Das kalte Herz von Sydney (4. Kalendertürchen 2019) ================================================================================ Kapitel 1: 6. November ---------------------- 6. November Nervös klopfte Integra Hellsing mit ihren Stift immer wieder auf das Stück Papier, das vor ihr lag. Es hatten sich bereits deutliche Beulen in das oberste Blatt des dicken Berichts gedrückt, doch das bemerkte sie nicht. Viel zu sehr war ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet. An diesem kalten Novembertag schien das Glück nicht auf ihrer Seite zu sein. Schon seit geraumer Zeit hatte es erhöhte Vampiraktivität im Norden von Redbridge gegeben. Am heutigen Abend hatte sie schließlich genaue Informationen über den Standort bekommen und den Befehl gegeben, das Vampirnest auszuheben. Der Großteil der Truppen war bereits vor Ort doch sie kamen nicht voran. Das alte, verfallene Haus im Claybury Park, das den Blutsaugern als Unterschlupf diente, erwies sich als ein strategisch gut gewählter Standpunkt. Ein Eindringen war für Menschen, auch wenn es geschulte Einsatzkräfte waren, kaum möglich, solange es durch die Untoten verteidigt wurde. Sie hatte die Situation vollkommen falsch eingeschätzt. Fast drei Jahre lang war sie nun schon für die Organisation verantwortlich und selbst ganz am Anfang hatte sie kaum jemals eine derartige Fehlentscheidung getroffen. Es würde kein Weg daran vorbei führen, dass sie sich die Lage vor Ort ansah, wie sie es ursprünglich sowieso vorgehabt hatte. Ein Telefonat würde nicht ausreichen um diesen Einsatz zufriedenstellend zu beenden. Es war bereits nach Mitternacht gewesen, als sie über die Schwierigkeiten informiert worden war. Nun schlug die Pendeluhr ein Uhr. Umso mehr verwunderte es die junge Frau, dass ihr Ruf nach Alucard keine Wirkung zeigte. Etwas, dass sonst höchstens untertags passierte, wenn er noch zu schlafen pflegte. Ein weiteres Mal, dieses Mal eindringlicher, rief sie nach dem Vampir. Erneut passierte nichts. Ein kleines Äderchen trat an Integras Stirn hervor, der Bleistift mit dem sie ihr unruhiges Gemüt beruhigen wollte, zerbrach zwischen ihren Fingern. Eigentlich hatte sie angenommen, dass sie über diese lästige Phase des Machtkampfes schon hinaus waren. Zwar verging kaum ein Tag, an dem er nicht in irgendeiner Art und Weise ihre Autorität in Frage stellte, doch das waren Kleinigkeiten. Höchstens unbedeutende Machtspielchen, verglichen mit dieser offenen Befehlsverweigerung. Sie wusste nur zu gut, dass sie eigentlich noch nicht einmal die Stimme erheben musste, um ihn zu sich zu rufen. Alleine der Gedanke, dass sie ihn zu sprechen wünschte, reichte normalerweise aus. Ein Umstand, der nicht nur Vorteile hatte, doch vergrößerte das in ihren Augen nur noch mehr das Ausmaß der Frechheit die sich der Vampir einmal mehr herausnahm. Sie hatte im Grunde genommen weder den Willen noch die Zeit sich jetzt mit einem aufmüpfigen Untergebenen zu befassen, doch die Situation verlangte danach. „Alucard! Das ist die letzte Aufforderung!“, brüllte sie in den leeren Raum. Doch der Einzige, der darauf reagierte war ihr Butler. Besorgt betrat Walter den Raum um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war und dem Grund für das Schreien herauszufinden. Fragend hob er eine Augenbraue. „Gibt es ein Problem?“, erkundigte sich der Butler. „Das Problem treibt seit drei Jahren sein Unwesen in diesem Haus!“, war Integras gereizte Antwort. „Dieser Bastard missachtet meine Befehle!“ „Aber…“ „Kein Aber!“, schnauzte sie während sie ihre Schreibtischschublade öffnete und ihre Beretta herausnahm. Es war Zeit klar zustellen, wer hier wessen Herr war. Ohne auf weitere Protestversuche des Butlers einzugehen schlug sie den Weg in den ungeliebten Keller ein. Dass ihr der alte Mann dabei hinterherlief beirrte sie nicht im Geringsten. Ohne anzuklopfen stieß sie die schwere Tür zu Alucards Räumen auf, die Pistole bereits einsatzbereit in der Rechten haltend. Integra hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem Bild, das sich ihr bot. Vom Schein einiger Fackeln beleuchtet konnte sie die Gestalt des Vampirs gut ausmachen und auch das Chaos sehen, dass in dem tristen Raum herrschte. Rund um den Vampir herum lagen die Reste seines Gelages, das eher an ein gigantisches Besäufnis, als an eine Mahlzeit erinnerte. Dutzende leere Blutbeutel und Weinflaschen bedeckten den Boden um den großen Sessel in dem der Vampir tief und fest zu schlafen schien. „Sir, Ihr solltet wirklich nicht…“, versuchte es der Butler erneut. „Alucard!“, schrie sie, erneut den alten Mann ignorierend. „Beweg dich du Bastard!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit regte sich die große Gestalt des Vampirs. Eines seiner roten Augen öffnete sich und starrte sie an. Ein eisiger Schauer lief Integra den Rücken hinab und ließ ihre Nackenhaare zu Berge stehen. Dieser Blick alleine reichte, um sie an ihrem Unternehmen zweifeln zu lassen. Doch sie wusste, dass sie zu Ende bringen musste, was sie begonnen hatte. Würde sie jetzt zurückweichen, hätte sie alles, wofür sie die letzten Monate und Jahre gekämpft hatte verloren. Sie unterdrückte das Verlange Alucards Blick auszuweichen und starrte stattdessen ihrerseits zurück. Es vergingen lange Sekunden in denen sie ihre gesamte Willenskraft aufbieten musste. Schließlich erhob er sich langsam aus seiner im Schlaf zusammengesackten Haltung. Schneller als es das menschliche Auge wahrnehmen konnte hatte er sich erhoben und stand nun direkt vor ihr. Das Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze verzogen, die spitzen Eckzähne durch ein grausames Grinsen entblößt. Integra war froh darüber, dass ihr Körper in eine Starre verfallen war und ihr Vorhaben sich Durchzusetzen nicht durch eine reflexartige Fluchtbewegung verriet. Der Vampir beugte sich zu ihr hinunter bis sein Gesicht nur Millimeter von ihrem entfernt war. Ein Knurren drang aus den tiefen seiner Kehle. „Ich habe dir einen Befehl gegeben!“ Innerlich verwünschte sie sich dafür, dass sie diesen Satz bei weitem nicht so selbstsicher herausgebracht hatte, wie sie es vorgehabt hatte. Alucards Reaktion fiel anders aus als erwartet. Er tat nichts. Lediglich ein kurzer Seitenblick auf den geschockten Walter, der hilflos daneben stand, folgte. Dann drehte er sich abrupt um, um sich wieder auf seinen Sitzplatz zu begeben. „So so, die Herrin hat also gerufen?“, spottete er. „Alucard…! Treib es nicht zu weit!“ Innerhalb eines Sekundenbruchteils stand er wieder vor ihr und hatte sie gegen die Wand gedrückt, eine Hand an ihrem Hals, so dass sie kaum Luft bekam. Die Beretta fiel aus Integras Hand. Vollkommen schutzlos war sie ihm nun ausgeliefert. „Vielleicht bin nicht ich es, der es heute zu weit treibt, Hellsing!“ Das letzte Wort betonte er mit sichtlicher Abscheu. „Lass mich los…!“, keuchte Integra. „Dummes kleines Mädchen…“ Während seine Linke immer noch ihren Hals gegen die Mauer drückte begann seine Rechte mit einer Strähne ihres Haars zu spielen. „dummes, dummes, kleines Mädchen…“ Versonnen sog er den Duft ihrer Haut ein. „legt keinen Wert auf die Vergangenheit…“ Integra wollte sich nicht ausmalen was passiert wäre, wenn Walter in diesem Moment nicht zwischen Alucard und sie getreten wäre. Sie sah nur ein stumpf glänzendes, leicht verrostetes Stück Metall, das der Butler wie eine Waffe vor sich hielt. Einen Moment lang fragte sie sich, welcher Wahnsinn von ihm Besitz ergriffen haben musste, dass er sich dem Untoten lediglich mit einem lächerlichen Stück alten Eisens als Verteidigung in den Weg stellte. Doch zu ihrem grenzenlosen Erstaunen wich der Vampir mit einem hässlichen Fauchen zurück. Wie eine Raubkatze lauerte er nun in geduckter Haltung einige Schritt weit entfernt. Entgeistert starrte die junge Frau abwechselnd den Butler und den Vampir an. „Was zur Hölle…?“ „Das lässt Erinnerungen wach werden, oder?“, wandte sich Walter an Alucard. „Auch andere denken an jenen Tag.“ Ein weiteres Fauchen ertönte, doch es klang nicht mehr ganz so aggressiv wie das letzte. „Walter?“ Der alte Mann lächelte, ehe er Integra aufklärte. „Das ist das Messer, dass das kalte Herz des Grafen durchbohrte. In jener Nacht, in der van Helsing ihn für immer an seine Linie band, genau heute vor 93 Jahren. Es wurde aufbewahrt für Fälle wie diesen. Bisher hat es noch keiner gewagt ihm an diesem Tag etwas befehlen zu wollen.“ Wieder einmal wurde Integra bewusst, dass ihr Vater viel zu früh von ihr gegangen war. Er hatte nie die Gelegenheit gehabt ihr darüber zu berichten. „Dann wollen wir diese Tradition nicht brechen, oder?“, antwortete sie, ohne das leichte Zittern aus ihrer Stimme verbannen zu können. Die Spannung, die beinahe greifbar im Raum gelegen hatte, begann sich zu verflüchtigen. „Eine weise Entscheidung.“ Keiner sprach jemals wieder über diesen Vorfall. Von diesem Tag an, dem 6. November 1990, war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass Alucard an diesem Datum nicht behelligt wurde. Eine einzelne Freiheit im Leben in Knechtschaft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)