Omniscient von lady_j (YuKa) ================================================================================ Kapitel 11: Bakuten V - Juli II ------------------------------- Bist du noch wach? Das blaue Licht des Displays stach in seinen Augen. Er wartete. Yuriy schrieb nicht zurück. Kai seufzte und klappte sein Handy zu. Sofort hüllte die Dunkelheit ihn ein, erst nach einer ganzen Weile konnte er die unterschiedlichen Schattierungen von Schwarz wieder ausmachen. Über der Stadt hing eine Wolkendecke, die das Licht zurückwarf. Der Himmel war von einem schmutzigen Orange und Tokio in der Ferne schuf ein Morgengrauen wo keines war. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen, Stunden, die er irgendwie überbrücken musste. Normalerweise konnte Kai gut einschlafen, was vor allem an den vielen kräftezehrenden Trainingseinheiten lag. Sein Körper war daran gewöhnt, schnell zur Ruhe zu kommen wann immer es möglich war. Doch heute war es nicht möglich. Seine Muskeln waren angespannt und wann immer sich der Sturm seiner Gedanken für einen Augenblick legte, bemerkte er, dass er die Zähne aufeinanderpresste. Sein Kiefer fühlte sich schon ganz verkrampft an. Immerhin, die halbe Nacht hatte er schon hinter sich gebracht, bevor er sich dazu entschloss, Yuriy zu kontaktieren. Doch der hatte wahrscheinlich auch einfach ein Schlafmittel genommen - im Gegensatz zu Kai kannte er Situationen wie diese und konnte damit umgehen. Seufzend setzte Kai sich auf und schlug die Decke zurück. Griff nach seinem Telefon, vorsichtshalber, falls sich sein Freund doch noch meldete, und setzte sich mit angezogenen Beinen auf das Fensterbrett. Soichiros Haus war wie eine europäische Villa, drei Stockwerke, Portland-Stein, Stuck, Satteldach, Erkerfenster. Wenn es nicht von hohen Bäumen umgeben wäre, wäre es beinahe von überall in Bakuten aus zu sehen. Von den Giebelfenstern aus hatte man dafür beste Sicht auf die Stadt. Der neue BEGA-Tower ragte über alle anderen Gebäude des Zentrums hinaus. Kai war immer noch schleierhaft, wie das so schnell hatte gehen können. Doch nun war der Turm da, seine Glasfronten reflektierten den Schein, ein rotes Licht blinkte an seiner Spitze. Er war wie ein Dolch, den jemand in seine Welt gerammt hatte. Volkov hätte es niemals nach Japan schaffen sollen. Allein die Tatsache, dass er hier war, nahm Kai jegliches Gefühl von Sicherheit. Für ihn war Volkov auf ewig nicht nur mit seiner Vergangenheit, sondern auch mit Moskau verbunden. Nun holte er Kai in mehr als einem Sinn ein. Doch während sein Körper unter Strom stand, waren seine Gedanken in einem Knoten gefangen, den er nicht lösen konnte. Es gab Bilder, die ihm bekannt waren, die nun aber immer und immer wieder zu ihm zurückkehrten. Dazwischen - frustrierende Leere. Diese Leere hatte ihn nie gestört, er hatte einfach vermieden, sich allzu intensiv mit ihr zu beschäftigen. Nein, es ging ihm nicht gut. Am Nachmittag hatte er sich zusammengerissen, vor allem angesichts der Reaktionen seiner Teamkollegen, doch auch ihn hatte das Erlebte komplett aus der Bahn geworfen. Zum ersten Mal bereute er es, auf Yuriy gehört und die anderen verlassen zu haben. Für sie machte es vielleicht keinen Unterschied, ob er nun bei ihnen war oder nicht - er aber fühlte sich so allein wie schon lange nicht mehr. Er würde sie und Kobayashi-san davon überzeugen müssen, dass er dort bleiben durfte, alles war besser als in diesem, ausgerechnet diesem, Haus herumzusitzen. Sein Telefon leuchtete auf. Kais Herz schlug etwas schneller, sollte er Glück haben und Yuriy antwortete ihm? Es war eine Nachricht von Takao. Bist du wach? Alles in Ordnung bei dir? In seinem Hals wurde es eng. Dummkopf, dachte er, was denkst du denn? Aber es war schön, dass jemand fragte. Alles ist sehr verwirrend, schrieb er zurück, was der Wahrheit immer noch am nächsten kam. Ein paar Sekunden später rief Takao an. Kai zögerte, doch dann überwog der Wunsch, eine bekannte Stimme zu hören und er nahm ab. „Was ist los?” „Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was heute passiert ist”, sagte Takao leise. „Tja.” „Was sagen Yuriy und die anderen dazu?” „Was glaubst du?”, entgegnete Kai, „Sie sind...geschockt. Gelinde gesagt.” Takao seufzte und es blieb eine Weile still zwischen ihnen. Kais Blick wanderte wieder über die Stadt, über die veränderte Skyline. „Was hat Volkov dir erzählt?”, fragte er dann. Takao berichtete kurz, wie er Volkov in den BEGA-Tower gefolgt war. Anscheinend hatte er sofort ein Battle angezettelt, doch dann hatte Volkov ihm eine Geschichte aufgetischt, wie er seine Organisation zum Wohle aller Beyblader aufstellen wollte. Es war abstrus. „Weißt du”, sagte Takao, „Wenn es nicht Volkov wäre, wäre die Idee gar nicht mal so schlecht. Ich meine, ich kann einfach nicht erkennen, inwiefern er so was für seine fiesen Pläne ausnutzen will.” „Alles viel zu schön, um wahr zu sein”, murmelte Kai, dem schon wieder die Reaktionen der anderen vor Augen standen. Allein das strafte Volkovs Worte Lügen. „Denkst du?” In diesem Moment hätte er Takao am liebsten geschüttelt. Dann fiel ihm ein, dass es zu einem nicht unerheblichen Teil seine eigene Schuld war, dass bei diesem nicht sofort alle Alarmglocken schrillten, wenn Volkov wieder auf der Bildfläche erschien. Die BBA, und nicht zuletzt er selbst, hatte die außenstehenden Blader immer von den Geschehnissen nach dem Zusammenbruch der Abtei abgeschirmt. Also unterdrückte er sein schweres Seufzen. „Weißt du, Takao”, sagte er, „Ich vertraue Volkov nicht, niemals. Aber vielleicht müssen wir erst mal sehen, was seine nächsten Schritte sind. Auf jeden Fall sollten wir jetzt nicht überstürzt handeln.” Er unterdrückte ein Gähnen; mit einem Mal überkam ihn die Müdigkeit, als hätte ihn seine Energie zusammen mit seinen Worten verlassen. Von Takao kam ein unzufriedenes Brummen. „Du sagst mir doch, wenn sich bei euch was tut, oder?” Er rieb sich die Augen. „Hmm”, machte er. Soichiro war nicht da. Das war unerwartet, aber nicht ungewöhnlich. Vielleicht unternahm er gerade einen Spaziergang durch den Garten hinter dem Haus, der so verwildert war, dass nur ein paar schmale Wege überhaupt genutzt werden konnten. Soichiro liebte seinen Garten nicht, und seit er keine Gäste mehr empfing, bezahlte er auch keinen Gärtner mehr, doch er hatte die guten Eigenschaften des Gehens erkannt. Es war anzunehmen, dass er dabei nicht so sehr auf seine Umwelt achtete, viel mehr über angeblich wichtige Belange nachdachte, die mit sehr viel Geld zu tun hatten. Kai wusste das und zögerte daher nicht lange, als er feststellte, dass sein Großvater nicht in seinem Büro war. Schon vor Jahren hatte er herausgefunden, wo der Alte den Schlüssel versteckte, und ein paar Mal hatte er bereits davon Gebrauch gemacht. Hatte sich in den kühlen, knarzenden Ledersessel gesetzt und ganz langsam nach hinten sinken lassen, bis sein Rücken gegen die harte Lehne stieß. Dann konnte er die Welt sehen wie Soichiro es tat. Sie erschien ihm beklemmend und blass. Er wusste, dass sich in der untersten rechten Schublade des Tisches eine Flasche Cognac befand (der scheußlich schmeckte) und in dem schmalen Fach direkt unter der Schreibfläche ein Foto seines Vaters in wesentlich jüngeren Jahren (nein, zwischen ihm und Kai gab es keine sonderliche Ähnlichkeit; Susumus Nase hatte eine ganz andere Form und sein Kinn war seltsam knubbelig, genau wie Soichiros). Ansonsten hatte er nichts in dem Raum angefasst, erst recht keinen der vielen Aktenordner, die die Wände bedeckten. Er ahnte ja, was darin stehen könnte und war nicht bereit, sich mit diesen Informationen auseinanderzusetzen. Kai ließ die Tür einen Spalt breit offen, damit er das Klacken von Soichiros Gehstock hören und rechtzeitig verschwinden konnte. Wie immer war die Luft im Raum trocken und abgestanden, doch die Morgensonne ließ alles etwas freundlicher erscheinen. Er umrundete den Tisch und überlegte, wo er mit der Suche beginnen sollte. Vor ihm ausgebreitet lagen Schriftstücke, viele davon mit dem Briefkopf der Firma versehen und auf die letzten Tage und Wochen datiert. Vorsichtig hob er hier und da eine Seite an, immer darauf bedacht, nichts durcheinander zu bringen oder falsch zu platzieren. Die wenigen Worte, die er aufschnappte, während er die Blätter überflog, ließen nichts Verdächtiges erahnen. Außerdem waren die meisten der Dokumente auf Englisch oder Japanisch verfasst, auch das sprach nicht unbedingt für eine geheime Korrespondenz zwischen Soichiro und Volkov. Soweit Kai wusste, hatten sich die Wege der beiden Männer sehr kurz nach dem Untergang von Biovolt getrennt. Besser gesagt, Soichiro hatte sich Volkovs entledigt, sobald klar wurde, dass nichts von ihrem gemeinsamen Projekt mehr zu retten war. Dank seines Geldes und seiner Anwälte hatte er das Schlimmste verhindern können, wie immer, und so hatte sich eigentlich kaum etwas in seinem, ihrem, Leben verändert. Einmal abgesehen von den Therapiesitzungen vielleicht, doch die waren inzwischen auch vorbei. Natürlich hatte Soichiro nur das auferlegte Minimum an Sitzungen durchgehalten; für ihn musste das die größte Strafe gewesen sein. Nun, immerhin hatte er so überzeugend gute Miene zu bösem Spiel machen können, dass Kai bei ihm bleiben durfte. Seitdem gingen sie sich, mit Ausnahme weniger unangenehmer Versuche, ein zivilisiertes Gespräch zu führen, aus dem Weg. Und augenscheinlich war auch die Freundschaft zwischen seinem Großvater und Volkov bisher nicht erneuert worden. Nach ein paar Minuten erkannte Kai, dass auf der Schreibtischplatte nichts von Belang lag. Also ging er in die Hocke und machte bei den Schubladen weiter: Cognac und Susumu waren an ihrem jeweiligen Platz, wenn auch die Flasche etwas leerer schien. Erst im letzten Fach fand er etwas, das ihn kurz innehalten ließ: ein grellbuntes Stück Papier, auf dem eine Übersicht der Weltmeisterschaften zu sehen war. Die einzelnen Spiele und Konstellationen sowie die Gewinnerteams mussten per Hand eingetragen werden. Soichiro hatte den Plan gewissenhaft ausgefüllt. Es dauerte eine Weile, bis Kai ihn wieder zusammenfaltete und zurück an seinen Platz legte; der Fund verwirrte ihn, erst recht als ihm auffiel, dass sein Großvater jeden Sieg von Neo Borg mit einem kleinen Stern markiert hatte. Er erhob sich wieder, schob die Hände in die Taschen und drehte sich langsam um die eigene Achse, den Blick auf die Regale gerichtet. Er musste sich zwingen, genauer hinzusehen. Kyrillische Buchstaben vor seinen Augen, die nur langsam die Form von Wörtern annahmen. Russische Geschäftspartner, Kaufverträge für Immobilien, Puschkin-Gedichte (ein Versteck für Bargeld, da war er sich sicher) und zwischen alledem ein schmales, ledernes Album mit dem Titel „Sotchi 1979” in goldenen Lettern. Und dann, ganz an den Rand gedrängt, eine unscheinbare Mappe, der Farbton ein fleischiges Rosa, den es heute nicht mehr gab, schon gar nicht in Japan. Kai fühlte etwas wie Resignation, erst jetzt bemerkte er, wie sehr er darauf gehofft hatte, einfach nichts zu finden. Dann hätte er Soichiro Fragen gestellt, unbefriedigende Antworten erhalten und wäre mit diesen zu Yuriy zurückgegangen. Sobald sein Blick auf die Mappe gefallen war, gab es diese Option nicht mehr. Ignorieren konnte er seinen Fund auch nicht, das war er seinem Team schuldig. Also streckte er schließlich, nach einigen Sekunden des Zögerns, die Hand aus und zog die Akte aus dem Regal. Der Geruch des Papiers stieg ihm sofort in die Nase, als er die Mappe öffnete, Überbleibsel eines Landes, das es nicht mehr gab. Es hatte Jahre gedauert, bis die nationalen Papiervorräte aufgebraucht waren, manchmal kamen noch heute ein paar Bündel zum Vorschein, die in irgendwelchen Kellern herumgelegen hatten. Kein anderes Papier hatte diesen Geruch, oder diesen von den Seitenrändern zur Mitte kriechenden Gelbton, oder diese Weichheit. Die Blätter waren hauchdünn, etwas fleckig, die Schrift mit einer Schreibmaschine eingerammt, beinahe konnte er das Rattern hören, während er die Buchstaben betrachtete. Erst dann fügten sie sich zusammen. 13. Dezember 1995 G0501M021985: Abschluss Phase 5, Freigabe für RAS07. Beachten: Erneutes EKG durchführen zur letztmaligen Überprüfung der Belastbarkeit. Wenn Werte in Ordnung, Empfehlung für Verkürzung von RAS07-I und schnelles Voranschreiten in RAS07-II und RAS07-III. G0511M081986: Abschluss Phase 5, Freigabe für RAS07. Beachten: Möglichst häufige Kontakte in RAS07-I zur Etablierung der Routinen. Ab RAS07-II testen auf Verbindungsmöglichkeit mit BGX09 „Frostic Dranzer”. In dieser Art war die gesamte Seite beschrieben, kleine, scharfe Buchstaben neben einem breiten Rand. Kai wartete auf eine Reaktion, irgendeine, doch sein Körper verhielt sich vollkommen normal. Das einzige, das er mit Sicherheit fühlte, war Verwirrung. Er wusste, woher diese Aufzeichnungen stammten, ahnte sogar, wer sie verfasst hatte - doch sie zu lesen war wie der Versuch, eine fremde Sprache zu verstehen. Eine Weile starrte er auf die Abfolge der Buchstaben und Zahlen am Beginn eines jeden Absatzes; natürlich hatte er einen Verdacht, wer sich hinter diesen verschlüsselten Identitäten verbarg. Doch auch mit diesem Wissen konnte er nicht sagen, wovon genau die Rede war. Er hatte nie von RAS07 gehört, geschweige denn von BGX09. War Frostic Dranzer ein weiteres Borg-Bit-Beast, das irgendwo da draußen lauerte? Er hatte angenommen, dass alle Experimente abgebrochen worden und keine Bit Beasts mehr übrig waren. Dieser Gedanke kam ihm jetzt sehr naiv vor. Er blätterte durch die Akte, fand aber nur weitere Aufzeichnungen der immer gleichen Art. Jemand hatte akribisch Tagebuch zu einer Gruppe Personen gemacht. Er konnte mindestens zehn verschiedene Zahlen-Nummern-Kombinationen ausmachen; gegen Ende der Aufzeichnungen verschwand jedoch ungefähr die Hälfte von ihnen, während die verbliebenen längere Einträge bekamen. Ende Januar 1996 brachen die Einträge plötzlich ab. Die letzte Seite war nur zur Hälfte beschrieben. Ob die anderen mit diesen Unterlagen mehr anfangen konnten als er? Kai war sich ziemlich sicher, dass sein Team die Geheimsprache Borgs verstand. Sie hatten genug Lebenszeit mit Volkov verbracht. Und im Gegensatz zu ihm hatten sie sich intensiv mit dem auseinandergesetzt, was mit ihnen passiert war. Er sollte die Akte mitnehmen, vielleicht war sie nützlich. Mit diesem Entschluss klappte Kai den Hefter zu und wollte ihn beiseitelegen, um weiter zu suchen. Vielleicht fanden sich zwischen den anderen Ordnern noch mehr solcher Aufzeichnungen. Er wandte den Kopf zur Seite und sah, wie das Licht von draußen über die Buchrücken und das Holz der Regale strich. Wie Staub in der Luft tanzte. Und dann fiel ihm etwas auf: Eines der Regalbretter warf einen ungewöhnlichen Schatten. Kai runzelte die Stirn und trat näher; die Seitenstütze schien in der Mitte eine Kerbe zu haben. Er folgte ihrem Verlauf über seinen Kopf hinweg, dann knickte sie jäh in einem rechten Winkel ab. War das etwa…? Kai streckte die Hand aus und berührte das Holz, drückte dagegen und spürte, wie es leicht nachgab. Als er den Druck verstärkte, ließ sich das Regal etwa einen Zentimeter nach hinten rücken. Ein leises Klicken erklang, dann kam ihm das Möbelstück wieder entgegen, schwang leise auf wie eine Tür und gab eine Öffnung frei. Ungläubig hob Kai die Augenbrauen; er wusste, sein Großvater hatte so seine geheimen Verstecke, aber etwas derart Elaboriertes hätte er nie und nimmer erwartet. Hinter dem Regal befand sich ein kleiner, fensterloser Raum. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke und Kai streckte sich, um sie einzuschalten, traute sich jedoch nicht, weiter hineinzugehen, teils aus Angst davor, dass die Tür hinter ihm zufallen würde, teils, weil sich alles in ihm sträubte, herauszufinden, was sich hier befand. Die Glühbirne funktionierte; ein leises Sirren ging von ihr aus und ihr dumpfes Licht fiel auf noch mehr Regale. Staub lag in der Luft. Der Raum hatte die Farbe von Kaffeeflecken, denn die vielen Akten, die sich hier stapelten, verschwammen zu einem rosa-beigefarbenen Brei. Nur flüchtig bemerkte Kai, dass auch sie auf Russisch beschriftet waren, dann musste er einen Schritt zurück treten. Endlich Luft holen. Verdammte Scheiße. Was sollte er jetzt tun? Sein Puls hatte sich beschleunigt und er spürte unangenehm deutlich, wie ihm das Herz in der Brust schlug. Und was war mit seiner Hand los? Sie lag auf der Lehne des Schreibtischstuhls und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sich seine Finger in das Leder krallten. Schnell ließ er los. Sein Blick wanderte noch einmal zu der einzelnen Akte, die auf dem Tisch lag, dann zurück zum Raum, der sich vor ihm auftat. In diesem Moment hatte er vergessen, wieso er überhaupt hier war, doch das war sowieso egal geworden, denn nun musste er eine ganz andere Entscheidung treffen: Ob er sich mit dem, das er soeben gefunden hatte, näher beschäftigen oder so tun sollte, als wäre das alles nicht passiert. Sein Großvater nahm ihm diese Entscheidung ab. Kai hörte, wie Soichiro zurückkam. Das Haus war so still, dass das Geräusch seiner Schritte, und erst recht seines Gehstocks, weit hallte. Es wanderte durch den Eingangsbereich, kam dann langsam eine Treppe hinauf und noch eine, und als Soichiro den langen Gang entlangschlurfte, hatte Kai schon längst die Geheimtür wieder verschlossen, die Akte zurück ins Regal gestellt, das Zimmer verriegelt und den Schlüssel dort hingelegt, wo er ihn hergenommen hatte. Einzig er selbst konnte sich nicht in Luft auflösen, aber Angriff war sowieso die beste Verteidigung, und so lief er ihm entgegen. Sie trafen sich an der Biegung des Ganges und Soichiro wirkte angemessen überrascht bei seinem Anblick. „Kai?” „Wir müssen reden”, sagte er ohne Umschweife, „Über Volkov.” Sein Großvater blinzelte ein-, zweimal, dann seufzte er und machte eine auffordernde Kopfbewegung, bevor er sich wieder umdrehte. Kai folgte ihm, blieb dabei immer hinter ihm, um nicht in Verlegenheit zu kommen, schon jetzt Konversation betreiben zu müssen. Soichiro war langsam. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen. Die beiden Treppen mussten ihn ganz schön außer Atem gebracht haben. Nicht nur das: Sein Großvater erschien ihm kleiner, leicht und knittrig, wie ein zusammengeknülltes Stück Papier. Kai wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Es behagte ihm nicht, sich Soichiro als schwach vorzustellen. Im Erdgeschoss gab es ein Wohnzimmer - oder zumindest einen Raum, den sie als solches nutzten. Früher mochte es ein Rauch- oder Jagdzimmer gewesen sein; es war recht dunkel und die Möbel hatten schwere Samtpolster. An einer Wand hing ein Fernseher, den Soichiro anschaltete. „Die Börsennachrichten”, erklärte er auf Kais Blick hin, stellte das Gerät aber auf stumm. Kai setzte sich mit dem Rücken zum Bildschirm in einen Sessel und sah von diesem Moment nur noch, wie einige Lichtschlieren auf den Teppich fielen, und auf seinen Großvater, der sich ihm gegenüber auf das Sofa sinken ließ. Zwischen ihnen war ein niedriger Tisch und auf diesem eine flache Schale, deren Funktion sich Kai nicht erschließen wollte. Soichiro musterte ihn aus wachsamen, dunklen Augen. In diesem Moment spürte Kai, wie Suzaku sich regte. Sie reagierte auf seinen Großvater, erkannte ihn, und beinahe spürte er so etwas wie Verbundenheit zwischen seinem Bit Beast und Soichiro. Eine sehr alte Verknüpfung, die ihm unangenehm war. Sie war ihm vorher nie bewusst gewesen, also schob er es, wie so vieles, auf Suzakus gewachsenen Einfluss auf ihn. Langsam beschlich ihn der Verdacht, dass dies nicht wieder verschwinden, sondern so bleiben würde, und er wusste noch nicht, wie er dazu stand. Manchmal fühlte er sich seltsam fern von sich selbst, als würde sie ihn lenken. „Du willst wissen, ob ich etwas mit der BEGA zu tun habe”, ergriff Soichiro schließlich das Wort. Kai legte den Kopf schief. „Unter anderem”, sagte er. „Ich interessiere mich generell dafür, ob du in den letzten Jahren Kontakt zu Volkov hattest.” Soichiro seufzte, sein Blick wanderte über Kais Schulter zum Fernsehbildschirm. „Nein, das hatte ich nicht”, antwortete er. „Ich bin von seinem Auftauchen genauso überrascht wie du. Was auch die andere Frage beantwortet: Volkov hat kein Geld von Hiwatari Enterprises bekommen.” Daraufhin schwieg Kai. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Ehrlich gesagt wusste er nicht einmal, was er fühlte. Erleichterung. Erstaunen. Enttäuschung. Alles davon. Nichts davon. Denn letztendlich machte es keinen Unterschied, Volkov war hier, mit wessen Hilfe auch immer. Soichiro regte sich. „Volkov interessiert sich nicht für uns, Kai. Wir sind ihm für seine neuen Pläne nicht von Nutzen.” „Was für Pläne?”, murmelte Kai, beinahe mehr zu sich selbst, „Was um Himmels Willen hat er jetzt vor?” „Nun.” Soichiro nestelte an seinem Gehstock herum, stieß ihn in den dicken Teppich. Noch immer sah er Kai nicht direkt an, sondern tat, als würde der Fernseher den größten Teil seiner Aufmerksamkeit beanspruchen. „Es gab seit einiger Zeit Gerüchte um die BBA. Selbst Kogoro wusste davon, aber er hat sich sehr früh entschieden, sie zu ignorieren. Ein Fehler, wie man jetzt sieht. Es hieß, dass ein starker, neuer Shareholder die BBA umkrempeln wollte. Er hatte kein Interesse an Kontakten zur PPB - oder zu VolTech, wenn wir schon dabei sind. Stattdessen erhöhte er stetig seine Anteile an der BBA. Ein kluger Schachzug, wenn ich das so sagen darf. Ich habe oft gedacht, diese Taktik könnte von mir sein. Tja, es stellt sich heraus - Volkov hat durchaus etwas von mir gelernt.” „Das heißt, du weißt seit Monaten, dass die BBA in Gefahr ist und hast Daitenji nichts davon erzählt?”, sagte Kai, „Obwohl ihr euch wegen VolTech regelmäßig gesehen habt?” Er war nicht wirklich wütend darüber. So ein Verhalten passte zu Soichiro, der selbst nicht einverstanden damit war, wie die BBA operierte. Vermutlich hatte er sich einfach zurücklehnen und den Wandel aus der Ferne beobachten wollen, um sich dann dem neuen Besitzer der BBA als Partner vorzustellen. „Ich habe durchaus das Gespräch mit Kogoro gesucht”, entgegnete Soichiro ungehalten, „Aber du wirst verstehen, dass wir angesichts unserer Vergangenheit nicht die besten Freunde sind. Ich kam zu dem Schluss, dass ein Neuanfang vielleicht nicht das Schlechteste für die BBA ist. Das war, bevor ich von Volkov wusste, natürlich.” „Und jetzt?”, fragte Kai angriffslustig, „Dein Plan ist nicht aufgegangen. Volkov hat keinen Nutzen für dich, wie du so schön sagst. Lässt du das auf dir sitzen?” Jetzt wanderte der Blick seines Großvaters endlich zu ihm, wurde nachdenklich. Auf einmal überkam Kai das Gefühl, dass Soichiro erkannte, was mit ihm los war: Wie Suzaku an ihm nagte und wie sein Körper und sein Geist sich dadurch veränderten. Er war nicht derselbe, der dieses Haus vor ein paar Wochen in Richtung Russland verlassen hatte. „Vielleicht ist das nicht mehr dein Kampf, Kai”, sagte Soichiro. „Du hast vor kurzem erst eindrucksvoll bewiesen, wo deine Grenzen sind. Hast du noch nicht genug?” „Was?” „Du könntest aufhören mit alledem. Einen neuen Fokus setzen.” Oh, das wäre so einfach, oder? Und es war ja nicht so, dass Kai nicht darüber nachdachte. Schon wieder. Diesem Sport und allem, was dazugehörte, den Rücken kehren. „Das geht nicht, und du weißt sehr genau, warum”, sagte er stattdessen und meinte die Abtei. Seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Soichiro versteifte sich merklich. „Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?”, fragte er, konnte dabei nicht den giftigen Unterton verhindern, wollte es vielleicht auch gar nicht. „Du und Volkov, damals? Warum zur Hölle hast du dich überhaupt mit ihm abgegeben?” Soichiro seufzte. Er wirkte ungehalten, als hätte Kai ihn an etwas Unangenehmes erinnert, eher eine überfällige Steuererklärung als eine kriminelle Organisation. Aber dann, und das wiederum erstaunte Kai, begann er doch zu sprechen: „Ich war auf der Suche nach Geschäftspartnern in Russland. So kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien das entweder eine sehr dumme oder sehr schlaue Idee zu sein, doch dieses Risiko war ich bereit, zu tragen. Und vielleicht war ich ein wenig sentimental, denn zu diesem Zeitpunkt war mir gerade wieder die Ikone in die Hände gefallen, die deine Urgroßmutter in die Familie gebracht hatte. - Wie dem auch sei. Ich interessierte mich damals schon für Beyblades und Volkov war ein Experte für Bit Beasts. So kamen wir zusammen. Davor hatten Daitenji und Doktor Zaggart übrigens eine Zusammenarbeit mit mir abgelehnt. Ich hätte sie finanzieren können, aber sie wollten sich nicht abhängig von der freien Wirtschaft machen.” Kai schnaubte. „Und wer hatte die glorreiche Idee, Straßenkinder zu Kampfmaschinen auszubilden?” „Das war Volkov”, antwortete Soichiro leise. „Und bevor du weiterfragst - dass du dort gelandet bist, ist allein meine Schuld. Volkov wollte dich nicht. Er war ganz vernarrt in Yuriy.” Yuriy. Der Name erinnerte Kai daran, weshalb er überhaupt hier saß. Er sollte ihn anrufen oder zumindest eine Nachricht schicken, damit sein Leader wusste, dass er hier zu keinem Ergebnis gekommen war. Wie viele Stunden hatte er schon vergeudet? Sicher den halben Tag. Er musste zurück zu den anderen. Doch Soichiro war noch nicht fertig. „Volkov wollte, dass Yuriy den Black Dranzer bekommt. Und damit Black Suzaku.” Er nickte nur, als Kai ihn ungläubig anstarrte. „Ich habe lange mit ihm verhandeln müssen. Er war der Meinung, dass Yuriy talentierter ist als du. Ich habe natürlich dagegen gehalten. Also haben wir beschlossen, euch zusammenarbeiten zu lassen. Es gab ja auch noch den Frostic Dranzer, der zwar schwächer war als Black Dranzer, aber dennoch wirksam. Frostic Suzaku war eines unserer ersten Bit Beasts.” Er machte eine kurze Pause, als würde er seine Erinnerungen sortieren. „Es war nicht abzusehen, wer von euch den Black Suzaku lenken können würde. Also beschlossen wir, euch darum kämpfen zu lassen. Allerdings… hast du diesen Plan dann vereitelt.” „Indem ich mir Black Dranzer genommen habe”, schloss Kai. „Richtig.” Kai schwieg. Dieser Tag hatte alles verändert. Er hatte sein Gedächtnis verloren und die Abtei verlassen. Wenn er jetzt zurückdachte, konnte er beim besten Willen nicht sagen, ob er jemals mit Yuriy um etwas hatte kämpfen müssen. In seinen Erinnerungen waren sie Freunde. Doch ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm. „Was ist mit Yuriy?”, fragte er schließlich geradeheraus, „War er auch dort? Als das mit Black Suzaku passiert ist?” Es war etwas, worüber er nie nachgedacht hatte - nie hatte nachdenken wollen. Außerdem war er überzeugt davon, allein gehandelt zu haben, auch wenn er nicht sagen konnte, woher diese Überzeugung kam. Yuriy hatte ebenfalls nie über diesen Tag gesprochen - nicht einmal andeutungsweise. Als ginge ihn das überhaupt nichts an. In seinem Team herrschte nur Schweigen in Bezug auf den Unfall mit Black Suzaku. Und Kai, der die Schuld daran trug, hatte vielleicht auch nie den Mut gehabt, dieses Schweigen zu durchbrechen. „Ja”, sagte Soichiro, und Kai spürte, wie etwas wie eisige Finger sein Rückgrat hinabnstrichen. „Er muss dir nachgelaufen sein, als er merkte, dass du nicht da warst. Uns war lange schleierhaft, wie er die Explosion überlebt haben konnte. Aber er tat es. Bedauerlicherweise...” Er hielt inne, sein Blick wanderte wieder durch den Raum und Kai wusste, dieses Mal war das, was er zu sagen hatte, ihm wirklich unangenehm. „Bedauerlicherweise war Yuriy danach wertlos für uns. Du auch, ganz davon abgesehen. Black Dranzer, und selbst Frostic Suzaku, wurden schwer beschädigt. Du hast also ganze Arbeit geleistet.” Kai schnaubte nur. Was wollte Soichiro, sein Mitleid? Doch sein Großvater sagte jetzt nichts mehr, und Kai versuchte, das soeben Erfahrene richtig einzuordnen. Die Tatsache, dass Volkov und Soichiro Yuriy und ihn aufeinander hetzen wollten, überraschte ihn weniger als die Existenz eines Bit Beasts, von dem er noch nie gehört hatte. Frostic Suzaku? Das klang mehr nach einem Oxymoron als alles andere. Er hob den Kopf. „Großvater, wie - „, hob er an, doch in diesem Augenblick unterbrach Soichiro ihn: „Kai.” Er deutete hinter ihn auf den Fernseher. Sein Gesicht zeigte vages Erstaunen. Kai runzelte die Stirn und drehte sich um, denn der Reaktion seines Gegenübers nach zu urteilen musste mindestens die Börse gecrasht sein - doch auf dem Bildschirm liefen nicht die Nachrichten. Er sah eine Beyblade-Arena, ein ganzes Stadion. Dann Volkovs Visage. Was er sagte, blieb stumm, doch am unteren Bildschirmrand tauchte ein Banner auf, das ein bevorstehendes Match ankündigte. Kais Augen weiteten sich, als er den Namen seines Teams las. Für einen Moment war er starr. Nun tauchte ein junger Mann auf, den er noch nie gesehen hatte. Ein Blader? Mit einem siegesgewissen Lächeln stand er auf der einen Seite der Bowl, und auf der anderen - „Yuriy”, flüsterte Kai heiser. In diesem Moment wurde ihm klar, was passiert war. Warum sein Leader ihn gestern weggeschickt hatte. Warum er ihn gezwungen hatte, seine Zeit mit seinem Großvater zu vergeuden. In seinen Ohren begann es zu rauschen, er zwang sich, einen Fokus zu finden. Oh Gott. Was hatte er getan? Für ein paar Sekunden war er noch wie gelähmt, dann kam Bewegung in seinen Körper. Kai sprang auf, und endlich entfuhr ihm ein lauter Fluch, bevor er hinausrannte. „Kai! Wo willst du hin?”, rief Soichiro ihm hinterher. „Zu meinem Team!”, gab er zurück, dann war er aus dem Haus gestürmt und schwang sich auf sein Rad. Auch wenn es bergab ging, kam ihm die Fahrt viel zu lang vor. Der BEGA-Tower befand sich im Stadtzentrum, ein ganzes Stück von Kobayashi-sans Haus entfernt. Je näher er dem Gebäude kam, desto schwieriger wurde es, durch den Verkehr zu manövrieren. Als er über eine der größeren Kreuzungen raste, sah er aus den Augenwinkeln eine Live-Übertragung des Matches auf einem der Außenbildschirme. Er starrte weiterhin geradeaus, wollte nicht sehen, was dort vor sich ging. Wieso hatte Yuriy etwas so Dummes getan? Hatte sein Hass auf Volkov ihm das Hirn vernebelt? Einfach zu ihm zu gehen und ihn herauszufordern war das letzte, was sie tun sollten! Doch anscheinend hatte sein Leader genau das getan - anders konnte Kai sich nicht erklären, wie es zu dieser Situation hatte kommen können. In seinem Magen lag die kalte Angst, und während seine Gedanken rasten versuchte er, diese Furcht zu bezwingen, sie daran zu hindern, ihn vollkommen einzunehmen. Sein Team war stark. Boris und Sergeij konnten es mit den meisten Bladern aufnehmen. Und Yuriy verlor sein Match nicht. Das war unmöglich. Aber wo waren Boris und Sergeij? Er hatte sie in der Übertragung nicht gesehen, und er nahm es als schlechtes Zeichen. Das Schlimmste aber war, dass Yuriy ihn willentlich ausgeschlossen hatte. Er hatte ihn aus dem Weg haben wollen, bevor sie zur BEGA gegangen waren. Dachte er etwa, dass Kai nicht dasselbe Verlangen hatte, Volkov zur Rechenschaft zu ziehen? Der BEGA-Tower kam in Sicht und Kai konzentrierte sich darauf, sein Gesicht zu wahren, sich nicht anmerken zu lassen, dass sich Wut, Angst und Enttäuschung in seinem Inneren abwechselten. Er ließ das Rad achtlos in einer Ecke stehen und ging langsam auf den Eingang zu. Es war unwirklich; warum stand dieses Gebäude plötzlich hier, wieso warf es einen so allumfassenden Schatten? Für einen Moment blieb er stehen, versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Ließ den Blick an der Fassade hochwandern, bis zur Spitze des Towers, die ironischerweise die Form einer Blade-Base besaß. Dann nahm er die Stufen zum Eingang. Das Stadion war nicht zu verfehlen. Überall standen BEGA-Mitarbeitende und zeigten ihm den Weg, als wäre er ein ganz normaler Zuschauer. Er ging wie durch Watte. Nur am Rande bemerkte er die Jubelrufe, ähnlich wie während ihrer Weltmeisterschafts-Kämpfe. Was war das, ein Schaukampf? Eine öffentliche Hinrichtung? Ihm wurde schlecht. Irgendwann öffnete sich der Gang, durch den er schritt, und er trat auf eine Galerie, die sich hoch über dem Zentrum des Stadions befand. Ein kalter Wind fuhr durch seine Kleidung, es roch nach Frost. Wolborg. Beinahe zögerlich griff er nach dem Geländer, hielt sich daran fest und blickte in die Arena hinab. Die Bowl erschien winzig aus der Entfernung, und doch erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie war von einem hohen Zaun umgeben, oder von Gitterstäben, sodass keiner der Blades im Aus landen konnte. Der Kampf schien ausgeglichen, doch Yuriy - Yuriy war geschwächt. Er hatte den Novae Rog bereits eingesetzt, das erkannte Kai an den Bewegungen seines Blades und an Wolborgs Aura, die jede Faser in diesem Raum durchdrang. Doch das war kein gutes Zeichen, denn wer auch immer Yuriys Gegner war - er hatte diese Attacke so gut wie unbeschadet überstanden. Und nun hatte Volkov sie zu einem Deathmatch gezwungen. Etwas weiter abseits standen Takao und die anderen. Schuld durchfuhr Kai; sie hatten also alle davon gewusst, nur er war zu spät gekommen? Sein Blick wanderte ein Stück nach oben, wo Volkov auf einer Empore stand und nun fühlte er, wie blanker Hass in ihm aufstieg. Suzaku, durch Wolborg auf den Plan gerufen, bäumte sich in ihm auf. Fetzen von Erinnerungen schossen durch seinen Kopf. In der Abtei hatten sie auch bis zum bitteren Ende kämpfen müssen. Eine seiner Hände löste sich wie von selbst vom Geländer, doch noch ehe er sie zu seinem Gesicht heben konnte, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich ihm jemand näherte. Als er sich umdrehte, stand dort Hitoshi Kinomiya. Wenn es eine Person gab, die er jetzt auf keinen Fall sehen wollte, dann war das Hitoshi. Doch natürlich ignorierte der Kais Gesichtsausdruck und stellte sich neben ihn, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Als würde er einem Pferderennen zusehen. „Wo hast du dich versteckt, Hiwatari, hm?”, fragte er, „Takao hätte deine Gesellschaft sicher zu schätzen gewusst in den letzten Tagen.” „Das gleiche könnte ich dich fragen”, grollte Kai. Er musste sich stark zurückhalten, um nicht zusammenzuzucken, denn in diesem Augenblick steckte Yuriy einen heftigen Schlag ein. Es war offensichtlich, dass das Match nicht mehr nur zwischen den Blades ausgetragen wurde. Jeder Angriff übertrug sich auf die Spieler. Hitoshi tat unbeeindruckt. „Wer ist das?”, murmelte Kai, während sein Blick wieder zu Yuriys Gegner wanderte. Dieser war ein Stück kleiner als sein Leader, jedoch offensichtlich trainiert. Ein langer, heller Zopf wehte bei jeder seiner Bewegungen mit. „Hast du jemals von der Siebald-Familie gehört?”, fragte Hitoshi. Kai nickte. Das hatte er in der Tat. Eine Familie voller Athleten, die sich ein kleines Sportimperium aufgebaut hatten. Sie traten manchmal als Sponsoren bei Turnieren auf, allerdings eher in Europa und Australien. Soweit er wusste, hatte es zwischen ihnen und VolTech vor ein einiger Zeit eine recht winzige Kooperation gegeben. Hitoshi warf ihm einen Blick von der Seite zu. „Das da ist Garland Siebald”, erklärte er. Kais Augen weiteten sich - nicht, weil er erstaunt über das plötzliche Auftauchen eines so starken Bladers war, sondern, weil ihm nun klar wurde, woher Volkov sein Geld hatte. „Wie ist das passiert?”, fragte er schließlich, „Dieses Match. Und wo sind Boris und Sergeij?” „Haben gegen Garland verloren”, erklärte Hitoshi monoton. „Es ist Yuriys Schuld. Er hat eine Wette mit Volkov geschlossen. Wenn sie verlieren, gehören sie ihm.” Kai fuhr zu ihm herum, halb, um ihn anzuschreien, halb, um ihm direkt ins Gesicht zu schlagen. Doch dann sickerte die Bedeutung der Worte zu ihm durch und lähmte ihn. Yuriy hatte was getan? „Am Ende des Tages”, fuhr Hitoshi fort, „Gehört dein ganzes Team zur BEGA.” Wieder musste Kai sich am Geländer festhalten. Seine Augen brannten sich in Yuriys Gestalt, die dort unten strauchelte. Das hier passierte nicht wirklich, oder? Vor einer Woche war doch noch alles gut gewesen. Sie waren zusammen, sie waren okay. Gestern hatte er Yuriy geküsst und ja, er hatte sich gefürchtet, aber doch nicht davor! Die Angst, die er nun fühlte, war anders, sie betraf nicht Volkov, sondern Yuriy selbst. Gestern hätte er es nie für möglich gehalten, dass Yuriy ihn zurücklassen könnte - doch er hatte es getan. Um nun gegen Volkov zu verlieren? Hitoshi verfiel in einen kleinen Monolog, den Kai halb ausblendete. Anscheinend hatte er ebenfalls die richtigen Schlüsse gezogen und wusste, was hier vor sich ging. Er schien stolz darauf zu sein, Yuriy durchschaut zu haben. Dennoch, der Blick, den er für den Rothaarigen hatte, war kalt. Kai wandte angeekelt das Gesicht von ihm ab. Seine Gedanken rasten. Er konnte nichts tun. Konnte Yuriy nicht helfen. Konnte nicht eingreifen. Wenn Yuriy es nicht selbst beendete, würde es niemandem gelingen. Doch es sah schlecht für ihn aus. Garlands Blade schob Wolborg durch die Bowl, und es war nun nicht mehr zu übersehen, wie schwach Yuriy war. Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. „Er hat den Novae Rog zweimal eingesetzt”, sagte Hitoshi, „Das war schon ziemlich beeindruckend. Allerdings… hat es ihm nichts genützt.” Kai merkte, wie ihm das Blut aus den Gliedern kroch. Seine Beine und Arme wurden kalt. Garland hatte Yuriys Attacke zweimal Stand gehalten? Er wollte eine Erwiderung formulieren, doch die Worte wollten nicht aus ihm heraus. Er konnte nur starren. Er hatte gesehen, wie Boris Rei zugerichtet hatte, während ihrer ersten Weltmeisterschaft. Er hatte Yuriy nach dem Match gegen Daichi gesehen. Er wusste, dass es beim Beybladen rau zuging, dass Verletzungen mehr als nur üblich waren. Und doch wollte er nun zum ersten Mal den Blick abwenden. Aber es ging nicht. Und er fühlte jede seiner eigenen Narben schmerzen. Sein Hals wurde eng. Konnte es nicht endlich vorbei sein? Scheiß darauf, ob Volkov Yuriy für die BEGA gewann - wenn Garland nur endlich von ihm abließ. Und dann kam seine finale Attacke. Garlands Blade hüllte das ganze Stadion und gleißendes Licht, und es hätte beinahe schön gewirkt, wenn nicht in diesem Augenblick der Schmerz durch Kai gezuckt wäre. Es war Suzaku, die sich in ihm wand, als würde sie den Angriff spüren und nicht Wolborg. Denn Wolborg war Suzaku und Suzaku war Kai und der Schmerz war nicht nur körperlich, er war überall, in seinem Kopf, in seinen Gedanken, und kurz zerfloss er in ihm und etwas zog an ihm, zog sich aus ihm heraus und hinterließ einen leeren Fleck und dann - kehrten die Farben zurück. Kai hörte sich keuchen. Er hatte sich schwer auf das Geländer gestützt. Als er blinzelte, wurde seine Umgebung wieder scharf. Gerade so sah er, wie Garland seinen Blade, der von einem gewaltigen Rückstoß aus der Arena geschleudert wurde, mit einer Hand auffing. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er das Stadion. Takao und die anderen stürzten zu Yuriy, der… Die Leere presste sich in Kais Eingeweide. Die Luft um Raum wurde kälter, wie eine Brise im Winter, schmiegte sich gegen seine Wangen. Wolborg ließ ihn zittern. Was war mit Yuriy? Er wollte zu ihm, ihn berühren. Doch es ging nicht. Da war diese Leere, und sie bedeutete etwas, und Kai war gelähmt von der Angst vor ihr. Volkov hatte mit einem Schlag sein Team vernichtet. Takao richtete sich nun auf, begann, Volkov anzuschreien. Er hatte verstanden, und kurz war Kai stolz auf ihn. Darauf, dass er Volkov offen herausforderte. Und dann brach die Wirklichkeit auf ihn ein. Boris, Sergeij und Yuriy hatten versagt. Wie sollte Takao gegen Volkov ankommen? Er würde ihn genauso vernichten, wie Neo Borg. Neo Borg, die jetzt BEGA waren. Was war er? Durch die Menge ging ein Raunen, als Volkov Takaos Herausforderung annahm. Für die meisten hier war dies immer noch nichts weiter als ein Match. Sahen sie nicht, dass Yuriy sich schon seit geraumer Zeit nicht mehr rührte? Sah er es? Begriff er es? Die anderen sammelten sich. Sie trafen ihre Wahl. Auch Hitoshi machte sich nun bemerkbar, seine Stimme durchschnitt das Fiepen in Kais Ohren, das er erst jetzt überhaupt bemerkte. „Hast du dich entschieden?” Kai nickte mechanisch. Dann löste er - vorsichtig, als würde er seinem Körper nicht trauen - die Finger vom Geländer und stieg die Treppen zum Zentrum der Arena hinab. An der Pforte des Krankenhauses traf er Daitenji. Dieser stand sichtlich unter Schock, schien aber im Gegensatz zu Kai zu wissen, was zu tun war. „Kai, mein Junge“, sagte er, „Gut, dass du hier bist.“ „Was ist mit ihm?“, fragte Kai und merkte nur am Rande, dass er nicht nach sich selbst klang. Es war die einzige Frage, die er formulieren konnte. Daitenji schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber wir können es herausfinden. Komm.“ Gemeinsam betraten sie das Krankenhaus und urplötzlich war Kai froh, Daitenji bei sich zu haben, denn anscheinend hatte er mit einem Schlag alles vergessen, was er über die Abläufe hier wusste. Während der andere mit den Leuten an der Rezeption sprach, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. An seinem Hinterkopf breitete sich ein Gefühl von Taubheit aus, kroch seinen Nacken hinab. Er drängte es mit aller Macht zurück. Schließlich stand Daitenji wieder neben ihm um und bedeutete ihm, dass er ihm folgen sollte. Nur ein paar Schritte weiter jedoch drehte er sich erneut zu Kai um. „Du wirst noch nicht zu ihm können“, sagte er, „Er wurde auf die Intensivstation gebracht, und anscheinend finden noch ein paar Untersuchungen statt. Boris und Sergeij sind bereits behandelt worden. Du kannst mit ihnen sprechen.“ Seine letzten Worte hatte Kai kaum gehört, denn schon der erste Satz hatte sich in seinen Kopf gefressen und hallte dort wider. Sein Mund wurde trocken; er schluckte und nickte, denn er befürchtete, dass seine Stimme wegblieb, wenn er jetzt sprach. Daitenji mimte dieses Nicken, dann setzten sie ihren Weg fort. Sie kamen nicht sehr weit. Ein paar Gänge und Türen zogen an Kai vorbei, dann fand er sich in einem Wartezimmer wieder. Erst hier wurde sein Blick klar. Verwirrt sah er sich um, sah zu Daitenji, doch noch ehe er eine Frage stellen konnte, hörte er seinen Namen. In einer Ecke saßen Boris und Sergeij. Ansonsten war niemand im Raum. Körperlich schienen seine Teamkollegen beinahe unversehrt zu sein, nur hier und da sah er Pflaster und kleinere Verbände. Nichts Unnormales für einen Kampf wie den, den sie hinter sich hatten. Was Kai jedoch erschreckte, war der Ausdruck in ihren Augen. Sergeij wandte sich schnell wieder ab, doch Boris sah ihn direkt an, und Kai spürte erneut die Taubheit in seinem Hirn. Er war sich nicht sicher, ob seine Beine noch zu ihm gehörten oder nicht. Als Boris sich erhob und auf ihn zukam, war sein erster Impuls, zurückzuweichen, doch es war unmöglich, sich zu bewegen. Mit einer fahrigen Geste packte Boris ihn am Kragen. „Was hast du getan, Kai?“, fragte er, „Du bist zur BEGA gegangen! Zu Volkov!“ Er wurde lauter. „Du hast doch gesehen, was passiert ist! Was zur Hölle, Kai? Was ist bloß falsch mit dir?“ Die Hand, die sich in sein Shirt gekrallt hatte, schüttelte ihn ein wenig. „Ihr seid auch BEGA Blader“, murmelte Kai. „Was?“ „Ich seid BEGA Blader!“, rief er. „Ihr habt das Battle verloren!“ „Es war unentschieden!“ „Für Yuriy vielleicht! Aber nicht für euch“, sagte Kai, „Ihr habt die Wette gegen Volkov verloren. Tja. Willkommen bei der BEGA.“ Die letzten Worte fühlten sich selbst auf seiner Zunge an wie Gift. Kurz wirkte es, als wollte Boris ihn schlagen, und Kai realisierte, dass er nur darauf wartete. Er wollte etwas spüren, irgendwas. Alles, nur nicht diesen Druck, der sich in ihm aufbaute und den er einfach nicht lösen konnte. Doch Boris schlug ihn nicht. Mit einem Mal schien ihn die Kraft zu verlassen, seine Hand ließ von Kai ab. Stattdessen bäumte sich nun Kais eigene Wut in ihm auf. Boris wollte wieder mehr Abstand zu ihm einnehmen, aber er setzte ihm nach. „Wie konntet ihr so was Bescheuertes tun?“, rief er und griff nach Boris‘ Arm. „Wieso habt ihr mir nichts davon gesagt? Habt ihr auch nur eine Minute darüber nachgedacht, ob das überhaupt funktionieren kann?“ „Es war Yuriys Idee, okay?!“ Boris stieß ihn von sich weg. „Er wollte dich von Anfang an nicht dabeihaben!“ „Aber das ist auch mein Kampf!“ „Es war Yuriys Plan…“, entgegnete Boris. „Warum habt ihr ihn nicht davon abgehalten?“ Jetzt schrie Kai, und Sergeij zuckte zusammen, aber es war ihm egal. Er stürzte sich auf Boris, der reflexartig seinen Arm abfing. Und so hing Kai in seinem Griff, wehrte sich halbherzig, denn irgendwie war alle Kraft aus ihm gewichen. „Warum müsst ihr immer tun, was Yuriy euch sagt?“, rief er, und beinahe brach seine Stimme dabei. Boris hielt inne, und auch Kais Bewegungen erstarben. Boris‘ Hand war immer noch um seinen Unterarm geschlossen, sein Griff tat weh, aber nicht genug, um ihn abzulenken. „Er ist nicht wieder aufgewacht, Kai“, sagte Boris, „Er ist immer noch nicht aufgewacht…“ „Er ist nicht wieder aufgewacht, Kai“, sagte Boris, „Er ist immer noch nicht aufgewacht…“ „Was soll das heißen?”, fragte er unwirsch. Er spürte, wie Boris’ Finger zuckten. „Mehr weiß ich nicht. Kinomiya hat als letzter mit ihm gesprochen. Dann hat er das Bewusstsein verloren.” Langsam, sehr langsam drang die Bedeutung dieser Worte zu ihm durch. Nicht selten passierte es, dass ein Blader während eines Matches ausgeknockt wurde - doch das war nie länger als ein paar Sekunden, vielleicht Minuten. Kai musste blass geworden sein, denn als er sich bewegte, ließ Boris ihn schnell los. Schwankend ging er auf einen der Stühle zu, ließ sich darauf fallen. Auf einmal schien er zu zittern, doch er wusste nicht, ob die anderen das bemerkten. Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen, dann war Daitenji an seiner Seite. Berührte ihn nicht, sondern saß einfach neben ihm. „Er ist in guten Händen, Hiwatari-kun”, sagte er beschwichtigend, doch Kai sah immer noch Boris an, der nun vor ihm stand. „Was ist mit ihm?“, fragte er. Boris schüttelte den Kopf. „Wir müssen warten.“ Noch einmal atmete er durch. Niemand würde ihm die Frage beantworten können, wie lange das dauern würde. Er hatte gleichzeitig das Bedürfnis, zu rennen und sich in sich zusammenzukrümmen. „Darf ich mit euch warten?“, fragte er schließlich. Boris nickte. Rückblickend konnte Kai nicht sagen, wie lange sie dort ausharrten. Als endlich jemand zu ihnen kam, saß er sehr nah bei Boris und Sergeij. Daitenji hatte sie in regelmäßigen Abständen dazu genötigt, etwas zu trinken, ansonsten hatten sie sich angeschwiegen. An der Mimik der Ärztin war nicht abzulesen, wie ernst die Lage war. „Kuznetsov Boris und Rybakov Sergeij sind als nächste Angehörige angegeben“, erklärte sie. „Daitenji-san, soweit ich das sehe, kann ich auch mit Ihnen sprechen.“ Ihr Blick wanderte zu Kai. „Und Sie sind?“ „Hiwatari Kai“, sagte Daitenji an seiner statt, „Ich bin sicher, wenn Kuznetsov und Rybakov nichts dagegen haben, kann er hierbleiben. Außerdem spricht er Russisch und kann für die beiden übersetzen.“ Er wandte sich an Boris und Sergeij und wiederholte das Anliegen auf Englisch. Die beiden nickten und Kai fühlte zumindest einen Hauch von Erleichterung. Er wusste nicht, was er gemacht hätte, wenn er weggeschickt worden wäre. „Also schön.“ Die Ärztin begann mit ihren Ausführungen und Kai hörte ein paar Sekunden lang zu, bevor er sich zusammennahm und für seine Teamkollegen übersetzte. Sein Kopf wollte nicht so richtig, es dauerte wesentlich länger als sonst, mit den beiden Sprachen zurechtzukommen. „Kuznetsov hat meinen Kollegen glücklicherweise verständlich machen können, dass Ivanov gewisse Vorerkrankungen hat. Die Blutgefäße in seinem Gehirn sind anscheinend recht empfindlich. Wir haben also sofort ein MRT gemacht. Darauf ist leider eine ziemlich große Blutung zu erkennen.” Sie pausierte, damit Kai übersetzen konnte. Als Boris diese Worte hörte, verzog sich sein Gesicht beinahe resigniert. „Was meint sie?”, hakte Kai nach. „Was ist mit diesen Blutgefäßen? Hat das etwas damit zu tun, was du mir über seine Migräne erzählt hast?” „Ja”, sagte Boris knapp, und das war der Moment, in dem Kai wirklich Angst bekam. Das also meinte Yuriy, wenn er sagte, dass er eigentlich nicht beybladen sollte. Wenn seine Blutgefäße anfällig für Verletzungen waren, war jeder Schlag gegen den Kopf einer zu viel. „Was bedeutet das für ihn?”, fragte er die Ärztin. Sie wartete eine, vielleicht zwei Sekunden, bevor sie Antwortete. „Ich kann und will nichts beschönigen”, sagte sie dann. „Die Hirnblutung ist nicht das einzige. Ivanov hat weitere schwere Verletzungen. Zwei Rippenfrakturen, und eine dritte Rippe ist komplett gebrochen. Seine Lunge wurde leicht gequetscht, glücklicherweise gibt es darüber hinaus aber keine Verletzungen der inneren Organe. Dazu kommen eine ganze Menge Hämatome und ein paar größere Schnittwunden. Das Gesamtausmaß der Verletzungen ist leider so groß, dass wir uns entschlossen haben, ihn in ein künstliches Koma zu versetzen.” Während Kai übersetzte wurde ihm klar, dass Boris und Sergeij mit ihrer Fassung rangen. Er selbst konzentrierte sich vollkommen auf seine Aufgabe, wagte auch nicht, Daitenji anzusehen, obwohl er meinte, dass dieser scharf die Luft eingezogen hatte, als er von dem Koma hörte. Daitenji war es auch, der die nächste Frage stellte: „Wie lange wird die Heilung dauern?” „Mit hundertprozentiger Sicherheit kann ich das nicht sagen”, lautete die Antwort. „Die Äußeren Verletzungen werden in ein bis zwei Wochen bis auf wenige Ausnahmen Verheilt sein. Die Rippen dauern etwas länger. Was uns wirklich sorgen macht, ist die Hirnblutung. Wir haben sie soweit unter Kontrolle und können sie medikamentös behandeln. Dennoch drückt das Blut auf verschiedene Hirnareale, und wir können nicht absehen, welche Schäden daraus entstehen.” Daitenji seufzte müde, und Boris bewegte sich zum ersten Mal wieder: Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. „Welche, hat sie gesagt”, murmelte er auf Russisch. „Nicht ob. Welche.” Kai spürte wieder so etwas wie Übelkeit, als würde Suzaku sein Innerstes zusammenpressen, doch ohne das Brennen, das sonst immer mit ihr kam. „Wenn alles gut läuft”, fuhr die Ärztin fort, „Können wir ihn in zwei, vielleicht drei Wochen langsam wieder zurückholen. Erst dann können wir mit Sicherheit sagen, wie groß die Schäden sind und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Wir sprechen hier von motorischen Schwierigkeiten bis hin zu Störungen des Sprachzentrums oder Veränderung anderer Sinneswahrnehmungen. Voraussehen lässt sich das nicht. Vieles lässt sich durch umfangreiche Rehabilitation wieder erlernen, aber das wird seine Zeit dauern.” Sie machte eine Pause. „Es kann aber auch sein, dass einige bleibende Schäden entstanden sind. Darauf sollten Sie sich einstellen. Und natürlich kann es auch passieren, dass sich sein Zustand verschlechtert. Dann...müssen wir ganz andere Entscheidungen treffen.” Vermutlich stellte Daitenji weitere Fragen, doch dieses Mal blendete Kai seine Umgebung aus. Die Worte, die er soeben gehört hatte, wiederholten sich immer und immer wieder in seinen Gedanken. Das hier war kein böser Traum, aus dem Yuriy wieder aufwachen würde. Er würde nicht einfach aufstehen und weggehen können. Das hier war vielleicht nie ganz zu Ende. „Wann können wir zu ihm?“, fragte Daitenji recht laut und lenkte Kais Aufmerksamkeit damit wieder auf sich. Die Ärztin wiegte den Kopf. „Ich fürchte, heute können höchstens die nächsten Angehörigen zu ihm. Wie ich schon sagte, wir müssen noch einige Untersuchungen durchführen. Ich denke aber, dass Sie ab morgen die Möglichkeit haben sollten. Eins noch, Hiwatari”, fuhr sie fort, als er sich schon abwenden wollte. Er sah sie an. „Kuznetsov und Rybakov sind als nächste Angehörige jetzt in einer schwierigen Lage”, sagte sie, „Bitte sagen Sie ihnen, dass sie möglicherweise einige schwere Entscheidungen in den nächsten Wochen treffen werden müssen.” Er wusste genau, was sie meinte. Er verstand, warum sie es sagte. Er konnte trotzdem nicht fassen, dass sie es ausgesprochen hatte. Erneut wurde ihm schlecht. „Was hat sie gesagt?”, fragte Boris. „Das ihr diejenigen seid, die darüber entscheiden, ob… Was passieren soll.” Er spuckte die Worte förmlich aus. Doch Boris nickte nur und sah die Ärztin an. „Wir wissen, was er will”, sagte er auf Englisch, „Darüber haben wir schon vor einiger Zeit gesprochen.” „Ihr habt...was?” Kai merkte, wie gepresst seine Stimme klang. „Wunderst du dich?”, fragte Boris, anstatt zu antworten, „Nach allem, was wir schon erlebt haben?” Die Ärztin drängte ihn und Sergeij, ihr zu folgen, wenn sie Yuriy sehen wollten. Auch sie hatte keine Zeit zu verlieren. Erneut merkte Kai, wie Daitenji näher zu ihm kam, als wollte er demonstrieren, dass Kai nicht allein war, auch wenn seine Teamkollegen ihn nun verlassen würden. Es half nur minimal. Nie zuvor hatte er sich so einsam gefühlt. Boris blickte noch einmal zu ihm zurück, und irgendetwas ließ seine Gesichtszüge weich werden. „Oh Gott, Hiwatari”, sagte er, „Komm mal her.” Wie von selbst setzte Kai sich in Bewegung und fand sich zwei Schritte später in einer festen Umarmung wieder. Seine Hände krallten sich in Boris’ Rücken, und falls seine Augen in diesem Moment kurz überliefen, so versickerte das Wasser ungesehen in der Jacke des anderen. Kurz darauf merkte er, wie auch Sergeij seine Arme um sie schloss. So blieben sie für einen Moment, der es Kai erlaubte, ein paarmal tief durchzuatmen, bevor er sich wieder von den anderen löste. „Ich melde mich bei dir”, versprach Boris, „Und morgen sorgen wir dafür, dass du zu ihm kannst.” Kai nickte, dann wandte er sich schnell ab, heftete den Blick auf Daitenji und nickte ihm zu, ein Zeichen, dass sie gehen konnten. Boris und Sergeij schlugen den entgegengesetzten Weg ein. Der Sturm in Kais Kopf hatte sich gelegt; stattdessen fühlte er sich leer, während Daitenji ihn nach draußen führte. Erst als die frische Luft ihm entgegenschlug, kam er etwas zu sich. Gerade hatte er schon einmal hier gestanden, ohne das Wissen, das jetzt auf seinen Schultern lag. „Hiwatari-kun, es ist nur verständlich, wenn du jetzt nicht nach Hause gehen willst”, sagte Daitenji. „Soll ich Kinomiya-kun fragen, ob du zu ihm kommen kannst? Alternativ habe ich auch noch ein freies Zimmer.” Der Gedanke, Takao zu sehen, fühlte sich im ersten Moment gut an. Dann fiel ihm ein, wie er ihm gerade erst demonstriert hatte, dass ihre Freundschaft ihm nichts bedeutete. Oder zumindest war er sich sicher, dass Takao sein Handeln so interpretierte. Nein, er konnte nicht zu ihm. Und Daitenji würde er auch nicht zur Last fallen. Außerdem musste er morgen bei BEGA auftauchen, um alle von seiner Zugehörigkeit zu überzeugen. Wieder stieg ihm die Galle hoch; inzwischen war er sich sicher, dass Suzaku zu einem nicht geringen Teil verantwortlich für seine körperlichen Reaktionen war. Was seine Situation nicht besser machte. Er wollte schlafen und vergessen. „Danke, Daitenji-kaichou”, sagte er schließlich, „Aber ich komme schon zurecht.” „Bist du sicher?” Er atmete tief durch. „Ja.” Dann lief er in Richtung der Fahrradständer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)