Die Schneekönigin von Flokati ================================================================================ Eine heiße Tasse Milch mit Honig -------------------------------- St. Petersburg, 05. Oktober 2017 „Ich bin schon so gespannt, Schatz.“ „Es ist mehr Show als Eiskunstlaufen“, grinst Viktor. Er und ich haben es uns schon auf Jelenas braunem Sofa bequem gemacht, während sie dabei ist, den Fernseher einzuschalten. Makkachin liegt auf seiner Platzdecke und streckt alle Beine von sich, nachdem er seinen Napf in Windeseile leer gefegt hat. Heute Abend wird im Fernsehen „Celebrities on Ice for Kids“ ausgestrahlt und ich kann mir nicht helfen, aber ich kann es irgendwie genauso wenig abwarten wie Jelena, bis es endlich losgeht. Vielleicht, weil ich die Sendung im japanischen Fernsehen nie sehen konnte und auch nicht auf die Idee gekommen war, bei Youtube danach zu suchen. Yuko und ich haben damals so akribisch Recherche betrieben, dass wir irgendwann der Meinung waren, alles zu wissen, was es über Viktor zu wissen gab, aber seit ich bei ihm in St. Petersburg lebe, bin ich eines Besseren belehrt worden. Jelenas Sammelsurium schlägt unsere alten Viktor-Fan-Ordner um Längen und selbst das ist nicht alles. Nichts von alledem ist aber besser als das Einzelstück, das ich ganz dicht bei mir sitzen habe. Seit seinem Comeback bei den Russian Nationals vor ein paar Tagen war Viktor terminlich viel unterwegs und Training hatten wir auch noch, sodass heute Abend endlich einmal wieder ein bisschen entspannen auf dem Programm steht. Er darf also so viel auf mir hängen und mich umarmen wie er will, weil sich das bestens damit ergänzt, dass ich überhaupt keine Einwände habe. Im Fernsehen läuft noch eine russischen Trickserie und Jelena kommt zu uns auf die Couch. „Ihr seid noch versorgt, ihr Lieben?“, fragt sie und steht doch wieder auf, um in unsere Tassen zu schauen. Viktor lacht: „Die Milch ist so heiß, wir konnten noch keinen Schluck trinken.“ Jelena hebt die Augenbrauen und setzt sich wieder. Sie hat uns zu Milch mit Honig überredet, obwohl das, wie Viktor sagte, doch für Kinder wäre. Aber für Mamas werden Kinder nie erwachsen, das weiß ich von meiner Mutter, und Jelena empfindet das sicherlich nicht anders, auch wenn sie nicht mit Viktor verwandt ist. Sie will Viktor und mir einfach nur etwas Gutes tun, weil sie „ihre Jungs“ in den letzten Tagen viel zu selten gesehen hat, wie sie findet. Dabei waren es gerade mal zwei Wochen. „Das hast du früher so gerne getrunken, weißt du noch?“, beginnt sie ihre Wahl zu rechtfertigen. „Jedes Mal, wenn du bei mir über Nacht geblieben bist. Milch und Honig, ohne wolltest du nie schlafen gehen.“ „Musst du diese alten Sachen erzählen?“, lacht Viktor amüsiert, „Aber ja, ich erinnere mich.“ „Ach was, das ist doch nicht schlimm“, befindet Jelena mit einem Lächeln und nimmt ihrerseits einen Schluck von ihrem Tee. „Wie lange musste ich warten, bis du mir jemanden vorstellst, dem ich all das erzählen kann?“ Jelena zwinkert mir zu, Viktor stöhnt und ich muss lachen. Sie hat unglaubliche Freude daran, mir alles Mögliche über Viktor zu erzählen und kein Detail kann ihrer Meinung nach zu langweilig sein. Viktor weiß jetzt ganz genau, wie ich mich gefühlt habe, als meine Mutter ihm im Laufe des letzten Jahres ständig irgendetwas von mir erzählt hat. Für ihn war das auch nie langweilig, aber ich habe fast immer die Krise bekommen, was Mutter alles für Kamellen ausgepackt hat... Davon abgesehen würde ich mich nicht beschweren zu erfahren, dass der junge Viktor früher vor dem Einschlafen gerne Milch mit Honig getrunken hat. Es macht ihn menschlich, es ist niedlich und jetzt da ich es weiß, kann ich ihn vielleicht das nächste Mal damit überraschen, wenn er wieder spät nach Hause kommt. Wir wenden uns wieder dem Fernseher zu. Die Trickserie ist zu Ende und nach dem Abspann beginnt eine Vorschau auf die kommende Sendung. Wie gebannt versuche ich alles ganz genau zu verfolgen und zu erkennen, ob Viktor bereits zu sehen ist. Die Musik, die im Hintergrund spielt, ist mir zunächst unbekannt, aber dann erkenne ich die Melodie von „Let it go“ und Viktor ist für etwa zwei Sekunden auf dem Eis zu sehen, Vogelperspektive, und von der Decke fällt Schnee oder zumindest etwas Ähnliches. Es könnte auch Konfetti sein. Wahrscheinlich ist es Konfetti, denn in Eishallen fällt kein Schnee. „Du liebe Güte“, kommentiert Jelena, die sich ebenfalls fasziniert vorgebeugt hat, „da wurde aber an nichts gespart, Schatz.“ „Es ist für Kinder“, meint Viktor einfach nur, aber das Grinsen geht von einem Ohr zum anderen. „Die kann ich nicht mit einem perfekt ausgeführten Flip begeistern, weil sie ihn nicht erkennen. Da muss schon was anderes her, damit es interessant wird.“ Ja, denke ich, und fiese Socke wie er ist, hat er nach seiner Rückkehr aus Moskau natürlich davon rein gar nichts erzählt. Nur, dass sie bis spät in die Nacht geprobt haben, damit das Timing passt und die Technik richtig funktioniert. Aber allein von dieser kurzen Vorschau glaube ich erahnen zu können, wie viel Arbeit in diesem Auftritt steckt. Nicht nur von Viktor, sondern von so ziemlich jedem, der daran beteiligt war. Den Film „Die Eiskönigin“ kennt hierzulande auch jeder und da gerade das Lied hat weltweit eingeschlagen wie eine Bombe, haben auch die Kleinsten die Höhe Erwartungen. Yukos Drillinge sind da keine Ausnahme, denn nachdem ich zuerst meiner Mutter und daraufhin Yuko von dem Auftritt erzählte, brach nicht nur bei meiner Familie, sondern auch bei meiner langjährigen Freundin und ihren Töchtern Panik aus, wie sie an eine Aufzeichnung dieser Sendung kommen. Wir zeichnen heute also alles auf und schicken es morgen nach Japan, damit auch dort die kleinen und großen Fanherzen glücklich sind. Viktor nimmt sich seine Tasse Milch und entlastet meine Schulter für einen Moment, bis er mit angezogenen Beinen wieder an mir lehnt und kuschelt. „Du bist sehr anlehnungsbedürftig heute“, bemerkt Jelena amüsiert. „Yuuri, wenn dich das stört, musst du es ihm sagen.“ „Es stört mich nicht, keine Sorge“, antworte ich hastig, aber es stört mich ja wirklich nicht. „Außerdem ist die Sendung für mich nur halb so spannend“, antwortet Viktor und hält den Finger in die Milch, um zu sehen, ob sie noch heiß ist. „Also habt ihr einen spannenden und ich einen gemütlichen Abend.“ Jelena lacht, schüttelt den Kopf und schaut wieder zum Fernseher. Viktor nippt an seiner Milch, während ich versuche meine Schulter in eine Position zu bringen, die für ihn und mich gleichermaßen bequem und erträglich ist. Die Werbepause dauert diesmal sehr viel länger und ich muss mich wirklich wundern, womit Kinder heutzutage spielen und ob es überhaupt noch irgendwelches Spielzeug ohne Elektronik gibt. Ich hatte zwar auch ein ferngesteuertes Auto und später auch einige Spielkonsolen und dann auch einen Computer, andererseits komme ich mir bei dem Gedanken unheimlich alt vor, obwohl ich erst 24 bin. „Ich wollte mit so was nicht spielen“, bemerkt Viktor, der sich infolge meiner ungeschickten Versuche, meine Schulter zu positionieren, lieber aufrecht neben mich gesetzt hat. Er stellt die Tasse wieder auf den Tisch und reicht mir meine, damit ich auch trinken kann. Sofort steigt mir die feine Süße des Honigs in die Nase und ich weiß sofort, wieso Viktor in jungen Jahren davon so angetan war. Solche simplen Aufmerksamkeiten von geliebten Menschen verlieren einfach nie ihren Zauber. „Womit hast du gespielt?“, frage ich ihn und rieche noch einmal an der Milch. „Mit unseren Tieren. Ich hab viel gebastelt oder gelesen“, beginnt Viktor. „Irgendwas habe ich immer gefunden, womit ich mich beschäftigen konnte.“ „Ohja, das hast du“, fügt Jelena hinzu. „Was er alles angestellt hat. Meine Güte. Ich wäre durchgedreht, wenn ich seine Mutter gewesen wäre.“ „Du übertreibst, Jelena“, beschwichtigt er. „Alle Kinder stellen mal was an.“ „Yuuri, er hat dem Hund und den Schafen mit der Schere das Fell geschnitten. Sich den ganzen Körper mit schwarzem Schlamm eingeschmiert. Die Tapeten mit Gemüse angemalt und Hühner auf seinem Zimmer versteckt.“ „Passiert“, sagt Viktor und zuckt mit den Schultern. „Yuuri sagt, er hat nie was angestellt.“ „Eh, nein“, antworte ich etwas verlegen. Aus eigenem Antrieb etwas Anstellen war nie mein Ding. Aber meistens saß ich hinterher doch mit in der Patsche, weil ich den Moment zum „Nein-sagen“ immer verpasst habe. „Wie langweilig“, findet Viktor, „Gab es nichts, was dir Spaß gemacht hat?“ „Doch schon... Eiskunstlauf, aber das weißt du. Aber ich habe mich immer schwer getan, Dinge die ich mag vor anderen zu zeigen. Training war nie das Problem, aber Aufführungen waren immer schlimm.“ „Und vor dem Eiskunstlauf?“ Einen Moment schweige ich. Wenn ich ehrlich bin, erinnere ich mich kaum noch daran, womit ich als Kind gespielt habe, aber ich erinnere mich sehr genau an alles, was ich gemacht habe, nachdem ich Viktor das erste Mal bei den Junior-Weltmeisterschaften im Fernsehen gesehen habe. Eiskunstlauf hatte bis dahin dem Ballett immer eine untergeordnete Rolle, weil ich den damaligen Trainer nicht mochte. Er war sehr streng und laut, das hat mich immer verunsichert. Eigentlich war ich nur wegen Yuko zum Eiskunstlauf gegangen, weil sie viel lieber auf dem Eis war. Ballett habe ich lieber gemacht, weil ich mich dort sicherer fühlte. Aber nach ein paar Sekunden von Viktors damaliger Siegeskür hätte ich auch in der Eishalle übernachtet, wenn es hätte sein müssen; so sehr wollte ich laufen können wir er. Minako-sensei nörgelte danach nur noch, weil sie es war, die mich von Anfang an zum Eiskunstlauf überreden wollte und es nie geschafft hatte; Viktor hatte nicht mal ein Wort dazu gebraucht. Wir hören Beifall und sehen im Fernseher die vollbesetzte Eishalle. Sofort halte ich in meinen Überlegungen inne und ich starre wie gebannt auf den Bildschirm. Es ist dunkel, aber an allen vier Eckpunkten der Eislauffläche sind hohe LED-Bildschirme aufgestellt, auf denen derzeit der Name der Sendung zu lesen ist und die Scheinwerferlichter malen Eisblumen in einem prächtigen Farbenspiel auf die kalte Fläche. Das Publikum klatscht begeistert und nach und nach betritt ein Profieiskunstläufer nach dem anderen das Eis. Ich bin so fasziniert, dass mich erst ein vorwurfsvolles Schnauben von Viktor daran erinnert, dass ich ihm eigentlich seine Frage beantworten wollte, aber es fällt mir schwer, meine Konzentration aufzuteilen. Ich habe noch nie auf einen Viktor im Fernsehen gewartet, während der Echte neben mir sitzt und nach Aufmerksamkeit verlangt. Die Erfahrung ist so neu, wie sie unwirklich ist, dass derzeit die Fernsehsendung noch die Nase vorn hat. Dabei ist es reine Gewohnheitssache. Ich war so lange Fan von Viktor, dass ich manchmal einfach nicht aus meiner Haut kann und diese Eröffnung hat wirklich alles, was zu einer solchen Show gehört. „Schatz, ich seh' dich gar nicht“, bemerkt Jelena irritiert, aber sie hat Recht. Viktor ist in der Eröffnungschoreografie nicht zu sehen. „Ich bin ja auch noch nicht auf dem Eis,“ antwortet Viktor mürrisch. „Das Beste kommt immer zum Schluss.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)