zu verlieren. Wenn sie allein auf einen anderen Wächter trafen, wären sie ihm ausgeliefert. Landiel aber riss sich los, nur um einen Moment später seine Finger zwischen die Rufus' zu schieben. „So ist es angenehmer“, hauchte er. Matts Wangen glühten, auch wenn er wusste, dass es albern war. Es machte in der Geschichte Sinn. Es war einfacher einander bei den Händen zu halten, als dass jemand das Handgelenk des anderen umgriff, doch allein die Vorstellung Jasons Hand zu halten … Kurz wagte er einen Blick zu Jason hinüber, dessen Gesicht jedoch Ahnungslosigkeit bewies. Er schien sich dabei nicht viel zu denken oder wenn er es tat, so ließ er es sich nicht anmerken. „Was ist?“, fragte er nun, ob Matts Schweigen. Rasch schüttelte Matt den Kopf. „Nichts. Ähm … Ich überlege noch.“ Musste Jason das Brennen seiner Wangen nicht bemerken? Ja. Genau. Das Spiel. Er war der GM, nicht ein Spieler. Dennoch hielt Landiels gerade Rufus' Hand. Was hätte er nur dafür getan, dasselbe tun zu können. Dabei war es eigentlich unangenehm. Immerhin wurden Finger schnell schwitzig. Es schränkte ein, machte einen langsamer. Es war unpraktisch, hieß nichts … Dennoch … „Okay.“ Noch einmal holte er tief Luft. „Rufus und Landiel laufen die breite Straße hinab. Es ist so dunkel, dass ihr kaum weiter als vier, fünf Fuß sehen könnt …“ Die Dunkelheit war erdrückend. Vielleicht war sie sogar noch schlimmer dadurch, dass die kleinen Kristalle sie mit diesem geisterhaften Schimmer erfüllten, denn dieser Schimmer ließ auch Schatten erscheinen, schatten, aus einem verschlingenden Schwarz. Hinter jeder Häuserecke schien das nächste Monster zu lauern. Die Dunkelheit sorgte dafür, dass sich Rufus' andere Sinne schärften, dass er meinte mehr zu hören. Ein fernes Donnern. Ein Krachen. Ein Klacken. War es hinter ihnen gewesen? Oder doch weit weg? Bildete er sich das alles nur ein? Landiels Hand war das einzige, dessen er sich sicher war. Sie lag noch immer warm in der seinen, würde ihn aber dennoch dabei behindern, sein Schwert zu ziehen. Egal. Sie durften einander nicht verlieren. Dann wären sie auf ewig hier unten verloren. Es schien, als würde die Straße unter ihnen ansteigen, als würden sie bergauf laufen. Konnte das sein? War es nur eine weitere Illusion der Dunkelheit? Wo waren sie? Ach, was hätte er dafür gegeben, sich besser orientieren zu können. Doch die Gebäude waren zu schwer zu erkennen, um daran etwas ausmachen zu können. Zwar hatte er seine Schritte gezählt – sie waren bei 374 – doch war er nicht sicher, was es hieß. Gott, wenn das so weiter ging, würde er verrückt werden. Er würde hier in der Dunkelheit verrückt werden. Gerne hätte er gesprochen, doch fürchtete er, dass ihre Stimmen Aufmerksamkeit auf sie ziehen konnten. Vierhundert Schritte. Noch immer waren sie nicht hier. Er hatte ein Buch der Bibliothek gesehen, doch vielleicht war es nicht korrekt. Was, wenn sie die Bibliothek nicht fanden? Er war ein Kämpfer. Ein Abenteurer. Diese Dunkelheit sollte ihm keine Angst machen und dennoch wäre er am liebsten gerannt. Fünfhundert Schritte. Wie lange noch? Wie lange? Er schärfte seinen Blick, starrte in die Dunkelheit hinein. Sechshundert. Da. Bildete er es sich ein, oder war dort ein heller Schimmer in der Finsternis? Heller, als die Kristalle. Ja, da war etwas. Da waren auch Formen. Längliche, aufrechte Formen. Gestalten? Golems? Nein. Etwas anderes. Er hielt inne, drückte Landiels Hand. Der Elf wandte sich ihm zu. „Was ist?“, flüsterte er. „Da.“ Landiel schaute in die angezeigte Richtung, blinzelte und nickte. „Säulen. Das muss es sein.“ Wirklich? Endlich. „Kannst du Gegner erkennen? Wächter?“ Schweigen, während der Elf in die Dunkelheit starrte. „Nein, ich glaube, es ist sicher.“ „Gut.“ Rufus erlaubte sich, aufzuatmen. Dann löste er seine Hand aus der des Elfen und zog sein Schwert. Besser Vorsicht, als Nachsicht. Kurz sah er zum Elfen, dessen Gesicht wie eine blasse Maske wirkte, ehe er sich in Richtung des Gebäudes bewegte, das hoffentlich die Bibliothek war. Langsam, nur sehr langsam, bewegten sie sich durch die Dunkelheit. Sie konnten nicht riskieren in den Hinterhalt eines Golems zu laufen, selbst wenn diese kaum intelligent genug dafür waren. Matt kam nicht umher zu lächeln. „Du glaubst wirklich, dass ich noch etwas fieses für dich vorbereitet habe, hmm?“ Jason räusperte sich, blieb jedoch leise, da Alex endlich zu schlafen schien. „Ich kenne dich. Da wird irgendetwas sein. Ich weiß nur noch nicht was.“ Nervös rollte er den Würfel zwischen seinen Handflächen, als überlegte er, schon einmal auf eine Vorbereitung zu werfen oder nur zur Vorsicht einen weiteren Wahrnehmungswurf zu machen. „Bitte lass es kein weiterer Golem sein“, murmelte er dabei leise. Matt schaute auf seinen Laptop. Er hatte ein wenig Text für die eventuellen Gegner, auf die Jason vielleicht treffen konnte, vorgeschrieben. Ohne war er zu schlecht darin, Dialoge für die Gegner zusammen zu bekommen. So sollte es hoffentlich gehen. Mittlerweile war es kurz nach neun. Eventuell waren sie bis zehn oder elf mit dem Abenteuer durch, je nachdem, wie Jason sich anstellte. Er seufzte. Oder aber sie warteten bis zum nächsten Mal. Immerhin würde er in der Vorweihnachtszeit viel Zeit hier verbringen und Jason sah nicht aus, als würde er beabsichten, hier in nächster Zeit „auszuziehen„. „Matt?“, fragte Jason, ob der verlängerten Stille. „Lass mich kurz meine Gedanken ordnen, ja, Jay?“, erwiderte er leise. Ein paar Mal atmete er tief durch, ehe er sich wieder dem Spiel widmete. Sie erreichten die Säulen. Das Gebäude war weit komplexer gebaut, als irgendetwas, das Rufus hier unten oder auch an der Oberfläche gesehen hatte. Die erste Etage ragte um gute drei Meter über die untere an den Seiten hervor, wurde von einigen Säulen gestützt. Säulen, die fraglos irgendwann einmal weiß gewesen waren, nun aber von etwas dunklem bedeckt waren. Nachdenklich näherte er sich einer Säule, berührte sie vorsichtig und strich über die Oberfläche. „Russ“, murmelte er. Tatsächlich lag auch der Geruch oder viel eher die Ahnung eines Geruchs nach Feuer und Asche in der Luft. Ja, die Wände der Bibliothek waren geschwärzt. Sie musste irgendwann einmal gebrannt haben. „Glaubst du, das ist passiert, bevor sie die Stadt übermauert haben?“, fragte Landiel nachdenklich. Rufus schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht … Das Feuer hätte doch Luft gebraucht, oder?“ Aber wenn die Bibliothek vorher abgebrand war, wieso waren sie dann hier unten? „Wahrscheinlich“, murmelte Landiel, der wahrscheinlich dasselbe dachte. Da hinten war einmal eine Tür gewesen. Eine große, breite Doppeltür aus Holz, von der nur ein verkohltes Skelett geblieben war. Irgendetwas war dahinter, doch das matte Licht reichte nicht, um genaueres zu erkennen. Noch einmal sah Rufus sich um. Er fühlte sich beobachtet, doch wahrscheinlich waren es nur seine angespannten Nerven. „Glaubst du, dass das Buch noch dadrin ist?“, fragte Landiel, der ebenfalls die Stimme gesenkt hatte. „Vielleicht“, antwortete Rufus. „Wir müssen zumindest nachsehen.“ Immerhin war es ein Grimoir und Grimoirs waren nicht selten durch ihre eigene Magie geschützt. Eventuell hatte es das Feuer überlebt. Sie erreichten die Überreste der Tür, gegen die von innen Balken lagen. Eine eingestürzte Etage? Nein. Das Gebäude schien aus Stein zu sein. Also … Hatte jemand die Tür von innen blockiert? Er streckte die Hand aus und erschauerte. Der Geist eines Schutzzaubers lag noch immer über der Tür. Er konnte ihn spüren. Ein leichtes Kribbeln in den Fingern, ganz wie von Donnermagie. Ja, fraglos ein Schutzzauber. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“ „Ja“, hauchte Landiel. „Was machen wir jetzt?“ „Wir versuchen reinzukommen“, antwortete Rufus. „Hilf mir.“ Dankbarerweise hatten Feuer und Zeit die Balken und den Zauber erodieren lassen. Sie schafften es einen der Balken aus dem Weg zu räumen, sich durch den Zauber zu drücken, ehe sie sich durch das Loch zwischen den verbleibenden Balken zwängten. Innen war der Geruch des schon lange erloschenen Feuers stärker. Sicher. Immerhin war dieser Ort wohl kaum ordentlich durchlüftet worden. Also mussten sie weiter. Mehr wussten sie nicht. Sie wussten nicht, wie groß die Bibliothek war, noch wo das Grimoir war. Das einzige, was sie hatten, war eine Beschreibung darüber, wie das Grimoir aussah. Angeblich war es in ein Leder, wie das eines grünen Drachen gebunden, mit einem magischen Zirkel auf der Außenseite, gedruckt aus Gold. Ja, Zauberer zu alter Zeit hatten immer eine Angewohnheit daraus gemacht, ihre Grimoirs lächerlich aufzumachen, damit ja jeder wusste, dass es ein besonderer, wichtiger und wertvoller Gegenstand war. Rufus' eigenes Grimoir war ein einfaches, in dunkles Leder gebundenes Notizbuch, das in die Fläche seiner Hände passte. Natürlich war er auch keiner dieser großen, studierten Magier. Ein Magus nichts desto trotz. Er kletterte den Balken hinab und trat in den offenen Raum. Hier war die Dunkelheit beinahe komplett. „Fackel?“, flüsterte Landiel neben ihm. „Zu auffällig“, erwiderte Rufus. „Hast du nicht noch das Feenlicht.“ „Sicher, dass du es hierfür nutzen willst?“ Ja, es wäre nicht mehr für viele Anwendungen gut. „Ja, besser.“ Ein Rascheln verriet ihm, dass Landiel in seiner Tasche kramte. Dann flammte ein violettes, sanftes Licht zu seiner Seite auf. Das Licht, das von der kleinen Flasche in Landiels Händen ausging, flutete wie Wasser durch den langen Raum. Beinahe schon konnte Rufus die Ränder sehen, während das Licht auch in die Ecken träufelte. Es war magisches Licht, das ihnen den Weg zeigen würde. Die Halle, in der sie standen, war einmal von vollhölzernen Bücherregalen ausgefüllt gewesen. Von diesen waren oftmals nur noch verkohlte Reste übrig geblieben. Andere lagen rücklings auf dem Boden. Dazwischen die Überreste von Büchern. Leere Ledereinbände, die traurigen Reste von Seiten, die teilweise anderes bedeckten. Skelette. Tote Körper, bis in die Unkenntlichkeit verbrannt. Ein Zittern kam über Rufus Körper. „Was ist hier geschehen?“, fragte er mit heiserer Stimme. „Landiel?“ Der Elf schüttelte mit dem Kopf, wich instinktiv zurück, während sein Blick über die toten Körper streifte, die zusammengehauert zwischen Säulen saßen. Da hinten, da hatten sich welche der Leute zwischen leere Regale gekauert, hatten offenbar versucht, sich durch das Holz vor dem Feuer zu schützen, doch es war ihr Scheiterhaufen geworden. Endlich fing er sich, ging zu der nächsten Leiche und hockte sich vor sie. Beinahe, als sähe er genau, was er erwartete, fand seine Hand eine von Ruß bedeckte Kette um den Hals, griff danach, zog sie zu sich. Mit dem Daumen strich er darüber, ehe er das Amulett Rufus zeigte. „Das waren Elfen“, flüsterte er mit heiserer Stimme. „Oh“, machte Jason und lehnte sich zurück. Alex zuckte mit den Ohren, öffnete jedoch ihre Augen nicht. Hoffentlich schlief sie weiter. Kurz hob Matt den Blick und beobachtete Jason, auf dessen Gesicht sich langsam die Erkenntnis zeigte. Er verstand, worauf das hier hinaus lief. „Ich habe doch gewusst, dass der Professor böse ist!“, meinte er, bemühte sich jedoch wieder die Stimme zu senken. „Was lässt dich das jetzt sagen?“ Matt bemühte sich, unschuldig zu wirken. Nicht dass er glaubte, Jason damit reinlegen zu können. Jetzt war er drauf gekommen, worauf dieser Plotstrang hinauslief. „Dann … Was? Dann haben die Menschen die Elfen angegriffen, um an die Magie zu kommen?“, fragte Jason. „Und die Elfen haben sich geschützt und deswegen ist die Stadt unterirdisch?“ „Finde es heraus“, erwiderte Matt sanft. Jason grinste. „Oh, ich werde es genießen, diesem alten Professor mein Schwert in den Kopf zu rammen.“ Jetzt schüttelte Matt den Kopf und seufzte übertrieben. „Jetzt klingst du beinahe wie Sean. Gewalt ist nicht immer die effektivste Lösung.“ „Sagst du“, erwiderte Jason grinsend. „Also ich finde hier löst es die Probleme ganz wunderbar.“ Matt verdrehte die Augen. „Vielleicht muss ich demnächst einen Quest designen, um dich eines besseren zu belehren.“ Nicht, dass er es wirklich tun würde, solange er nicht sicher war, ob Jason daran gefallen finden würde. „Das würdest du doch nicht tun.“ „Sei dir da mal nicht so sicher.“ Matt lächelte, ehe er Luft holte. „Also, können wir weitermachen …“ „Drehe wir noch nicht um?“ „Noch nicht. Immerhin hat Rufus nur eine Vermutung, oder?“ „Genug Vermutung um …“ „Um einen auf Sean zu machen?“ Jason zuckte mit den Schultern, grinste. „So in etwa.“ Ein Schimmeln glitt durch die Luft. Ein Schimmern, das nicht auf das Feenlicht zurückging. Ein Instinkt warnte Rufus. Sie waren nicht allein. Ja, jemand oder etwas anderes war ebenfalls hier. Er richtete sich auf, sah sich um, konnte jedoch nicht verhindern, dass einen Moment später eine zum Teil durchsichtige Klinge an seinen Hals gehalten wurde. Vor ihm stand ein Geist. Der Geist eines Elfen. Sein Körper war durchscheinend, schimmernd, blass, doch unverkennbar ein Elf, genau so wie die Klinge in seinen Händen elfischen Ursprungs war. Ob sie ihn noch verletzen konnte? Im Moment gab es keinen Grund, diese Erkenntnis zu provozieren. „Wer seid ihr?“, fragte der Elfengeist in der alten Sprache. Rufus räusperte sich und sah zu Landiel, der noch immer das alte Schmuckstück in der Hand hielt. Natürlich. Er würde sprechen müssen. Wie es so oft war. „Reisende“, meinte er rasch. Der Elfenkrieger war nicht allein. Andere geisterhafte Gestalten waren um sie herum erschienen. Sechs, nein, sieben Stück. Natürlich waren es sieben. Abwehrend hob Rufus seine Hände, die Handflächen nach außen gekehrt. Er ließ sein Schwert fallen, darauf hoffend es nicht zu bereuen. Jedenfalls dahingehend war er sich sicher: Verzaubert konnte das Schwert den Geistern schaden, vollkommen unabhängig davon, wie es andersherum aussah. „Reisende, die an diesen verfluchten Ort kommen?“, erwiderte ein anderer Geist. Rufus schwieg. Innerlich rechnete er sich seine Chancen aus. Sollte er die Wahrheit sagen, die halbe Wahrheit, lügen? Es war kaum glaubhaft, dass sie zufällig über diesen Ort gestolpert waren. Das fiel also heraus. „Mein Name ist Rufus“, sagte er vorsichtig. „Rufus Schattenklinge. Ich bin ein Magus von Orden der Feuersucher. Das hier ist mein Freund, Landiel, von den Waldelfen. Wir sind Abenteurer und Schatzsucher.“ Die Klinge rückte gefährlich näher an seine Kehle. „Und welchen Schatz sucht ihr hier?“ Landiel rückte näher zu ihm, presste seinen Rücken gegen den Rufus. „Wir wurden beauftragt, ein Grimoir von hier zu holen“, sagte Rufus. „Aber …“ Sein Blick suchte den Raum nach weiteren Hinweisen ab. „Wir sind nicht die ersten, die das Grimoire wollten, oder? Also, ich meine, wir wollen es gar nicht. Es war nur unser Auftrag.“ „In der Tat, Menschenmann“, erwiderte der Elf. „Und ihr werdet nicht die ersten sein, die hier sterben.“ Jason gab ein übertriebenes Fiepsen von sich und hob seinen Würfel. „Ich würde doch gerne den Elfen davon überzeugen, dass wir absolut keine bösen Absichten haben.“ „Keinerlei böse Absichten, sagt der Dieb, eh?“, meinte Matt und lächelte. Mit einer Geste forderte er Jason auf, zu würfeln. „Wir sind doch keine Diebe“, erwiderte Jason und ließ den Würfel vorsichtig über das Parkett rollen. „Wir doch nicht.“ Noch einmal räusperte sich Rufus. Er musste einen guten Eindruck machen, sonst würden sie schon wieder kämpfen. „Wir suchen keinen Konflikt mit euch, sehr geehrter Elf“, meinte er. „Wir können selbst sehen, dass wir herein gelegt wurden. Wir dachten, eine verlassene Stadt anzutreffen, die vor langer Zeit verlassen wurde, aber jetzt können wir sehen …“ Der Geist unterbrach ihn mit einem bitteren Lachen. „Verlassen, eh? Glaubt ihr das wirklich. Wir wurden …“ „Ermordet“, sagte Rufus schnell. „Ja, das können wir sehen. Sie wollten das Grimoire, nicht? Deswegen sind sie hierher gekommen.“ „Sie wollten unsere Geheimnisse. Menschen.“ Der Elf spuckte das Wort aus wie einen Fluch, als hätte es einen üblen Geschmack in seinem Mund hinterlassen. „Sie sind hergekommen, wollten alles für sich. Sie haben nicht verhandelt. Sie sind direkt mit ihren Kriegsmaschinen gekommen, ihren Zauberern, ihrer dreckigen Magie.“ In jedem anderen Zusammenhang, wäre Rufus beleidigt gewesen, doch jetzt schluckte er die Erwiderung, die in seinem Rachen brannte, hinab. Er würde nichts sagen, würde es für sich behalten. Diese Elfen waren getötet worden, nicht? Sie hatten Grund Menschen zu verurteilen. Und Magier. So weh es auch tat. „Das kann ich sehen“, erwiderte er. „Ich kann es sehen. Euch wurde Unrecht getan und … Wir haben das nicht gewusst, als wir den Auftrag angenommen haben und …“ „Und was?“ Jetzt berührte die Geisterklinge beinahe Rufus' Nacken. Eisige Luft umhüllte sie, ließ ihn zittern – mehr vor Anspannung, als dass er gesamt fror. „Wir werden einfach gehen“, erwiderte Rufus. „Unserer Auftragsgeber hat uns reingelegt und … Wir … Wir werden ein ernstes Wort mit ihm reden.“ Schon plante er den Professor hinterrücks zu ermorden. Irgendetwas sagte ihm, dass er hiermit zu tun hatte. In mehr als einer Hinsicht. „Und ihr denkt, dass wir euch so einfach gehen lassen?“ Natürlich nicht. „Ja“, antwortete Rufus nichts desto trotz. „Wir …“ Wahrscheinlich würde er es bereuen. „Wir sind bereit einen Blutsschwur zu machen, nicht hierher zurückzukehren.“ Der Elf hielt inne. Seine Augen verengten sich, während er Rufus eindringlich musterte. Dann tat er etwas Unerwartetes: Er ließ sein Schwert senken, ließ dafür seine rechte Hand vorschnellen und berührte Rufus Brust. Ein eisiger Schauer jagte durch seinen Körper. Für einen Moment glaubte er das Bewusstsein zu verlieren, doch er fing sich. Er japste nach Luft. Es war, als wäre er in einen gefrorenen See gesprungen. Seine Lunge zog sich zusammen. „Nehmen wir an“, meinte der Elf, als er nach einigen Sekunden die Hand zurückzog, „dass ich dir glaube.“ Er verstummte. „Ja?“ Für einen Moment herrschte Schweigen, dann traf der Blick des Geistes den Rufus. „Wie ist der Name eures Auftraggebers?“ „Professor Getro.“ Rufus hatte geantwortet, bevor er auch nur darüber nachgedacht hatte. Besser als noch mehr Wut auf sich zu ziehen. Er war fähig den Blick des Elfen zu lesen. „War er wirklich einer von denen, die diesen Ort angegriffen haben.“ Die Augen des Elfen verengten sich ein weiteres Mal. „Vor vierhundert Jahren …“ Die Tür öffnete sich und Thia steckte den Kopf ins Wohnzimmer. „Ihr seid noch immer am …“ Sie schürzte die Lippen. „… spielen?“ „Ja“, erwiderte Jason. „Wieso?“ „Nichts“, antwortete Thia. Ihr Blick wanderte zu Alex und ihren Welpen hinüber. „Ich werde ins Bett gehen.“ Stille. Sie tauschten Blicke. „Okay“, meinte Jason dann. „Kann ich noch etwas für dich tun?“ Matt konnte sich nicht helfen. Er verdrehte die Augen. Natürlich fragte Jay das. Natürlich. Thia musterte ihn, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein. Alles okay. Es sei denn ihr wollt nachher noch warm duschen. Weil das werde ich jetzt tun und ich habe nicht vor, an warmen Wasser nicht sparen.“ Jason lächelte verträumt. „Mach das ruhig. Sag Bescheid, wenn ich dir irgendwobei helfen kann.“ „Beim Duschen?“ Matt schaffte es nicht, sich diesen Kommentar zu verkneifen. Sofort errötete Jason deutlich, ein Effekt der vom glühenden Licht des langsam hinabgebrannten Holzes im Kamin verstärkt wurde. „Natürlich nicht. Ich meine … Sonst. Irgendwie.“ Thia schüttelte den Kopf und wandte sich ab. „Nein, danke, Jason.“ Damit schloss sie die Tür hinter sich und schlurfte ins Bad hinüber. Stille senkte sich über sie, bis Matt sich schließlich räusperte. Eigentlich hätte er das ganze heute noch zu Ende gebracht, doch gleichzeitig hatte er das Gefühl, nicht mehr wirklich im Spiel zu sein. „Wollen wir … Wollen wir vielleicht morgen das ganze zu Ende bringen?“ Überrascht sah sich Jason zu ihm um. „Was?“ „Den Quest.“ Jason war eindeutig auch abgelenkt – etwas, das vom Geräusch, des im nächsten Moment angeschalteten Wassers im Nachbarraum nicht verbessert wurde. Schließlich nickte er. „Ähm. Ja. Ähm. Es ist recht spät, eh?“ „Ja“, antwortete Matthew und klappte seinen Laptop zu. Wieder war da dieser Drang. Der Drang Jason zu sagen, dass Thia nie an ihm Interesse haben würde. Doch das würde bedeuten, Thia zu outen, etwas das er einfach nicht tun konnte. Immerhin wollte er auch nicht selbst vor irgendjemanden geoutet werden. Er wünschte sich nur, dass Jason es endlich bemerkte … Selbst wenn es seine eigenen Chancen bei ihm wahrscheinlich nicht verbessern würde. Offenbar zeigte sich irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck, denn Jason musterte ihn. „Was ist, Matt?“ Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich überlege nur, ob du die große Falle kommen siehst.“ Jason gluckste leise. „Ah ja, noch eine Falle, eh?“ „Aber natürlich“, antwortete Matt und verkniff sich ein weiteres Seufzen. Wenn er selbst doch nur mutiger wäre. Teil 5: Kaminfeuer ------------------ „Brr“, machte Jason, als er in das kleine Zimmer kam. Trotz allen Dingen, die er in den letzten Wochen hier eingerichtet hatte: Eine Heizung gab es in der kleinen Hütte noch immer nicht. Entsprechend kalt war es und die Tatsache, dass er offenbar kalt geduscht hatte, machte es nicht besser. Matt lag auf der oberen Matratze des Hochbettes, das eigentlich für Jugendliche gebaut war war. Doch wie alles in diesem Haus war es eine Spende von ihren Kin. Er hatte in einem Buch gelesen, schaute nun aber auf. Rasch griff Jason nach einem der langärmlichen T-Shirts und zog es sich über, wobei Matt jedoch nicht umher kam, einen kurzen Blick auf seine nackte Brust zu erhaschen. Wieder brannten seine Wangen. Warum noch einmal schlief er mit hier im Zimmer. „Du hättest nicht kalt duschen müssen“, murmelte er. „Ach, das passt schon“, erwiderte Jason, obwohl sein Bibbern seine Worte Lügen strafte. „Sicher?“ Kurz kam ihm der Gedanke, dass er ihn wärmen könnte, doch das würde nur seltsam werden. Seltsam und peinlich. Selbst wenn Jason es annehmen würde. Es sei denn … Er verdrängte den Gedanken. Jason ließ sich auf die untere Matratze fallen und verschwand so aus Matts Sichtfeld. „Ist bei dir alles okay?“ Matt biss sich auf die Lippen. „Ja. Alles gut. Wieso?“ „Du wirkst … missmutig“, antwortete Jason. „Weil wir nicht fertig geworden sind?“ Weil Thia schon wieder im Mittelpunkt stand. Doch das sagte Matt nicht. Er verkniff es sich. Wie immer. „Nein. Alles gut. Hat nur genervt. Mit Alex und so.“ „Okay.“ Noch immer klang die Kälte aus Jasons Stimme. Offenbar bibberte er noch immer. Stille machte sich zwischen ihnen breit, während Jason noch immer zu zittern schien. Warum hatte er auch kalt duschen müssen? Matt verstand es nicht wirklich. Schließlich seufzte er. „Du. Wie wäre es, wenn wir noch ein wenig vor den Kamin gehen?“ „Passt schon“, erwiderte Jason mit angespannter Stimme. „Ich will nicht, dass ich morgen neben einer Leiche aufwache.“ Er schlug seine Decke zur Seite und sprang zu Boden. Selbst wenn er nicht der beste Kämpfer unter den Werwölfen war, fiel es ihm leichter, sich so zu bewegen. Er merkte es nicht einmal, bis er Jasons überraschten Blick sah. Wie schon zuvor hatte Jason seine Arme um sich geschlungen und die Bettdecke über den Schultern. Matt hielt ihm eine Hand hin. „Komm schon.“ „Drüben ist Alex“, erwiderte Jason. „Und?“ Für einen Moment zögerte Jason, seufzte dann aber, nahm die Hand und erlaubte es Matt, ihn hochzuziehen. Matthew hielt inne, dann aber legte er eine Hand auf Jasons Schulter, rieb darüber. Es war nur eine Geste, um ihn zu wärmen. Mehr nicht. Das ging so auch unter Freunden, oder? Es war anders, bei Jason. Es war alles ein wenig anders mit ihm. Jason schlurfte auf dem Weg ins Wohnzimmer und ließ sich dort mit einem Ächzen vor den Kamin feiern, in den nur noch letzte Reste glommen. Es war dennoch wärmer als in der kleinen Schlafkammer, in der Wasser über Nacht wahrscheinlich auch zu Eis gefroren wäre. „Zugegebenermaßen“, murmelte Jason, „ist das hier besser.“ Er streckte die kalten Finger in Richtung des Kamins. „Danke, Matt.“ Matthew erwiderte nichts. Er setzte sich neben ihn, zog die Beine an und schlang die Arme darum, während er in den Kamin starrte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Wie lange saßen sie dort so? Jedenfalls sprach Jason nach einer Weile wieder: „Liege ich denn richtig?“ Er hatte die Stimme gesenkt. „Richtig womit?“, erwiderte Matt. „Dass der Professor der Bösewicht ist.“ Matthew grinste, schwieg jedoch für einen Moment. „Das wirst du dann morgen herausfinden, Jay.“ „Gemein.“ „Ich will dir doch keinen unfairen Vorteil geben.“ „Wem gegenüber? Unseren ganzen Nicht-Spielern?“ Ein mattes Lächeln legte sich über Matthews Züge. „Ja, genau denen.“ Nun seufzte Jason langgezogen. „Schade das die anderen nicht spielen“, murmelte er und hielt dann inne. „Zumindest Thia.“ Wieder war es da, das Stechen in Matts Brust. „Thia …“ Er schürzte die Lippen. „Thia hat halt andere Interessen.“ Ein weiteres Seufzen. „Ja.“ Ach, was sollte er ihm nur sagen? Matt sah zu dem Weihnachtsbaum hinüber, dessen Lichterkette noch immer in der Steckdose steckte und das ansonsten dunkle Zimmer mit einem besinnlichen Schimmer erfüllte. Alex und ihre Welpen lagen noch immer darunter. Eins der Jungtiere japste leise im Schlaf und zuckte mit den Pfoten, als ob es davon träumte, einen Hasen zu jagen. „Weißt du, Jay“, meinte er schließlich, „wenn du was von Thia willst … Du musst halt direkt mit ihr sprechen und … Na ja … Du musst ihr direkt etwas sagen. Sonst merkt sie das nicht.“ Dann hätte dieses Drama endlich ein Ende. „Ja, wahrscheinlich.“ Nun starrte auch Jason in die glühenden Kohlen. Wieder hielt Matt inne, legte dann aber eine Hand aus Jasons Schulter. Normalerweise fühlte er sich nicht wohl, so nah bei jemand anderem zu sitzen, doch mit Jason … Er war noch immer angespannt und doch war es okay. Würde er doch ehrlich sein können. Würde er doch etwas sagen können. Doch er konnte nicht. Er wollte nicht. Er wollte seinen ersten richtigen Freund in Jahren – sein erster richtiger Freund, der kein Werwolf war zumindest – nicht darüber verlieren. Lieber blieb er so, egal wie stark sein Herz gegen seinen Brustkorb hämmerte. „Danke, Matt“, murmelte Jason und seufzte schon wieder leise. „Warum muss das mit dem Dating nur so kompliziert sein?“ „Du könntest auch wie der Wolf machen und einen Rangkampf ums Futter anfangen“, erwiderte Matt sanft. „Macht ihr das wirklich?“ „Ich dachte du bist derjenige mit den Wolfsdokus.“ „Ja“, antwortete Jason, „aber du bist der Werwolf.“ Matt zuckte mit den Schultern. „Nun, es kommt darauf an, ob du mich, Thia oder Alex fragst.“ Kurz hielt Jason inne. „Und wie würde Thia antworten?“ Ein weiteres Schulterzucken war die einzige sinnvolle Antwort, die Jason einfiel. „Woher soll ich das wissen?“, meinte er und löste sich von seinem Freund. „Da musst du sie selbst fragen.“ „Großartig.“ Jason lehnte sich zurück. Matt zog seine Beine erneut an. „Oder du könntest deine Mitbewohnerin fragen.“ Die kleine Hexe. „Das …“ Jason schüttelte den Kopf. „Das würde es nur noch komplizierter machen.“ Dann stand er auf. „Wahrscheinlich wäre es leichter, wäre ich auch ein Wolf.“ Als ob das irgendetwas leichter machen würde. Matt seufzte und richtete sich ebenfalls auf. „Du hast keine Ahnung“, murmelte er und sprang auf die Beine. Er musterte Jason, hielt wieder inne. „Bett?“, fragte er dann. Jason zuckte mit den Schultern. „Ja.“ Auch er schaute zum Weihnachtsbaum, Alex und den Welpen hinüber. „Es ist schon spät.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)