Die Schneekönigin von Flokati ================================================================================ Mit dem Geschmack von Liebe auf den Lippen ------------------------------------------ 01. März 2004, Hasetsu. O-shiro-mae-Grundschule Es ist schon Frühling, aber ich habe nicht mehr nach der Schneekönigin gefragt. Ich wollte irgendwie, aber dann doch nicht mehr. Auch den Eisläufer wollte ich nicht mehr sehen, nachdem Nishigori mir gesagt hatte, er habe sein Bild in Yu-chans Heft gesehen und meinte, das sei so einer von denen, die auf ihrer eigenen Schleimspur ausrutschen. Yu-chan war daraufhin sehr böse geworden und traurig und hat Nishigori angeschrien, dass er nie wieder mit ihr reden soll. Das ist noch nie vorgekommen und hat mich weiter verunsichert, weil dieser Junge Yu-chan so wichtig zu sein scheint. Und es tut immer noch weh. Mit mir redet sie zwar normal, aber irgendwie weiß ich nicht, wie ich mich richtig verhalten soll, jetzt da sie mit Nishigori streitet... Er sitzt oft bei mir zu Hause und spielt Pokémon für sich alleine. Ich schaue eigentlich nur zu und stimme ihm ab und an zu, dass sein Gegner unfair war, wenn er verloren hat. Manchmal mache ich aber auch einfach nur Hausaufgaben dabei. Mit Yu-chan gehe ich weiter zum Ballett und zum Juniortraining in der Eishalle, aber sie ist nicht so fröhlich wie sonst. Ich würde sie gerne aufheitern, aber ich weiß nicht wie. Sie redet auch anders und ich habe ständig das Gefühl, dass sie etwas verschweigt. Es ist, als wären wir irgendwie keine Freunde mehr. In den Pausen in der Schule bin ich deswegen oft alleine. Nishigori ist bei seinen Kumpels und Yu-chan meist bei Sayo und Mitsu. In der Klasse habe ich keine Freunde, also verbringe ich meine Zeit mit Lesen in der Bibliothek. Nach einer Weile schwirrte doch wieder „Die Schneekönigin“ in meinem Kopf herum und ich habe es gesucht, aber nicht mit der Absicht es zu finden. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst suchen sollte. Das Märchen gibt es tatsächlich in unserer Schlusbibliothek, aber in einer Sammlung, sodass schnell erklärte, warum ich es zunächst einmal beim bloßen Überfliegen der Buchtitel nicht gefunden habe. Seit ein paar Tagen lese ich es jetzt. Es ist viel länger und irgendwie ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Kay hat Gerda nicht sofort für die Schneekönigin fallen lassen und irgendwie macht die Schneekönigin auch nicht den Eindruck, böse zu sein. Der Spiegel ja, aber die Schneekönigin nicht. Sie wird mit einer wunderschönen Schneeflocke verglichen, die die Kleinen durch die Luft tanzen lassen kann. Es klingt viel mehr danach, als sei sie so sehr damit beschäftigt unterwegs zu sein, dass sie kaum Gesellschaft hat und immer nur alleine ist... „Hey, Fetti-chan.“ Ich hebe den Kopf. Nishigori steht zwischen zwei Regalen und winkt mich zu sich. Irritiert klappe ich das Buch zu und gehe zu ihm. Er sieht ständig links und rechts, als wollte er sicherstellen, dass uns keiner sieht und hören kann. „Ist Yuko-chan immer noch sauer?“, fragt er. „Vielleicht nicht mehr...“, antworte ich ihm, aber ich weiß es ja auch wirklich nicht. Yu-chan und ich reden ja nicht darüber. „Himmelt sie den aalglatten Schleimscheißer immer noch an?“ „Ich glaube schon.“ „Was findet sie an dem? Er hockt doch sowieso in Russland, das ist viel zu weit weg!“, mokiert sich Nishigori und ich schaue betreten auf meine Füße. Was soll ich dazu sagen? Ich habe keine Ahnung wie er aussieht oder wie er ist. Aber ich glaube auch nicht, dass Yu-chan lügt und dann ginge es ja auch nur ums Eislaufen. Sie verbringt ja trotzdem noch Zeit mit mir und ist freundlich zu allen... „Wir müssen Yuko-chan wieder auf uns aufmerksam machen“, beschließt Nishigori mit einem Mal. „U-und wie willst du das machen?“, frage ich zögerlich. Yu-chan hat ja keinen Streit mit mir. „Wir schenken ihr etwas“, nuschelt Nishigori verschwörerisch. „Bald ist doch dieser Tag, an dem die Jungs den Mädchen Schokolade schenken...“ „Aber wir haben doch gar keine Schokolade von ihr bekommen?“, bemerke ich und Nishigori haut mir sofort den Hinterkopf. Aua! „Ist doch egal, Fetti-chan. Frag' deine Mutter, ob sie welche besorgen kann,“ hält er mich an. „Du versuchst es zuerst. Wenn sie das annimmt, versuch ich's auch, dass sie wieder mit uns redet.“ St. Petersburg, 05. Oktober 2017 Die Sendung läuft und ich bin mir noch nicht ganz sicher, was ich davon halten soll. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mehr Kind bin oder einfach weniger Russisch verstehe, als ich denke. Die kleinen Zuschauer haben zwar ordentlich Spaß wie es scheint, aber es ist in der Tat mehr Show als irgendwas anderes. Es ist auch irgendwie verständlich, denn selbst wenn ein Prominenter vier Wochen lang mit einem Profi für diese Sendung übt, schafft es in der Sendung trotzdem niemand, auch nur halbwegs etwas aufzuführen, das in Richtung Eiskunstlauf geht. Viele sind bisher einfach vorwärts und rückwärts in Schlangenlinien gefahren, einige haben es auch geschafft, sich ein paar Mal im Kreis zu drehen oder auf einem Bein ein paar Meter zu gleiten. Alle versuchten Sprünge sind mit Glück ein großer Hopser geworden und haben bei Misslingen natürlich für ordentlich Belustigung gesorgt. Für die nötige Unterhaltung drumherum tun Musik, Kostüme, LED-Bildschirme und Scheinwerfer ihr Bestes und das so gut, dass ich manchmal schon gar nicht mehr aufs Eislaufen geachtet habe. Mit großer Spannung huschen die Blicke der Kinder immer wieder zur der Holztür, die seit dem Eröffnungsschaulaufen am Rand der Eisfläche aufgestellt und verschlossen ist. Viktor war bis jetzt noch nicht zu sehen gewesen und wahrscheinlich sind Jelena und ich nicht die Einzigen, die vermuten, dass die Tür für ihn bestimmt ist. Wenn man genau hinsieht, dann sind die aufgemalten Muster ähnlich derer, die man aus dem Film kennt. „Mir ist was eingefallen“, sage ich an Viktor gerichtet, der mit mit dem Kopf auf meinen Oberschenkeln liegt, um sich im Nacken kraulen zu lassen. Aber so langsam tut es doch weh. Man soll nicht meinen, wie schwer ein Kopf mit der Zeit werden kann. „Hm?“, kommt es kaum hörbar von ihm. Er macht natürlich keine Anstalten, sich wieder aufzurichten. „Was mich als Kind interessiert hat“, füge ich hinzu. „‚Die Schneekönigin‘. Also das Märchen, nicht der Film.“ „Von Hans Christian Andersen?“, will Jelena wissen, die sicherheitshalber nochmal unsere Tassen kontrolliert, ob wir schon ausgetrunken haben. Offenbar ist weniger als halbvoll nicht mehr genug, denn sofort hat sie beide Tassen in der Hand. „Ich weiß nicht genau, wer es geschrieben hat,“ antworte ich ihr, „Yuko hat das Märchen damals sehr gerne gemocht.“ Jelena zwinkert, deutet auf Viktor und schlappt in die Küche, Makkachin folgt ihr. „Und deswegen wolltest du es auch lesen?“, fragt Viktor und dreht sich jetzt doch auf den Rücken, um mir ins Gesicht schauen zu können. „Ja“, gestehe ich und schiebe meine Hände unter seinen Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich wieder aufsetzen soll. Viktor erhebt sich widerwillig, aber er hat keine Ahnung, wie toll das Gefühl ist, wieder Leben in den Beinen zu haben. „Warst du in Yuko verliebt?“, fragt er ohne Vorwarnung und ich fühle mich sofort ertappt. Warum muss er eigentlich immer mit der Tür ins Haus fallen? „Ein bisschen...“, antworte ich vorsichtig. Wahrscheinlich verrät mich mein Gesicht eh schon, aber sicher ist sicher. „So ‚ein bisschen‘ wie du zuerst mit mir zusammen warst?“, fragt er weiter mit hochgezogenen Augenbrauen. Warum kann er auch im zweiten Anlauf die Fragerei nie bleiben lassen? „Ich war erst elf, Viktor“, erkläre ich mich und hoffe, dass ihm das jetzt reicht, „Es ist auch nie etwas draus geworden. Das weißt du. Sie und Nishigori gingen schon recht früh miteinander.“ Bevor Viktor und ich zusammen gekommen sind, konnte ich diese bösen Fragen von ihm immer gut umschiffen, aber mittlerweile klappt das nicht mehr so gut. Oft merke ich es erst dann, wenn Yurio mich fragt, warum der Alte schon wieder die Backen aufplustert und er schon einige Zeit mit mir beleidigt ist. „Ja“, murmelt Viktor und greift nach meinem Arm, um mich festzuhalten. Und eifersüchtig ist er auch schon wieder, scheint mir. Aber das muss er nicht, schließlich... „Nishigori war eifersüchtig auf dich.“ Er schaut mich entgeistert an. „Auf mich?“ „Ja“, sage ich und muss lachen, jetzt wo ich mich plötzlich wieder an alles erinnere. „Und ich auch.“ Jelena kommt zurück und muss lachen, so wie jedes Mal, wenn Viktor wieder meint, dass ich ihm im nächsten Augenblick wegrenne. Ein bisschen kann ich zwar verstehen, warum und leider hab ich es mit meiner Aktion in Barcelona auch nicht besser gemacht, aber Sorgen muss er sich absolut keine machen. Sonst hätte ich das mit dem Ring ganz bleiben lassen können, von dem Umzug ganz zu schweigen und gewissen anderen Dingen, die die Zukunft bringen wird, auch. „Yuko war schon einige Zeit vor mir von deinem Eislaufen begeistert. Wir kamen darauf zu sprechen, als sie uns ihr Lieblingsmärchen vorstellte.“ „Und das war ‚Die Schneekönigin‘?“ „Ja. Sie beschrieb die Schneekönigin mit eisblauen Augen und langen, silbernen Haaren und einem wunderschönen Gesicht. Ihre Freundinnen mutmaßten, dass sie bei der Beschreibung aber eher an dich dachte, als an die Schneekönigin. Yuko hat das vehement abgestritten, aber Nishigori und ich wurden eifersüchtig.“ Viktor wartet gespannt, dass ich weitererzähle. Ich weiß schon, dass es ungewöhnlich ist, dass ich ohne Aufforderung von mir selbst berichte und er will sicherlich wissen, wann sein großer Auftritt in dieser Geschichte kommt. „Nishigori hatte in Yukos Heften geschnüffelt, bis er dein Foto gefunden hat. Yuko war davon sehr verletzt und wollte danach nicht mehr mit Nishigori reden. Ich dachte, wir könnten keine Freunde mehr sein und nach einer Weile wollte Nishigori ihr als Wiedergutmachung Schokolade schenken. Ich habe einfach mitgemacht, weil ich nicht mehr wollte, dass Yuko und Nishigori streiten, aber letztendlich hat Nishigori dabei den ersten Schritt getan, sich ihr wirklich ernsthaft zu nähern.“ „Wow, und du hast das nicht bemerkt?“ „Das hättest du jetzt nicht sagen müssen“, grummele ich, weil er natürlich recht hat. Es war vollkommen an mir vorbei gegangen. Aber ich war auch erst elf! Etwas angesäuert fahre ich fort: „Yuko war danach nicht mehr böse, aber sie wollte, dass wir uns anschauen, wie du eisläufst. Weil wir dir durch unsere Eifersucht Unrecht getan hätten.“ „Und dann?“ „Tja, und dann...“, beginne ich etwas verlegen, „habe ich den Schneekönig doch gesehen. Und konnte seitdem an niemand anderen mehr denken.“ Viktor sagt nichts darauf, aber seine Wangen werden rosa. „Yuko sagte damals, ich erinnere sie an Kay, weil sie gerne mit mir befreundet war“, sage ich und muss irgendwie über mich selbst lachen bei dem Gedanken. „Ihre Freundschaft war mir so wichtig, dass ich ‚Die Schneekönigin‘ aus Eifersucht heraus erst nicht gelesen habe. Aber als ich es dann doch tat, hatte ich irgendwie den Eindruck, dass die Schneekönigin vielleicht nur einsam war und deswegen Kay bei sich haben wollte. Und irgendwie stimmt das ja auch ein bisschen.“ Zuerst sagt Viktor gar nichts, aber mit einem Mal fängt er lauthals an zu lachen. „Schhh, Viktor!“ Jelena gestikuliert energisch in Richtung Fernseher, weil sein Auftritt gleich anfängt und sie hören will, was geredet wird. Er versteht und lehnt sich dicht zu mir. „Was ist los?“, frage ich ihn verwundert, aber statt mir zu antworten, drückt er seine Lippen auf meine. Völlig überrascht kann ich nicht anders, als ihn gewähren zu lassen und als wir uns lösen, hören ich schon die Anmoderation seines Auftritts in der Sendung. „Gerda hat den Troll geheiratet“, flüstert er mir zu. „Aber trotzdem sind alle glücklich geworden.“ Da hat er nicht ganz Unrecht, staune ich, bevor der Applaus und die Melodie von Vivaldis „Winter“ unsere Blicke wieder auf den Fernseher lenken. Manchmal, resümiere ich mit dem Geschmack von Honig und Liebe auf den Lippen, schreibt das Leben einfach die besseren Märchen. ~ENDE~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)