Let it go von Emerald_Phoenix ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es ist erstaunlich warm wenn man bedenkt, dass schon Herbst ist. Die Bäume tragen ihre bunten Blätter, verlieren aber bereits die ersten. Die Stadt hat die Laubkäfige aufgestellt, wo die Anwohner das zusammengetragene Laub hineinwerfen können, wenn sie es nicht selbst für einen Komposthaufen oder ein Herbst- und Winterquartier für die Tiere im Garten verwenden wollen.   Jetzt am Mittag scheint die Sonne hell herunter. Die wenigen weißen Wolken am Himmel haben es auf ihrer Wanderung nicht eilig.   Es weht ein warmer Wind, wie man ihn im Sommer erwarten würde. Die Blätter rascheln in einem beruhigenden Lied. Überall blühen noch die Blumen und Büsche und scheinen sich ihre buntesten Farben für den Herbst aufgespart zu haben. So hell, bunt und friedlich ist es hier. Weit weg von den großen Städten ist es nicht nötig, in ein Dorf zu fahren, um eine derart ruhige und friedliche Gegend zu finden. Kaum ein Auto fährt hier die Straße lang. Schon erstaunlich, wie viel Frieden sich in einer mittelgroßen Stadt finden lässt.   Es ist auch kaum jemand unterwegs. In den Einfahrten der meisten Einfamilienhäuser steht das Garagentor offen und deutet an, dass deren Bewohner Arbeiten sind. Oder Einkaufen. Weiter die Straße runter ist eine Bäckerei mit einem Café. 250 Jahre Tradition wirbt es über einem der großen Fenster. Das war beim letzten Mal noch nicht da. Die Stadt ist schon älter, es ändert sich hier nichts so schnell, aber dass hier in den letzten Jahren Geld in die Fassaden gesteckt wurde ist offensichtlich. Der alte bröckelnde Klinker der Bäckerei wurde entfernt. Von den nicht unbedingt gleichen Backsteinen in bräunlichem Ton hat man sich verabschiedet. Sie sind roten Backsteinen gewichen, die geradezu perfekt zugeschnitten wurden. Obwohl man sieht, dass die Fassade und auch Fenster und Eingangstüren neu sind, hat die Bäckerei noch immer ihren alten Charme behalten. Der nun rote Klinkerbau fügt sich perfekt ein in die Wohnsiedlung mit ihren Klinkerbauten in unterschiedlichen Farben.   Daneben, in seinem schon etwas Älteren eher beigen aber gut gepflegten Klinkerbau, ist noch immer der kleine Markt, der dieses Viertel mit dem Nötigsten versorgt. Sicher gibt es auch nicht weit entfernt Discounter und größere Supermärkte, aber hier ist noch immer dieser kleine Nachbarschaftstreff, in dem man auch heute noch viele Sachen ohne große Marken aber in großen Beuteln und Boxen bekommt. Im Schaufenster sieht man sie noch, die großen Beutel mit Kaffee- oder Cappuccino-Pulver oder mit dem Kinderkaffee. Nach fast 20 Jahren gibt es ihn also immer noch, diesen speziellen Kinderkaffee, den es nicht mal in der Großstadt gibt. Und auch sonst nirgendwo.   Beim Öffnen der Ladentür ertönt noch immer die kaputte alte Türglocke von damals. Mit ihrem Sprung klingt der Ton etwas seltsam, aber noch immer so vertraut, als wäre es gestern gewesen, als ich ihn das letzte Mal hörte. Ein bisschen was hat sich hier schon verändert. Die alten, teils klapprigen Regale wurden ersetzt. Die neuen Regale aus dunkelbraunem Holz sehen älter aus, fassen aber mehr als die alten Regale und so bleibt jetzt mehr Platz zwischen den Regalen. Die Produkte auf den Regalen sind Großteils noch die bekannten regionalen Sachen und Marken, teils mit einem moderneren Logo. Aber wirklich neue Saschen sind in der Unterzahl. Was sich nicht geändert hat ist, dass Kaffee, Kakao und Tee noch immer ein großes Regal an der linken Wand einnehmen. Auch hier vieles das Altvertraute, was mich aus der Zeit zu reißen scheint. So sehr erinnert mich das Bild der ganzen Beutel und Packungen an früher. Heute nennt man sowas eher „Retro“. Für mich ist es Heimat. Kindheit. Der große Beutel mit dem Kinderkaffee ist noch immer grau. Keinerlei Zierde. Das Label sieht noch fast genauso aus wie damals. Noch immer steht dort schlicht Kinderkaffee und darunter die Liste mit den Inhaltsstoffen und Zubereitungsempfehlung drauf. Nur leichter fühlt es sich an. Aber als Kind ist ja alles größer und schwerer. Mit vier großen Beuteln gehe ich zur Kasse. Die ist auch neu. Nicht mehr das alte Teil mit seinen klackernden Tasten und dem ratternden Bonrad. Eine moderne kleine Kasse, wie man sie heute überall findet.   „Oha, da scheint es aber eine sehr durstige Meute zu Hause zu geben!“   Aus den Erinnerungen gerissen sehe ich auf und der Kassierer ist ein Mann um die fünfzig, aber ihn kenne ich nicht. Gut, der alte Wisterkamp war bereits alt, als ich noch klein war und hier eingekauft hatte. Manche Dinge ändern sich halt doch. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und bezahle, packe die Beutel in meinen Rucksack, wünsche noch einen schönen Tag und gehe. Vor der Tür bleibe ich noch stehen, höre dem abnehmenden Bimmeln der kaputten Klingel zu und warte, bis die Tür ins Schloss fällt. Die Tür schleift kurz, bleibt hängen und fällt dann mit einem Klacken und einem Zittern der Scheibe in der Tür zu. Manche Dinge ändern sich aber auch gar nicht.   Aus der Bäckerei kommt eine alte Frau und ruft nochmal zurück, „Und grüß deine Mutti Gertrude schön. Ich bring dann Sonntag Kuchen mit!“ Von innen erklingt ein „Mach ich! Schönen Tag noch Mathilde!“, bevor die Tür zufällt.   Gertrude und Mathilde sind also noch hier. Das sollte nicht verwundern. Engagiertere Frauen hat man selten gesehen. Ob sie sich trotz des mittlerweile hohen Alters noch beim Roten Kreuz engagieren? Zuzutrauen wäre es ihnen.   Schon beim Eintreten laufe ich gegen diese typische unsichtbare Wand aus Wärme, wie sie nur in Bäckereien zu finden ist, die noch nach der alten Schule backen. Es riecht nach frisch gebackenen Brötchen und Kuchen. Die ganze Inneneinrichtung hat man ausgetauscht. Die alte klobige Holztheke mit Auslage hat man gegen eine moderne, aber noch immer aus Holz gefertigte ersetzt. Helles Holz gegen dunkles getauscht. Obwohl der Thekenbereich viel schmaler wirkt, liegt offensichtlich mehr in der Auslage. Früher gab es hier nur vier schmale Tische mit je zwei Stühlen. Jetzt haben hier größere Tische mit je vier Stühlen Platz gefunden. Die aufgehängten Bilder sind aber noch dieselben. Das alte Jagdgemälde, der ganze Stolz von Gertrudes Mann, dem städtischen Jäger. Ein paar Landschaftsbilder vom alten Park und alten Bauernhöfen. Und hinter dem Tresen hängen wieder die alten Familienfotos, die weit zurückreichen. Aber dort gibt es auch neuere. Auf einigen ist auch die ältere Frau hinter der Theke in jüngeren Jahren mit ihren Geschwistern und, wie es aussieht, auf anderen mit ihrem Mann und eigenen Kindern zu sehen.   Während sie jemandem hinten in der Backstube noch zuruft, dass die Kaffeekränze aus sind, sehe ich mir die Auslage an. Viele alte Bekannte aus Kindertagen sind auch hier erhalten geblieben, aber da sind auch Macarons und Cupcakes. Scheinbar läuft die Bäckerei noch immer gut. Dafür spricht auch das ausgebaute Café, denn erst jetzt sehe ich, dass es um die Ecke weitergeht. Dort wo vorher mal das Lager war.   „Guten Tag! Was darf ich Ihnen bringen?“   Natürlich erkennt sie mich nicht. Ich war noch klein, als sie fortging, um in die Großstadt zu gehen. Überlegen brauche ich nicht lange.   „Einen großen Kakao mit Sahne und ein Stück von dem Apfelkuchen.“   „Gerne. Nehmen Sie doch schonmal Platz, ich bringe es Ihnen gleich an den Tisch.“   Ich nicke nur und gehe direkt zu dem Tisch in der Ecke am Fenster und setze mich so, dass ich den Eingang und die Theke weiter sehen kann. Während ich die Frau beobachte überlege ich, ob ich nach Melanie fragen soll. Eigentlich hatte ich fast damit gerechnet, dass sie hier wäre. Immerhin wollte sie immer die Bäckerei übernehmen. Auf der anderen Seite bin ich froh, dass ihre Schwester hier ist.   „Ein großer Kakao mit Sahne und einmal Apfelkuchen. Guten Appetit!“   Sie stellt die Sachen auf den Tisch und lacht mich geradezu an, während ich nur ein Danke flüstere und feststellen muss, dass sie ihre fröhliche Art so gar nicht verloren hat. Scheinbar war die Großstadt nichts für sie.   Einen Moment sehe ich auf den Kakao und den Kuchen. Die Sahne ist frisch gemacht, nicht aus der Sprühdose. Nur Frisch kommt auf den Tisch, pflegte die alte Gertrude zu sagen. Der Apfelkuchen war, wie hier üblich, über den Äpfeln mit Teigstreifen belegt worden und nach dem Backen kam der Hagelzucker drauf. Auf diese Weise gab es keine klebrige Zuckerschicht, aber der Zucker hielt so an dem frisch gebackenen Teig fest.   Den Kakao nehme ich und während ich aufsehe, stutze ich.   „Warum lachst du so?“   Ich blinzle.   „Du bist so doof! Kannst mir ja auch sagen, dass ich Sahne auf der Nase hab!“ „Du hast Sahne auf der Nase“, flüstere ich.   „Brauchen Sie noch etwas? Ich kann Ihnen noch Sahne für den Kuchen geben, wenn Sie möchten.“   Irritiert sehe ich zum Tresen und schüttele den Kopf. Als ich wieder auf den Platz mir gegenüber sehe, ist der Platz leer. Dort, wo vorhin noch ein Junge mit Sahne auf der Nase saß…aber das war unmöglich.   Den Kopf schüttelnd trinke ich von dem Kakao und merke, wie ich jetzt Sahne auf der Nase habe. Der Kakao hat eine ganz feine Zimtnote. Nicht wegen der Jahreszeit, sondern die hatte er hier immer schon. Die Sahne harmoniert perfekt mit dem Kakao. Sprühsahne wäre eine Beleidigung gewesen.   Nachdem ich die Tasse abgesetzt habe und mir die Sahne von der Nase wische um sie von meinem Handrücken abzulecken, sehe ich den Jungen wieder, wie er mit dem Finger auf mich zeigt und lacht und dabei fast den blauen Pullover mit Kakao bekleckert. Nach einem Blinzeln ist er wieder fort.   Mir läuft ein Schauer über den Rücken und ich merke, wie mein Herz anfängt zu rasen. Ich schüttle den Kopf und konzentriere mich auf den Apfelkuchen. Er ist noch warm. Die Äpfel sind so weich und süß, wie sie es früher waren. Vielleicht nicht ganz so süß wie in meiner Erinnerung, aber vielleicht ist auch das eine Änderung in der Wahrnehmung, wenn man Erwachsen ist. Während ich den Kuchen esse und den Kakao trinke sehe ich aus dem Fenster. Ab und zu sehe ich Leute vorbeilaufen. Eine junge Frau joggt mit einem ärmellosen pinken Top vorbei. Verrückte Tussi, schießt es mir durch den Kopf. Ab und zu kommt jemand in die Bäckerei und immer mal wieder fährt ein Auto vorbei. Insgesamt ist es sehr ruhig hier. Aber der frühe Nachmittag war hier nie die Zeit mit Hochbetrieb.   Nachdem ich fertig bin, bleibe ich noch einen Moment sitzen. Lange genug, dass sich mein Herzschlag wieder erholt hat. Bevor meine Gedanken wieder abschweifen, stehe ich auf und nehme den Teller und die Tasse und stelle sie auf den Tresen, um dann zu bezahlen.   „Hat es Ihnen geschmeckt?“   „Ja, danke.“ Wieder überlege ich kurz, ob ich sie nach ihrer Schwester fragen soll, entscheide mich dann aber dagegen. So gut befreundet waren wir nun auch nicht.   Als ich die Bäckerei verlasse, kommt es mir schon fast kühl vor. Ich lasse den Blick noch einmal schweifen, bis er auf den mit Bäumen gesäumten Teil der Straße weiter unten fällt. Wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich sehe in die andere Richtung und gehe. Weg von den Bäumen. Nach ein paar Schritten bleibe ich wieder stehen. Das war nicht der Plan.   Du bist nicht hergekommen, um dann wieder zu gehen. Nicht diesmal!   Mit Unbehagen in der Magengegend drehe ich mich wieder zu den Bäumen und sehe dann wieder die Straße rauf, wo sich gerade zwei Kinder über die Straße jagen.   Ein hoch auf verkehrsberuhigte Straßen.   Ich sehe wieder zu den Bäumen, atme einmal tief durch und gehe schließlich die Straße weiter runter. Nein, diesmal werde ich nicht davonlaufen. Nie mehr!   Je näher ich den Bäumen komme, desto kälter scheint es zu werden. Die Straße hat man dann doch mal erneuert an dieser Stelle. Damals war das mehr ein Schlaglochweg. Und auch den Gehweg hat man neu gepflastert. Als ich schließlich dieses hässliche Teil eines Gebäudes sehe, dass hier mit seinem Stahldach, den Stahltüren und dem Glasfenster über der Tür noch immer genauso fehl am Platz wirkt wie damals. Der Architekt, der sich dieses Monster ausgedacht hat, gehört wirklich geschlagen. Dieses extrem Spitz zulaufende Dach der kleinen Kapelle sieht einfach noch immer scheiße aus.   Mein Blick geht zur Seite, zu dem jüngeren verklinkerten Anbau, der wie ein krasser Gegenpol zur Kapelle gehört. Die Bodentiefen Fenster gewähren noch immer einen Blick auf die Räume dahinter und ich wende meinen Blick ab. Für einen Moment habe ich sie da wiedergesehen, wie sie da alle stehen. Und ihn.   Ich drehe mich um und gehe Weg von diesem kalten Ort, gehe die Straße weiter runter. Der Blumenladen ist noch da. Natürlich. Ebenfalls verklinkert. Zum Glück scheint gerade außer der Verkäuferin niemand da zu sein. Ich gehe hinein und sehe mich kurz um. Die Türglöckchen hallen noch nach. Da sollten sich die Großstädter mal ein Beispiel dran nehmen, dann müsste man nicht immer rufen, um jemanden an der Kasse zu haben oder bedient zu werden.   Das Sortiment mit den verschiedenen Blumen überrascht nicht. Ausgefallenere Blumen oder Kränze sind immer nur auf Bestellung da. Nur im Sommer gab es hier früher Abwechslung. Ich gehe zu den Rosen und bleibe vor einem Eimer mit weißen Rosen stehen und rieche daran.   „Die sind ganz frisch geschnitten. Riechen gut, nicht wahr?“   Ich sehe die Frau an, kenne sie aber nicht. Nun, ich hatte ja gehört, dass der Laden verkauft worden ist. Eine Frau mittleren Alters mit braunen Haaren kommt auf mich zu und lächelt. Sie wischt sich ihre Hände an der Gartenschürze ab.   „Schauen Sie noch oder kann ich ihnen schon helfen?“   „Fünfzehn von denen bitte“, sage ich und deute auf die weißen Rosen. „Gerne. Möchten Sie noch etwas Grün zwischen die Rosen oder sie vielleicht einzeln eingepackt haben?“ Die Frau sucht aus dem Eimer die makellosesten Rosen heraus. „Etwas Grün dazwischen sieht besser aus, ja.“ „Ja, das macht schon sehr viel her, egal zu welchem Anlass.“ Sie nimmt von verschiedenen grünen Pflanzen ein bisschen und bindet die Rosen zu einem Strauß. „Soll ich die Rosen einwickeln in Papier oder Folie?“ „Nein danke, das ist nicht nötig.“   Sie nickt höflich. Wer hier Blumen kauft, macht das in der Regel nur aus dem einen Grund.   Ich bezahle und verlasse den Laden. Ich sehe mich um, bevor ich die Straße überquere, obwohl das hier eher eine Formsache ist. Und dann stehe ich vor dem Eingang. Dem Südeingang, um genau zu sein. Die Gittertüren sind offen und an der Mauer an der Seite hängt ein Schild mit den Öffnungszeiten.   Ich schnaube. Öffnungszeiten, hier. Man sollte es den Menschen überlassen, wann sie herkommen. Ich bleibe stehen und zupfe an dem Grün. Ich sehe mich um. Es ist niemand zu sehen. Ein Blick zurück zum Laden und ich sehe auch die Frau nicht mehr.   Außer dem Rascheln der Blätter und vereinzeltem Vogelgezwitscher ist nichts zu hören.   Ich drehe mich um und will wieder gehen, als sich erneut mein Gewissen zu Wort meldet. Diesmal sollte es anders laufen. Tief atme ich ein und schließe kurz meine Augen. Ich zögere noch einen Moment, bevor ich mich wieder umdrehe und durch die offenen Türen hindurch gehe. Unter meinen Schuhen kann ich den roten Schotter knirschen hören. Sand oder Ascheplatz, was Besseres fällt den Gemeinden hier nie ein. Ich laufe zwischen den Reihen entlang, sehe nur vereinzelt zur Seite, um mich zu orientieren. Teilweise sieht es nicht mehr schön aus hier. Anscheinend sind viele Leute nicht mehr hier gewesen für die Pflege und haben auch niemanden beauftragt. Es dauert eine Weile, bis ich sie sehen kann. Die kleine stilisierte Engelsfigur auf dem Stein.   Ich bleibe stehen und mein Herz rast. Ich könnte noch gehen. Es ist niemand da… ich klammere mich an die Rosen. Nein, denn das war nicht der Plan. Es muss endlich Schluss sein mit dem Weglaufen!   Langsam gehe ich hinüber. Der Grabstein ist hoch und die Engelsfigur kommt mir kleiner vor als früher. Das Grab ist sehr gepflegt. Ein Blick zu dem Stein daneben zeigt mir, dass wohl seine Geschwister das Grab in Ordnung halten, denn neben ihm wurden vor einigen Jahren seine Eltern beigesetzt. Kein Jahr auseinander, in dem sie hier neben ihrem Kind beigesetzt wurden. Aber mehr als fünfzehn Jahre später.   Ich blicke wieder auf seinen Grabstein und greife die Rosen noch etwas fester.   Markus Eichberg Geboren am 27.6.1981 Verstorben am 14.10.1996 Als die Kraft zu Ende ging war es kein Sterben, es war Erlösung. Es gibt ein Wiedersehen an einem helleren Tag.   Die Tränen brechen sich Bahn und der Schmerz in meiner Brust schnürt mir die Luft ab. Ich falle auf die Knie und weine. Es ist nicht fair!   Die Erinnerungen drohen mich zu überwältigen. Da bist du, wie du den Böller in den Gully wirfst und wir beide weglaufen. Wie du durch das Maisfeld vor mir wegrennst. Wie du in der Motoradjacke von deinem Dad einen auf cool machst. Und dann bist du da mit dieser kranken Blässe im Gesicht. Mit den falschen Haaren und der Käppi, die du nie tragen wolltest. Und dann bist du da mit Glatze, wie du den Typen aus der Terrorclique sagst, dass sie ihr Lügen sein lassen sollen und du dir deine Freunde selbst aussuchst. Und dass sie nicht deine Freunde sein können, weil sie andere fertig machen, auch mich.   Meine Augen brennen und der Schmerz in meiner Brust ist noch immer da.   Ich sehe dich aufgebahrt im Kapellenanbau mit einer deutlich besseren Perücke. Als würdest du nur schlafen. Und ich sehe sie, die weinen und dich nicht so lange und so gut kannten wie ich. Auch sie, die mich immer fertig gemacht hat und die nicht bei deiner Trauerfeier dabei sein sollte. So empfand ich damals.   Aber mittlerweile weiß ich, Zeit ist relativ. Ein Mensch kann einem in so kurzer Zeit so sehr ans Herz wachsen, dass man ihn nicht lange kennen muss, um bei seiner Beerdigung zu weinen.   Ich wische mir die Nase an meinem Mantel ab und lege die Rosen an deinen Grabstein. Erst jetzt fallen mir die gepflanzten Blumen auf. Winterblumen. Mit Sicherheit eine Idee deiner Schwester.   „Hey…Ist lang her. Tut mir leid…,dass…dass ich nicht früher wieder gekommen bin. Hoffentlich kannst du mir verzeihen…“ Wieder breche ich in Tränen aus. All die Jahre habe ich keinen Fuß auf diesen Teil des Friedhofes setzen können. Ich war nicht für dich da, als du wieder im Krankenhaus warst. Ich hatte Angst.   „Du bist echt doof. Da gibt’s nichts zu entschuldigen. Du bist da und das zählt.“   Als ich aufsehe lachst du mir ins Gesicht, so wie du es an jenem Tag gemacht hast, als wir uns nach der Schule treffen wollten. Kurz bevor du wieder ins Krankenhaus musstest. Ich wische mir mit dem anderen Ärmel durchs Gesicht. Ich weiß, du bist gar nicht wirklich hier. Aber ich streite mich nicht mit meinem Hirn, dass es mir noch einmal eine Illusion gibt, dass du hier wärst. Und plötzlich ist es, als würde sich ein Knoten lösen, als würde eine unsichtbare Last von mir genommen.   Ich nehme den Rucksack vom Rücken, öffne ihn und ziehe die Nase hoch.   „Hab dir was mitgebracht.“   Ich hole einen der Beutel mit dem Kinderkaffee raus und mache ihn auf. Ich lache. Die Beutel sind jetzt wiederverschließbar. Mit der Hand nehme ich etwas von dem Pulver heraus.   „Auf die alten Zeiten, Markus. Du warst…bist mein bester Freund.“   Das Pulver streue ich über die Blumen auf dem Grab. Die Friedhofsgärtner würden mich wohl in Stücke reißen, würden sie das sehen.   „Es ist gut. Du kannst loslassen.“   Du siehst mich aufmunternd an.   „OK…“ Wieder kommen die Tränen und ich wische sie mir aus dem Gesicht. Du bist fort.   „Wir sehen uns wieder Markus. Und dann trinken wir den hier wieder zusammen!“   Den Beutel mache ich wieder zu und stecke ihn wieder in den Rucksack. Ich bleibe noch eine ganze Weile und erzähle dir, was alles so passiert ist.   Und trotzdem wünsche ich mir, du wärst wirklich hier und würdest mir was erzählen. Egal was…     Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)