Kaleidoskop von CharleyQueens (AU-Oneshotsammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Beim Vollmond ------------------------ Es war bereits später Abend, als eine junge Grimmwölfin durch den Wald eilte. Ihr Fell war pitschnass vom Regen, der unaufhörlich auf die Erde prasselte. Der Boden war nass und glitschig, aber zu ihrem Unterschlupf war es noch ein weites Stück. Sie musste sich beeilen, hatte sie ihrer Schwester doch versprochen, vor Sonnenuntergang zuhause zu sein. Ruby eilte einen Hügel hinauf. Es fiel ihr schwerer als sonst, die Erde war matschig vom Regen und ihre Pfoten fanden keinen wirklichen Halt im Schlamm, doch schließlich erreichte sie ihr Ziel – einen umgekippten Baumstamm, der so umgekippt war, dass er auf der anderen Seite vom Menschenpfad in der Krone eines anderen Baumes hing. Über den Baumstamm zu laufen, würde den Weg abkürzen. Schlitternd kam Ruby zum Stillstand und starrte auf die Stelle, an der einst der Baumstamm gelegen hatte. Doch jetzt war da nur eine klaffende Lücke. Vorsichtig näherte sie sich dem Rand und sah den Baumstamm unter ihr liegen, direkt neben dem Menschenpfad. Sie schluckte. Durch den Regen musste es einen Erdrutsch gegeben haben, sodass der Stamm heruntergefallen war. Unruhig blickte sie sich um. Springen kam nicht in Frage. Die Entfernung war zu weit als das Ruby es hätte schaffen können. Der Baumstamm wurde seit Ewigkeiten als Weg genutzt, um nicht den Menschenpfad betreten zu müssen. Sie warf einen Blick auf den mit Steinen gepflasterten Weg. Sie kannte die Regeln. Ihr war verboten, den Menschenpfad zu betreten. Andererseits regnete es schon den ganzen Tag in Strömen. Menschen mochten Regen nicht sonderlich, sicher würde niemand so närrisch sein und bei diesem Wetter nach draußen gehen. Die nächste Überkreuzung, ein Fluss, den sie durchschwimmen konnte, um auf die andere Seite des Menschenpfades zu kommen, war zu weit weg. Ihr blieb nichts anderes übrig. Sie musste das Verbot brechen. Eilig lief sie den Hügel wieder hinunter. Vorbei an den Gebüschen, in denen es raschelte. Vermutlich nur ein Eichhörnchen oder dergleichen. Sie schnüffelte an den Steinen, die den Pfad bedeckten. Es roch – wie sollte es auch anders sein – nach Mensch. Vorsichtig betrat sie den Pfad und hielt inne. Nichts geschah. Erneut blickte sie sich um, schnupperte in der Luft und schlich dann langsam weiter zur anderen Seite. Sie hatte beinahe das Ende erreicht und jubilierte bereits innerlich, dass sie es über den Pfad geschafft hatte, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und die Kugel sie nur knapp verfehlte. Erschrocken wirbelte Ruby herum. Da im Gebüsch, wo es vorhin noch geraschelt hatte, standen zwei junge Menschen. Sie hatten beide weißes Haar, einer männlich und die andere weiblich. Der Junge hielt ein Gewehr in seiner Hand, dessen Lauf auf den Boden zeigte. „Verrätst du mir mal, was das sollte?“ Er sah seine Schwester – Ruby vermutete jedenfalls, dass es Geschwister waren – verärgert an. „Ich hatte die perfekte Chance zu schießen, und du rempelst mich einfach an.“ „Du bist hier, um ausgewachsene Wölfe zu jagen“, rief das Mädchen. „Das ist doch noch ein Kind.“ Sie blickte in Rubys Richtung, gerade als es blitzte. Erschrocken zuckte Ruby zusammen. Sie hatte noch nie einen Menschen von so nah gesehen. Ihre Augen waren von so einem intensiven Blau, dass Ruby nirgendwo zuvor gesehen hatte. „Aus dem einmal ein ausgewachsener Wolf wird. Ich bin endlich alt genug, um auf die Jagd zu gehen und du versaust es gleich. Ich wünschte wirklich, du wärst nicht mitgekommen.“ Sie war ausgewachsen, auch wenn sie schon immer relativ klein war für ihr Alter. Doch das konnte sie den beiden nicht mitteilen. Stattdessen knurrte sie nur und machte einen Schritt in ihre Richtung. Die beiden blickten sie erschrocken an. „Dabei war meine Idee doch wirklich perfekt. Kein Vieh rechnet damit, dass bei so einem Wetter Jagd auf sie gemacht wird.“ Der Junge lächelte leicht und machte sich dann am Gewehr zu schaffen. „Und ich habe recht behalten. Ein Wolf weniger macht den Wald ein kleines bisschen sicherer.“ Ruby zuckte zusammen. Sie musste hier weg. Sie drehte um und rannte auf die Bäume zu. Hinter ihr hörte sie den Jungen laut fluchen, doch sie wagte es nicht, sich umzusehen. Stattdessen rannte sie einfach nur weiter, sprang im Zickzack durch den Wald. Sie war schnell und wie durch ein Wunder erreichte sie schließlich die Höhle. Erleichtert reduzierte Ruby ihr Tempo und ging dann langsam auf den Eingang zu. Ihre Schwester Yang, mit Fell so gelb wie die Sonne, humpelte, als sie sie sah. „Nicht jetzt“, meinte Ruby, als Yang sie fragend ansah. „Ich musste einen Umweg machen. Der Baumstamm ist runtergefallen.“ Besser, wenn sie ihrer Schwester nichts davon erzählte, dass sie Menschen begegnet war Die zwei gehörten wahrscheinlich zu der Villa, die am nördlichen Waldrand stand. Bis vor einem Jahr war die Villa noch leer und verwahrlost gewesen, doch dann waren dort Menschen eingezogen. Ruby hatte diese Menschen, die dort in der Villa lebten, noch nie zu Gesicht bekommen. Folgte man der Straße, dann erreichte man ein Dorf, indem noch mehr Menschen lebten. Viele von ihnen machten Jagd auf sie. Es war ein Spiel für sie. Genau deswegen war es verboten, sich den Menschen zu nähern. Sie streckte sich, ehe sie sich hinlegte. In wenigen Tagen würde Vollmond sein. Ihre erste Wandlung stand bevor.   Unruhig blickte Ruby sich um. Es war spätnachts, der Himmel mit Wolken bedeckt. Sie hatte nicht schlafen können und sich entschieden, einen kleinen Spaziergang zu machen. In den letzten Nächten war kein Mond zu sehen gewesen und auch wenn die anderen es nicht sagten, sie rechneten damit, dass Rubys Wandlung sich verschieben würde. Sie mussten den Vollmond sehen, um sich wandeln zu können. Ruby wusste nicht, wie sie sich fühlen sollte. Jede Grimmwölfin machte die Wandlung einmal im Monat durch, sobald sie ein gewisses Alter erreicht hatten. Für nur wenige Stunden während des Vollmonds wurden sie zu dem, was sie einst gewesen waren. Menschen. Menschen, wie die, die in der Villa lebten, die sie nun mehrere Meter zwischen den Bäumen vor sich liegen sah. Rubys Pfoten hatten sie hierhergebracht und nun schrie jede Faser ihres Verstands, dass sie umkehren sollte. Sie kannte die Regeln und sie hatte bereits eine gebrochen. Wenn ein Mensch sie sah, wie sie sich bei Vollmond verwandelte, konnte das grausame Konsequenzen haben. Die Gefährtin ihrer Schwester, Blake, hatte sich einmal vor einem Menschen verwandelt. Und obwohl sie vollkommen wehrlos gewesen war, hatte er sie trotzdem erschießen wollen. Nur Yang, die noch rechtzeitig dazwischen sprang, hatte verhindern können, dass der Jäger sie tötete. Doch das hatte ihr die rechte Vorderpfote gekostet. Sie dachte an Jaune, der seine Gefährtin Phyrra verloren hatte, als diese von einem Menschen erschossen wurde. All die Gruselgeschichten ihrer Kindheit, über Wölfinnen, die sich bei Vollmond vor einem Menschen verwandelten und dieser sie dann gefangen nahm, kehrten in ihr Bewusstsein zurück. Ruby warf einen Blick gen Himmel. Vom Mond war noch immer nichts zu sehen. Vielleicht, wenn sie vorsichtig war, könnte sie einen schnellen Blick auf sie erhaschen. Es war wahnsinnig, was sie vorhatte. Trotzdem setzte sie langsam eine Pfote vor die andere, kroch beinahe sodass man sie nicht sofort kommen sehen würde. Ihre Ohren waren spitz und jeder ihrer Sinne war hellwach, sodass ihr das kleinste Geräusch, die kleinste Bewegung, nicht entgehen würde. Sie schlich um das Haus herum und suchte nach einer Möglichkeit, den Zaun zu durchqueren. Vorne war es dunkel gewesen, vielleicht waren diese Menschen ja gerade nicht da. Trotzdem ging sie weiter und an der hinteren Hausseite war ein Fenster im Erdgeschoss geöffnet und nur eine Gardine hing davor, während ein leichter Lichtschimmer nach draußen fiel. Sie quetschte sich durch zwei breit auseinanderstehende Zaunlatten und schlich weiter voran. Als Musik an ihr Ohr drang, hielt sie inne. Jemand spielte. Ein Zittern lief durch ihren Körper, denn die Töne waren kalt. Ruby erreichte das Fenster und warf einen Blick ins Innere durch den dünnen Lichtspalt. Sie stand in der Mitte des Raumes. Ruby konnte nicht mehr sehen durch den Spalt und sie wagte es nicht, die Gardine zur Seite zu schieben. Sie stand seitlich zum Fenster, ihre Augen geschlossen. Dann erklang auf einmal wieder die Melodie. Ruby fragte sich, wer es war, der dort spielte. Das Menschenmädchen begann zu singen. Glockenhell und klar erklang ihre Stimme durch das Zimmer. Ruby hatte noch nie, so etwas Schönes gehört. Und obwohl das Lied so kühl und melancholisch klang, hätte sie ihr stundenlang zuhören können. Sie endete das Lied mit einem langgezogenen Ton, den sie länger hielt, als Ruby es ihr zutraute. Auch derjenige, der das Instrument spielte, endete. „Das war doch ganz gut“, meinte sie. „Gut ist nicht perfekt“, kritisierte ihr Bruder sie und kam dann auf sie zu, sodass er ebenfalls zu sehen war. „Du weißt, wie Vater reagiert, wenn etwas nicht absolut perfekt ist, Weiss.“ Ihr Name war also Weiss. Ruby entwich ein leises Knurren und sie zuckte zurück, als er sich verwundert umsah. „Ist etwas, Whitley?“, fragte Weiss irritiert. „Ich dachte, ich hätte etwas gehört“, meinte er. „Aber wahrscheinlich war es nur der Wind.“ Sicher waren sie davon überzeugt, dass sich eine Wölfin nicht so nah an ihr Haus herantrauen würde. Sie sollte gehen. Was wollte sie denn noch hier? Je länger Ruby vor dem Fenster saß, desto größer war die Chance, entdeckt zu werden. Und nur weil Weiss sie einmal verschont hatte, hieß das nicht, sie würde es noch ein weiteres Mal tun. Trotzdem blieb sie sitzen. Weiss lächelte leicht und legte dann eine Hand auf Whitleys Schulter. „Es ist für Winters Geburtstag, nicht für Vater. Ihr muss es gefallen.“ Whitley schob Weiss‘ Hand weg. „Vater wird anwesend sein.“ Weiss öffnete ihren Mund, als wolle sie etwas sagen und schüttelte dann einfach nur den Kopf. „Vielleicht ist es besser, wenn du jetzt gehst. Wir üben schon den ganzen Nachmittag und ich will ins Bett.“ „Meinetwegen.“ Er nickte ihr zu und verließ dann das Zimmer. Weiss seufzte laut und blickte dann Richtung Fenster, als ein starker Windstoß aufkam und die Gardine zur Seite wehte. Erschrocken starrten Ruby und Weiss sich an. „Du!“, rief Weiss überrascht aus und machte einen Schritt auf Ruby zu. „Du bist es, oder?“ Sofort schoss Leben in ihre Glieder und die Grimmwölfin stürzte so schnell wie möglich durch den Garten, quetschte sich durch die beiden Zaunlatten und verschwand in die Dunkelheit des Waldes. „Warte doch!“, ertönte die Stimme von Weiss hinter ihr und Ruby blickte nach hinten. Weiss war ihr gefolgt. Sie hatte sich einen leuchtend roten Schal um den Hals geworfen und folgte ihr. Ruby blieb stehen. Der Mond war immer noch hinter Wolken versteckt, doch sie konnte nicht riskieren, gesehen zu werden. Sie machte einige Schritte auf Weiss zu, knurrte sie an. Sie wollte sie nur verjagen, mehr nicht. Weiss verlangsamte ihr Tempo und kam trotzdem auf sie zu. „Verdammt!“, fluchte Ruby, auch wenn es für Weiss nur wie ein Heulen klang. Wenn sie sie nicht verjagen konnte, vielleicht würde sie sie dann einfach abhängen können. Sie warf Weiss einen entschuldigenden Blick zu und rannte dann weiter in den Wald hinein, sprang über Büsche, schlug einen Haken nach links, rechts, wieder rechts und nochmals nach links. Sicher würde Weiss es aufgeben, ihr zu folgen. Sie warf einen Blick nach hinten – und erschrak, denn Weiss war noch immer hinter ihr. „Bitte, lauf nicht weg!“, rief Weiss ihr zu. „Ich will dir nichts Böses.“ Sie rannte weiter, den Blick auf Ruby gerichtet. Und dann stürzte sie plötzlich über eine Wurzel, die aus dem Boden hervorragte. „Mist!“ Weiss stand langsam wieder auf und machte einen Schritt mit dem Fuß, mit dem sie eben über die Wurzel gestolpert war. Sie verzog ihr Gesicht vor Schmerz und setzte sich dann auf den feuchten Waldboden, um ihren Fuß zu begutachten. Das war die Gelegenheit für Ruby abzuhauen. Mit einem verletzten Fuß würde Weiss ihr nicht folgen können. Aber sie waren tief im Wald und Weiss würde sicherlich nicht den Weg zurückfinden. Erst recht nicht mit einer Verletzung. Und sie wusste nicht, wie lange es dauern könnte, bis nach ihr gesucht wurde. Stattdessen ging sie langsam auf sie zu und blieb dann in sicherer Entfernung vor ihr stehen. Weiss warf ihr einen fragenden Blick zu. „Wenn du mich jetzt auslachst, nur zu“, meinte sie verbittert. Ihr Knöchel war rot angelaufen. „Verdient habe ich es ja.“ Ruby ging weiter auf sie zu und blieb dann vor ihr stehen. Zögernd streckte Weiss ihre Hand nach ihr aus und berührte dann Rubys Kopf. „Dein Fell ist so weich“, meinte Weiss entzückt, während sie ihr durch das Fell strich und sie hinter den Ohren kraulte. „Wenn du mich nur verstehen würdest, dann würde ich dich jetzt bitten, Hilfe zu holen.“ Aber sie verstand sie doch. Menschen konnten eine Grimmwölfin nicht verstehen, sie jedoch war fähig, die Menschensprache zu verstehen, konnte ihr aber nicht antworten. Es sei denn… Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte genau in dem Moment nach oben, als eine Wolke zur Seite wanderte und den runden Vollmond enthüllte. Ein Kribbeln lief durch Rubys Körper. Sie musste fliehen, sie durfte nicht gesehen werden. Kein Mensch durfte wissen, was mit ihnen in jeder Vollmondnacht geschah. Doch das Vollmondlicht traf ihre Augen und plötzlich war die ganze Welt in Silber getaucht. Ihre Schnauze und ihr Schweif schrumpften, ihre Krallen zogen sich zurück, bis sie flach und stumpf waren und ihre Pfoten veränderten sich, wurden lang, ihr wuchsen dünne, schmale Finger. Ihre Hinterbeine wurden länger und sie plumpste zu Boden, als sie das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte. Das dunkelrote Fell fiel ihr büschelweise aus und formte sich zu einem Umhang, der sie umhüllte. Es tat nicht weh, stellte sie fest, obwohl ältere Grimmwölfinnen ihr erzählt hatten, dass die erste Wandlung schmerzhaft sein würde. Sie hatte ihre erste Wandlung und war von einem Menschen gesehen worden. „Hey!“, flüsterte sie Weiss zu. Ihre Stimme war heiser und sprechen fühlte sich komisch an. „Ich bin Ruby.“ „Du … du … du bist ein Mensch!“ Weiss blickte sie erschrocken an und war zurückgerutscht. „Aber du bist doch ein Wolf, gerade eben warst du noch ein Wolf und jetzt … bist du ein Werwolf?“ Ruby blickte sie verständnislos an. „Ein Mensch, der zum Wolf wird bei Vollmond“, erklärte Weiss und schüttelte dann den Kopf. „Nein, das macht keinen Sinn. Wie nennt man Wölfe, die sich in einen Menschen verwandelt bei Vollmond?“ „Wir nennen uns Grimmwölfinnen“, entgegnete Ruby lächelnd. „Weil wir einst Menschen gewesen waren. Einer Legende zufolge brannte ein raffgieriger Mensch einst einen Wald nieder, der von der Mondgöttin gesegnet war. Dort befand sich ein Zufluchtsort für verletzte Tiere und Tierkinder. Sie alle hatten keine Chance gegen das Feuer. Und so verfluchte die Göttin den Menschen und alle, die mit diesem Menschen je zu tun gehabt hatten. Sie wurden zu Wölfinnen, fähig menschlich zu denken und zu handeln, doch andere Menschen sollten sie nicht erkennen. Nur beim Vollmond können wir uns für wenige Stunden verwandeln.“ Weiss schluckte schwer und streckte dann ihre Hand nach Ruby aus. Ruby verschränkte ihre Finger miteinander. Wie sanft sich ihre Haut anfühlte. Es fühlte sich merkwürdig an, ein Mensch zu sein, aber Weiss gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. „Danke“, flüsterte Ruby und blickte in die blauen Augen von Weiss. „Dafür, dass du deinen Bruder daran gehindert hast, mich zu töten.“ „Ich konnte es nicht geschehen lassen. Whitley ist zu jung für die Jagd, aber Vater bestand darauf. Und du sahst so jung aus, ich wollte nicht, dass er ein Kind tötete“, erzählte Weiss ihr. „Aber jetzt, wo ich weiß, was du bist…“ „Erstens, ich bin zwar klein, aber schon ausgewachsen und zweitens, es würde nichts ändern“, schnitt Ruby ihr das Wort ab. „Nicht alle Wölfinnen sind verfluchte Menschen. Woher wollt ihr wissen, ob euch eine echte Wölfin gegenübersteht oder nur eine Grimmwölfin? Wollt ihr uns alle jagen und einsperren?“ „Ich würde niemals einen Menschen töten!“, erklärte Weiss eingeschnappt. Ruby kicherte leicht und beugte sich vor, um Weiss über die Wange zu streichen. „Aber deine Familie würde es tun. Weil sie nicht wissen, wer wir wirklich sind.“ „Whitley wäre es egal“, überlegte Weiss leise. „Vater sowieso. Winter könnte ich vielleicht noch überzeugen. Aber…“ Da waren zahllose Menschen. Und sie waren nur zu zweit. Weiss blickte Ruby traurig an. „Ich kann doch nicht zulassen, dass dich jemand erschießt.“ „Mach dir keine Sorgen um mich, Weiss. Wir sind klug genug, euch aus dem Weg zu gehen … mehr oder weniger jedenfalls. Nur weil du jetzt Bescheid weißt, ändert das nichts.“ „Das stimmt nicht!“, erklärte Weiss erzürnt. „Ich werde euch nicht mehr jagen. Selbst wenn ich nur eine einzige Person bin.“ Ruby lächelte glücklich. „Das freut mich.“ Dann stand sie langsam auf. „Wenn du willst, dann bringe ich dich zurück?“ Auf zwei Beinen zu stehen, war ein merkwürdiges Gefühl. Ihr Geruchssinn war kaum vorhanden und ihre Augen sahen schlechter als sonst. Weiss stand mit ihrer Hilfe auf und hakte sich bei Ruby unter. Sie humpelte, während Ruby langsam neben ihr herging und sie Richtung Menschenpfad führte. „Tut es sehr weh?“, fragte diese besorgt. „Ernsthaft, wieso bist du mir hinterhergerannt?“ „Weil du dich meinem Haus genähert hast.“ Weiss sah sie vorwurfsvoll an und schmunzelte dann. „Du solltest froh sein, dass dich Whitley nicht entdeckt hat.“ „Ich wollte dich noch einmal sehen“, erklärte Ruby ihr. „Es war naiv von mir, ich weiß.“ „Kannst du mir etwas versprechen?“, fragte Weiss sie nachdenklich. „Können wir uns wiedersehen?“ Ruby zögerte. Es war verboten und sie müsste aufpassen, dass niemand etwas von ihnen erfuhr. Und doch… „Beim nächsten Vollmond, einverstanden?“ Weiss nickte lächelnd und drückte ihre Hand. „Beim nächsten Vollmond dann.“   Ende. Kapitel 2: Auf der Spur des Feuervogels --------------------------------------- „Hallo? Ist jemand da?“ Das Klingeln der Türglocke verkündete, dass jemand gerade den Laden betreten hatte. Es war spät abends und eigentlich hatte Yang nicht damit gerechnet, dass heute noch jemand vorbeikommen würde. Es war den ganzen Nachmittag eher ruhig gewesen und sie hatte nur wenig Kundschaft gehabt. „Bin sofort bei dir!“, antwortete sie und schob die Schachtel mit den neu bestellten Tintenfläschchen ins Regal. Mit der Bestellung schien alles in Ordnung zu sein. Sie stand auf, streckte sich kurz und ging dann in den vorderen Bereich. „Hey. Was kann ich für dich tun?“ Vor dem Ladentisch stand eine junge Frau und blätterte in dem Fotoordner, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Sie blickte auf, als Yang sich ihr näherte. Yang blieb stehen, als sie sie erkannte. „Du“, entgegnete sie überrascht, in ihrer Stimme schwang ein leicht bitterer Ton mit. Es war nicht das erste Mal, dass Blake hier war. Es war Ruby, ihre kleine Schwester, gewesen, die Yang darauf aufmerksam gemacht hatte, dass da jemand vor der Ladentür stand. Ruby verbrachte oft ihre freie Zeit im Tattooshop, las Comics oder machte Hausaufgaben. Sie war ins Geschäft gekommen, zwei Kaffees in der Hand, und hatte dann zu Yang gemeint, dass da seit mehreren Minuten eine junge Frau vor der Ladentür stehen würde und ob Yang sie nicht bitten wolle, hereinzukommen. Sie sei sicher nur schüchtern. Yang, die gerade dabei war, einer Kundin ein Tattoo zu stechen, hatte nur kurz einen Blick nach draußen geworfen. Als sie die junge Frau sah, zwinkerte sie ihr lächelnd zu. Die Fremde erschrak, zog plötzlich ihr Handy aus der Tasche und telefonierte dann. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber der besorgte Gesichtsausdruck missfiel Yang. Am liebsten wäre sie rausgegangen und hätte der Person am anderen Ende der Leitung mal gehörig die Meinung gegeigt. Aber da war immer noch ein halbfertiges Tattoo – zwei Stöckelschuhe, die ein Herz formen sollten – das auf sie wartete. Als sie wieder aufblickte, war die Fremde verschwunden. Yang machte sich nichts daraus. Es kam öfters vor, dass jemand unsicher war und mehrere Anläufe brauchte, bis si:er den Tattooshop betrat. Früher oder später würde sie schon hereinkommen. Und selbst wenn nicht, sie musste sich keine Sorgen machen. Das Geschäft lief gut, zumal es in Vale keine anderen Tätowierer:innen gab. „Ich … bist du alleine?“, fragte Blake nervös und sah sich um. Es war kurz vor Ladenschluss, ihre Chefin Glynda war früher nach Hause gegangen und hatte Yang beauftragt, nachher abzuschließen. Und auch Ruby war heute nicht da. Sie übernachtete heute eine neue Freundin, die sie vor kurzem kennengelernt hatte. „Sieht man doch, oder.“ Yang verschränkte die Arme vor der Brust. Blake schluckte und spielte nervös mit einer Haarsträhne. „Deine Haare sind ab“, bemerkte Yang. „Und du trägst nicht mehr diese Schleife.“ Sie lächelte. „Gefällt es dir?“, fragte sie hoffnungsvoll und trat einen Schritt nach hinten. „Dir muss es gefallen“, entgegnete Yang kühl. „Ich kann Menschen nicht ausstehen, die etwas nur tun, damit es anderen gefällt.“ „Ich… der neue Haarschnitt war etwas, was ich wollte“, erklärte sie laut. „Nicht wegen jemand anderem. Ich mag ihn, auch wenn er dir nicht gefällt.“ Yang errötete. „Das hab‘ ich so nicht gemeint. Du siehst gut aus, wirklich. Gefällt es Adam denn auch?“ Sie sprach den Namen mit Abscheu und Ekel aus. Es gab wohl kaum jemanden, den sie mehr verachtete. Blake und Adam. Es hatte gedauert, bis Yang ihre Namen erfuhr. Nach der ersten Begegnung kam die junge Frau mit den schwarzen Haaren und der großen Schleife auf dem Kopf öfters vorbei und blickte von draußen in den Laden. Irgendwann hatte es Yang gereicht und sie war nach draußen gestürmt, um ihr zu sagen, dass sie entweder reinkommen sollte oder aber sie würde die Polizei rufen, weil eine verdächtig aussehende Person sich vor dem Tattooshop aufhielt. Blake war ohne ein Wort zu sagen davongelaufen. „Es ist mir egal, was er davon denkt“, erwiderte sie nun. „Adam und ich … Ich habe mich von ihm getrennt.“ Yang hob eine Augenbraue an. Nach dem Blake weggerannt war, hatte sie sich die nächsten zweieinhalb Wochen nicht mehr gezeigt. Dann war sie eines Tages doch in den Tattooshop gekommen und hatte sich umgesehen. Yang hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Sie hatte darauf gewartet, dass sie den nächsten Schritt machte. Als Glynda mit einem Kunden in die hinteren Räume verschwand, um ihm ein weiteres Tattoo zu stechen, war sie schließlich auf Yang zugegangen. „Ich bin übrigens Blake“, hatte sie sich mit einem leichten Lächeln vorgestellt. Dann jedoch hatte ihr Handy geklingelt. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als sie auf das Display geguckt hatte. Das Telefonat war kurz, sie hatte nur kurze Sätze herausgebracht, dabei mehrmals den Namen „Adam“ gesagt und schließlich geseufzt und sich von Yang verabschiedet. „Das ist gut. Sehr gut sogar“, meinte Yang nun. „Du bist doch nicht etwa nur deshalb hierhergekommen, oder? Es ist schließlich schon spät und …“ Sie kannten sich doch kaum. Wieso hatte Blake sich dann also die Mühe gemacht, um diese Uhrzeit noch herzukommen? Sie wusste doch noch nicht einmal, ob Yang zu dieser Zeit noch arbeitete. „Ich wollte mich entschuldigen“, erklärte Blake. „Dafür, dass ich letztes Mal einfach abgehauen bin.“ Yang konnte sich noch allzu gut daran erinnern. Blake hatte sie darum gebeten, ihr ein Tattoo zu stechen. Sie hatte den Termin telefonisch ausgemacht, war dann mit dem Motiv vorbeigekommen und hatte die Anzahlung für das Tattoo geleistet. Einig Tage später sollte der Termin dann stattfinden. Blake war tatsächlich gekommen. Yang hatte sie in den hinteren Raum geführt, wo Blake auf einem der Stühle Platz genommen hatte. Sie hatte ihren Schuh ausgezogen und den freien Fuß dann auf einen Hocker gelegt. Dann hatte Yang festgestellt, dass ihr Desinfektionsmittel fast leer war und sie war ins Lager gegangen, um eine neue Flasche zu holen. Als sie zurückgekehrt war, war der Stuhl leer und von Blake keine Spur zu sehen. Das war das letzte Mal, dass Blake sich gezeigt hatte. Danach hatte Yang vier Monate lang nichts mehr von ihr gehört. Und nun war sie wieder hier. Mit einem neuen Haarschnitt und einem Blick, der Yang hoffen ließ, sie würde ihre Lügen einfach glauben. Sie seufzte schwer. „Weshalb hast du es getan?“ Sie hatte ihr gesagt, dass sie für sie da sein würde, wenn sie jemanden zum Reden brauchte, kurz bevor Blake einfach abgehauen war. Dass Blake dann einfach verschwunden war und monatelang nichts von sich hören ließ, hatte Yang mehr verletzt, als sie es sich eingestehen wollte. Und nun war sie wieder hier. „Ich wollte dich nicht da mit reinziehen“, setzte Blake an. „Ich weiß, du hattest mir gesagt, dass du für mich da warst, aber ich wollte dich einfach nicht mit meinen Problemen belasten. Und ich … ich hatte Angst. Ich wollte mir das Tattoo stechen lassen, weil ich genau wusste, wie wenig Adam davon hält sich zu tätowieren. Aber dann wurde mir klar, dass ich damit wieder nur etwas wegen ihm tun würde. Ich wollte mich doch von ihm losreißen.“ Yang beugte sich vor und griff nach Blakes Hand, drückte diese leicht. „Ich kann dich verstehen“, erklärte sie dann. „Jetzt, wo ich alles weiß. Und mein Angebot gilt immer noch, wenn du jemanden zum Reden brauchst oder sonst irgendeine Unterstützung brauchst. Wie hat Adam es denn aufgenommen, als du mit ihm Schluss gemacht hattest?“ Blake seufzte und blickte auf Yangs Finger. „Wahrscheinlich war er nicht gerade begeistert. Nachdem er unsere Wohnung verlassen hatte, habe ich das nötigste in einen Koffer geworfen und wurde dann von der Schwester einer Freundin abgeholt. Wir hatten uns kennengelernt, als ich ein Praktikum bei der Firma ihres Vaters gemacht hatte und dann trafen wir uns wieder, als …“ Sie verstummte und ihre Hand zitterte leicht. „Du musst nicht drüber reden“, erwiderte Yang hastig. „Nicht, wenn es dich zu sehr schmerzt.“ Blake lächelte sie dankbar an. „Ihre Schwester arbeitet bei der Polizei. Sie hatte mich abgeholt. Ich bin raus aus der Wohnung, habe den Schlüssel in den Briefkasten geworfen und im Auto dann eine letzte SMS an Adam geschickt, indem ich ihm gesagt habe, dass Schluss ist. Das Handy habe ich dann auf einer Brücke ins Wasser geworfen.“ Yang sah sie staunend an und lachte dann laut. „Hätte es nicht gereicht, seine Nummer einfach zu blockieren?“ „Das hatte Winter auch gemeint. Aber irgendwie hatte es sich richtig angefühlt. Ich habe meinen Facebook- und Instagram-Account gelöscht und wohne derzeit bei Weiss. Ich wollte schon früher hierher, aber ich hatte Angst, dass Adam mir hier auflauern würde.“ „Und warum bist du jetzt hier?“, fragte Yang nach. „Ich kann nicht ewig wegrennen und außerdem wollte ich dich wiedersehen. Und naja, ich wollte fragen, ob du mir dieses Mal ein Tattoo stechen würdest. Ich renne auch nicht weg, versprochen.“ Yang blinzelte überrascht und warf dann einen Blick auf die Uhr. Sie würden in zehn Minuten schließen. „Weißt du denn, was es werden will?“, fragte sie nach. Blake nickte. „Ein Phönix. Als Symbol für meinen Neuanfang.“ Sie zog ihr Handy aus ihrer Jackentasche und zeigte Blake die Zeichnung eines rotgoldenen Feuervogels mit weit ausgebreiteten Flügeln. „Ich weiß, es ist spät, und wahrscheinlich willst du schon nach Hause, aber ich würde mich freuen, wenn du es mir stechen würdest.“ „Die passenden Farben habe ich definitiv hier“, meinte Yang nachdenklich. „Aber … es würde nicht perfekt werden. Normalerweise übe ich vorher immer etwas, ehe ich ein Motiv steche. Und eine Tätowierung von dieser Größe ist in mehreren Sitzungen zu stechen.“ „Das ist schon in Ordnung“, erklärte Blake. „Ich will nicht, dass es perfekt ist. Ich bin es ja schließlich auch nicht.“ Yang lächelte und ging dann um die Ladentheke herum zur Tür, um diese abzuschließen und das „Geschlossen“-Schild aufzuhängen. „Du kennst den Weg ja, oder? Ich will nur noch schnell die Utensilien holen und alles vorbereiten. Heute kann ich dir aber nur die Outlines stechen, wenn das okay ist für dich?“ Blake nickte lächelnd. „Das ist alles, was zählt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)