Bauchgefühl von Norrsken (Ein Ass im Bett) ================================================================================ Kapitel 4: 2006-12-31 --------------------- Der Plan für den Abend hatte anders ausgesehen. Yuriy machte die abendliche Runde mit Lyca und hütete mit ihr die Wohnung, während Boris, Ivan und Sergeij in einer nahe gelegenen Bar vorglühten. Bevor es null Uhr wurde, wollten sie zurück sein, sodass sie zu Neujahr gemeinsam vom Balkon das Feuerwerk beobachten konnten. Es war für die junge Hündin das erste Silvester, das sie bei Boris verbrachte, weshalb er sie ungern alleine ließ. Gleichzeitig hatte er seine Kameraden nicht enttäuschen wollen, indem er die Kneipentour absagte. So war für Yuriy der logische Schluss, Lyca zu übernehmen - zumal die Hündin sich bereits in den letzten Monaten als angenehme Gesellschaft herausgestellt hatte. Er hatte seine Kameraden an Boris' Wohnungstür verabschiedet, machte das Stroganoff vom Vortag in der Mikrowelle warm und verbrachte den Abend zusammen mit Lyca auf dem Sofa vor dem Fernseher, während er mit der einen Hand in seinem Buch umblätterte und die andere meditativ über Lycas Kopf strich. Er genoss die Ruhe, solange sie anhalten sollte. Wenn seine drei Kameraden spät am Abend wiederkämen, war abzusehen, dass es weit lebhafter zugehen würde. Darauf war er mental eingestellt. Letztendlich kam es sehr viel früher zum Ende seiner Ruhe, als er erwartet hatte. Gegen halb elf klingelte sein Handy. Auf dem Display erkannte er Ivans Nummer und nahm den Anruf entgegen. Es kam selten vor, dass Ivan anrief. Lieber schrieb er Textnachrichten, was Yuriy begrüßte - auch, dass er nicht auf jede Nachricht eine Antwort erwartete. Sein Nacken prickelte, noch bevor er sich am Handy meldete. »Komm her! Boris läuft Amok und wir-« Den Rest des Satzes bekam Yuriy nicht mehr mit. Lyca reckte den Kopf und spitze die Ohren, als ihr Sitter hochschnellte, die Wohnung in großen Schritten durchquerte und sich im Vorbeigehen Boris' Parker griff, bevor die Wohnungstür hinter ihm zuknallte. Er hasste es, dass er seine Aufgabe vernachlässigte, doch es galt in diesem Augenblick Prioritäten zu setzen. Seine drei Kameraden hatten in einer Bar bei ihnen im Viertel vorglühen wollen. Er begleitete sie nur selten, kannte aber den Weg und war mit einem Sprint in zehn Minuten dort. Vor dem Lokal befand sich eine Traube Menschen, aus der Sergeij herausragte. Yuriy steuerte direkt auf ihn zu, schob sich forsch an Schaulustigen vorbei und sah, wie Boris auf einen zweiten Kerl einschlug, während der erste bereits benommen am Boden lag. Die Knöchel an seiner Hand glänzten rot. Sergeij bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihm stand. »Wir müssen schleunigst weg«, erklärte er eindringlich. Yuriy nickte, beobachtete Boris, der wie von Sinnen einen Schlag nach dem nächsten setzte. Boris hatte schon immer viel Kraft und mit seinem Boxtraining wusste er diese gezielt einzusetzen, doch in diesem Augenblick ließen sich keine überlegten Treffer erkennen. Es war willkürliche Zerstörungswut, mit der er rohhaft zuschlug. Sergeij hatte die nötige Kraft und Ausbildung, um Boris festzuhalten, aber um ihn aufzuhalten, brauchte es Yuriy. In einem günstigen Moment ging er zwischen die Prügelnden und machte sich vor allem für Boris bemerkbar, indem er ihn am Kragen packte und seinen Blick fixierte. Als der ihn erkannte, hielt er lange genug in seiner Bewegung inne, dass Sergeij ihn mit festem Griff packen konnte. Inbrünstig stieß er einen Wutschrei aus, versuchte aber nicht, sich zu befreien, wie er es noch vor wenigen Minuten getan hätte. Den Typen am Boden schenkte er keine weitere Beachtung. »Weg hier!«, zischte Ivan zu ihrer Rechten und lotste sie aus der Menschenansammlung heraus und über Nebenstraßen zurück zu ihrem Block. Es gab niemanden, der ihnen folgte, trotzdem hielten sie nicht an und blickten nicht zurück. Erst als die Haustür hinter ihnen ins Schloss fiel, konnte Yuriy seine Kameraden aufatmen hören. Er selbst atmete ruhig, trotzdem fühlte er den kalten Schweiß seinen Rücken hinunterlaufen. Sein Blick ruhte auf Boris und er bemerkte, dass sich die Anspannung aus dessen Körper gelöst hatte. Mit einem Nicken gab er Sergeij die Versicherung dafür, ihn wieder loslassen zu können. Schlaff kam Boris auf seinen Beinen zum Stehen und schwankte gefährlich, dass Sergeij ihn vorsorglich an den Schultern fasste. »Die Treppen schaffst du selber?«, fragte Yuriy mit forschendem Blick. »'Türlich«, nuschelte Boris ihm grimmig entgegen und ging wie zur Demonstration die Treppen hinauf zu seiner Wohnung. Yuriy konnte die Blicke von Sergeij und Ivan auf sich spüren, die eine gewisse Ratlosigkeit ausstrahlten. Sie waren alle nicht zum ersten Mal in dieser Situation und glaubten auch nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Ohne sich an sie zu wenden, folgte er Boris hoch. Erst auf seinem Stockwerk machte er halt. »Ihr wisst, wo alles steht?«, fragte er pro forma. Sergeij holte die Wohnungsschlüssel aus seinen Hosentaschen und gab den für Boris' Wohnung an Yuriy weiter. »Wenn was ist, gib' Bescheid.« Er nickte und ging einen Stock höher, auf dem Boris bereits vor seiner Wohnung auf ihn wartete. Die Stirn hatte er gegen die Tür gelehnt und von innen war ein Kratzen zu hören. Das Schloss klickte auf und Lyca bewegte sich in dem schmalen Flur um die eigene Achse, bevor sie auf Yuriys Anweisung hin in ihr Körbchen verschwand. Seinen Freund dirigierte er hingegen ins Badezimmer und setzte ihn auf dem Klo ab. Er ging vor ihm auf die Knie und begutachtete die blutverschmierten Hände. An seiner Linken waren die Fingerknöchel aufgeplatzt und das Weiß von Knochen war zu erkennen. Das sah er nicht zum ersten Mal und so ging er wie gewohnt in die anliegende Küche und holte aus dem Kühlfach eine Packung Eis, um die er ein Handtuch wickelte. Zurück im Bad reichte er den provisorischen Behelf an Boris und setzte sich neben ihn auf den Rand der Badewanne. Im Raum breitete sich Stille aus, während sie darauf warteten, dass die Blutung stoppte. »Hast du keine Fragen?« Boris‘ Stimme war rau. Er wagte nicht, aufzuschauen und konzentriert sich auf das Bündel Eis auf seinen Wunden. »War denn diesmal etwas anders?«, entgegnete Yuriy ohne eine Miene zu verziehen. Es bedurfte keiner Antwort, doch nun da Boris‘ Blick klarer wurde, schien er das Bedürfnis zu verspüren sich mitzuteilen. »Ich hab nicht zu viel getrunken«, stellte er mit gefestigter Stimme klar, ohne dass Yuriy ihm einen Vorwurf gemacht hätte. »Das kannst du Vanja und Seryoga fragen.« »Das muss ich nicht.« Boris kannte seine Einstellung zu Alkohol und welche Hintergründe es hatte. Und Yuriy kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass es nicht am Kontrollverlust durch Alkohol lag, dass er wie ein Berserker auf einen Gegner losging. Es war ein Resultat ihrer Vergangenheit und Boris lernte noch, damit umzugehen. Boris hob den Kopf und sah Yuriy direkt an. Ob ihm noch etwas auf der Seele lag oder er einfach vom Alkohol gedrängt war, sich mitzuteilen, konnte er nicht einschätzen. Schlussendlich beließ es Boris dabei und schwieg erneut. Als sie beide übereinkamen, dass die Blutung an seiner Hand zurückging, holte Yuriy die Panthenolcreme und Bandagen. Er legte wie schon dutzende Male zuvor den Verband um Boris‘ Hand und erwischte sich dabei, wie er darüber nachdachte, ob er etwas hätte verhindern können, wenn er dabei gewesen wäre. Wütend über diesen sinnlosen Gedankengang zogen sich seine Augenbrauen zusammen und Boris gab mit einem zischenden Laut zu verstehen, dass er den Verband etwas zu schroff festzog. Als Yuriy das Ende des Verbands sicherte, bemerkte er, wie sich in Boris Schultern Spannung bildete und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Kannst du mal nach Lyca sehen?«, bat ihn sein Freund mit einem schmalen Lächeln. »Ich denke, ihr wird es gut gehen.« Die Sorge um die Hündin erschien ihm in diesem Augenblick absurd. Boris blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, das Lächeln gequält. »Ja, aber - könntest du bitte gehen? Ich glaube, ich muss kotzen.« Es gab nicht viel, durch das sich Yuriy Ivanov überrumpelt wurde, doch diese Information ließ ihn erst die Augen weiten und anschließend die Nase rümpfen. Steif erhob er sich und verließ das Bad nicht ohne die Türe hinter sich zu schließen. Davon wollte er nichts mitbekommen. Als er ins Wohnzimmer kam, erhob Lyca sich aus ihrem Körbchen und trabte ihm entgegen. Yuriy ahnte, dass sich das Mädchen um ihren Menschen sorgte, und schätze diese Eigenschaft an ihr sehr. Er strich durch das dichte Fell und kraulte sie hinter den Ohren, bis sich ihr ganzer Körper schüttelte, weil sie mit ihrem Schwanz wedelte. Es dauerte, bis sich die Badezimmertür hinter ihm wieder öffnete. Lyca lief an Yuriy vorbei zu Boris hin, der vor ihr in die Hocke ging. Die Begeisterung, mit der sie über sein Gesicht leckte, bescherte ihm ein Lachen, das in einem herzhaften Gähnen mündete. »Bis Neujahr schaff ich nicht mehr.« Er strich sich mit der Hand durchs Gesicht, versteckte ein weiteres Gähnen und wirkte insgesamt furchtbar abgekämpft. Yuriy nickte ergeben. Nach dieser ungeplanten Aktion wollte er auch lieber ins Bett. Das neue Jahr konnten sie auch noch morgen früh begrüßen. »Pennst du bei mir?«, fragte Boris und sah aus großen Augen zu ihm auf. Darüber hatte sich Yuriy bisher keine Gedanken gemacht. Eine Etage tiefer war seine eigene Wohnung mit seinem eigenen Bett. Sergeij und Ivan hatten sich sicherlich im Wohnzimmer einquartiert. Doch die Art wie Boris ihn ansah, ließ ihn bei der Antwort zögern. »Ich meine; pennst du bei mir?«, wiederholte er seine Frage und zog seine Stirn in Falten. Yuriy haderte nur kurz. Wenn Boris ihn so fragte, gab es eigentlich nur eine Antwort für ihn. Vorher musste er jedoch eins geklärt haben. »Hast du eben die Zähne geputzt?« Die Frage ließ ihm mit den Augen rollen. »Sicher!« »Gut.« Sie machten sich nebeneinander für die Nachtruhe fertig. Yuriy holte sich aus dem Kleiderschrank von Boris ein Shirt zum Schlafen, um sich anschließend im Bad Gesicht und Zähne zu waschen. Derweil füllte Boris den Wassernapf und warf die dreckigen Klamotten in die Wäschetonne im Schlafzimmer, um sich nur in Shorts ins Bett zu schmeißen. Yuriy bemerkte einen leichten Duft von Minze, als Boris sich nicht einfach neben ihn legte, sondern halb auf ihn drauf und zufrieden seufzte. Das Gewicht auf seiner Brust war ihm so vertraut wie das Ziehen einer Reißleine, obwohl es schon eine Weile her war, dass sie so beieinanderlagen. Langsam fielen ihm die Augen zu und als um Mitternacht das neue Jahr eingeläutet wurde, schliefen beide tief und entspannt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)