Fern der Heimat von _Delacroix_ ================================================================================ Prolog: Nastja -------------- Drüsje!“, brüllten die Stimmen hinter ihnen, schrien es durch den jaulenden Sturm. Aber Nastja fühlte sich, als stünden die Männer direkt neben ihr. Der Wind lenkte ihre Flüche zielsicher an ihrem Ohr vorbei, machte es schwer, die Befehle zu überhören, die sie einander zuriefen. Anweisungen, die nur einen Sinn hatten: Sie und Yarik in die Enge zu treiben. Wie von selbst beschleunigte Nastja ihren Schritt, rutschte den schneebedeckten Hang hinab und schaffte es dabei nur mit purem Glück irgendwie auf den Beinen zu bleiben.   Wie hatte das alles nur so schrecklich schiefgehen können? In einem Moment hatte sie noch mit Mila gescherzt und nun rannte sie Fern der Heimat um ihr Leben. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie an ihre Freundin dachte. Begraben unter den Resten ihres Schlittens.   Eine Hand schloss sich um Nastjas Ellenbogen, zerrte sie harsch nach rechts und sie stolperte mit, dankbar, dass ihr wenigstens Yarik geblieben war. Der Wind heulte und trieb ihr dicke Schneeflocken ins Gesicht. Weiße Punkte in einem Meer aus Eis. Sie wusste, sie würden die Drüskelle im Schnee nicht kommen sehen und vermutlich wusste es Yarik auch. Sein Atem ging schwer, doch er ließ nicht los, zerrte sie unbarmherzig die nächste Anhöhe hinauf. Immer weiter durch den steigenden Schnee.   Nastja schnappte nach Luft. Ihre Lungen brannten, trotzdem zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Wind zerrte an ihrem Umhang, einem hässlichen Stück aus grauer Wolle, das ihr nur deshalb lieb geworden war, weil es dabei half, gegen die allgegenwärtige Kälte anzukämpfen. Neben ihr stieß Yarik ein erschöpftes Grunzen aus. Wenn sie das hier überlebten, schuldete sie ihm ein Dankeschön.   Ein Dankeschön für seinen Klammergriff. Eines, weil er sie immer weiter vorwärtstrieb. Und eines, weil er sie hier nicht alleine zurückließ.   Einen Augenblick lang wünschte sich Nastja, sie wäre nützlicher. Wäre sie eine Stürmerin, wie Mila es gewesen war, sie hätte den Wind anrufen und seine Wut gegen ihre Verfolger richten können. Doch das war sie nicht und in einem Kampf taugten ihre Fähigkeiten nur wenig.   Yarik stieß ein tiefes Knurren aus und Nastja hob den Blick, um zu ihm zu sehen. Sein Mantel war durchnässt und Schnee hing in seinem Haar. Er bildete auf seinem Kopf eine seltsame Mischung aus Weiß, blond und schwarz, die sie daran erinnerte, dass sie dringend seine Tarnung erneuern musste. Es knurrte erneut und Yarik kam ruckartig zum Stehen. Langsam hob er die Hand, als wollte er sie warnen, doch es war bereits zu spät.   Nastja konnte den Schatten sehen, der vor ihnen im Schnee erschien. Er war groß, beinahe riesig, mit schwefelgelben Augen und ˗ Der Wolf setzte sich in Bewegung, noch bevor Nastja richtig begriffen hatte, dass das Knurren von ihm gekommen sein musste. Yariks Gewicht traf sie von der Seite. Sie schrie, als sie in den Schnee stürzten, nur Sekundenbruchteile, bevor der Wolf über sie hinweg sprang. Das Tier landete im Schnee und wirbelte herum, während Yarik nach seinem Feuerstein griff. Seine Miene war unbewegt, aber Nastja wusste, hier einen Funken zu erzeugen, benötigte ein kleines Wunder.   Viel zu schnell stürzte sich der Wolf wieder auf sie, entschlossen sie dieses Mal nicht zu verfehlen. Nastja war keine Kämpferin, doch sie hatte gelernt, Chancen zu sehen, und Yarik hatte keine. Noch immer kämpfte er um einen Funken. Verzweifelt warf sie sich gegen seinen Körper und sie rollten ein Stück weit durch den Schnee. Yarik stöhnte, jetzt noch nasser als zuvor, während Nastja sich mühsam auf die Beine kämpfte. Sie taugte nicht für das Schlachtfeld, aber sie brauchte zumindest keinen Feuerstein. Sie musste sich nur erinnern. Erinnern an ihre Grundausbildung im kleinen Palast von Ravka, an die langen Stunden, bevor sie sich auf das Heilerhandwerk spezialisiert hatte. Sie war eine Korporalki. Sie konnte das tun. Nastja hörte tief in sich hinein, griff nach ihrer Macht und versuchte dann den harten Rhythmus zu finden, den es benötigte, um mit ihr eine Wunde zu schlagen. Er war anders als die sanften Wellen der Heilung. Grob und ungewohnt. Doch wenn sie es schaffte das Herz des Wolfes zu verlangsamen, hatten sie vielleicht eine Chance. Hinter ihr stöhnte Yarik. „Was tust du da?“, hörte sie ihn fragen, doch Nastja war zu sehr damit beschäftigt, sich auf ihren Angriff zu konzentrieren. Sie sah den Wolf, der auf sie zuschoss, suchte in all dem Weiß nach seinem Herz ...   Und sie schrie, als sie merkte, dass sie es nicht fand. Kapitel 1: Yarik ---------------- Yarik schleppte sich durch den Schnee. Er konnte immer noch den Wolf sehen, der sich in Nastjas Kehle verbiss, hörte ihren ersterbenden Schrei und sah das Blut in ihren grauen Umhang sickern. Er blinzelte mehrfach und zwang sich weiterzugehen.   Er wusste, er hatte ihr nicht helfen können, so wie er auch Mila nicht hatte helfen können. Der Angriff war aus dem Nichts gekommen, hatte ihren Schlitten getroffen und er hatte Glück gehabt, dass er nicht genau wie die Stürmerin von dem Gefährt zerquetscht worden war. Dann hatten sie die Drüskelle kommen gehört und waren geflohen. Hinein in den verdammten Schneesturm, der ihre Flucht behindert und ihn so sehr durchnässt hatte, dass er einfach keine Flamme mehr entzündet bekam. Wütend starrte er auf seinen Mantel hinab. Der graue Stoff war klatschnass und schwer. Trotzdem wagte er nicht, ihn abzulegen oder auch nur eine Hand aus der Tasche zu ziehen. Seine Finger schmerzten vor Kälte, jeder Schritt tat ihm weh und doch wusste er, er durfte nicht stehenbleiben. Stehenzubleiben bedeutete den Tod. Er würde erfrieren, oder sie würden ihn finden. Wenn nicht die Drüskelle, dann ihre Wölfe. Unsichtbare Jäger, die ihn töten würden, so wie sie Nastja getötet hatten.   Yarik schüttelte den Kopf. Die Heilerin war mutig gewesen, hatte sich dem Biest tapfer entgegengestellt und das, obwohl sie sicher gewusst hatte, dass die Fähigkeiten der Koporalki nicht auf Tiere angewendet werden konnten. Einen Moment lang dachte er an ihr lächelndes Gesicht. Sie hatte es genossen Schneebälle nach ihm und Mila zu werfen, wann immer sie weit genug von allen feindlichen Siedlungen entfernt gewesen waren, um unbeobachtet dabei zu sein. Kurz glaubte er, die vertraute Kälte in seinem Nacken zu spüren, dann wurde ihm klar, dass das vermutlich sogar stimmte. Der Schnee aus seinen Haaren bröckelte langsam in seinen Kragen hinein und brachte ihn noch stärker zum Zittern.   Er musste einen Unterschlupf finden. Einen Ort, an dem er sich verstecken, den Sturm abwarten und trocknen konnte. Eine Höhle oder ein altes Haus. Irgendwas mit einem Dach ...   Yarik starrte in das unaufhörliche Weiß vor sich. Es sah nicht so aus, als würde er demnächst etwas mit einem Dach finden. Da war nur Schnee und noch mehr Schnee und natürlich der Schnee, der unaufhörlich vom weißgrauen Himmel fiel.   Er seufzte tonlos.   Es sah nicht gut aus für ihn. Er fror erbärmlich und es war ihm schier unmöglich, zu sagen, wohin er eigentlich lief. Vielleicht bewegte er sich sogar im Kreis. Dann dauerte es vielleicht noch eine Meile oder zwei und er würde wieder vor ihrem zerstörten Schlitten stehen. Vielleicht lief er auch mitten in die Drüskelle hinein oder in den Wolf, der immer noch damit beschäftigt war, sich durch Nastjas schöne, warme Innereien zu fressen. Yarik kam spontan die Galle hoch. Er musste aufhören, daran zu denken. Zumindest für den Augenblick. Er brauchte einen Plan. Einen Ausweg. Irgendwas das dafür sorgte, dass Nastjas Opfer nicht umsonst gewesen war.   Doch seine Gedanken waren schrecklich träge. Seine Zähne klapperten und wann immer er die Augen schloss, sah er Nastja vor sich, die unter dem Gewicht des Wolfes zusammenbrach. Seine Beine wollten nicht mehr gehorchen, bunte Flecken tanzten vor seinen Augen.   Und ihm war kalt. So kalt. Kapitel 2: Yarik ---------------- Er träumte von warmem Honig und summenden Bienen und er betete zu Sankta Lizabeta, dass er nicht so bald erwachen möge. Doch als er schließlich die Augen öffnete, fand er sich im Halbdunkel einer Hütte wieder. Er lag eingerollt in einem dicken, weichen Fell und fühlte sich trocken und warm. Unweit von ihm knisterte ein kleines Feuer und seine Schatten tanzten beruhigend an den kahlen Wänden. Yarik lauschte dem feurigen Knacken und versuchte sich zu erinnern. An Mila und den kippenden Schlitten, an die arme Nastja, die irgendwo im Sturm gefallen war und an sein ganz eigenes Martyrium im endlosen Schnee. Vielleicht war er ja gestorben und das hier war die Ewigkeit. Eine herrlich warme, kuschelige Ewigkeit, nur für ihn und die knisternden Flammen. Vorsichtig rollte er sich auf die Seite, begierig darauf, das vertraute Glühen in sich aufzunehmen.   „Du bist aufgewacht.“   Yarik zuckte zusammen. Wenn das hier sein Leben nach dem Tode war, musste er es sich scheinbar teilen. Für einen Augenblick wagte er kaum, zu atmen, fürchtete, dass die Drüskelle ihn vielleicht doch noch gefunden hatten, doch als ein junger Mann neben seinem Lager auf die Knie sank, atmete er erleichtert auf. Nie hätte ein Drüskelle sich so nah an ihn herangewagt. Nicht ohne ihm vorher die Hände festzubinden. Neugierig musterte er sein Gegenüber. Er war jung und hatte sanfte Züge, die durch sein langes, blondes Haar noch zusätzlich verstärkt wurden. Kurz wirkte er unsicher, dann streckte er vorsichtig die Hand nach Yarik aus. Federleicht strichen seine Fingerspitzen über seine Wange. „Ich war nicht sicher, ob du überlebst“, flüsterte er, „Dein Herz hat nur noch sehr langsam geschlagen.“   Sie starrten einander an. Zwei Fremde, die nicht wussten, wie sie miteinander umgehen sollten, dann wanderten die Finger wie von selbst hinauf in Yariks Haar. „Ich habe noch nie zwei Farben auf einmal gesehen“, murmelte sein Gastgeber, „Haben die Grisha das getan?“ Yarik schluckte. „Was weißt du von den Grisha?“, fragte er und seine Stimme klang ungewohnt rau in seinen Ohren. Sein Gegenüber zog die Hand aus seinem Haar. „Sie haben im Dorf von ihnen erzählt“, erklärte er, „Und ich habe die Drüskelle losreiten sehen.“ „Und trotzdem lässt du einen Fremden in dein Haus?“ „Du sahst nicht gefährlich aus.“ Yarik lachte heiser. „Meine Haare haben die Farbe eines Stinktiers, aber ich sehe nicht gefährlich aus?“, wiederholte er ungläubig, während sein Gegenüber schuldbewusst in sich zusammen sank. „Na ja“, druckste er, „nicht sonderlich.“ „Dir ist klar, ich könnte ein Räuber sein?“, stichelte Yarik weiter, „Ein Mörder oder ...“ „Eine Grisha?“ Jetzt war es sein Gegenüber, der schüchtern lächelte. „Ich wollte schon immer mal eine echte Grisha sehen.“ „Warum?“, fragte Yarik, „Ich dachte, die Menschen hier hassen Grisha.“ „Die meisten Menschen hier haben noch nie eine gesehen. Sie hassen einfach nur die Gestalten aus den Märchen und sie haben Angst vor ihnen.“ „Aber du scheinst keine Angst zu haben“, bohrte Yarik weiter. Der andere strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Das täuscht“, gestand er leise und für einen Augenblick schienen seine großen, honigfarbenen Augen einfach durch ihn hindurchzusehen. „Ich habe Angst. Große sogar. Aber ich glaube auch, dass niemand von Grund auf böse ist. Wölfe töten, um zu überleben. Eisbären ebenso. Selbst die Fische im Meer leben nach diesem Prinzip. Warum sollte gerade eine Grisha anders sein?“ „Du weißt, dass dort draußen Männer sind, die diese Frage blasphemisch nennen würden?“ Er nickte. „Sie würden dich einen Verräter schimpfen.“ Er nickte noch einmal. „Sie würden dich in ihr Gefängnis werfen.“ Er nickte erneut. „Und das alles nur, weil du wissen möchtest, ob ich wirklich böse bin?“ Kapitel 3: Tjelvar ------------------ Tjelvar fühlte sich verloren. Verloren in dem heiseren Lachen seines Gastes. In der Art, wie die Schatten über sein Gesicht huschten, wenn er nachdachte und wie er die Augenbrauen zusammenzog, wenn er ihn mit seinen dunklen Augen musterte. Er hatte noch nie so dunkle Augen gesehen. Sie erinnerten ihn an zwei kostbare Stücken Kohle, ganz kurz, bevor sie der erste Funke traf. „Mein Name ist Tjelvar“, flüsterte er und beobachtete interessiert, wie sich die Miene seines Gegenübers änderte. Er sah Überraschung, Neugierde und schließlich Dankbarkeit in seinen Zügen. „Yarik“, entgegnete er. Es war ein ungewöhnlicher Name, aber er passte zu einem Mann wie ihm. Einem, der direkt aus einem Märchen entsprungen zu sein schien. Tjelvar musste sich zusammenreißen, um nicht noch einmal mit den Fingern durch sein sonderbar zweifarbiges Haar zu fahren. Es war viel weicher als es aussah und übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Es war wie ein Fremdkörper. Wie etwas, was eigentlich nicht so sein sollte. Etwas, was irgendwie falsch war, aber Tjelvar auch nicht repariert bekam.   Er musste wohl gestarrt haben, denn plötzlich hob Yarik seine Hand. Einen Moment lang hing sie etwas ziellos zwischen ihnen, dann fuhr er sich damit durch das Haar. „Sieht es wirklich so furchtbar aus?“, fragte er leise. Tjelvar lächelte dünn. „Man sagte mir, es hätte die Farbe eines Stinktiers“, entgegnete er und beobachtete fasziniert, wie sich die Miene seines Gegenübers noch weiter aufhellte. „Bald werden sie wieder dunkel sein“, versicherte er, „Es vergeht, wenn niemand da ist, um sie erneut zu formen.“ „Zu formen?“, fragte Tjelvar, „Heißt das, du kannst das nicht selber tun?“ Yarik schüttelte den Kopf. „Ich bin ein Etherealki, kein Bildner. Das ist ein völlig anderer Orden. Wäre ich ein Heiler, oder ein Entherzer; ich könnte es versuchen, aber so ...“ Tjelvar wusste nicht, was ein Etherealki war, aber er verstand, dass es da wohl Unterschiede geben musste. Unterschiede, die verhinderten, dass Yarik sich einfach für eine Haarfarbe entschied und sie entsprechend änderte. „Fühlt sich die Arbeit von Bildnern immer so komisch an?“, fragte er neugierig weiter und erntete dafür einen skeptischen Blick, seines Gegenübers. „Wie meinst du das?“, wollte Yarik wissen und Tjelvar begann zu überlegen, wie er es ihm beschreiben sollte. „Es sieht seltsam aus“, begann er schließlich seine Erklärung, „So als wäre es nicht natürlich und sie sind zwar weich“, an dieser Stelle spürte er, wie ihm die Röte in die Wangen schoss, „aber irgendwie fühlt es sich nicht richtig an.“ Yarik runzelte die Stirn. „Sie fühlen sich nicht richtig an?“, wiederholte er, „Willst du sagen, dass du die Manipulation spüren kannst?“ Tjelvar überlegte. Wollte er das sagen? Er war sich nicht ganz sicher. Aber doch, ja. Wenn er so darüber nachdachte, dann war es wohl das, was ihn schon die ganze Zeit über störte. Zögerlich nickte er. „Ich denke.“ „Faszinierend“, entgegnete Yarik, die Stimme dabei so sanft wie frischer Neuschnee, „Ich habe noch nie von Jemandem gehört, der so etwas fühlen kann. Sehen, ja. Zumindest wenn die Kraft der Änderung langsam nachlässt, aber fühlen ...“ Tjelvar wollte etwas erwidern, wollte erklären, wie es war, wenn seine Finger durch Yariks Haare fuhren. Er dachte an die weichen Strähnen auf seiner Haut, an das sanfte Kitzeln zwischen seinen Fingern und an das komische Kribbeln, das dabei immer wieder die Oberhand in ihm gewann. Doch es war schwer es zu beschreiben, vor allem, wenn er nicht wollte, dass es seltsam klang, und so zog er es vor, erst einmal zu schweigen.   Für einen Augenblick herrschte Stille zwischen ihnen, dann spürte Tjelvar, wie sich eine Hand auf seine legte. Sie war angenehm warm. Ein klares Zeichen dafür, dass es seinem Gast bereits bedeutend besser ging. Raue Finger strichen über seine Haut, legten sich vorsichtig um sein Handgelenk und zogen schließlich auffordernd daran. „Versuch es noch einmal“, bat Yarik und Tjelvar war sich sicher, hätte er ihn gebeten, jetzt mit einem Eisbären zu ringen, er wäre ohne ein weiteres Wort einen suchen gerannt. Schüchtern hob er seine Hand, streckte die Fingerspitzen ein weiteres Mal nach den seltsamen Strähnen aus und versuchte sich zu konzentrieren. Nicht auf den ruhigen Atem seines Gegenübers, nicht auf seine faszinierend dunklen Augen, sondern auf sein Haar. Auf die leichte Krümmung, die feinen Spitzen und das Gefühl ... Dieses eigenartige Kribbeln, das irgendwo ganz tief in ihm begann und sich langsam aber sicher immer weiter durch seinen Körper zog, bis es schließlich in seinen Fingerspitzen endete. Es war ein seltsames Gefühl, unbekannt, unerforscht und doch irgendwie ˗ Kapitel 4: Tjelvar ------------------ Das Klopfen traf ihn wie ein Donnerschlag, riss ihn aus seinen wirren Gedanken und ließ ihn je zusammenfahren. Wer auch immer das war, es konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten. „Aufmachen!“, bellte es und Tjelvar hätte sich am Allerliebsten in seinen Rentierfellen verkrochen. Unsicher blickte er zu Yarik, der von einer Sekunde auf die Andere leichenblass geworden war, dann kämpfte er sich auf die Füße. „Ich komme. Ich komme schon“, rief er, die Stimme so unschuldig, wie er es nur wagte, „Einen Augenblick, bitte.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Yarik tiefer in dem Berg aus Fellen verschwand. Unsicher stakste er zur Tür. Hätte er näher am Dorf gewohnt, er hätte vielleicht geglaubt, dass es seine Nachbarn waren, die schauen wollten, ob er den Sturm heil überstanden hatte, aber so weit nach draußen verirrten sie sich nur selten. Mit zitternden Händen griff er nach der Klinke, drückte sie herab und zog schließlich die schwere Holztür auf.   Die drei Männer, die davor standen, musterten ihn grimmig. Sie waren groß, zumindest größer als er und sie trugen die strengen, schwarzen Uniformen der Drüskelle. „Was dauert das so lange?“, herrschte einer von ihnen, während sein Kamerad hinter ihm umständlich mit seinem Gewehr herumhantierte. Tjelvar erlaubte sich einen zerknirschten Blick. „I-Ich habe geschlafen“, brachte er zu seiner Verteidigung hervor, „Wie kann ich helfen?“ Der Mann, der ihn zuvor angeschnauzt hatte, fuhr sich mit der Hand durch seinen Ziegenbart. „Wir suchen eine Drüsje“, erklärte er mit Abscheu in der Stimme, „Und wir fragen uns, ob sie sich hier verkrochen hat.“ Ein kalter Schauer lief Tjelvar über den Rücken. „Hier?“, fragte er und hoffte inständig, dass die Männer seine Angst nicht hörten. „Hier ist niemand außer mir.“ „Davon würden wir uns gerne selbst überzeugen“, warf der Dritte in der Runde ein. Er war ein hagerer Kerl, mit schmalen, kalten Augen, die jede seiner Bewegungen zu verfolgen schienen. Tjelvar lehnte sich ein bisschen fester gegen den Türrahmen. „I-Ich habe nicht aufgeräumt“, behauptete er eilig. „Überall liegen meine Felle herum. Ich kann nicht einmal einen warmen Tee anbieten. Ich fürchte, ich wäre ein ganz schrecklicher Gastgeber.“ Der Mann mit dem Bart machte einen Schritt auf ihn zu. „Wir brauchen keinen Gastgeber“, erklärte er finster, „Wir wollen nur einen Blick in diese Hütte werfen.“ Tjelvar schluckte. Er wusste, er hatte keine Wahl. Wenn er die Drüskelle jetzt nicht herein ließ, würden sie wissen, dass er etwas zu verbergen hatte und dann würden sie sich vermutlich einfach Zutritt verschaffen. Was für eine Chance hatte er schon gegen drei bewaffnete Soldaten? „I-In Ordnung“, gab er nach und betete innerlich zu Djel, dass Yarik sich erfolgreich in den Fellen vergraben hatte. „Nur bitte, beurteilt mich nicht nach dem Zustand meiner Hütte.“   Der bärtige Drüskelle schnaubte, als er an ihm vorbei in das Halbdunkel der Hütte drängte. Viel gab es dort zum Glück nicht zu sehen. Da war das kleine Feuer, das fröhlich knisternd Schatten an die Wände warf, der Berg aus Fellen, in denen Yarik verschwunden war und sein langsam trocknender Mantel, den man genauso gut auch für Tjelvars halten konnte, solange niemand von ihm verlangte, dass er ihn anzog. Beinahe hätte er erleichtert aufgeatmet, doch im letzten Augenblick bemerkte Tjelvar, dass der Drüskelle mit den kalten Augen ihn musterte, und er verkniff es sich. „Gibt es einen Boden?“, verlangte der Mann von ihm zu erfahren, „Oder einen Keller?“ Tjelvar schüttelte den Kopf. „Nur einen Unterstand für meinen Schlitten“, versicherte er. Der Drüskelle presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Vermutlich hatte er den Unterstand bereits durchsucht. „Hier is keiner“, polterte der Dritte dazwischen, „Ich sag doch, die Grisha fault längst irgendwo im Schnee.“ Der Blick von Tjelvars Gegenüber wurde schärfer, doch noch bevor er den Mund aufmachen konnte, um seinen Gefährten zurechtzuweisen, streckte der Drüskelle mit dem Ziegenbart die Hand nach ihm aus. „Spar dir den Atem, Hagen und du gib mir das Gewehr“, wies er die Beiden zurecht und sie gehorchten. Mit großen Augen beobachtete Tjelvar, wie die Waffe den Besitzer wechselte. „Weißt du was dein Problem ist, Jarno?“, fragte der Ziegenbart, während er langsam über das dunkle Holz der Flinte strich. Jarno schenkte ihm einen beleidigten Blick, antwortete aber nicht. „Du hast ’nen Kopf, aber du nutzt ihn nicht. Kapitel 5: Yarik ---------------- Der Kolben der Waffe verfehlte ihn nur um wenige Millimeter, aber Yarik hatte den Angriff in dem Moment kommen sehen, als der Drüskelle das Gewehr verlangt hatte. Wäre er an seiner Stelle gewesen, er hätte vermutlich genauso gehandelt und sei es nur, um zu beweisen, dass wirklich niemand zwischen den Fellen kauerte. Dummerweise hatte er gekauert und nun hatten sie den Salat. Der Drüskelle hatte ihn entdeckt und riss die Waffe hoch, Tjelvar japste und Jarno stieß ein ungläubiges Grunzen aus. Yarik war es recht. Im Schnee war er vor den Männern geflohen, aber jetzt war er im Vorteil. Seine Mundwinkel formten ein dünnes Lächeln, während er die Hände hob.   Eine Stichflamme schoss aus der kleinen Feuerstelle und fraß sich in den Wollstoff des nächsten Umhangs. Hagen schrie, doch Yarik erlaubte sich nicht, sich ganz auf ihn zu konzentrieren. Stattdessen ballte er die Finger zur Faust, zog weitere Gase aus der Luft und bot sie dem Feuer als Opfer dar. Die Flammen explodierten um ihn her, ließen die Temperatur im Raum binnen Sekunden auf ein Maß ansteigen, das nur schwer erträglich war. Yarik schmeckte Rauch, roch brennendes Fleisch, doch er trieb das Feuer nur noch weiter an. Es bildete eine Flammensäule, stieg auf bis zur Decke und leckte an den großen, hölzernen Balken über ihnen. Ein Schuss knallte, das trockene Holz ächzte, ein Mann schrie, dann krachte es.   Einer der Balken brach in sich zusammen, riss Teile des Daches mit sich und bot den Flammen neues Futter. Irgendwo links von ihm wimmerte es. Mühsam rappelte sich Yarik auf. Es fiel ihm schwer, die ersten Schritte zu tun, doch die Nutzung seiner Macht hatte seinem Körper neue Kraft eingehaucht und so schleppte er sich vorwärts. Quälend langsam durchquerte er den Raum, beeinflusste die Gase, um das Feuer umzulenken und als er endlich sein Ziel erreichte, fühlte er sich, als hätte er für die paar Meter eine halbe Ewigkeit gebraucht.   „Tjelvar?“, fragte er und der Name seines Gastgebers rollte ihm so leicht über die Zunge, als hätte er ihn schon tausend Mal benutzt. Zunächst reagierte Tjelvar nicht, doch nach einem endlos langen Moment, hob er schließlich doch noch den Kopf und starrte ihn aus seinen großen, honigfarbenen Augen an. Yarik spürte, wie sich sein Herz zusammenzog. Er kannte diesen Blick. Seine Kameraden hatten ihn so angestarrt, nachdem er seinen ersten Kampf gewonnen hatte, damals auf der Schattenflur. Sie hatten ihn so angestarrt, als er versucht hatte, den Außenposten an der Grenze gegen die Shu Han zu halten und jetzt starrten sie - starrte Tjelvar - ihn wegen der Drüskelle an. Yarik verharrte in der Bewegung. „Jetzt weißt du, was ich wirklich bin“, murmelte er bitter. Er wusste, es sollte ihn nicht tangieren. Er sollte sich umdrehen und gehen. Er brauchte Abstand zwischen sich und den Drüskelle. Nur für den Fall, dass diese drei nicht die Einzigen gewesen waren, die nach ihm suchten. Aber egal wie dringend er fliehen musste, er konnte es nicht. Tjelvar hatte ihn aufgenommen. Er hatte ihn in sein Haus geholt, hatte ihn gepflegt und sich für ihn interessiert. Und Yarik hatte die Drüskelle zu ihm geführt und sein Haus den Flammen übergeben. Langsam ließ er sich auf die Knie sinken. Er unterbrach sogar das Spiel seiner Hände und erlaubte es dem Feuer wild und frei weiter zu brennen, so wie es ihm beliebte. Wenn Tjelvar es so wollte, würde er für seine Taten büßen. Er würde sich den Drüskelle ergeben, oder seinen eigenen Flammen. Ganz egal. Alles, was er wollte, war, dass Tjelvar aufhörte, ihn so anzusehen. Kapitel 6: Tjelvar ------------------ Der Rauch ließ seine Augen tränen und machte ihm das Atmen schwer, doch Tjelvar hatte nur Augen für Yarik. Es war, als wäre eine unsichtbare Macht in ihn gefahren. Ein seltsames Pulsieren, das ihn dunkler, stärker und gefährlicher wirken ließ. Sehr viel gefährlicher. Umso mehr schockierte es ihn, als Yarik plötzlich auf die Knie sank. Von einer Sekunde auf die andere war es, als würde der Zauber brechen. Die große, mächtige Grisha sank in sich zusammen und plötzlich war da wieder Yarik. Der Yarik, der sich in seine Felle geschmiegt hatte, kaum das er ihn auf seinem Lager abgelegt hatte. Der Yarik, der heiser über seine naiven Worte gelacht hatte und ihn scheinbar nie ganz aus den Augen ließ. Der Yarik, der - Der Gestank nach verbranntem Holz wurde stärker und brachte Tjelvar zum Husten. Es war ein widerliches, trockenes Gefühl in seinem Hals, das ihn lebhaft daran erinnerte, was gerade geschehen war. Yarik, sein harmloser, lieber Yarik, hatte das Haus in Brand gesteckt. Wenn er die Augen schloss, konnte er immer noch sehen, wie die Flammen aus der Feuerstelle strömten. Er konnte den Drüskelle sehen, als sein Mantel plötzlich Feuer fing. Er hörte seine immer lauter werdenden Schreie, als er versucht hatte, sich irgendwie zu löschen ... Tjelvar unterdrückte mit Mühe ein weiteres Wimmern. So durfte er nicht anfangen. Diese Männer waren Soldaten. Er durfte nicht glauben, dass sie Yarik besser behandelt hätten. Sie hätten ihn gefesselt, geknebelt und nach Djerholm gebracht, wo sie ihn nach einem endlos langen Prozess auf den Scheiterhaufen gestellt hätten. Er hätte genauso gebrannt. Jedenfalls, wenn er überhaupt brennen konnte.   Ein weiterer Hustenanfall schüttelte ihn. Tjelvars Lunge schmerzte und machte ihm das Atmen schwer. Unwillkürlich schnappte er nach Luft. Dann plötzlich berührte etwas seine Wange und das Luftholen wurde leichter. Ein Körper drückte sich gegen seinen, fremde Haare kitzelten ihn im Gesicht und Tjelvar fühlte sich wie erstarrt. Er hatte Yarik nicht näherkommen hören und nun war er ihm so nah wie nie zuvor. „Es tut mir leid“, hauchte Yarik ihm ins Ohr und Tjelvar konnte spüren, wie sich die Luft um ihn herum veränderte. Ein Prickeln fuhr durch seinen Körper, lief bis in seine Zehenspitzen hinab und erfüllte ihn mit einer wohligen Wärme. War das ein Teil von Yariks Macht? Tjelvar wusste darauf keine Antwort, trotzdem wagte er es kaum, sich zu bewegen. Was wenn er Yariks Konzentration dadurch störte? Was wenn er die Bewegungen seiner Hände unterbrach? Was wenn - „Tjelvar?“, hauchte es in sein Ohr und das Prickeln verstärkte sich gleich noch einmal. Noch nie hatte sein Name so gut geklungen. Noch nie hatte er so gern darauf reagiert. „Ja?“, krächzte er und bemühte sich krampfhaft, ruhiger zu klingen, als er es eigentlich gerade war. „Wir müssen fort.“ Tjelvar nickte, obwohl die Worte in seinem Kopf nur noch stärker zu kreisen begannen. „Fort.“ Meinte Yarik: Fort aus dem Haus? Das mussten sie wohl. Er war in diesem Haus geboren worden. Es war seine Heimat. Seine Zuflucht. Und doch, er konnte hier nicht bleiben. Nicht solange das Feuer schwelte und auch danach nicht, bevor der Wiederaufbau nicht beendet war. Es würde ihn vermutlich Monate kosten, all das Holz zu schlagen. Er musste es den ganzen Weg hier heraus transportieren und dann waren da noch ˗ Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Yarik hatte nicht von dem Haus gesprochen. Die Drüskelle ˗ Selbst wenn diese drei besiegt waren ˗ es würden Andere kommen. Andere, die wissen wollen würden, was mit ihren Kameraden geschehen war. Dieses Haus war das Einzige weit und breit und es war auf mysteriöse Weise abgebrannt. Sie würden ihn nicht in Frieden lassen, auch wenn er nicht das war, was sie eigentlich wollten. Und das bedeutete ... Er musste wirklich fort. Die Frage war nur: „Wohin?“ Epilog: Yarik ------------- Tjelvar lehnte an der Reling, die Augen fest auf die zerklüftete Küste von Fjerda gerichtet. Yarik tat es ihm gleich, doch ihm fehlte die Milde im Blick. Es war nicht seine Heimat, die sie zurückließen und die kargen Felsen bedeuteten ihm nichts. Fjerda war für ihn kein Ort der schönen Erinnerungen. Hier hatte er Mila verloren und Nastja, die ihm gute Freunde gewesen waren. Er hatte die Unbarmherzigkeit der hiesigen Schneestürme gespürt und die grausame Effektivität der Drüskelle. Er war mit dem Schlitten den ganzen weiten Weg bis nach Elling gereist, nur um dort an Bord dieses Schiffes zu schleichen. Nie würde er die Kälte der endlosen Nächte vergessen, oder das gruselige Knacken, wenn der Schlitten überraschend über eine Eisfläche fuhr. Nein, er würde Fjerda nicht vermissen, auch wenn es ihm ein kostbares Geschenk bereitet hatte.   In einer geschmeidigen Bewegung legte er den Arm um Tjelvars Schulter. „Hast du Angst?“, fragte er ihn. Sein Begleiter löste den Blick nicht von der Küste, doch er nickte knapp. „Ich weiß so gar nichts über Ravka“, murmelte er. Yarik lachte. „So ging es mir mit Fjerda“, gab er zu, „Als ich her kam, wusste ich gerade mal, welche Farbe der Schnee hat, wenn er vom Himmel fällt. Kein Mensch hat mir erzählt, wie Djerholm aussieht, oder Elling. Und wie verdammt wundervoll seine Bewohner sein können, wenn man sie nur lässt.“ Ein dünnes Lächeln schlich sich auf Tjelvars Lippen. „Die von Djerholm, oder die von Elling?“, fragte er zuckersüß. Yarik zuckte mit den Schultern. „Beide, nehme ich an. Vor allem aber die weit verstreut lebenden Menschen der Provinz. Du weißt schon, die die halbtote Stinktiere im Schnee auflesen, nur um sie mühsam wieder aufzupäppeln.“ „Und die dann eines Tages merken müssen, dass ihr Stinktier gar kein Stinktier mehr ist?“ „Vielleicht haben sie einfach nicht genau genug hingesehen?“ „Dann sollten sie das wohl bei Gelegenheit nachholen.“ „Dringend.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)