Versprechen am Raureifmorgen von Lost_Time ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Als ich die Augen wieder öffnete lag ich auf einem feuchten, kalten Steinboden. Meine Handgelenke schmerzten fürchterlich. Genauso wie mein Kopf und mein Rücken. Ach, wenn ihr es genau wissen wollt, mir tat einfach alles scheiße weh! Mühsam kämpfte ich gegen das Dröhnen in meinem Kopf an, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich blickte mich um, konnte jedoch nichts als Schwärze ausmachen. „Lockwood? … Kipps? … Holly? … George? Seid ihr hier irgendwo?“, fragte ich etwas lauter. Zu schreien traute ich mich nicht, war auch gar nicht nötig, denn meine Worte hallten von den Wänden wider. Ich tastete zuerst nach meinem Degen, welcher unversehrt an meinem Gürtel baumelte, danach nach meiner Taschenlampe und hoffe, dass sie nicht zu Bruch gegangen war. Anscheinend hatte ich einmal mehr Glück im Unglück gehabt. Während ich sie anschaltete, schloss ich die Augen für zehn Sekunden, damit sich diese schneller an die neue Helligkeit gewöhnten. Ich hatte nicht vor die Taschenlampe lange anzulassen, schließlich konnten mir auch hier, wo immer ich auch war, Geister begegnen. Ich leuchtete den Fußboden entlang, welcher aus unebenen Steinen bestand. Er wirkte auf mich, wie ein alter Pfad. Wie ich kurze Zeit später feststellte, traf das Wort Straße wohl besser zu. Zu meiner linken und rechten Seite befand sich nichts. Erst, als ich weiter nach links steuerte, kam eine rohe Felswand in den Lichtkegel meiner Lampe. Von Kipps oder einem der anderen war weit und breit nichts zu sehen. Ich richtete den Strahl nach oben, doch er fiel nur in erdrückende Schwärze. Etwas helles oder ein Teil der Oberfläche waren nicht auszumachen. Dass ich mich unter der Erde befand, stand für mich völlig außer Frage. Es roch muffig und feucht hier. Frische Luft gab es nicht. Die Feuchtigkeit machte die gefühlte Kälte nur noch stärker. Die nächste Frage, die sich mir stellte, war, wohin sollte ich gehen? Ich blickte hinter und vor mich. Doch auch hier sahen beide Optionen gleich aus. Nach einigem Hin und Her, entschied ich mich nach vorne zugehen. Bevor ich los ging schaltete ich die Taschenlampe wieder aus und griff nach einer Kerze. Dabei streifte meine Hand ein kleines Stoffbündel. Es dauerte eine Weile bis ich mich darin erinnerte, dass dies die Adrenalinspritze sein musste, die ich von Holly bekommen hatte. Es war nichts Feuchtes am Tuch zu spüren. Anscheinend hatte auch die Spritze alles unbeschadet überstanden. Meine Hände taten sich schwer, die Kerze zu entzünden. Durch die Kälte und auch die Schmerzen, die immer noch spürbar waren, zitterten sie stark. Zuerst einmal verschüttete ich vor Zittern die Streichhölzer zu einem großen Teil auf den Boden. Diejenigen, die davon nicht nass wurden, brachen beim Versuch sie an der Reibfläche zu entzünden ab. Nach einigen leisen Flüchen und stillem Verharren, um nach Geistern Ausschau zu halten, gelang es mir endlich, die Kerze zu entfachen. Ihre Flamme tänzelte umher und würde mir sowohl Licht spenden, als auch als Vorwarnung vor Geistern dienen. So setzte ich meinen Weg fort und versuchte, mich wieder voll und ganz auf meine Geistersinne zu fokussieren. Die Schmerzsignale, die von allen Bereichen meines Körpers zu meinem Kopf gesendet wurden, auszublenden, gestaltete sich dabei als sehr schwierig. Mein Zeitgefühl hatte ich, dort wo ich war, schnell verloren. Meine Uhr war kaputtgegangen und zeigte nichts mehr an. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn alles heil geblieben wäre. Dennoch war ich glücklich darüber, dass nur sie ausgefallen war. Ein verlorener Degen wäre für mich wesentlich tödlicher gewesen. Mit Leuchtbomben allein konnte man sich schließlich nur kurzzeitig wehren. Mittlerweile hatte sich das Umgebungsbild verändert. Die kahlen Steinwände waren nicht mehr zu sehen, da sie von ziemlich alten und schrägen Steinhäusern verdeckt wurden. Der Pfad hatte sich zu einer schmalen Gasse entwickelt. Mir jagte immer wieder ein Schauer über den Rücken, während ich dort entlang ging und so einige Male blieb ich stehen, um mich zu vergewissern, dass es meine eigenen Schritte waren, die hier widerhallten. Sonst wirkte es hier sehr ruhig, auch wenn ich mit meinen inneren Sinnen etwas Schwaches wahrnehmen konnte. Die Schmerzen, welche ich versuchte auszublenden, sorgten jedoch dafür, dass ich es nicht genau verstehen konnte, was die feinen Stimmen sagten. Ich fragte mich, wo ich hier war. Von einer ehemaligen Stadt hatte George geredet. War das Leather, die dem Erdboden gleich gemacht worden war? Oder war ich woanders? War ich überhaupt noch in der Nähe der Reynolds Road Nr. 7? Die Flamme der Kerze begann zu flackern. Würde ich hier je wieder rauskommen? Würde ich je wieder in den warmen Armen von Lockwood liegen? Suchte er nach mir? Würde er mich finden? Die Antworten auf diese Fragen waren ungewiss und doch schlich sich immer wieder das Wort Nein in meine Gedanken. Ich würde hier sterben. Egal auf welche Weise, aber ich würde hier umkommen. Das stärker werdende Flackern der Kerze ließ mich blinzeln, zog mich aus meinen Gedanken. Dass ich erschöpft war, hatte ich gewusst, wie sehr, merkte ich erst jetzt. Ich begann, die Maladigkeit so gut es ging von mir abzuschütteln, um nicht in eine Geisterstarre zu verfallen. Denn mein Geisterindikator, die Kerze, flackerte wie verrückt. Als ich meinen Fokus wieder auf meine inneren Ohren legte und mich gegen eine der Häuserwände lehnte, hörte ich Pferde wiehern und Hufe trappeln. Schreie, das Knistern von Feuer und Schwertklingen, die aneinanderschlugen. Als ich die Augen wieder öffnete, war es hell in der Stadt und die Hitze eines Feuers war spürbar. Menschen liefen die Straßen entlang. Hinter einigen waren Reiter in Rüstungen. Kinder schrien und wurden von ihren Müttern oder wildfremden Frauen fortgeschafft. In der Ferne läutete eine Glocke. Es roch nach Blut und Tod. Ein Pferdeschnauben dicht an meinem Nacken ließ mich zusammenfahren. Die Verbindung zu der Vergangenheit des Ortes, welche ich durch die Berührung mit der Wand erfühlt hatte, riss ab und ich stand wieder im Dunkeln allein. Nun vielleicht doch nicht ganz so allein und so dunkel, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Kerze war erloschen, aber stockfinster war es dennoch nicht. Der Schatz ist unser. Helles Anderlicht strahlte hinter mir hervor und beleuchtete einen Teil der Straße. Nun, hätte es zumindest, wenn diese nicht auf einmal mit dichtem Geisternebel bedeckt gewesen wäre. Die Steine des Bodens waren kaum mehr zu erkennen. Langsam drehte ich mich um. Ziemlich nahe bei mir stand eine Ritterrüstung. Das Visier war hochgeklappt und leere Augenhöhlen starrten mich an. Aus einer räkelte sich ein Wurm und einige Hautfetzen hingen noch an einer Wange. Ich zückte meinen Degen und durchstieß den Alb, welcher sich manifestiert hatte. Die Erscheinung verschwand und Rauch stieg von meiner Klinge auf. Ich atmete tief ein und aus, um meinen Herzschlag wieder zu beruhigen und meine Sinne wieder zu öffnen. Stimmengewirr überflutete meine Ohren und ich schüttelte den Kopf, um den Sinn wieder zu verschließen. Doch es war nicht möglich. Sie waren zu penetrant, als dass ich eine Chance hatte, sie zu ignorieren. Ich sah in einiger Entfernung, wie sich der Alb von eben wieder manifestierte. Diesmal etwas Abstand haltend zu mir. Die Frage war nur, wie lange er diesen halten würde. Der Schatz ist unser, wiederholte er. Ich atmete erneut durch und versuchte es wieder mit meiner Methode. „Ich will ihn euch auch nicht nehmen.“ Gib uns den Schatz! Eine weitere Stimme drängte sich in den Vordergrund und ein weiterer Alb in einer Rüstung, sowie auf einem Skelettpferd sitzend, welches mit dem Hufen scharrte, erschien. „Ich habe keinen Schatz. Ich weiß nichtmal, wo er sein soll. Aber… ich kann euch helfen, ihn zu finden, wenn ihr mir sagt wo er sein soll.“ Gib uns den Schatz! Er will ihn für sich allein. Los, holen wir ihn uns! Bringt ihn zum reden. Mein Schwert wird seine Zunge lockern. Ein kaltes Lachen hallte in meinen Ohren wider. Mit jedem Satz erschienen mehr und mehr Geister hinter den ersten beiden. Ich stieß erschrocken Luft aus, welche als kleine Wolke hinauf schwebte. Meinen Degen fasste ich fester, während ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen. Es waren zu viele. Wenn ich wenigstens den Ausgang wüsste, hätte ich mir zumindest mit Leuchtbomben den Rücken freihalten können, aber so wäre es nur Ressourcenverschwendung gewesen. Die Alben kamen nun auf mich zu. Erst langsam, dann schneller. Ich war von dem Anblick kurzzeitig wie gelähmt. Ich befreite mich aus der aufsteigenden Geisterstarre, bevor sie sich noch tiefer in mir einnisten konnte. Mein Degen durchtrennte einen Geisterarm, welchen der Mutigste von ihnen nach mir ausstreckte. Dann feuerte ich eine Salzbombe auf die Geistergruppe, um mir einen Vorsprung durch die dunkle Stadt zugeben. Ich wusste nicht, wohin ich lief. Hier und da kam ich ins Straucheln, wenn ich über das unebene Pflaster lief, konnte aber immer noch das Gleichgewicht wahren. Die Geisterschar hinter mir hatte sich nur kurz von der Salzbombe beeindrucken lassen und begann ihre Aufholjagd. „Verschwindet! Ich weiß nichts von einem Schatz!“, schrie ich zu ihnen zurück. Wirkliche Hoffnung, dass sie mich verstanden, hatte ich allerdings nicht. Sie waren in ihrer Zeitschleife gefangen und hatten mich nun in diese eingebaut. Vor mir zeichnete sich eine Weggabelung ab und ich musste mich in Windeseile entscheiden. Wie lange würde ich ihnen noch entkommen können? Ich wusste es nicht und hoffte einfach, dass ich sie irgendwie doch abschütteln würde. Ich entschied mich für links und rannte mit meinem gezückten Degen weiter. Die Stimmen waren leiser geworden, aber immer noch präsent. Selbst das Pferdegetrappel der Hufe hörte ich noch. Ich riskierte es, mich einmal umzudrehen, um zu sehen, wie weit ich meine Verfolger abgehängt hatte. In der Ferne sah ich das Anderlicht aufleuchten. Ich war mir nicht sicher, vermutete aber, dass sie gerade die Kreuzung erreicht hatten. Vielleicht teilten sie sich ja auf. Ich hoffte, dass der Hall meiner Schritte nicht allzu deutlich war, um eine Richtung ausfindig zu machen. Ich versuchte, trotz des Laufens gleichmäßig sowie leise zu atmen und keine weiteren Geräusche von mir zugeben. Ich bog nach rechts in eine neue Gasse ein. Plötzlich bewegte sich unter mir etwas und ich geriet ins Straucheln. Bei dem Versuch mich mit dem anderen Fuß abzufangen, knickte ich um und landete unsanft auf den Boden. Aus Reflex streckte ich meine Arme voraus, um mich abzufangen. Dabei ließ ich meinen Degen los, welcher scheppernd zu Boden ging und im Nebel verschwand. Ihr wollt nicht wissen, was für Flüche ich in diesem Moment ausstieß. Fakt war, dass mein Plan leise zu sein nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Ich rappelte mich auf und suchte blind nach meinem Degen, während ich dabei feststellen musste, dass mein Knöchel immer noch so stark schmerzte, dass ich ihn kaum belasten konnte. Gib uns den Schatz!, hörte ich die Stimme hinter mir und ein Schnauben folgte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da hinter mir lauerte. Einen weiteren Fluch ausstoßend rannte – eher hinkte – ich weiter geradeaus und überlegte, wie ich die noch vorhanden Leucht- bzw. Salzbomben einsetzen konnte. Meine Überlegung endete, genauso wie mein Weg, in einer Sackgasse. Vor mir baute sich eine hohe Steinmauer auf, links und rechts begrüßten mich die kalten Häuserwände – natürlich ohne Fenster. Ich drehte mich um und sank an der Mauer hinunter. Das war es! Die Maladigkeit brauchte mich gar nicht anfallen. Ich kam selbst auf diese Erkenntnis. Mit dem Fuß kam ich nicht weit, selbst wenn ich mir mit meinen Bomben einen Weg freiräumte. Die Zeitspanne wäre zu kurz. Mittlerweile befand sich hinter dem Alb-Reiter wieder die restliche Schar von vorhin. Als der Reiter näher kam, griff meine Hand automatisch zur Leuchtbombe. Es war mir egal, wie viel Zeit ich hatte danach. Mein Überlebenswille meldete sich. Kampflos würden sie mich nicht bekommen! Ich presste entschlossen meine Zähne aufeinander und umklammerte die Bombe fester. Plötzlich gab es einen lauten Knall und helles Licht flutete die Umgebung. Ich sah, wie die Häuserumrisse sich deutlich von diesem Licht abhoben. Eine Druckwelle folgte, welche meinen Magen etwas durchschüttelte. Der Geisterreiter hielt inne und drehte sich um. Erneut leuchtete es hell auf, eine weitere Druckwelle folgte und die Geisterschreie wurden lauter. Nun drehte sich der Geist mir wieder zu und folgte unbeirrt seinem Plan. Ich packte meine Bombe aus, um sie nach ihm zu werfen, als mich helles Licht blendete. Schützend hielt ich meine Arme vor das Gesicht. Die Helligkeit verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Das Gleiche galt für die deutliche Druckwelle, die mir einen endgültig flauen Magen verschaffte, und die Aufschreie der Geisterarmee. Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich in das skelettierte Gesicht des Geisterpferdes blicken. Ich spürte die Kälte, die von ihm ausging an meiner Nase. Leichte Eiskristalle bildeten sich an ihrer Spitze. Nur wenige Zentimeter trennten mich von einer Berührung. Die Kälte begann mich zu lähmen. Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, wenngleich sie immer noch die Bombe umklammerte. „Beweg dich nicht!“, hörte ich jemanden rufen, dessen Stimme mir bekannt vorkam. Dann vernahm ich, wie etwas durch die Luft flog, dicht an meinem Gesicht vorbeirauschte und den Geist vor mir in zwei Hälften zerteilte. Wieder huschte etwas durch die Luft und zerschnitt den Geist sorgfältig bis er verschwand. Blinzelnd und zitternd versuchte ich, die Person vor mir zu erkennen, hinter der ein schwacher gelber Lichtschein leuchtete. „Lockwood, Schatz?“, fragte ich. „Äh, nein. Tut mir leid. Warte, ich hol die Geister zurück und sag ihm, dass er dich retten soll.“ Der Degen senkte sich und die andere Hand holte eine kleine, leicht demolierte, Petroleumlampe hervor, welche mir nun Kipps‘ Gesicht offenbarte. „Kipps?!“ „In voller Lebensgröße. Alles in Ordnung bei dir? Haben sie dich erwischt?“ Ich schüttelte den Kopf und spürte, dass ich wieder Kontrolle über meine Hand hatte. Ich steckte die Leuchtbombe wieder weg und rieb mir über die Nase, welche langsam wieder warm wurde. „Wo warst du? Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich, während ich seine dargebotene Hand ergriff, um wieder auf die Beine zu kommen. „Wo ich war und bin, keine Ahnung. Ich bin irgendwo in einem Haus zu mir gekommen. Dich zu finden war keine Herausforderung. Ich meine, eine ganze Geisterarmee war schon etwas auffällig.“ „Hey, ich hab sie nicht gerufen. Sie waren einfach da“, erklärte ich meine Lage. „Wie dem auch sei. Wir sollten hier weg, bevor unsere Freunde wiederkommen.“ Kipps drehte sich bereits zum Gehen um. Seine Augen, die durch die Brille übertrieben groß aussahen, blickten forschend in alle Richtungen. Ich sah mich ebenfalls im schwachen Schein seiner Lampe um. Der Geisternebel war dünner geworden, an einigen Stellen fehlte er ganz. Nicht weit vom Eingang der Gasse erblickte ich meinen Degen, welcher unter einem vermodernden Holzfass lag. Ich versuchte, darauf zu zueilen, doch mein Knöchel machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung. „Du bist verletzt?“, fragte Kipps verdutzt, „Wie ist das passiert?“ „Ich bin gestolpert im Geisternebel. Muss mir den Knöchel verstaucht haben. Meinen Degen habe ich auch verloren. Ich will ihn nur holen, dann können wir los.“ „Warte, ich mach das schon. Halt du die Sinne nach Geistern offen“, erwiderte Kipps. „Ich höre nichts. Es ist absolut ruhig.“ „Na, dann haben meine Leuchtbomben ja zumindest etwas gebracht.“ „Ist es noch weit dorthin, wo wir hinwollen?“ Ich schaute mir die Häuser an, an welchen wir vorbeigingen. Mein einer Arm lag über Kipps‘ Schultern und leitete seine Körperwärme an mich weiter, während er mich stützte. Die Lampe von ihm hielt ich in der Hand, welche über seinen Schultern lag. In der anderen hielt ich meinen Degen. Kipps‘ eine Hand lag dafür um meine Taille und unterstützte mich beim Gehen. In der anderen befand sich ebenfalls sein Degen. „Wir sind gleich da. Da vorne, der Palast. Da müssen wir rein.“ „In ein Haus?“, fragte ich überrascht, „Aber wir sind da viel leichter in die Enge zu treiben. Kipps, das ist Selbstmord!“ „Es ist ein Palast, kein Haus. Manchmal würde ich mir wünschen, du könntest mir auch einmal vertrauen. Lockwood läufst du auch blind hinterher.“ Seine Miene wurde ernst und sein Blick richtete sich stur geradeaus. Den Rest des Weges wechselten wir kein Wort. Ich stellte nur fest, dass er Recht hatte. Unser Ziel war wirklich ein Palast. Es waren zum Glück nicht so viele Stufen, wie man es aus Filmen her kannte. In der großzügigen Eingangshalle im Erdgeschoss leuchtete eine weitere kleine Petroleumlampe. Um sie herum lag kreisförmig eine Eisenkette, um diese wiederum Eisenspäne und ganz außen schloss sich ein feiner Salzkreis darum an. „Versuch mal, darüber zu steigen ohne etwas zu verwischen. Der Kreis ist klein, aber wir beide sollten einigermaßen drin sitzen können“, meldete sich Kipps zu Wort und half mir ins Innere. „Du hast einen Bannkreis gemacht?“, fragte ich ungläubig. „Ja, ich hatte ja noch die Kette von Lockwood. Ich habe sie nicht losgelassen.“ Ich rollte die Augen auf den anscheinenden Seitenhieb, schwieg jedoch. „Als ich in einem der Häuser aufgewacht war, hat mich eine Geisterdame hierhergeführt. Sie hat wohl etwas zu mir gesagt, aber ich konnte sie nicht hören. Ich habe mir dann gedacht, dass ich, bevor ich mich umschaue, nach dir suche oder die Geisterdame mörderischen Absichten nachgeht, ein Rückzugbannkreis nicht schaden kann.“ „Du wusstest, dass ich hier bin?“ „Zuerst nicht. Ich hatte gehofft, dass der Poltergeist dich auch hier nach unten gebracht hat und dass du noch lebst. Als ich die Stadt erkundet habe, hörte ich eine Bombendetonation. Da wusste ich, dass noch ein Lebender hier sein musste. Danach brauchte ich nur dem Anderlicht folgen. Und jetzt zeig mal deinen Knöchel her.“ Ich kam seiner Aufforderung nach und schob meinen Fuß zu ihm. Obwohl Kipps vorsichtig meinen Schuh auszog und meine zerfetzte Strumpfhose hoch bis zum Knie schob, konnte ich es nicht vermeiden, das Gesicht schmerzhaft zu verziehen. „Hm. Ziemlich dick und blau. Ich bin kein Arzt oder so, aber das sieht nicht sehr gut aus, Lucy.“ „Ach, das wird schon. Das ist gleich wieder besser, glaub mir.“ Kipps schwieg kurz. „Du bist nicht unverwundbar, Lucy. Genauso wie unsere Fähigkeiten ebenfalls vergänglich sind, wird auch dein Körper nicht mehr jede Verletzung auf die leichte Schulter nehmen.“ Ich sah ihn an, sein Blick ging ins Leere, als er ein Stück seines Hemdes zerriss, welches unter seiner Jacke hervorlugte. Vorsichtig und etwas strammer, als ich erwartet hatte, begann er damit, meinen Knöchel zu bandagieren. „Ich weiß“, wisperte ich, „Aber er ist sicher nur verstaucht.“ „Was wirst du später tun?“ „Später? Was meinst du mit später?“ „Wenn dein Gehörsinn verstummt.“ „Ich weiß es nicht. Ich denke, ein schönes Leben mit Lockwood führen. Aber daran will ich noch nicht denken. Ich bleibe im Hier und Jetzt, Kipps.“ Sein Blick ruhte auf mir, schien aber durch mich durchzusehen. Es war schwer für mich, seine Stimmung zu ergründen, da das Brillenglas seine Augen so verzerrte. „Da ist sie wieder“, sagte er dann völlig unerwartet. „Wer?“ „Die Geisterfrau, da vorne. Siehst du sie?“ Ich folgte seinem Fingerzeig und erblickte eine wunderschöne Frau in einem altmodischen, doch sehr edlen Gewand. Nun soweit schön zumindest, bis ich ihre Strangulationsmale am Hals sah. Ihr Mund bewegte sich, doch die Eisenkette schirmte die Worte ab. „Meinst du, du könntest sie verstehen? Sie scheint ein friedlicher Wiedergänger zu sein. Sie hat bisher zumindest keinen Angriff auf mich unternommen.“ „Wenn du mir hier wieder raushilfst und Rückendeckung gibst, versuche ich es“, sagte ich mit einem Hauch Zuversicht in der Stimme. Sie hat sie gebunden. Sie suchen vergebens den Schatz. Er ist nimmermehr hier. „Wer hat sie gebunden? Woran?“ Die Frau mit schwarzem Haar. Die Spieluhr bindet sie. Lässt sie suchen nach etwas, was sie vergessen haben. Die Frau schwebte die Treppe, welche in der Eingangshalle in den nächsten Stock führte, hoch und machte eine Geste, mir etwas zeigen zu wollen, doch als ich Anstalten machte, ihr zu folgen, spürte ich einen Widerstand, welcher an meinem Arm zog. „Lucy. Zurück in den Kreis schnell“, hörte ich Kipps. Ich hinkte in den Kreis zurück und achtete dabei darauf, dass ich nicht stolperte und etwas verschob. Kipps folgte mir, dann konnte ich sehen, weswegen wir zurück gehen mussten. Die Ruhe war vorbei und der Sturm kam. Metaphorisch gesehen. Ihr versteht? „Deine Geisterarmee ist wieder da.“ „Das ist nicht „meine“ Armee! Meinst du, der Kreis hält ihre Angriffe aus?“ „Ich denke eher nicht so. Bete dafür, dass sie nicht angreifen oder sich beim ersten Versuch davon abschrecken lassen. Und hast du hören können, was sie gesagt hat?“ Ich gab ihm wieder, was ich von dem Geist erfahren hatte. „Schatz?“ „Ja, davon sprachen die Rittergeister die ganze Zeit. Sie dachten, ich hätte ihn.“ „Okay. Und Frau mit schwarzem Haar, da muss ich irgendwie an Marissa denken. Das heißt, sie war hier unten und hat wieder irgendeinen Mist ausprobiert. Hört das denn nie auf!“, stöhnte er. Wir zuckten zusammen, als wir ein Zischen hörten. Der Geist wich zurück, als der Salzkreis ihn verletzte. Doch lange hielt der Schock bei ihm nicht an und der Salzkreis sowie der Eisenspänenkreis wurden mit einem Windhauch zerschlagen. Lediglich die Kette verrückte sich nicht. „Das sieht nicht gut aus. Meinst du, wenn wir die Spieluhr finden und verplomben, dass sie verschwinden, Lucy?“ „Keine Ahnung, die Geisterfrau sagte zwar, dass die Spieluhr sie bindet, aber nicht wie viele bzw. welche Geister.“ „Hm.“ Der erste Rittergeist startete einen Angriff auf uns, doch die Kette sorgte dafür, dass seine Hand verpuffte. Ich blickte hinab auf die doch recht dünne Kette und wieder hinauf zur der Geisterschar. Die Kette würden einem geballten Angriff keinen Widerstand leisten können. „Ich hab doch noch etwas gut bei dir, wenn ich mich recht entsinne.“ „Wir werden bald tot sein und du denkst über so etwas nach? Ja, du hast noch was gut bei mir. Zweimal sogar, wenn man es genau nimmt“, murmelte ich den letzten Teil heraus. „Na dann will ich zumindest einen schon mal. Lucy, ich habe einen Plan, aber dafür musst du mir vertrauen. Tust du das?“ Er sah mich an und beugte sich zu mir runter. So dicht, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. „Ich… ich denke schon.“ „Okay. Ich gebe dir Rückendeckung, du versuchst so schnell wie möglich hoch zu kommen, suchst diese Spieluhr und verplombst sie.“ „Was? Auf gar keinen Fall! Bist verrückt Kipps?!“ Ich konnte nicht glauben, was ich da vernahm. Das war nun wirklich ein Selbstmordkommando, in erster Linie für ihn. Wie wollte er es mit einer Geisterarmee alleine aufnehmen, welche auf ihn fokussiert war? Wem oder was wollte er denn damit etwas beweisen? Der nächste Moment überrumpelte mich genauso, wie sein wahnsinniger Plan wenige Sekunden zuvor. Seine warmen Lippen legten sich auf die meinen. Nach einem Moment der Überraschung stieß ich ihn von mir und meine Hand flog automatisch durch die Luft. Ich konnte den Reflex nicht unterdrücken. Feurig rot, wie sein Haar, leuchtete nun auch seine Wange, welche Bekanntschaft mit meiner Hand gemacht hatte. Während die Geister nun anfingen, sich gegen unseren Schutzkreis aufzubäumen, standen wir nur schweigend da. Ein Grinsen zeichnete sich dann auf Kipps‘ Mund ab. „Dein Temperament, deine Treue… ich beneide Tony sehr. Nichtsdestotrotz sollten wir uns an die Umsetzung meines Plans machen.“ „Hast du mir nicht zugehört? Du bist verrückt!“ „Nicht viel mehr als Tony. Du hast doch gesagt, dass du mir vertraust. Außerdem haben wir keine Zeit mehr, uns einen anderen Plan auszudenken.“ Er hatte Recht. Die überschlagenden Kettenenden bebten und wackelten unter den Angriffen. Man konnte förmlich sehen, wie sie mehr und mehr auseinander glitten. „Na gut“, stimmte ich seinem Plan zu, „Aber nimm noch ein paar Bomben von mir.“ Er übernahm zwei Leuchtbomben von mir und zündete sie genau in dem Moment, als die Enden auseinander glitten. Im Schutze des grellen Lichts, welches ich mit den Händen versuchte abzuschirmen, und des Lärms hinkte ich so schnell ich konnte in Richtung der Treppe. Hinter mir hörte ich den Degen von Kipps durch die Luft segeln. Ich blickte mich nicht um, versuchte mehr schlecht als recht zu rennen. Durch den provisorischen Verband war dies sogar einigermaßen möglich. Oben angekommen blickte ich die beiden Gänge entlang, überlegend wohin ich gehen musste. Bis ich sie wieder sah. Die Geisterfrau schwebte vor mir und ließ mich durch eine einladende Handbewegung wissen, dass ich ihr folgen sollte. Ich hörte das schwere Atmen von Kipps, die Stimmen der aufgebrachten Geister und eine weitere Bombe hochgehen. Die Frau führte mich eine weitere Treppe hinauf und blieb in einem Zimmer stehen. Die Einrichtung ließ nicht mehr genau erkennen, um was es sich mal gehandelt hatte. Das Einzige, was ich gleich bemerkte war, dass der Fußboden nicht mehr der Sicherste war. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Als ich wieder zur Geisterdame spähte, deutete sie mit dem Finger auf eine Kiste. Die Spieluhr, mutmaßte ich. Die Größe allerdings überraschte mich sehr. Sie war so groß wie ein durchschnittlicher Nachttisch. Ich griff in meine Tasche und suchte nach dem Silbernetz. Als ich es fand und wieder zur der freundlich lächelnden Wiedergängerin sah, überlegte ich nur kurz, bis mich entschied sie noch einmal etwas zu fragen. „Wo sind wir?“ Ihr seid in der vergessenen, unterirdischen Stadt Leather. „Wie kommen wir hier fort zurück an die Oberfläche?“ Geht vom Palast nach rechts und folgt dem Flussbett. Nimm die Bärin dort mit. Ein Mädchen an der Oberfläche sucht sie, um Frieden zu finden. Nun beeile dich. Erlöse diese Stadt. Gib ihr wieder Frieden. Gerade als ich sie fragen wollte, wem ich den Teddybären, welcher auf einem vermoderten Bettenrest lag, geben sollte, hörte ich einen Schrei von unten. Mir lief die Zeit fort. Ich breitete das Silbernetz zu seiner vollen Größe aus und warf es über die Spieluhr. Die Geisterfrau verschwand augenblicklich, mit ihr die Stimmen der anderen Geister in meinem Kopf. Stille kehrte ein. Ich stolperte hektisch die erste Treppe hinab und fand Kipps auf den Stufen der anderen liegend. Er hielt sich seinen Fechtarm. „Ich wusste, dass du es noch rechtzeitig schaffst, Lucy“, meinte er und quälte sich zu einem Grinsen. „Was ist?“ Ich nahm zwei Stufen mit einmal und stolperte erneut. Nur der beherzte Griff zum Treppengeländer verhinderte einen unliebsamen Sturz. Als ich bei Kipps ankam, sah ich was war. Seine Hand begann, sich bläulich zu verfärben und Kipps fror. Einer der Geister musste ihn berührt haben. Die Geistersieche begann sich auszubreiten. „Und ich dachte, ich könnte alt werden. War wohl nichts.“ „Nein, Kipps. Sag so etwas nicht. Ich weiß, wie wir hier herauskommen. Du musst nur durchhalten.“ „Lucy, wir wissen beide, dass die Sieche schneller sein wird. Schneller als die Sanitäter mit der Adrenalinspritze.“ Adrenalinspritze schoss es mir durch den Kopf und ich hatte Mühe, vor Freude nicht zu weinen. Ich griff in meine Tasche und zog – zu Kipps‘ Erstaunen – die wichtige Adrenalinspritze hervor. „Will ich wissen, woher du sie hast?“ „Später Kipps. Später. Jetzt halt still“, meinte ich und versuchte dabei, meine unruhigen Finger unter Kontrolle zu bekommen, während ich den lädierten Jacken- und den Hemdärmel nach oben schob, um die Spritze setzen zu können. So etwas hatte ich noch nie gemacht und das merkte mir selbst Kipps an. Ohne, dass ich etwas dagegen tun hätte können, griff er nach der Spritze, zog mit den Zähnen die Kappe ab und stach sie sich in den Arm. Das Zittern begann augenblicklich nachzulassen und die bläuliche Färbung schien sich nicht weiter auszubreiten, für das Erste zumindest. „Möchte ich wissen, wo du den Umgang gelernt hast?“, fragte ich nun sichtlich erleichtert und mit einem entsprechenden Grinsen auf den Lippen. „Wenn du solche Einsätze, wie ich sie gehabt habe, gehabt hättest, könntest du das auch, glaub mir. Wo ist die Spieluhr und was ist das Pelzige da in deiner Tasche?“ Kipps und ich hatten das Silbernetz über der Spieluhr noch einmal zusätzlich gesichert. Die BEBÜP musste hierher und sie später entsorgen. Tragen kam in unserer Verfassung nicht in Frage. Was es mit den Teddybären auf sich hatte, hatten Kipps und ich in einem langen Gespräch zurück an die Oberfläche irgendwann auch geklärt bekommen. Wir vermuteten, dass der Bär, die „sie“ war, nachdem das Geistermädchen in der Reynolds Road Nr. 7 fragte. Auf die Frage, wieso das Geistermädchen dann aber in dem Haus an der Oberfläche spukte, hatte Kipps auch eine Antwort. Nachdem er den Teddy kurz gemustert hatte, hatte er entdeckt, dass dem Tier ein Arm ausgerissen worden war. „Wahrscheinlich ist ihr Geist an diesen Teddy gebunden, aber sie hat aktuell nur den ausgerissenen Arm und brauch den ganzen Bären, um wieder zur Ruhe zu kommen.“ „Das heißt, wir müssen den Arm vom Teddy finden, ihn annähen und dann ist Ruhe?“ „Wahrscheinlich ja. Und wir wissen in welchen Bereich der Arm nur sein kann.“ „Überall, wo keine Eisenlegierung verwendet worden ist.“ „Richtig.“ Der Weg, den die Wiedergängerin im edlen Gewand uns beschrieben hatte, schien richtig. Uns gegenseitig stützend, spürten wir bald einen frischen Luftzug und einen Anstieg des Bodens. Er war steil und kostete viel Kraft. Als wir das gefrorene Gras unter unseren Stiefeln knirschen hörten, atmeten wir beide hörbar auf. Erschöpft ließen wir uns ins Gras sinken, wobei Kipps verletzter Arm, immer noch kalt war und somit den frischen Raureif nicht zerstörte. Unter meiner wärmeren Hand begann er zu schmelzen und die Feuchtigkeit auf meiner Haut ließ mich erschaudern. „Lass mich nur kurz verschnaufen, dann können wir weiter“, bat Kipps und schloss kurz die Augen. „Ist gut.“ Bald würde es Morgen werden. Die Nacht musste weichen, denn am Horizont war bereits ein helllila Streifen zu erkennen. Es war keine Wolke am Himmel auszumachen. Sterne blinkten uns von oben zu. Wahrscheinlich würde es ein klarer Tag werden. „Glaubst du wirklich, Tony wird jemals aufhören, Geister zu jagen?“ Kipps schob seine Brille nach oben. Die Abdrücke dieser waren wie immer deutlich um seine Augen zu erkennen. „Ich glaube, er wird es immer wollen. Egal, ob an vorderster Front oder in der hinteren“, erwiderte ich, auch wenn ich mit diesen Gesprächsinhalt nicht gerechnet hatte. „Er wird immer an vorderster Front sein. Ich habe Angst, dass er dich dann nicht mehr wahrnimmt.“ „Was? Wieso sollte er mich nicht mehr wahrnehmen? Kipps, sei nicht lächerlich. Auch er wird die Gabe verlieren, wie ich.“ „Nein. Er kann mit der Brille hier, genauso wie ich, weiterkämpfen. Genauso wie Holly und George. Sie sind alle Sehende und wir wissen, dass es George bald gelingen wird, weitere dieser Brillen zu fertigen. Doch du? Deine Spezialität ist das Hören in erster und einzigartiger Linie. Auch das Fühlen in zweiter Linie ist gut ausgeprägt bei dir. Die Orpheus-Gesellschaft hat noch nichts erfunden gehabt, was diese seltene Fähigkeit des feinen Hörens aufrecht erhält.“ Ich wollte den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, doch meine Worte verpufften noch bevor ich sie aussprechen konnte, als mir klar wurde, dass er Recht hatte. Er wandte sich mir zu. Der Abdruck meiner Hand war nicht mehr zu erkennen auf seiner Wange. Warum er mich geküsst hatte, darauf hatte ich keine Antwort gefordert und es schien, als würde ich sie auch nicht einfordern müssen. „Es hat lange gedauert, bis ich es verstanden habe, es begreifen konnte. Seit einigen Wochen ist mir aber endlich klar, dass nicht der Wunsch, Geister bis ans Lebensende zu jagen, mich zu Lockwood & Co getrieben hat – nicht nur zumindest – sondern du. Deine Fähigkeit faszinierte mich von Anfang an. Nachdem ich euch beigetreten war, bemerkte ich immer mehr an dir, was mir gefiel. Lucy, ich weiß, dass ich alles aufgeben würde für dich. Ich würde dich nie alleine lassen, wenn du irgendwann keine Fähigkeiten mehr hättest. Ich würde die Brille in Cubbins Gesicht werfen und mit dir ein erwachsenes Leben führen.“ Sein Gesicht war dichter gekommen und er sah mir tief in die Augen. „Ich bin besser für dich als Tony. Glaub mir.“ Ich spürte seine gesunde Hand meine Wange streicheln. Seine Lippen kamen dichter und legten sich erneut auf die meinen. Ich war zu gelähmt, um gleich zu reagieren. Seine Worte nagten an meinem Inneren, lösten Szenarien aus in meinem Kopf, die einfach nicht wahr sein konnten. Ich entzog mich seinem Kuss und wieder löste sich der Reflex in meiner Hand. Doch diesmal hielt Kipps‘ gesunde Hand sie auf. „Diesmal bin ich vorbereitet“, lachte er. Es klatschte und seine andere Wange begann sich rot zu verfärben. Er verzog überrascht das Gesicht und ließ meine Hand los. Das hätte ihm so passen können, dachte ich mir und ließ mir nicht anmerken, dass die Ohrfeige mit der anderen Hand mir selbst weh getan hatte. „LUCY?? KIPPS??“, hörten wir Stimmen unsere Namen rufen. Wir drehten unsere Köpfe in die Richtung, aus der sie kamen und mit etwas Mühe erkannten wir Silhouetten, welche sich vom anderen Schwarz abhoben. Es waren Lockwoods, Georges und Hollys Stimmen und sie kamen mir gerade recht. Mit Elan sprang ich auf und verzog das Gesicht, als mein Knöchel mir beleidigt die Realität erklärte. „WIR SIND HIER! KIPPS IST VERLETZT!“, schrie ich zurück. Die Silhouetten bewegten sich schneller und es tauchten noch weitere auf. Taschenlampenstrahlen blitzen auf und richteten sich auf unsere Position aus. „Lockwood wird mich niemals allein lassen. Hörst du? Niemals!“, sagte ich trotzig zu Kipps und begann, langsam auf die anderen zu zu hinken. „Wie du meinst. Aber Lucy…“ Ich hielt inne und drehte mich zu ihm. „Wenn er dich doch nicht gut behandelt oder allein lässt, dann werde ich da sein. Ich würde die Geisterjagd aufgeben für dich. Ich verspreche es dir, ich werde für immer auf dich warten und immer für dich da sein.“ Die Farben am Horizont wurden heller. Das kräftige Blaulila machte einem orangenen Schein Platz. Der Morgen verdrängte die Nacht und ließ den Raureif an den Bäumen und dem Gras wie abertausende Diamanten funkeln. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und wandte mich den näher kommenden Schritten zu. Es war keine Überraschung, dass es Lockwood war, der uns zuerst erreichte. „Luce, um Himmelswillen. Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Er zog mich in eine feste Umarmung gab mir einem Kuss auf den Kopf. Ich genoss seine Umarmung und schloss erschöpft die Augen. „Ja, mir geht es gut. Aber Kipps wurde von einem Geist berührt. Ich hab ihm eine Adrenalinspritze gegeben, aber er muss dringend behandelt werden.“ Lockwood ließ mich los, nur um mir einen innigen Kuss auf die Lippen zu geben, welchen ich gierig erwiderte. „Ist gut. Ich bin froh, dass es dir gut geht. Und dir natürlich auch“, meinte er an Kipps gerichtet, welcher den Blick von uns abwandte. „Geh zu den Sanitätern, ich bleibe bei Kipps und komme gleich zu dir.“ Ich nickte und löste mich widerwillig von ihm. Lockwood machte Anstalten, seinen Mantel auszuziehen, um ihn Kipps zum Wärmen zu geben, was zu Protesten führte. Ich blickte die beiden an und folgte dann Lockwoods Worten. Holly war es, welcher ich als nächstes in die Arme lief. „Lucy, ihr lebt. Gott sei Dank. Wir hatten solche Angst um euch, als ihr auf einmal von dem Poltergeist mitgerissen worden und in diesem Tunnel verschwunden seid, den wir vorher entdeckt hatten.“ Sie umarmte mich mit Tränen in den Augen. Tröstend strich ich ihr über den Rücken, was ein weiteres Schluchzen auslöste. „AUA, TONY!“ Kipps Worte ließen uns beide aufhorchen. Wir sahen herüber zu Lockwood und ihm. Der Rothaarige hatte Lockwoods Mantel über seinen Schultern liegen und der Körper von meinem Liebsten zitterte. Als Lockwood mit ernster Miene aufstand und zu Holly meinte, sie solle sich mal Kipps betroffenen Arm ansehen, war ich mir allerdings nicht sicher, ob er wirklich vor Kälte oder Wut am Körper zitterte. Er kam wieder auf mich zu und hob mich auf seinen Arm. „Ähm Lockwood, was… was soll das?“ „Dein Fuß ist verletzt, ich lasse nicht zu, dass du weiter gehst und es verschlimmerst. Ich bringe dich zu den Sanitätern, damit sie es sich angucken können.“ Ohne Widerstand ließ ich ihn mich tragen. Die ersten Sanitäter, die uns nun entgegenkamen, schickte er zu Kipps. Als ich über seine Schulter blickte, stellte ich erstaunt fest, dass Kipps eine aufgeplatzte Lippe hatte. Sie blutete frisch. Hatte Quill etwa… ? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. „Lockwood… ich...“, begann ich, nicht sicher ob ich ihn auf die Lippe von Kipps ansprechen sollte. „Ja, was ist?“, fragte er ernst zurück, wobei etwas liebevolles im Unterton zu erahnen war. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Ich bin so froh, wieder bei dir zu sein.“ „Und ich bin froh, dich wieder bei mir zu haben“, flüsterte er zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)