Versprechen am Raureifmorgen von Lost_Time ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Wo ist sie? „Wo ist wer? Wen meinst du? Sag es mir. Nur so kann ich dir helfen.“ Wo ist sie? Verdammt, so kam ich nicht weiter. Meine sonst so gute Methode schien an diesem Geist abzuprallen. Vielleicht war sie auch einfach zu sehr in ihrer Schleife gefangen. Mein Blick glitt zur Seite, wo meine Kollegen standen. Einer mit der Hand an seinem Degen und einem im leichten Wind, wehenden Mantel. Hinter ihm jemand mit bereits gezücktem Degen und einer festsitzenden Brille über den Augen. Sie warteten nur auf mich. Auf mein Zeichen. Ich presste die Lippen aufeinander, als der Geist noch etwas näher kam. Im selben Moment sah ich, wie meine Begleiter reflexartig die Degenhand bewegten, doch ich gab ihnen zu verstehen, dass alles in Ordnung war. Soweit man halt von alles in Ordnung reden konnte, angesichts des drohenden Todes. Ich konzentrierte mich wieder auf den Geist vor mir. Sein kühler Geisternebel stieß gegen meine schweren Arbeitsschuhe und ließ Frost an diesen hoch wachsen, wie Raureif. So wie die Kälte sich bereits in meinem Körper ausgebreitet hatte, waren meine Lippen sicherlich leicht bläulich verfärbt. „Ich will dir helfen. Sag mir, was du suchst.“ Ich schloss meine Augen und öffnete meine inneren Sinne weit, um jedes noch so wichtige Geräusch zu vernehmen. Ein Rauschen war zu hören und dann wieder die Stimme der Geisterdame. Etwas Neues sagte sie jedoch nicht. „Achtung!“, hörte ich nur einen Schrei aus meiner Welt. Als ich die Augen aufriss durchbohrte eine feine Degenklinge die Geistererscheinung. Ektoplasma spritzte auf meine Kleidung und Rauch stieg an der Stelle des Degens auf, welche die Gestalt getroffen hatte. „Was sollte das?“, fauchte ich Quill Kipps an, der über seine Schulter zu mir blickte. „Danke, dass du mir das Leben gerettet hast, war heute nicht mehr zu haben in deinem Sprachschatz, was?“, fragte er gereizt zurück. „Ich hatte alles unter Kontrolle!“ „Hattest du gar nicht! Du wärst fast tot gewesen!“ „Überhaupt nicht wahr! Ich hätte es beinahe geschafft, dass der Geist sich mir anvertraut.“ Nein, das hätte er vielleicht nicht. Es hätte sicherlich noch einige Zeit gebraucht, dennoch war ich sauer darüber, dass Quill mir meinen Versuch versaut hatte. „Hört auf, alle beide. Alles in Ordnung bei dir, Luce? Nimm es Kipps nicht übel. Hätte er nicht eingegriffen, hätte ich es getan. Der Geist hätte dir beinahe einen Kuss auf die Lippen gehaucht und das ist nun wirklich meine alleinige Aufgabe“, mischte sich nun der Junge im langen Mantel ein. Anthony John Lockwood. Chef der Agentur Lockwood & Co. und mein Freund. Ihr wisst schon, wie ich es meine, wenn ich sage Freund. Es hatte ziemlich lange gedauert, aber zwischen uns herrschte schon vom ersten Tag unserer Begegnung diese Magie. Okay, lass ich das mal, sonst löst sich bei mir doch ein Würgereflex. So eine Art der Erzählung ist eher Hollys Ding. Ich blickte zu Kipps, welcher gerade wieder den Mund öffnete, es sich dann aber anders überlegte. Auch ich biss mir auf die Lippen und vermied eine weitere schnippische Bemerkung. Wenn wir alle eins in unserem bisherigen Leben gelernt hatten, dann, dass Gefühle an einem Einsatzort nichts zu suchen hatten. „So, nun sag Luce, was hat der Geist dir gesagt?“, fragte Lockwood, während er mir wieder aufhalf. Erst jetzt bemerkte ich, wie kalt mir war und wie steif sich meine Glieder anfühlten. Doch die Berührung von Lockwoods warmer Hand schien den ganzen Raum um mich zu erwärmen. „Nun, die Wiedergängerin sagte die ganze Zeit „Wo ist sie?““, erzählte ich. Auf den Gesichtern meiner Kollegen zeichneten sich fragende Blicke ab. „Mehr nicht?“, fragte Kipps schließlich. „Nein.“ „Hm. Das ist nicht viel, aber gut, lasst uns darüber nachdenken bis morgen. Vielleicht hat George noch etwas herausgefunden“, schlug Lockwood vor. Wir kehrten zurück zu unserem doppelt gesicherten Bannkreis aus Eisenketten, in dessen Mitte ein kleiner Teekessel auf einem Campingkocher thronte. Die Dämpfe des heißen Wassers tänzelten durch die Luft, hinaus aus dem Bannkreis und formten dort einige, teils floral wirkende Muster. „Es war eine gute Idee, Kipps, das Wasser schon aufzusetzen.“ „Ich weiß Tony. Ich hab genug Einsätze gehabt, um das perfekte Timing hinzubekommen.“ Wir ließen uns auf dem Boden des Kreises nieder. Während Kipps uns allen heißes Wasser auf unsere mit Teebeuteln ausgestatteten Tassen kippte, hielt mir Lockwood eine Tafel Schokolade hin. Ich nahm ein Stück und ließ es genüsslich auf meiner Zunge zergehen. Mein Blick schweifte indes durch den Raum. Ich stellte mir vor, wie dies alles vor einigen Jahrzehnten ausgesehen haben mochte und stellte mir die Frage, wie lange wir noch unser Leben aufs Spiel setzen müssen würden, bis wir die Taten der Vergangenheit ungeschehen gemacht hatten. Ach so, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Entschuldigt, das passiert schon mal, wenn man mitten im Einsatz ist. Mein Name ist Lucy Joan Carlyle. Ich besitze die Gabe des Hörens in einer unvergleichlichen Art. Ich bin Geisterjägerin von Beruf. Was, Geister gibt es nicht, sagt ihr? Na, in eurer Welt will ich gerne leben. Seit mehr als 50 Jahren wird unser geliebtes Großbritannien von einer Geisterplage heimgesucht. Die Behörden nennen es „das Problem“. Die Behörde zur Erforschung und Bekämpfung Übersinnlicher Phänomene – kurz BEBÜP, das andere merkt sich eh keiner – welche ihren Sitz bei Scotland Yard hat, versuchte seit Jahren mit Hilfe der verschiedenen Agenturen, das Ganze in den Griff zu bekommen. Doch nur durch uns, Lockwood & Co., waren sie in der Lage, den wahren Grund für das Problem herauszufinden. Nun ist wieder ein Jahr ins Land gegangen und wir kämpfen immer noch. In erster Linie junge Menschen. Kinder und Teenager. Denn nur wir sind in der Lage, die Geister zu sehen. Erwachsene sind ihnen schutzlos ausgeliefert. Ab dem 20. Lebensjahr wird jeder Agent blind, taub und gefühlskalt gegenüber Geistern. Etwas, was mir mittlerweile doch etwas Sorge macht, schließlich nähere ich mich auch dieser „magischen“ Grenze. Quill Kipps ist hierbei eine Ausnahme. Er kann immer noch Geister sehen, obwohl er mit 23 wirklich zum alten Eisen gehört. Dies schafft er jedoch nur dank einer speziellen Brille, die wir mal geklaut… ich meine gefunden haben. Ja, genau, gefunden. Aber das ist eine andere, ziemlich lange Geschichte. Vorsichtig nippte ich an meinem noch heißen Tee. Eigentlich hatte Lockwood unseren Einsatz für heute beendet, doch wir wären schön blöd, jetzt alles abzubauen, wenn der Geist noch aktiv war. Nein, wir würden bis zum Morgengrauen warten, bis der Geist seine Kraft verlor und uns dann für morgen einen hoffentlich finalen Schlachtplan ausdenken. Solange würden wir in unserem Bannkreis ausharren und eventuell noch einige Eindrücke von diesem Haus erhaschen. „Ist euch auch aufgefallen, dass der Geist sehr zentral erscheint“, brach dann Quill die Stille. „Ich habe ihn in mehreren Räumen gesehen“, erklärte Lockwood. „Ja, schon klar Tony. Aber der Geist ist nur hier im Erdgeschoss anzutreffen. Er hat sich hier als erstes gezeigt. In den anderen Etagen hat er sich nicht manifestiert.“ „Das stimmt. Ich spüre seine Präsenz auch mehr hier unten. Besonders Maladigkeit ist vorherrschend. Was ziemlich ungewöhnlich ist. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass etwas nicht stimmt“, mischte ich mich ein. Die anderen Beiden nickten zustimmend. Schweigen kehrte wieder ein und Lockwood ließ noch einmal die Schokoladentafel wandern. „Was meint ihr, was meint sie mit „Wo ist sie?“?“ „Das ist schwer zu sagen, Luce. Ich persönlich denke, sie wird sicher einen ihr wichtigen Gegenstand meinen.“ „Oder vielleicht ihren Körper.“ Lockwood und ich sahen zu Quill herüber. Er hatte ja schon immer eine etwas negativere Einstellung und zugegeben: Unrecht hatte er gewiss auch nicht. Viele Geister waren an ihren Körper gebunden. Doch irgendwie hoffte ich inständig, dass uns ein Leichnam erspart blieb. Ich erinnerte mich an den Fall der blutigen Braut, deren Geist an ihren weißen Schleier gebunden war, das einzige Kleidungsstück, dass bei ihrem Tod rein geblieben war. Ich nahm einen weiteren Schluck Tee und beobachtete die Schatten auf den Boden, welche mit voranschreitender Zeit zu wandern begannen. Die Sonne am nächsten Tag kitzelte meine Nase. Ich ließ meine Hand hinter mich gleiten und ertastete eine ordentlich gelegte Bettdecke. Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass die andere Betthälfte leer war. Verschlafen warf ich einen Blick auf die Uhr. Es bereits zwölf Uhr mittags. Wie ich mir denken konnte, war Lockwood bereits auf den Beinen. Vermutlich war ich wieder die Letzte. Die vergangene Nacht war ohne weitere Vorkommnisse vonstattengegangen. Ab und zu hatte ich ein schwaches Wispern wahrgenommen. Ich war allerdings zu erschöpft, um noch einmal aus dem Bannkreis zugehen. Als Hörende hatte ich es nicht so leicht. Ich hörte nicht nur Stimmen der Geister, sondern auch die Geräusche, die ihre Kleider machten und Echos der Vergangenheit. Setze ich zu lange diese Gabe ein, erschöpft es mich. Ein Grund, weswegen man stets in einem Team arbeitete. Geister waren tückisch, die vom Typ Zwei besonders. Sie erkannten unsere Schwächen und schlugen zu, wenn man am wehrlosesten war. Allein gegen einen Geist war also stets eine schlechte Idee, ganz gleich, wie gut die eigenen Gaben waren. Langsam schälte ich mich aus dem Bett und öffnete das Fenster, um frische, kühle Herbstluft hinein zulassen. Der gemütliche Teil des Jahres war dabei, zu gehen und der unbequeme Teil würde bald vor der Tür stehen. Im Winter, wenn die Nächte immer länger wurden, hatten die Geister die Oberhand, wenngleich sie dank dem Ende von Marissa Fittes üblen Machenschaften schon deutlich weniger wurden. Wie immer war Lockwoods Zimmer in einem tadellosen Zustand und das, obwohl ich seit einem halben Jahr hier mit eingezogen war. Meine Dachkammer wurde gelegentlich von Kipps bewohnt, wenn wir uns in einem mehrtägigen Einsatz befanden. Das gleiche galt auch für Holly, welche dann in Jessicas, Lockwoods verstorbener Schwester, ehemaligen Zimmer übernachtete. Dennoch hielt es beide nicht dauerhaft bei unserer Agentur-WG. Nach einem kurzen Blick in unseren gemeinsamen Kleiderschrank, entschied ich mich für mein Lieblingsoutfit, was gleichzeitig auch mein Standardoutfit war im Herbst. Einen knielangen schwarzen Rock, eine schwarze Leggins und, da es draußen wirklich frisch war, wieder einen dunkelgrauen Pulli. Holly hatte zwar mal zu mir gesagt, ich sollte mal etwas Farbe in mein Leben bringen und hatte mich auch zu einer ihrer Shoppingtouren mitgeschleift, doch keine Farbe konnte mich wirklich begeistern. Schweigsam waren wir beide von der Tour wiedergekommen und hatten unseren Frust ausgiebig in einigen Tassen Tee ertränkt. Ein Duft von Speck und gebratenen Eiern stieg mir sogleich in die Nase, als ich die Tür öffnete. Ein leichtes Geklapper war ebenfalls zu vernehmen. Auch wenn der Duft wirklich verführerisch war, konnte ich mich dennoch dazu durchringen, erst ins Badezimmer zu verschwinden. Ich muss euch, denke ich, nicht erzählen, dass ich ziemlich Gas gab. Mein Magen hing mir bereits in den Kniekehlen, wie er mir unmissverständlich klar machte. In der Küche angekommen, entdeckte ich zu meiner Überraschung nur eine Person und es war nicht Lockwood. „Morgen, Lucy.“ „Morgen, Kipps. Wo sind die anderen und Lockwood?“ „Nun, nachdem wir lange auf dich gewartet haben, beschloss Tony, schon mal die gestrige Nacht auszuwerten. Speck, Eier und Toast?“ „Ja, gerne.“ Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder und bekam wenige Augenblicke später bereits einen Teller zugeschoben. Ich sah zu, wie Kipps ein paar Speckstreifen und Eier in die Pfanne warf, sowie Toastbrot in den Toaster stopfte. Insgeheim ärgerte ich mich, dass ich nicht mitbekommen hatte, dass Anthony aufgestanden war. „Auf jeden Fall“, fuhr Kipps ungefragt fort, „hat sich Cubbins zurück in die Bibliothek begeben, weil es ihm etwas spanisch vorkommt. Tony will noch ein paar Vorräte auffüllen und Holly hatte gestern Nacht noch einen spontanen Auftrag gehabt, nachdem sie vom Einfangen des Mauerklopfers zurückkam und kommt heute später.“ „Was Großes?“, fragte ich und stand auf, um mir das Toast, welches gerade freudig in die Luft hüpfte, zu holen. „Nein. Nur ein Schemen.“ Ich nickte verstehend. Schemen und Mauerklopfer gehörten zu den Geistern des Typ Eins. Ich habe euch ja eben schon gesagt, dass man Geistern nie allein gegenüber treten sollte. Bei Geistern von Typ Eins konnte man eine Ausnahme machen. Besonders bei diesen beiden. „Ich habe mich bereit erklärt, auf deine Wiederbelebung zu warten und dafür zu sorgen, dass du vor Hunger nicht vor die Hunde gehst.“ Seine grünen Augen blickten zu mir herüber und irgendwie konnte ich aus diesen nicht schlau werden. Normalerweise war Kipps leicht zu durchschauen. Er hatte den Hang zu Sarkasmus, welcher aber seit den gemeinsamen Abenteuern abgeschwächt war. Außerdem hatte er immer noch das Bedürfnis, mich zu ärgern oder sich mit Lockwood zu duellieren. Auch wenn das beides etwas abgenommen hatte. Die Diskussionen und Wortgefechte mit George hingegen standen weiter an der Tagesordnung und Holly war sehr froh, wenn die beiden nicht zusammen in einen Raum waren. Ich belächelte diese Sache größtenteils, wenngleich sie ziemlich nerven konnten. Auf Einsätzen waren beide immer professionell. Im Gegensatz zu mir gestern, erinnerte ich mich. Zwar hatte ich es nicht zum Äußersten kommen lassen, aber das war in erster Linie Kipps zu verdanken. Ich biss mir auf die Lippen und starrte auf das Weise Tuch, auf dem bereits einige Notizen zu finden waren und eine Karikatur von Kipps, die wieder mal ein Zeugnis davon war, was sich zwischen ihm und George heute früh abgespielt hatte. Denn gestern war die Skizze noch nicht da gewesen, das wusste ich. Ich hörte es neben mir klappern und kurz darauf stellte Quill eine heiße Pfanne mit Speck und Rühreiern auf den Tisch. „Guten Hunger.“ „Danke“, erwiderte ich und starrte die Pfanne an. „Irgendwas nicht in Ordnung? Hab die Eier falsch-herum geschlagen? Ich drehe die halt immer im Uhrzeigersinn.“ „Was?“ Ich blinzelte und sah zu Kipps, auf dessen Gesicht sich ein kurzes Grinsen abzeichnete. „Ob was mit den Eiern nicht stimmt oder dem Speck. Du rührst gar nichts an vom Essen.“ „Oh, ach so. Nein, nein. Alles in Ordnung. Ich… es ist nur...“ Erneut verlor sich mein Blick auf das Tuch, dann aber zwang ich mich, wieder zu Kipps zu sehen. Etwas unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Ich muss euch sagen, Fehler einzugestehen ist nicht unbedingt meine größte Stärke. Aber ich bin mir sicher, damit nicht allein zu sein. „Hör zu Kipps, wegen gestern Nacht. Ich... es tut mir Leid, dass ich dich angepflaumt und diesen Streit begonnen habe. Das… das war unprofessionell und hätte uns alle in Gefahr bringen können. Und… danke, dass du mich vor der Geistersieche bewahrt hast.“ Der letzte Teil des Satzes kam wirklich etwas kleinlaut rüber. Ich war immer noch etwas sauer auf ihn, dass er sich eingemischt hatte. Doch nach dem Schlaf und einer Unterhaltung mit Lockwood vorweg im Bett, wusste ich, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Er war einfach nur schneller als Lockwood gewesen – was zugegeben auch nicht oft vorkam. Kipps war immer etwas vorsichtiger, auch wenn er nun die Möglichkeit hatte, wieder zu sehen wie noch vor ein paar Jahren. In den Jahren, in denen er nur Berater sein konnte, weil seine Fähigkeiten vergangen waren und er die Brille noch nicht hatte, war er übervorsichtig geworden. Übervorsichtigkeit sicherte ihm, wie jedem Erwachsenen, das Leben. Diese wieder abzulegen, war schwer bis schier unmöglich, wie er mir bei einem Einsatz verraten hatte. „Kein Problem. Passiert halt mal, dass man einen schlechten Tag hat“, hörte ich Kipps sagen. Er widmete sich wieder dem Herd und schien die gröbsten Verschmutzungen zu reinigen. „Danke.“ Eine gewisse Erleichterung machte sich in mir breit und endlich schaffte ich es auch, mir etwas von dem Essen zu nehmen. Ein schlechtes Gewissen konnte einem echt den Appetit verderben. „Du hast was gut bei mir, Kipps.“ „Wirklich? Ich hab einen Wunsch frei bei Miss Carlyle?“, fragte er süffisant und ich rollte leicht die Augen. „Ja. Aber hänge das jetzt ja nicht an die große Glocke. Wenn du mir damit den ganzen Tag in den Ohren liegst, hetze ich dir den Geist auf den Hals.“ „Welchen genau? Der aus dem Haus, der dir nicht zuhört oder der Geist hier in dem Glas, der nicht mehr mit dir reden will?“ Er deutete mit dem Finger in die Richtung wo Lockwoods, und nun auch mein, Schlafzimmer war. Auch ohne, dass er noch etwas genaueres sagte, wusste ich, wen er meinte. Den Schädel. Wer der Schädel war, nun auch das war eine lange eigene Geschichte. Aber kurz gesagt: Der Schädel ist ein menschlicher Totenkopf in einem Silberglas, einem Behälter, der zur Sicherung und Versiegelung von Quellen dient. Der Schädel war eine Quelle von einem Geist. Dieser Geist war etwas besonderes, denn er war ein seltener Typ Drei Geist. Mit ihm konnte ich mich unterhalten wie mit meinen lebenden Mitmenschen. Wobei ich sagen musste, dass er schon ein garstiger Zeitgenosse war. Aber in unserem letzten großen, gemeinsamen Abenteuer war er ein wahrer Freund gewesen. Leider hatte er sich seitdem nie wieder in dem Glas manifestiert. Ich frage mich immer noch, ob er zerstört worden ist, also seine Seele, oder ob er doch den Weg auf die andere Seite gegangen ist. Die endgültige andere Seite. Oder ob er noch da ist und mich einfach nur ärgern will. So ganz sicher ist sich da wirklich niemand von uns. Fakt ist, mit ihm gesprochen habe ich seit einem Jahr nicht mehr und einem Geist seiner Art habe ich seit dem auch nie wieder gesehen bzw. gehört. „Die Geisterdame aus dem Haus in der Reynolds Road.“ „So, so. Dann überlege ich es mir besser.“ Eine halbe Stunde später gesellte sich Holly zu uns. Sie sah wie immer tadellos und wie aus dem Ei gepellt aus. Ihre braunen lockigen Haare wippten hin und her, als sie begann, die Küche wieder mal von unserem Unrat zu befreien. Nebenbei erzählte sie uns kurz und knapp von ihren Erlebnissen mit den Typ Eins Geistern. „Ich werde es nachher noch in unser Auftragsbuch schreiben“, endete sie schließlich, „Und bei euch?“ „Na, ja. Wir haben den Geist gesehen und können ihn lokalisieren. Wir wissen auch, dass sie etwas zu suchen scheint. Nur leider nicht, was.“ „Und wo“, ergänzte Kipps meine kurze Erzählung. „Also ist es nicht ganz so optimal verlaufen, aber auch kein kompletter Reinfall“, fasste Holly optimistisch gestimmt, wie sie war, zusammen. Kipps und ich nickten. Die Tür knarrte leicht und Lockwood trat kurz darauf in die Küche. „Morgen, Holly, na hast du dich schon auf den aktuellen Stand bringen lassen?“, fragte Anthony und kam zu mir herüber. Mein Herz schlug, wie immer wenn er in meiner Nähe war, einen kleinen Takt schneller. Kurz darauf legten sich zwei Lippen auf die meinen. Ein kurzer Kuss, wie immer, und dennoch löste es bei mir diese Glücksgefühle aus. Dieses Gefühl der unbesiegbaren Stärke und dass sich uns nichts in den Weg stellen konnte, wir alles besiegen würden. „Ja, habe ich.“ „Sehr gut. Ich habe eben noch einen Abstecher zu George in die Bibliothek gemacht. Unser Gefühl, dass dort gestern etwas merkwürdig war, hat uns nicht getäuscht. Wir werden heute als komplettes Team zur Reynolds Road gehen.“ „Was hat Cubbins denn raus gefunden?“, fragte Kipps. Eine Frage, die auch in mir sehr brannte, doch Lockwood winkte ab und meinte, dass George uns das noch früh genug sagen würde. „Erstmal brauche ich Hilfe beim Hineintragen von unserem Equipment. Nachdem ich bei George war, habe ich dieses nämlich etwas aufstocken lassen.“ „Schon verstanden, Tony“, murrte Kipps. Holly und ich sahen den beiden nach und hörten kurz darauf Kipps‘ Ausruf, ob Lockwood verrückt geworden sei. Ich sprang vom Stuhl auf und eilte in die Diele zur Haustür, wo sich vor der Veranda ein Berg voller Kisten und Säcken auftat. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“ „Wenn du wüsstest, was ich wüsste, Quill, wärst du da anderer Meinung.“ „Dann lass mich doch endlich teilhaben an deinem Wissen“, knurrte Kipps, doch Lockwood winkte erneut ab. „Warte, ich helfe euch“, meinte ich und auch Holly schloss sich dem Angebot an, bevor sich die beiden an die Gurgel gehen konnten. Es hatte fast eine Stunde gebraucht, bis wir all die Säcke mit Salz und Eisenspänen, sowie die Kisten voll mit griechischem Feuer, Leuchtbomben und Eisenketten hineingetragen hatten. Noch schwieriger und länger hatte es nur gedauert, alles so zu verstauen, dass wir auch noch eintreten konnten. Erschöpft hatten wir uns ins Wohnzimmer verzogen, wo wir für einiger Zeit unseren Gedanken nachhingen, wobei es Kipps und Lockwood nicht lange dort hielt und sie sich mit einem erneuten Wortgefecht in den Keller verzogen. Ich hatte irgendwann angefangen, meine Ausrüstung vom Abend zuvor aufzufüllen, zu polieren und zu überprüfen. Lockwoods Andeutungen gefielen mir ganz und gar nicht. Sie lösten bei mir das Bedürfnis aus, meine Ausrüstung noch gründlicher zu prüfen als sonst. Holly hatte sich in die Küche zurückgezogen. Ich hörte das Geschirr klappern und irgendwann zog der Duft von Tee durch das Haus. Nachdem ich mich dabei erwischte, wie ich zum fünften Mal meine Eisenkette ab- und wieder aufrollte, seufzte ich tief und packte sie beiseite. Wann wohl George endlich kommen würde? Ich hielt es nicht mehr aus zu erfahren, was er in Erfahrung gebracht hatte. Lockwoods Geheimniskrämerei störte mich. Eine der wenigen Sachen an ihm, auch wenn ich gestehe, dass ich ihm blind überall hin folgen würde. Ich trottete zurück in die Küche, doch außer der Tatsache, dass sie blitzblank war, war hier niemand. Von der Kellertür her, die sich auf der einen Seite der Küche befand, vernahm ich klirrende Geräusche und leichte Kampflaute. Ich ging die metallene Treppe hinunter, wo sich unser Büro und unser Übungsfechtraum befanden. Unsere Strohpuppen Esmeralda und Joe hatten wir wieder aufgebaut, nachdem sie sich für uns opfern mussten. Wie ich schnell feststellen durfte, waren aber nicht sie das Ziel der tanzenden Klingen. Holly sah ich an ihren Schreibtisch lehnen und fasziniert auf die beiden kämpfenden jungen Männer starren. Ich kam etwas näher und stellte mich neben sie. Gerade zeigte Lockwood wieder sein ganzes Können, als er Kipps‘ Angriff mit einer Parade auswich und zum Gegenschlag ausholte. Dieser wiederum wurde aber erstaunlich geschickt von Kipps aus-getänzelt. Beide atmeten schwer und ihre Gesichter glänzten vor lauter Schweiß. Ihre Haare klebten an ihren Köpfen und man sah ihnen die Anstrengungen deutlich an. „Wie lange kämpfen sie schon?“, fragte ich Holly leise. „Lange, ziemlich lange. Als ich in die Küche ging, hörte ich schon die Klingen aneinander schlagen. Wenn du mich fragst, scheint Kipps wieder Lockwood herausgefordert zu haben, nachdem sie sich wörtlich nicht mehr die Meinung geigen konnten.“ „Also wie immer.“ Ich seufzte leise. „Hast du versucht, sie zum Aufhören zu bewegen?“, fragte ich weiter. „Nein, Lucy, ich habe sie die ganze Zeit lautstark angefeuert. Natürlich habe ich es versucht. Aber du kennst unsere beiden Sturköpfe doch. Aber du kannst es gerne versuchen. Zumindest Lockwood hört dir vielleicht zu.“ „Hm… so wie du es beschreibst, wird es wohl auch für mich schwierig. Vielleicht sollten wir es gemeinsam versuchen. Du Kipps, ich Lockwood?“ Holly lächelte mich diebisch an und nickte zustimmend. Sowohl sie als auch ich griffen zu unseren Ersatzdegen, welche hier im Büro gelagert wurden. Als Lockwoods erneuter Angriff von Kipps durch eine Drehung ins Leere lief und er sich zu einem erneuten entschloss, war unser Einsatz gekommen. Erneut klirrte es und meine Klinge traf auf die von Lockwood. Seine Augen, welche einen gewissen Zorn in sich trugen, blickten mich irritiert an. „Luce?“ „Hey Lockwood.“ Der Druck auf meinen Degen ließ nach und Anthony senkte seinen Degen herab. „Ich hätte dich gleich holen sollen, Lucy“, hörte ich Holly hinter mir. „Was soll das? Was mischt ihr euch ein?“ Kipps schien immer noch sauer zu sein und auch Anthony war wenig begeistert darüber, dass wir uns eingemischt hatten. „Ihr solltet beide endlich aufhören. Wir haben heute Nacht anscheinend einen schweren Auftrag vor uns. Ist ja schön, dass ihr ausreichend üben wollt, aber es bringt uns allen nur Nachteile, wenn ihr euch komplett auspowert und nachher nicht mehr die Arme hochbekommt, wenn der Geist auf euch zu schwebt.“ Meine Stimme war doch etwas lauter und tadelnder ausgefallen, als ich es gewollt hatte, doch die gewollte Wirkung erzielte es zumindest. Zwar hatte ich immer noch das Gefühl, als würde die Luft knistern und die beiden würden jeden Moment Holly und mich zur Seite stoßen und weiter machen, dann aber sah ich, wie Anthony seine Schultern straffte und den Degen zurück in die Scheide steckte. Widerwillig folgte Kipps seinem Beispiel. „Du hast vollkommen recht, Luce. Da ist die Trainingswut wohl etwas mit uns durchgegangen, was, Kipps?“ „Hm. Ja, scheint so.“ „Ist George schon wieder zurück?“ Gerade als ich auf die Frage antworten wollte, hörten wir einen Ruf von oben herunter hallen. „Wir sind im Büro, George“, rief Lockwood zuerst zurück. Ich konnte George, wie so oft, nicht wirklich ansehen, ob ihn die Situation überraschte oder nicht. Dennoch schien er sie interessant zu finden. Kaum, dass er unten angekommen war und seine Unterlagen auf einen Tisch hatte fallen lassen, nahm er seine Brille ab und putzte diese an seinem, ziemlich unordentlich unter dem Pullover hervor guckenden, T-Shirt. „Was hast du raus gefunden George?“, fragte Holly sogleich und warf einen Blick auf die mitgebrachten Unterlagen. Ich spürte, dass sie dem Drang widerstehen musste, die heraus guckenden Blätter nicht sofort zuordnen. Kipps hingegen machte seiner Ungeduld indes wieder einmal Luft, indem er George ziemlich barsch darauf hinwies, dass Lockwood uns noch nichts zu seinen Erkenntnissen gesagt hatte und er nun nicht noch länger warten wollte. Ich sagte zwar nichts dazu, teilte jedoch ausnahmsweise Kipps Meinung. Wenigstens mir hätte Lockwood doch schon mal etwas sagen können. Aber in diesen Punkt war er leider sehr stur. Georges Brille wanderte wieder auf seine Nase. Er schob sie besonders weit hoch, doch es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie wieder den halben Weg herunter-gerutscht war. Wie ein kleiner Bär tappte er mit seinem fülligen Körper hinüber zu seinem Stuhl, ließ sich darauf nieder, sodass dieser ein leichtes Quietschen unter ihm hervor-brachte und griff nach einem der Zettel. Er rückte wieder einmal seine Brille zurecht, was eine ziemlich überflüssige Handlung war, da sie eh wieder in ihre Ausgangsposition zurück rutschte. „Also. Ich bin verdammt froh, dass Lucy und Lockwood heil zurückgekommen sind. Bei Kipps, egal. Ihr müsst mir wirklich mehr Zeit für Recherche geben. Wir verfallen sonst in alte Anfängermuster von vor ein paar Jahren.“ „Ja, George. Ich hab den Wink verstanden.“ „In dem Haus gibt es wahrscheinlich mehr als nur die Geisterdame, von der uns der Besitzer berichtet hat.“ „Kann aber gar nicht sein. Wir haben nur diesen einen Geist gesehen. Selbst Lucy hat nichts anderes gehört, oder?“ Ich nickte Kipps‘ Aussage zustimmend zu. „Ach wirklich? Nur der eine Geist? Keine anderen Stimmen oder so?“, fragte George überrascht. Dann murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin und wühlte in seinen Berg aus Papier und Büchern herum, bis er uns ein Bild aus einem Buch präsentierte. „Wir reden aber schon vom gleichen Haus. Reynolds Road Nr. 7.“ Ich blickte auf eine etwas schönere Darstellung des Hauses, in welchem wir gestern zugegen gewesen waren. Der gelbliche Putz bröckelte an diesem noch nicht ab und der Garten sah auch noch nicht so aus, als wäre er ein Urwald. Stattdessen blickten mich schön kurz geschnittene Rasenflächen, üppige Blumenbeete und ein zarter Steinplattenweg an. „Ja, genau“, sagte ich, „Das ist das Haus, nur in schön.“ „Hm, komisch. Sehr komisch.“ „Wenn es dir was nützt, kann ich dir aber sagen, dass wir drei dort gestern ein ungutes Gefühl hatten, auch wenn uns der Geist verhältnismäßig harmlos erschien“, meinte Lockwood. „Was ist denn nun so komisch daran, George?“, fragte Holly besorgt. „Nun, das Haus hier auf dem Bild ist, wie die Häuser in der Straße, auf einer jahrelang brachliegenden Fläche gebaut worden. Generell war die Reynolds Road wohl mal eine riesige Weidefläche, bevor sich London und seine Vororte noch weiter ausbreiteten. Auf jeden Fall ereignete sich vor Jahrhunderten dort eine Schlacht in der ehemaligen Herzogenstadt Leather, welche dem Erdboden gleichgemacht wurde. Außerdem stürzte dort ein Flugzeug vor gut 75 Jahren ab. Ein kleines Flugzeug mit ca. 20 Menschen an Bord. Zwei Jahre bevor Marissa Fittes und Tom Rotwell die ersten Geisteraktivitäten aufzeigten, wurden dort die Reynolds Road und auch die Häuser gebaut. Das Haus selbst brannte vor 25 Jahren aus. Bis auf wenige Mauern musste alles komplett neu aufgebaut werden. In dem Feuer starb die Familie des Hauses qualvoll. Bis auf die Leiche der mittleren Tochter glaubte man alle sieben Familienmitglieder gefunden zu haben.“ „Du großer Gott, wie furchtbar“, hauchte Holly ehrfürchtig. „Wenn da so viel passiert ist, wieso zum Teufel wurden dann nicht die vorgeschriebenen Maßnahmen ergriffen? Es gab doch damals schon welche.“ „Wurden ja, Kipps, aber ratet mal, wem das Haus vor dem jetzigen Besitzer gehörte. Marissa Fittes.“ Schweigen legte sich über unser Büro und in meiner Magenkuhle lag plötzlich ein Stein. Diese Information war irgendwie unbehaglicher, als gedacht. Ich sah meine Kollegen der Reihe nach an, jeder sah betreten zu Boden. Lockwood war, wie immer, der erste, der die Fassung wiedererlangte. „Tja, dann wollen wir mal schauen, was unsere liebe Marissa uns dort hinterlassen hat. Bisher ist es ja nichts Großes, auch wenn wir zumindest schon mal vorgewarnt sind. Gut. Also wir werden uns gleich auf den Weg machen. Wir werden in Teams wieder das Haus durchgehen. Lucy und Holly, sowie George und ich. Kipps bereitet den Rückzugbannkreis vor. Nach einer Stunde treffen wir uns alle dort wieder und tauschen uns nochmal aus. Danach bilden wir wieder Gruppen und versuchen, die Quelle des Geistes ausfindig zu machen. Hoffen wir einfach, dass das ihre Sommerresidenz war und nichts Schlimmeres mehr dort ist.“ „Willst du nicht vorsichtshalber gleich Barnes Bescheid geben?“, fragte Kipps. „Bist du verrückt? Der wird uns den Hals umdrehen, wenn wir ihn und sein Team zu etwas bestellen, was völlig harmlos ist.“ „Aber wenn Cubbins doch Recht hat und da mehr sein sollte?“ „Dann können wir ihn immer noch anrufen“, winkte Lockwood ab. Mir persönlich behagte es zwar nicht, aber so hatten wir bisher alle unsere Abenteuer bestritten und Unrecht hatte mein Lockwood halt auch nicht. Montagu Barnes, der Chef der BEBÜP, war ein brummeliger Zeitgenosse, der wegen uns schon so manches erlebt hatte. Natürlich war er froh über das, was wir aufdeckten. Dennoch war unsere Agentur, welche ohne erwachsenen Berater auskam – Kipps an dieser Stelle wieder ausgeklammert – , ihm nach wie vor ein Dorn im Auge. „Tja, dann erzähl uns oben in der Küche doch noch alle Details zu dem, was du gefunden hast. Wir studieren die Grundrisse noch mal, schließlich gab es ja noch einen alten, wie wir jetzt wissen. Während wir das machen, werde ich uns neuen Tee aufbrühen und den letzten Proviant einpacken. Unsere Thermosflaschen habe ich schon alle mit Tee gefüllt. Ich habe vom Wetterbericht gehört, dass es heute die erste Nacht mit Minusgraden werden soll“, schlug Holly vor. Ein guter Vorschlag, wie ich fand, da wir Lockwood und Kipps damit endgültig aus dem Fechtraum rausbekamen, wenngleich ich vermutete, dass sie kein Interesse an einem erneuten Trainingskampf hatten. Aber sicher war sicher. Kapitel 2: ----------- Als wir das Haus verließen, bewegte sich die Sonne schon Richtung Horizont. In ungefähr drei Stunden würde jegliches Tageslicht verschwunden sein. Die nahende dunkle Jahreszeit lag wie ein schwerer Umhang auf unseren Schultern. Sie bedeutete mehr Arbeit, mehr Gefahr. Mit einem leichten Kopfschütteln scheuchte ich diese Gedanken fort und konzentrierte mich auf unseren Einsatz. Leichter Nebel von der Themse tänzelte um meine Schuhe, als wir zu Fuß Richtung Reynolds Road gingen. Ich fröstelte leicht. Ein Arm schlang sich um mich und angenehme Wärme strahlte zu mir herüber. Ich schaute hinauf zu Lockwood, der mich aufmunternd anlächelte, genau mit diesem Lächeln, das alles Schwierige vor uns einfacher machte. „Ist alles in Ordnung, Luce?“ „Ja, alles gut. Ich habe nur daran gedacht, was George uns erzählt hat. Die Grundrisse sahen komisch aus. Ich kenne mich nicht viel damit aus, aber… irgendwie sieht mir das alles zu schlicht aus, was Marissa da nach dem Wiederaufbau gemacht hat.“ „Ich verstehe, was du meinst“, drehte sich Holly um, welche mit George und Kipps nur einige Meter vor mir ging. „Es sieht zu simpel aus, nicht wahr?“ Ich nickte zustimmend auf Hollys Aussage. Ja, es sah viel zu simpel aus. „Vielleicht hat Marissa ja wirklich nur vorgehabt dort Mieteinnahmen zu bekommen“, entgegnete Lockwood mit einem zuversichtlichen Grinsen. So ganz glauben konnte ihm das keiner. Quill war wie so oft derjenige, der es einfach aussprach. „Du träumst nachts auch von rosa Kaninchen, was Tony?“ „Immerhin wissen wir, welchen Geist ihr drei gestern dort gesehen habt“, mischte sich George ein und schob die Brille hoch. Da hatte er allerdings recht. Es war zwar Zufall gewesen, aber das war sehr oft der Fall in unserem Job. Er hatte uns ein Foto von den letzten Opfern des Hauses zeigen können. Die siebenköpfige Familie, welche bei dem Brand ums Leben kam. Auf dem Foto hatten wir den Geist gefunden, wenngleich man noch etwas Fantasie gebraucht hatte, um die verkohlten Hautfetzen vor seinem geistigen Auge an den richtigen Platz zu schieben. Aber es war eindeutig die mittlere Tochter, welche man nie gefunden hatte. Die Frage war allerdings immer noch, was sie suchte oder wen. Vor Ort angekommen gingen wir wie geplant vor. Wir teilten uns auf. Ich erklärte Holly nochmal im Detail, wo uns was gestern aufgefallen war und wo wir den Geist am meisten wahrgenommen hatten. Meine brünette Kollegin mit ihrer tadellosen, dunklen Haut, hörte aufmerksam zu und nahm hier und dort einige Messungen vor. In dem aktuellen Arbeitszimmer blieben wir etwas länger stehen, denn hier hatte ich den Geist ziemlich deutlich am Abend zuvor gehört und auch versucht, Kontakt aufzunehmen. Gemeinsam nutzten wir die noch ruhige Zeit, um alles genauer zu untersuchen. Dabei verrückten wir auch so einige Möbel. „Es sieht echt normal aus.“ Holly hüpfte gerade auf einer Stelle herum, wo das Holz dunkler wirkte, doch wir hörten weder einen Hohlraum noch irgendein verdächtiges Knacken. Wahrscheinlich war dies die Originalfarbe des Bodens, während der Rest von der Sonne ausgeblichen worden war. „Wie lange wohnt der neue Besitzer hier schon?“, fragte ich sie. „Er sagte etwas davon, dass er es vor einem Monat erworben hat.“ „Solange stand es leer?“ „Ja“, bestätigte Holly, „Da es unserer lieben Marissa gehörte, hatte die BEBÜP gesteigertes Interesse daran, es komplett unter die Lupe zu nehmen.“ „Sehr genau haben sie aber nicht gearbeitet, wenn ihnen dieser doch offensichtliche Geist nicht aufgefallen ist.“ Holly zuckte mit der Schulter, wodurch ihr Haar samtig von ihrer Schulter herunterfiel und sich über ihren Rücken ergoss. Ihre Antwort, Erwachsene wahrscheinlich, erklärte so viel und ließ mich innerlich noch mehr den Kopf schütteln. „Auf jeden Fall, nachdem die BEBÜP das Haus wieder freigegeben hat, stand es eine Weile leer und dann hat es unser Kunde gekauft. Er hat eine Nacht hier drin verbracht und Geräusche gehört, die nicht normal für ein Haus waren. Am nächsten Abend engagierte er dann Kinder von der Nachtwache, die das Haus mal im Auge behalten sollten. Diese berichteten ihm dann vom Geist und ja… so kamen wir zum Auftrag“, erklärte mir Holly ausführlich. Ich nickte verstehend, als sie ihren lockigen Kopf nach unten richtete und auf die Armbanduhr tippte. „Wir müssen zurück.“ „Oh, ja stimmt, die Zeit vergeht ja wieder schnell.“ Ich ließ ihr den Vortritt, drehte mich selbst aber noch einmal zum Zimmer um. Die Möbel ließen wir verrückt stehen, wir würden uns morgen wieder um das richtige Hinstellen kümmern. Mein Blick schweifte herum. Irgendwas stimmte hier einfach nicht. Ich war mir nur noch nicht sicher, was es war. Gestern hatte ich es noch nicht so wahrgenommen. Lag es vielleicht an den verschobenen Möbeln? Oder spielte mir mein Kopf einen Streich, weil ich wusste, wem das Haus mal gehört hatte und was die ganze Straße für ein Geheimnis hatte? „Lucy? Kommst du?“, riss mich Hollys Stimme aus meiner Trance. „Ja. Ich komme.“ Ich löste meinen Blick vom Zimmer und trat hinaus auf den Flur, welcher nach nur drei weiteren Zimmern zurück ins Foyer führte. Letzte Nacht hatten wir unseren Rückzugbannkreis in einem der vorderen Zimmer im Erdgeschoss gelegt. Dieses befand sich aktuell noch in der Renovierung und war wohl ein ehemaliges Kinderzimmer, laut den Grundrissen. Heute, mit dem Wissen über das Haus und seinen Vergangenheit, hatten wir uns für das Foyer entschieden. Dieses bot auch wesentlich mehr Raum für einen größeren Bannkreis. Schließlich waren wir heute zu fünft unterwegs. In diesem stand bereits der Wasserkocher auf seinem Gestell sowie unsere großen Taschen mit unseren Waffenvorräten und einigen Petroleumlampen. Die Flamme jedoch loderte noch nicht. Wir wollten es, so wie letzte Nacht, erst später entzünden. Kipps hatte die Brille noch nicht auf, sie baumelte an seinem Arm, als er nach seiner Thermoskanne im Rucksack griff. Wir folgten seinem Beispiel. Aus Gewohnheit sah ich mir den doppelten Bannkreis an. Er war wie immer makellos geschlossen und würde so einigen Angriffen standhalten, sofern er überhaupt gebraucht werden würde. „Und, was Auffälliges?“, fragte Quill. „Nicht wirklich. Wir haben das Arbeitszimmer hinten etwas umgeräumt“, erklärte Holly und ließ sich graziös nieder. Kurze Zeit später kamen auch Lockwood und George, wobei ersterer mir einen liebevollen Kuss gab, ehe er sich neben mir niederließ. Sein Arm wanderte automatisch um meine Taille und streichelte meine Seite liebevoll mit dem Daumen. „Wehe dir, du zerstörst den Bannkreis mit deinem ollen Mantel, Tony“, brummte Kipps genervt. „Ja, ja, schon gut, schon gut.“ Lockwood lachte ermunternd, zog seinen Mantel dichter an sich und mich und begutachtete die Unversehrtheit der Ketten. „Also Eindrücke? Holly? George?“, richtete er das Wort dann an die anderen beiden. „Keine Auffälligkeiten. Keine ungewöhnlichen Messergebnisse bisher“, erklärte George. „Bestätige ich so. Temperaturen sind in allen Räumen konstant gewesen.“ „Dann müssen wir eigentlich nur auf den Geist warten, seine Quelle ausfindig machen und fertig“, fasste George zusammen, „Es ist zu einfach.“ Wir schwiegen und jeder von uns nippte abwechselnd an seiner Kanne. Mit einem Seitenblick auf Lockwood erkannte ich, dass er gerade sehr intensiv darüber nachdachte, was wir tun sollten. Bis zum Sonnenuntergang war es nur noch eine Stunde und spätestens dann würden die Geister ihr Unwesen treiben. Okay, sie würden damit langsam anfangen. „Wir werden in einer Stunde in Teams umher gehen. Lucy und ich, und Kipps mit George und Holly. Wenn wir den Geist bemerken oder etwas Ungewöhnliches passiert, rufen wir die jeweils anderen herbei.“ „Na, Hauptsache ihr überseht beim Rum-turteln nicht alles“, warf Kipps ein. Ich runzelte die Stirn. Da war wieder dieser Blick und dieser Unterton in der Stimme, der mir auch so einige Male zuvor schon aufgefallen war, doch ich sagte nichts, schob es auf die üblichen Sticheleien zwischen den beiden. „Keine Bange, Kipps, wie immer habe ich alles unter Kontrolle.“ „Pff.“ Damit erhob sich unser rothaariger Kumpane und trat aus dem Bannkreis. „Was hast du vor?“, fragte Holly. „Mich noch umsehen, solange ich die Brille nicht benutzen muss“, blaffte er zurück. Ich sah Quill nach, wie er in das nächste Zimmer stapfte. Dieses renovierungsbedürftige, in dem unser gestriger Bannkreis gelegen hatte. „Was ist mit dem denn los? Der ist doch sonst ganz anders drauf“, merkte auch George leise an. Der Arm um meine Taille spannte sich an und zog mich noch etwas mehr zum Körper seines Besitzers. „Ach lasst ihn doch. Vielleicht ist er nur sauer, weil er den Bannkreis wieder machen musste und sich deswegen erst jetzt umsehen kann“, meinte Lockwood mit einem breiten Lächeln. Mein Blick glitt zu Holly und dann zu George, welcher seine Brille absetzte und wie immer an seinem T-Shirt, welches unter seiner Jacke und seinem Pullover hervor-schaute, putzte. Weder ihm noch Holly und schon gar nicht mir war Lockwoods Lächeln entgangen. Wir kannten es nach all den Jahren zu gut. Es war dieses übertrieben höfliche, falsche Lächeln. Er hatte es gegenüber Penelope Fittes und auch Montagu Barnes öfter aufgesetzt. Auch gegenüber unseren Kunden. Es war sein professionelles, geschäftliches Lächeln. Sein reserviertes. Ich musste unweigerlich wieder an die Szene im Trainingsraum in der Portland Row denken. Wieder fragte ich mich, was dort vorgefallen war. Immer weniger glaubte ich an einen Trainingskampf. Die beiden hatten dort unten wirklich eine Diskussion ausgefochten. Im wahrsten Sinne des Wortes. Doch auf Lockwoods Worte hin sagten wir alle nichts. Normalerweise waren wir nicht schüchtern und sagten einander die Wahrheit. Lockwood selbst wusste, dass er uns – gerade mir – nichts vormachen konnte und doch lag eine schneidende Stimmung in der Luft, die niemand aufwirbeln wollte. Nicht jetzt. Schon gar nicht hier. Wir tranken unseren Tee weiter, aßen unsere belegten Brote und warteten auf den Beginn der Nacht. Kipps kehrte erst zu uns zurück, als die Sonne bereits untergegangen war und durch einige Fenster nur noch der farbige Horizont zu erkennen war. Ich sah ihn abwartend und auch etwas auffordernd an, da seine Rückkehr mit Schweigen begrüßt wurde. Lockwood straffte bereits die Schultern und schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber doch sein. „Wir sollten das Arbeitszimmer im Erdgeschoss im Auge behalten“, sagte Kipps für uns völlig überraschend. „Aber da ist nichts. Lucy und ich haben Messungen vorgenommen und alles genau angeguckt.“ Holly strich sich eine lockige, braune Haarsträhne, welche sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht und klemmte sie hinter das Ohr. „So, so. Habt ihr das also? Wohl mit geschlossenen Augen, was?“ „Was? Unsinn, wir haben unsere Sinne die ganze Zeit offen gehabt und -.“ „Ich rede nicht von euren Sinnen.“ Ich sah, wie Hollys Mund zum Protest bereits wieder aufklappte und sich dann schloss. Genauso fragend wie sie, sahen wir ihn wohl alle an. Kipps verdrehte genervt die Augen. „Ihr seid ja super-konzentriert. Wird ein toller Abend.“ „Jetzt halt mal die Luft an, Kipps. Wir haben bisher immer hervorragende Arbeit geleistet“, meinte George. Seine Augen blitzten hinter den Brillengläsern angriffslustig. Ich atmete tief ein und aus. Wir durften hier keine Gefühle überschwappen lassen. Aus einem mir nicht erdenklichen Grund schien es Kipps aber darauf anzulegen. Ich schluckte meinen Stolz und die aufkochende Wut hinunter und fragte, so neutral wie möglich, Kipps, von was genau er sprach. Damit brachte ich ihn zumindest von dem Gedanken ab, George irgendwas zu erwidern. „Ihr habt doch das Arbeitszimmer umgeräumt, du und Holly. Ist euch da wirklich nichts aufgefallen?“, fragte er. Holly und ich blickten uns an. Dann sah ich zu Kipps und biss mir leicht auf die Unterlippe. „Nun ja… Ich hatte vorhin ein komisches Gefühl, aber… ich wusste nicht, was es ist oder woher es kam.“ „Davon hast du mir gar nichts erzählt, Lucy“, meinte Holly schockiert. „Kannst du das Gefühl beschreiben, Luce?“, fragte nun auch Lockwood. Ich rutschte etwas unruhig hin und her, als die Blicke sich auf mich richteten. Wie sollte ich das Gefühl näher beschreiben? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte halt das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. „Ich… keine Ahnung es lässt sich nicht beschreiben, deswegen hatte ich ihm keine Beachtung geschenkt. Aber da Kipps nun so fragt und anscheinend etwas entdeckt hat, hab ich dem Gefühl doch Bedeutung wieder zukommen lassen.“ „Der Fußboden.“ „Was? Der Fußboden, Kipps?“ George sah ihn mit fragend hochgezogenen Brauen an und auch Hollys akkurat gezupfte Augenbrauen hoben sich leicht. „Spann uns nicht länger auf die Folter, Quill. Wenn du uns Wichtiges mitzuteilen hast, mach es jetzt, bevor der Geist unsere Aufmerksamkeit fordert“, hörte ich Lockwood sagen. „Ist euch am Fußboden wirklich nichts aufgefallen?“, fragte Quill Kipps unbeirrt Holly und mich. „Nun… das Holz unter dem Teppich war dunkler, aber… ansonsten...“, merkte Holly an und ich nickte zustimmend. Auf Kipps Gesicht zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln ab. Anscheinend war es das, was er hatte hören wollen, doch folgen konnte ich seinem Gedankengang immer noch nicht, worüber ich mir aber nicht weiter den Kopf zerbrechen musste. „Ich denke, wenn ich die Baupläne von Cubbins noch richtig im Kopf habe, dass dort noch etwas drunter ist. Das Arbeitszimmer muss die Originaleinrichtung von Fittes sein. Der neue Eigentümer scheint es ja nicht verändert zu haben. Im Gegensatz zu den anderen Räumen.“ George rückte seine Brille zurecht und ich fasste mir verstehend an den Kopf. „Die andersfarbigen Bodenbretter. Natürlich, wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen. Ich dachte er hätte das Arbeitszimmer als erstes hier eingerichtet und es sei deswegen fertig. Dabei hat er es noch gar nicht angerührt.“ „Hm… Und du meinst, Kipps, dass da wirklich was ist? Ich meine, es stimmt schon, dass der Geist dort öfter auftauchte als woanders.“ „Die oberen Stockwerke würde ich vollkommen außer Acht lassen. Dort haben wir ja gesehen, dass sich nichts getan hat, Tony.“ Ein Rascheln von Blättern war zu vernehmen und kurz darauf sah ich, dass George sich hinter den Blaupausen versteckt hatte. Nach einiger Zeit kam ein zustimmendes Murren von seiner Seite zu uns herüber. „So ungern ich es zugebe, aber Kipps hat Recht. Laut den Blaupausen befand sich vor dem Brand ein Kellerraum dort drunter. Die BEBÜP hat entweder den Zugang nicht gefunden oder ging davon aus, dass er nicht existiert.“ „Also einen offiziellen Zugang zu irgendeinem Keller gibt es auch nicht“, warf ich ein, „Wir haben ja alle das Haus durchkämmt. Fittes hat es ohne offiziellen Keller wieder aufgebaut.“ „Tja, dann sind wir der Lösung des Problems einen Schritt näher. Gute Arbeit, Kipps“, sagte Lockwood und erhob sich, „Dann sollten wir uns jetzt zügig den Raum angucken.“ „Tut mir ja Leid, dass ich nun deinen Plan von einer romantischen Patrouille zerstört habe, Tony“, stichelte Kipps und setzte seine Brille auf, als wir den Bannkreis in Richtung Arbeitszimmer verließen. Lockwood und Kipps gingen vor. Holly und ich folgten ihnen und George bildete das Schlusslicht mit seiner Bemühung die Blaupausen wieder einigermaßen zusammenzufalten. „Macht nichts, Kipps. Ich zieh es dir von deinem nächsten Lohn ab.“ „Was? Hey!“ Ich sah zu den beiden herüber, als mich Hollys Hand am Arm packte und etwas zur Seite zog. George ging an uns vorbei, ohne uns wahrscheinlich wirklich zu registrieren. „Was hast du Holly?“, fragte ich. „Lucy, ich will dir etwas geben. Sag aber Lockwood und den anderen nichts.“ Sie sah über ihre Schulter hinweg, wie die Jungs in das Zimmer bereits verschwanden und kramte nebenbei in ihrer kleinen Einsatztasche herum, welche Salzbomben und griechische Feuerbüchsen enthielt. Sie zog ein längliches Stück Stoff heraus, in dem anscheinend etwas eingewickelt war und drückte es mir in die Hand. „Was ist das Holly?“, fragte ich. „Eine Adrenalinspritze.“ „Eine was? Holly, woher?“, fragte ich verdutzt. „Ich war doch noch mal kurz zu mir nach Hause, bevor wir aufgebrochen sind. Ich wohne doch mit einem Mädchen zusammen, auch Agentin. Sie hat eine ältere Schwester, die im Krankenhaus arbeitet. Diese gab ihr mal eine Adrenalinspritze für den Notfall. Als ich hörte, dass wir es wieder mit etwas von Marissa zu tun haben, habe ich sie gebeten, dass sie ihre Schwester um welche bittet. Ihre Schwester brachte sie noch rechtzeitig zu uns. Es sind leider nur zwei, mehr konnte sie nicht entwenden, ohne dass es aufgefallen wäre. Hör zu Lucy, wir kennen beide unsere Jungs. Gerade Kipps und Lockwood. Ich mache mir Sorgen, dass sie übereifrig werden und sich in Gefahr bringen.“ „Aber wir haben so was noch nie gebraucht, Holly. Wieso sollten wir-“ Holly schüttelte den Kopf, sodass ihr Zopf auf dem Rücken hin und her schwankte. „Dieser Einsatz unterscheidet sich noch etwas. Die beiden sind nicht ausgeruht. Sie haben sich noch vor ein paar Stunden ziemlich verausgabt und sie neigen zur Selbstüberschätzung, besonders wenn sie wieder zeigen wollen, wer der Beste ist. Bitte nimm sie. Nur für den Notfall. Wenn wir sie nicht brauchen, gibst du sie mir zurück und sie waren dann nie hier. Okay?“ Ich blickte in Hollys dunkle Augen, welche eine fremde Ernsthaftigkeit zeigten. Ich zögerte, doch als mein Name aus dem Arbeitszimmer gerufen wurde und Schritte kamen, griff ich zu. Die Spritze wurde von mir hastig in die Tasche gestopft, da schaute auch schon Lockwood aus dem Türrahmen zu uns. „Alles in Ordnung bei euch? Habt ihr was auffälliges entdeckt?“ „Ähm… nein… ich dachte nur, ich hätte was gehört hier, aber falscher Alarm“, wimmelte ich ab. Holly und ich gingen zu den anderen, wobei mir Lockwood bei meiner Ankunft noch einmal einen Kuss auf die Stirn hauchte und sich nochmal versichern ließ, dass wirklich alles in Ordnung mit mir war. „Okay, wir gehen wie folgt vor: George und Holly, ihr nehmt die Wände genau unter die Lupe. Kipps und ich übernehmen den Fußboden. Lucy, du wirst unsere Sicherheit sein und deine Sinne öffnen und uns über Geisteraktivität auf den Laufenden halten“, teilte uns Lockwood wieder ein. Ich nickte und sah zu Holly, welche nochmal vorsichtig sagte, dass der Boden nicht den Anschein erweckte, dass unter ihm noch etwas sei. Ich bestätigte dies und die anderen nahmen es nickend zur Kenntnis, wollten es aber dennoch ein weiteres Mal untersuchen. Es war ruhig, absolute Stille. Das Klopfen an den Wänden, das Rauschen meines Blutes hatte ich komplett ausgelöscht. Ich war vollkommen auf meinen inneren Gehörsinn fokussiert. Doch bisher tat sich nichts. Die Stimme der Geisterdame, des Geistermädchens, war nirgendwo zu hören. Ich spürte, wie mir jemand an die Schulter tippte und zuckte leicht zusammen. „Luce? Hast du uns nicht gehört? Wir haben etwas gefunden. Irgendwelche Aktivitäten?“ „Nein, Lockwood. Also ich habe euch weder gehört, noch habe ich irgendwelche Geisteraktivität. Was habt ihr gefunden?“ „Eine Stelle an der Wand dort klingt hohl hinter dem Sekretär. Vielleicht ist dahinter auch die Quelle unserer Besucherin.“ „Wie wollt ihr sie öffnen?“, fragte ich und versuchte, so langsam wieder in unsere Welt zurückzukehren. Der Raum war nur schwach mit Kerzen beleuchtet und der Sekretär bereits verschoben worden. „Wir werden wohl Gewalt anwenden müssen“, klärte mich Lockwood auf, „Wir wissen nur nicht, ob wir damit den Geist aufscheuchen. Kipps und ich machen es. Ihr drei gebt uns Rückendeckung, okay?“ „Geht klar“, erwiderte Holly und zückte bereits eine Salzbombe aus ihrer Tasche. Ich selbst zog meinen Degen, dessen Klinge im Kerzenschein aufblitzte. Nachdem wir drei Kipps und Lockwood signalisierten, dass wir bereit waren, stieß Kipps als erstes seine Brechstange, welche auch mit zur unserer Grundausrüstung gehörte, in die Wand hinein. Wie zu erwarten war, befand sich hinter dieser ein Hohlraum. Es krachte laut und wir hielten den Atem an. Doch nichts schien sich zu regen. Ich fühlte mich erinnert an unseren Einsatz mit dem Kannibalen, verscheuchte dies schnell aus meinem Kopf und lauschte wieder angestrengt. „Alles ruhig. Macht weiter“, gab ich dann weiter. Kipps nickte verstehend und nun war es Lockwood, der das Loch vergrößerte. Abwechselnd hatten sie in kurzer Zeit den hohlen Teil der Wand frei gelegt. Ein wenig erschöpft blickten sie zu uns. Immer noch regte sich nichts, wenn gleich sich ein leichtes Rauschen auf meine inneren Ohren legte. „Es ist einfach zu ruhig. Vielleicht sind wir doch im falschen Raum“, meinte Holly. „Werden wir gleich sehen.“ Lockwood griff nach einer Petroleumlampe und entzündete diese. Vorsichtig leuchtete er in den dunklen Gang, der sich aufgetan hatte. Natürlich hätte er auch seine Taschenlampe benutzen können, aber ihr müsst wissen, kleine Flammen sind Geisterindikatoren. Manifestiert sich eine Erscheinung bald, fangen sie an zu flackern und gehen aus. George zückte sein Thermometer. Vor ihm gingen Lockwood und ich mit gezückten Degen. Hinter ihm bildeten Holly und Quill die Nachhut. „Halt! Die Temperatur sinkt rapide“, meldete George auf einmal. Doch nicht nur er nahm etwas beunruhigendes wahr. Zuerst hatte ich es gar nicht bemerkt, da ich es für das Rauschen meines Blutes gehalten hatte, dass durch mein aufgeregtes Herz schneller floss. Das vermeintliche Rauschen hatte sich nun zu einem Stimmengewirr hochgearbeitet. Nur was sie sagten, konnte ich beim besten Willen nicht verstehen. „Ich höre Stimmen“, ergänzte ich. „Wie viele? Die vom Geistermädchen auch?“, fragte Lockwood. „Ich weiß nicht, ob sie dabei ist. Es sind zu viele.“ „Ich habe auch bemerkt, dass hier ein ziemliches Miasma sich aufbaut.“ Holly verzog angewidert die Nase. „Maladigkeit ist auch am Start.“ Kipps blickte zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Kriechendes Grauen ebenfalls.“ George rückte sich erneut die Brille zurecht. „Dann haben wir ja alle vier Vorwarnungen beisammen“, stellte Lockwood fest. Keiner von uns traute es sich zu sagen, aber es war kein gutes Zeichen. Überhaupt kein gutes. Nein, versteht mich nicht falsch. Natürlich kannten wir alle diese Vorzeichen, sie traten auch ab und zu in Kombination miteinander auf. Aber alle vier, Eishauch, Maladigkeit, Miasma und kriechendes Grauen, zugleich und in dieser Intensität? Glaubt mir, dass bedeutete wirklich nichts Gutes. „Wir haben ein Problem, Tony.“ „Ich sehe es vor mir, Kipps. Ich sehe es.“ Im Gang vor uns schwappte uns dicker Geisternebel entgegen und dicht hinter dieser sich ergießenden Welle, machten wir die ersten Erscheinungen aus. Es waren nicht wenige, so viel sei schon mal gesagt. „Dann solltest du vielleicht auch noch einen Blick hinter uns riskieren, Tony.“ „Was?!“ Lockwood, George und ich drehten unsere Köpfe in die Richtung, in welche Holly und Kipps blickten. „Verdammt! Wie kann das sein? Wir haben gestern das komplette Haus im Auge gehabt. Wie konnten uns diese Erscheinungen entgehen!?“, fragte ich. Ich konnte es nicht verstehen. Es war einfach unmöglich. Jeder hatte doch nur dieses Geistermädchen gesehen, und jetzt? Klar, wir hatten damit gerechnet, dass Fittes hier irgendwas gemacht hatte, aber mit dieser Geisterarmee hatte niemand gerechnet! Ich fühlte mich erinnert an das alte mörderische Ehepaar, welches ebenfalls eine Art Geisterarmee bei sich gehabt hatte. „Okay. Leute ruhig bleiben. Ich würde sagen Rückzug. Das ist nicht das, was wir erwartet haben. Kipps, Holly, George, ihr kümmert euch um die Geister aus Richtung Arbeitszimmer. Wir müssen zurück in das Haus. Wenn nötig sprengt den Weg frei. Luce und ich, wir werden die Geister auf der anderen Seite aufhalten, verstanden? Gut, dann los!“ Gesagt, getan. Kipps und George zückten die Degen und rannten auf die Geister zu. Holly warf die ersten Salzbomben zwischen sie hindurch auf diese. Die Geister vor Lockwood und mir schienen aufgebracht darüber und griffen, wie zu erwarten gewesen war, an. Mit geschickt geübten Paraden boten wir ihnen die Stirn. Lockwood und ich, wir waren einfach ein super Team, was so etwas anging, dass stellte ich immer wieder bei solchen Einsätzen fest. Wortlos fochten wir gegen die Geister an. Immer mit einem halben Blick auf unsere Freunde, die uns einen Ausweg sprengten. Die Erschütterungen wurden immer regelmäßiger, der Rauch immer dichter und eins mit dem Geisternebel. Nach kurzer Zeit lag nicht nur Salzgeschmack in der Luft, sondern auch Eisengeschmack. Das regelmäßige Aufleuchten hatte uns aber schon vorher zu verstehen gegeben, dass Holly zu den Leuchtbomben, welche unter anderem auch mit Eisenspänen gefüllt waren, übergegangen war. „Jetzt kommt! Der Weg ist frei!“, schrie Kipps. Das ließen Lockwood und ich, uns nicht zweimal sagen. Eine Leuchtbombe pfiff an meinen Ohren vorbei, als wir uns umdrehten zum Sprint. Ihre Druckwelle katapultierte uns unsanft ins dezent verwüstete Zimmer. In diesem wurden gerade die letzten Flämmchen von Holly und George gelöscht. „Alles in Ordnung bei euch?“, fragte George. „Ja. War gutes Timing“, keuchte Lockwood neben mir. Als er mir auf die Beine geholfen hatte, starrten wir in den dunklen Gang, der in die Wand führte. „Wir haben einen Fehler gemacht“, sagte Holly dann. „Und der wäre?“, fragte ich. „Diese Gipsbetonplatte, die Lockwood und Kipps entfernt haben, hatte eine leichte Eisenlegierung auf der Rückseite. Ich nehme an, dass die Wände alle irgendwo so etwas enthalten. Das sollte der Grund sein, weswegen wir die Geister bisher nicht wahrgenommen haben.“ George wischte sich während der Erklärung die Brille an seinem T-Shirt ab, um die Spuren von Salz und Eisenspänen wegzubekommen. „Das würde aber bedeuten, dass die Quelle des Geistermädchens… irgendwo ist, wo keine Eisenlegierung ist.“ „Exakt, Lockwood.“ Ich folgte der Unterhaltung nur bedingt, während ich meinen Degen wegsteckte. Ich konnte meinen Blick nicht von dem Gang lösen. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit und die Stimmen in meinem Kopf schwollen wieder an. „Lucy? Was hast du?“ Ich riss mich los und blickte in Kipps fragendes Gesicht. Lockwood kam sichtlich besorgt näher. „Ich… ich glaube… da kommt… “ Ein Klirren aus dem Haus ließ uns zusammenfahren. Kurz darauf vernahmen wir ein Poltern im Nachbarzimmer. Noch bevor jemand irgendetwas sagen konnte, flog die Tür aus den Angeln, wirbelte in der Luft herum und durchbrach dann das Fenster. „Zurück in das Foyer! Schnell!“, schrie Lockwood und packte meinen Arm. Wir stolperten auf den Flur hinaus und wurden von einer Druckwelle fast von den Füßen geschleudert. In nicht weiter Ferne leuchtete ruhig unsere Lampe in unserem Bannkreis. Ohne ein weiteres Wort rannten wir darauf zu. Dabei wichen Lockwood und ich einem Leuchter aus, welcher sich von der Wand im Flur löste. Kipps übersprang mit Holly einen Stuhl, der nach ihnen geworfen wurde. George duckte sich unter einem fliegenden Tisch durch. Der Bannkreis rückte bereits in erreichbare Nähe, als eine noch stärkere Druckwelle uns zu Fall brachte. Kaum, dass wir uns berappelt hatten, wirbelte eine weitere uns durch die Luft und auseinander. Unsanft wurde ich gegen die Wand des Foyers geschleudert. Mein Rücken schmerzte und es fühlte sich an, als hätte jemand die Luft aus mir wie aus einer Luftmatratze gedrückt. Benommen und panisch rang ich nach Luft. Ich versuchte, mich wieder zu sammeln und blickte mich nach den anderen um. „In den Kreis!“ Kipps‘ Schrei galt nicht mir, wie ich beim zweiten Blick feststellte. Ich sah, wie Kipps Holly half, vom Kronleuchter unbeschadet herunterzukommen, während Lockwood einige Stühle mit einem Brett abwehrte und ihm damit Rückendeckung vor dem Poltergeist, der sich hier gerade entlud, zugeben. George hingegen hinkte verletzt in Richtung Bannkreis. „Luce? Bist du okay?“, rief Lockwood, der mich gesehen hatte. „Ja. Es geht.“ „Kannst du laufen?“ „Denke schon.“ „Versuch, in den Bannkreis zu kommen. Wir helfen dir, sobald wir Holly haben.“ Ich nickte verstehend und versuchte meine zitternden Knie wieder meiner Kontrolle zu unterwerfen. Kaum hatte ich dies geschafft, musste ich auch schon einigen Büchern ausweichen, welche nach mir geworfen wurden. In meinem Kopf hatte das Rauschen eine konstante Lautstärke angenommen, die schmerzte. Die Stimmen begannen auch wieder durch zukommen. Ich schüttelte leicht den Kopf und stolperte über eines der Bücher. „Luce! Pass auf!“ Lockwoods Schrei riss mich fort von dem Rauschen und den Stimmen. Ich blickte zu ihm, dann hörte ich ein hölzernes Rattern. Als ich zum Hauseingang sah, flog mir bereits das erste Parkettbrett entgegen, dicht gefolgt von vielen mehr. Die Bodenbretter wurden hochgerissen von einer weiteren Druckwelle. Noch bevor ich beginnen konnte zu laufen, traf mich eines der Bretter am Kopf. „Luce!“ Ich taumelte leicht benommen rückwärts, aus dem Augenwinkel erkannte ich Lockwood und Kipps, die auf mich zuhielten. Bevor Lockwood mich greifen konnte, wirbelte mich eine Windhose hinauf und ein Wall aus Brettern tanzte um mich herum. Ich sah zu meinem Liebsten, welcher nach einem Plan suchte, um mich aus den Fängen des Poltergeistes zu befreien. „Lockwood, gib mir deine Eisenkette“, hörte ich Kipps. „Hey Lucy. Ich werfe dir die Kette zu. Versuch, sie zu greifen, hörst du?“ Ich nickte verstehend und sah wie Lockwood duckend das eine Kettenende festhielt, während Kipps den anderen Teil schwang und in meine Richtung warf. Der erste Versuch prallte an den Brettern ab und ein weiteres Tosen begann hinter Lockwood und Kipps. Doch die beiden ließen sich davon nicht beirren und der Rothaarige unternahm einen weiteren Versuch. Diesmal schaffte er es durch die Bretter hindurch-zukommen und ich schaffte es sogar, die Kette zu greifen. Diese begann wie wild an meiner Hand zu zerren, als weitere Bretter an ihr zerbarsten. Der Sturm außen nahm zu. Ich sah, wie Kipps und Lockwood darum kämpften, nicht die Kette und den Halt zu verlieren. Ohne einen Blick nach unten in das Loch zu meinen Füßen zuwerfen, begann ich von meiner Seite aus, die Eisenkette entlang-zu-hangeln und ihnen entgegenzukommen. Der Poltergeist indes drehte nun komplett auf. Inventar aus anderen Räumen bahnte sich seinen Weg ins Foyer und attackierte meine beiden Kollegen. Ich weiß nicht mehr genau, was es war, aber plötzlich rutschte ich wieder weiter rein in den Wirbel. Lockwood lag am Boden und Kipps rutschte immer weiter zur mir und dem Abgrund. „Tony, man, mach keinen Mist! Steh wieder auf!“ Ein Heulen drang aus dem Loch unter mir und ein weiterer Wirbel zog Kipps den Boden unter den Füßen weg. Lockwood griff noch nach Kipps‘ Bein. Ein Stuhl war es, welcher gegen die Verbindung mit Wucht geschleudert wurde und sie trennte. Kaum war Kipps auf meiner Höhe in der Luft passierte etwas, was ich nicht so schnell mehr vergessen würde. Eine erneute Welle kam und riss uns mit. Meine Schulter krachte gegen das liegende Parkett des kleinen Seitenflures, welchen wir eben noch entlanggelaufen waren, und hob die Bretter an. Einige zerbrachen. Kipps flog in einigem Abstand, an der Kette festhaltend, hinter mir her, mit Mühe dabei den Brettern ausweichend oder sie abwehrend. Seine Worte, ich solle auf gar keinen Fall die Kette loslassen, kamen sehr dünn bei mir an. Etwas metallisches flog gegen meine Arme und mein Kopf machte unliebsame Bekanntschaft mit einem weiteren Gegenstand. Anschließend wurde alles ruhig. Kapitel 3: ----------- Als ich die Augen wieder öffnete lag ich auf einem feuchten, kalten Steinboden. Meine Handgelenke schmerzten fürchterlich. Genauso wie mein Kopf und mein Rücken. Ach, wenn ihr es genau wissen wollt, mir tat einfach alles scheiße weh! Mühsam kämpfte ich gegen das Dröhnen in meinem Kopf an, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich blickte mich um, konnte jedoch nichts als Schwärze ausmachen. „Lockwood? … Kipps? … Holly? … George? Seid ihr hier irgendwo?“, fragte ich etwas lauter. Zu schreien traute ich mich nicht, war auch gar nicht nötig, denn meine Worte hallten von den Wänden wider. Ich tastete zuerst nach meinem Degen, welcher unversehrt an meinem Gürtel baumelte, danach nach meiner Taschenlampe und hoffe, dass sie nicht zu Bruch gegangen war. Anscheinend hatte ich einmal mehr Glück im Unglück gehabt. Während ich sie anschaltete, schloss ich die Augen für zehn Sekunden, damit sich diese schneller an die neue Helligkeit gewöhnten. Ich hatte nicht vor die Taschenlampe lange anzulassen, schließlich konnten mir auch hier, wo immer ich auch war, Geister begegnen. Ich leuchtete den Fußboden entlang, welcher aus unebenen Steinen bestand. Er wirkte auf mich, wie ein alter Pfad. Wie ich kurze Zeit später feststellte, traf das Wort Straße wohl besser zu. Zu meiner linken und rechten Seite befand sich nichts. Erst, als ich weiter nach links steuerte, kam eine rohe Felswand in den Lichtkegel meiner Lampe. Von Kipps oder einem der anderen war weit und breit nichts zu sehen. Ich richtete den Strahl nach oben, doch er fiel nur in erdrückende Schwärze. Etwas helles oder ein Teil der Oberfläche waren nicht auszumachen. Dass ich mich unter der Erde befand, stand für mich völlig außer Frage. Es roch muffig und feucht hier. Frische Luft gab es nicht. Die Feuchtigkeit machte die gefühlte Kälte nur noch stärker. Die nächste Frage, die sich mir stellte, war, wohin sollte ich gehen? Ich blickte hinter und vor mich. Doch auch hier sahen beide Optionen gleich aus. Nach einigem Hin und Her, entschied ich mich nach vorne zugehen. Bevor ich los ging schaltete ich die Taschenlampe wieder aus und griff nach einer Kerze. Dabei streifte meine Hand ein kleines Stoffbündel. Es dauerte eine Weile bis ich mich darin erinnerte, dass dies die Adrenalinspritze sein musste, die ich von Holly bekommen hatte. Es war nichts Feuchtes am Tuch zu spüren. Anscheinend hatte auch die Spritze alles unbeschadet überstanden. Meine Hände taten sich schwer, die Kerze zu entzünden. Durch die Kälte und auch die Schmerzen, die immer noch spürbar waren, zitterten sie stark. Zuerst einmal verschüttete ich vor Zittern die Streichhölzer zu einem großen Teil auf den Boden. Diejenigen, die davon nicht nass wurden, brachen beim Versuch sie an der Reibfläche zu entzünden ab. Nach einigen leisen Flüchen und stillem Verharren, um nach Geistern Ausschau zu halten, gelang es mir endlich, die Kerze zu entfachen. Ihre Flamme tänzelte umher und würde mir sowohl Licht spenden, als auch als Vorwarnung vor Geistern dienen. So setzte ich meinen Weg fort und versuchte, mich wieder voll und ganz auf meine Geistersinne zu fokussieren. Die Schmerzsignale, die von allen Bereichen meines Körpers zu meinem Kopf gesendet wurden, auszublenden, gestaltete sich dabei als sehr schwierig. Mein Zeitgefühl hatte ich, dort wo ich war, schnell verloren. Meine Uhr war kaputtgegangen und zeigte nichts mehr an. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn alles heil geblieben wäre. Dennoch war ich glücklich darüber, dass nur sie ausgefallen war. Ein verlorener Degen wäre für mich wesentlich tödlicher gewesen. Mit Leuchtbomben allein konnte man sich schließlich nur kurzzeitig wehren. Mittlerweile hatte sich das Umgebungsbild verändert. Die kahlen Steinwände waren nicht mehr zu sehen, da sie von ziemlich alten und schrägen Steinhäusern verdeckt wurden. Der Pfad hatte sich zu einer schmalen Gasse entwickelt. Mir jagte immer wieder ein Schauer über den Rücken, während ich dort entlang ging und so einige Male blieb ich stehen, um mich zu vergewissern, dass es meine eigenen Schritte waren, die hier widerhallten. Sonst wirkte es hier sehr ruhig, auch wenn ich mit meinen inneren Sinnen etwas Schwaches wahrnehmen konnte. Die Schmerzen, welche ich versuchte auszublenden, sorgten jedoch dafür, dass ich es nicht genau verstehen konnte, was die feinen Stimmen sagten. Ich fragte mich, wo ich hier war. Von einer ehemaligen Stadt hatte George geredet. War das Leather, die dem Erdboden gleich gemacht worden war? Oder war ich woanders? War ich überhaupt noch in der Nähe der Reynolds Road Nr. 7? Die Flamme der Kerze begann zu flackern. Würde ich hier je wieder rauskommen? Würde ich je wieder in den warmen Armen von Lockwood liegen? Suchte er nach mir? Würde er mich finden? Die Antworten auf diese Fragen waren ungewiss und doch schlich sich immer wieder das Wort Nein in meine Gedanken. Ich würde hier sterben. Egal auf welche Weise, aber ich würde hier umkommen. Das stärker werdende Flackern der Kerze ließ mich blinzeln, zog mich aus meinen Gedanken. Dass ich erschöpft war, hatte ich gewusst, wie sehr, merkte ich erst jetzt. Ich begann, die Maladigkeit so gut es ging von mir abzuschütteln, um nicht in eine Geisterstarre zu verfallen. Denn mein Geisterindikator, die Kerze, flackerte wie verrückt. Als ich meinen Fokus wieder auf meine inneren Ohren legte und mich gegen eine der Häuserwände lehnte, hörte ich Pferde wiehern und Hufe trappeln. Schreie, das Knistern von Feuer und Schwertklingen, die aneinanderschlugen. Als ich die Augen wieder öffnete, war es hell in der Stadt und die Hitze eines Feuers war spürbar. Menschen liefen die Straßen entlang. Hinter einigen waren Reiter in Rüstungen. Kinder schrien und wurden von ihren Müttern oder wildfremden Frauen fortgeschafft. In der Ferne läutete eine Glocke. Es roch nach Blut und Tod. Ein Pferdeschnauben dicht an meinem Nacken ließ mich zusammenfahren. Die Verbindung zu der Vergangenheit des Ortes, welche ich durch die Berührung mit der Wand erfühlt hatte, riss ab und ich stand wieder im Dunkeln allein. Nun vielleicht doch nicht ganz so allein und so dunkel, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Kerze war erloschen, aber stockfinster war es dennoch nicht. Der Schatz ist unser. Helles Anderlicht strahlte hinter mir hervor und beleuchtete einen Teil der Straße. Nun, hätte es zumindest, wenn diese nicht auf einmal mit dichtem Geisternebel bedeckt gewesen wäre. Die Steine des Bodens waren kaum mehr zu erkennen. Langsam drehte ich mich um. Ziemlich nahe bei mir stand eine Ritterrüstung. Das Visier war hochgeklappt und leere Augenhöhlen starrten mich an. Aus einer räkelte sich ein Wurm und einige Hautfetzen hingen noch an einer Wange. Ich zückte meinen Degen und durchstieß den Alb, welcher sich manifestiert hatte. Die Erscheinung verschwand und Rauch stieg von meiner Klinge auf. Ich atmete tief ein und aus, um meinen Herzschlag wieder zu beruhigen und meine Sinne wieder zu öffnen. Stimmengewirr überflutete meine Ohren und ich schüttelte den Kopf, um den Sinn wieder zu verschließen. Doch es war nicht möglich. Sie waren zu penetrant, als dass ich eine Chance hatte, sie zu ignorieren. Ich sah in einiger Entfernung, wie sich der Alb von eben wieder manifestierte. Diesmal etwas Abstand haltend zu mir. Die Frage war nur, wie lange er diesen halten würde. Der Schatz ist unser, wiederholte er. Ich atmete erneut durch und versuchte es wieder mit meiner Methode. „Ich will ihn euch auch nicht nehmen.“ Gib uns den Schatz! Eine weitere Stimme drängte sich in den Vordergrund und ein weiterer Alb in einer Rüstung, sowie auf einem Skelettpferd sitzend, welches mit dem Hufen scharrte, erschien. „Ich habe keinen Schatz. Ich weiß nichtmal, wo er sein soll. Aber… ich kann euch helfen, ihn zu finden, wenn ihr mir sagt wo er sein soll.“ Gib uns den Schatz! Er will ihn für sich allein. Los, holen wir ihn uns! Bringt ihn zum reden. Mein Schwert wird seine Zunge lockern. Ein kaltes Lachen hallte in meinen Ohren wider. Mit jedem Satz erschienen mehr und mehr Geister hinter den ersten beiden. Ich stieß erschrocken Luft aus, welche als kleine Wolke hinauf schwebte. Meinen Degen fasste ich fester, während ich versuchte, nicht in Panik zu verfallen. Es waren zu viele. Wenn ich wenigstens den Ausgang wüsste, hätte ich mir zumindest mit Leuchtbomben den Rücken freihalten können, aber so wäre es nur Ressourcenverschwendung gewesen. Die Alben kamen nun auf mich zu. Erst langsam, dann schneller. Ich war von dem Anblick kurzzeitig wie gelähmt. Ich befreite mich aus der aufsteigenden Geisterstarre, bevor sie sich noch tiefer in mir einnisten konnte. Mein Degen durchtrennte einen Geisterarm, welchen der Mutigste von ihnen nach mir ausstreckte. Dann feuerte ich eine Salzbombe auf die Geistergruppe, um mir einen Vorsprung durch die dunkle Stadt zugeben. Ich wusste nicht, wohin ich lief. Hier und da kam ich ins Straucheln, wenn ich über das unebene Pflaster lief, konnte aber immer noch das Gleichgewicht wahren. Die Geisterschar hinter mir hatte sich nur kurz von der Salzbombe beeindrucken lassen und begann ihre Aufholjagd. „Verschwindet! Ich weiß nichts von einem Schatz!“, schrie ich zu ihnen zurück. Wirkliche Hoffnung, dass sie mich verstanden, hatte ich allerdings nicht. Sie waren in ihrer Zeitschleife gefangen und hatten mich nun in diese eingebaut. Vor mir zeichnete sich eine Weggabelung ab und ich musste mich in Windeseile entscheiden. Wie lange würde ich ihnen noch entkommen können? Ich wusste es nicht und hoffte einfach, dass ich sie irgendwie doch abschütteln würde. Ich entschied mich für links und rannte mit meinem gezückten Degen weiter. Die Stimmen waren leiser geworden, aber immer noch präsent. Selbst das Pferdegetrappel der Hufe hörte ich noch. Ich riskierte es, mich einmal umzudrehen, um zu sehen, wie weit ich meine Verfolger abgehängt hatte. In der Ferne sah ich das Anderlicht aufleuchten. Ich war mir nicht sicher, vermutete aber, dass sie gerade die Kreuzung erreicht hatten. Vielleicht teilten sie sich ja auf. Ich hoffte, dass der Hall meiner Schritte nicht allzu deutlich war, um eine Richtung ausfindig zu machen. Ich versuchte, trotz des Laufens gleichmäßig sowie leise zu atmen und keine weiteren Geräusche von mir zugeben. Ich bog nach rechts in eine neue Gasse ein. Plötzlich bewegte sich unter mir etwas und ich geriet ins Straucheln. Bei dem Versuch mich mit dem anderen Fuß abzufangen, knickte ich um und landete unsanft auf den Boden. Aus Reflex streckte ich meine Arme voraus, um mich abzufangen. Dabei ließ ich meinen Degen los, welcher scheppernd zu Boden ging und im Nebel verschwand. Ihr wollt nicht wissen, was für Flüche ich in diesem Moment ausstieß. Fakt war, dass mein Plan leise zu sein nicht gerade von Erfolg gekrönt war. Ich rappelte mich auf und suchte blind nach meinem Degen, während ich dabei feststellen musste, dass mein Knöchel immer noch so stark schmerzte, dass ich ihn kaum belasten konnte. Gib uns den Schatz!, hörte ich die Stimme hinter mir und ein Schnauben folgte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da hinter mir lauerte. Einen weiteren Fluch ausstoßend rannte – eher hinkte – ich weiter geradeaus und überlegte, wie ich die noch vorhanden Leucht- bzw. Salzbomben einsetzen konnte. Meine Überlegung endete, genauso wie mein Weg, in einer Sackgasse. Vor mir baute sich eine hohe Steinmauer auf, links und rechts begrüßten mich die kalten Häuserwände – natürlich ohne Fenster. Ich drehte mich um und sank an der Mauer hinunter. Das war es! Die Maladigkeit brauchte mich gar nicht anfallen. Ich kam selbst auf diese Erkenntnis. Mit dem Fuß kam ich nicht weit, selbst wenn ich mir mit meinen Bomben einen Weg freiräumte. Die Zeitspanne wäre zu kurz. Mittlerweile befand sich hinter dem Alb-Reiter wieder die restliche Schar von vorhin. Als der Reiter näher kam, griff meine Hand automatisch zur Leuchtbombe. Es war mir egal, wie viel Zeit ich hatte danach. Mein Überlebenswille meldete sich. Kampflos würden sie mich nicht bekommen! Ich presste entschlossen meine Zähne aufeinander und umklammerte die Bombe fester. Plötzlich gab es einen lauten Knall und helles Licht flutete die Umgebung. Ich sah, wie die Häuserumrisse sich deutlich von diesem Licht abhoben. Eine Druckwelle folgte, welche meinen Magen etwas durchschüttelte. Der Geisterreiter hielt inne und drehte sich um. Erneut leuchtete es hell auf, eine weitere Druckwelle folgte und die Geisterschreie wurden lauter. Nun drehte sich der Geist mir wieder zu und folgte unbeirrt seinem Plan. Ich packte meine Bombe aus, um sie nach ihm zu werfen, als mich helles Licht blendete. Schützend hielt ich meine Arme vor das Gesicht. Die Helligkeit verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Das Gleiche galt für die deutliche Druckwelle, die mir einen endgültig flauen Magen verschaffte, und die Aufschreie der Geisterarmee. Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich in das skelettierte Gesicht des Geisterpferdes blicken. Ich spürte die Kälte, die von ihm ausging an meiner Nase. Leichte Eiskristalle bildeten sich an ihrer Spitze. Nur wenige Zentimeter trennten mich von einer Berührung. Die Kälte begann mich zu lähmen. Meine Hand gehorchte mir nicht mehr, wenngleich sie immer noch die Bombe umklammerte. „Beweg dich nicht!“, hörte ich jemanden rufen, dessen Stimme mir bekannt vorkam. Dann vernahm ich, wie etwas durch die Luft flog, dicht an meinem Gesicht vorbeirauschte und den Geist vor mir in zwei Hälften zerteilte. Wieder huschte etwas durch die Luft und zerschnitt den Geist sorgfältig bis er verschwand. Blinzelnd und zitternd versuchte ich, die Person vor mir zu erkennen, hinter der ein schwacher gelber Lichtschein leuchtete. „Lockwood, Schatz?“, fragte ich. „Äh, nein. Tut mir leid. Warte, ich hol die Geister zurück und sag ihm, dass er dich retten soll.“ Der Degen senkte sich und die andere Hand holte eine kleine, leicht demolierte, Petroleumlampe hervor, welche mir nun Kipps‘ Gesicht offenbarte. „Kipps?!“ „In voller Lebensgröße. Alles in Ordnung bei dir? Haben sie dich erwischt?“ Ich schüttelte den Kopf und spürte, dass ich wieder Kontrolle über meine Hand hatte. Ich steckte die Leuchtbombe wieder weg und rieb mir über die Nase, welche langsam wieder warm wurde. „Wo warst du? Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich, während ich seine dargebotene Hand ergriff, um wieder auf die Beine zu kommen. „Wo ich war und bin, keine Ahnung. Ich bin irgendwo in einem Haus zu mir gekommen. Dich zu finden war keine Herausforderung. Ich meine, eine ganze Geisterarmee war schon etwas auffällig.“ „Hey, ich hab sie nicht gerufen. Sie waren einfach da“, erklärte ich meine Lage. „Wie dem auch sei. Wir sollten hier weg, bevor unsere Freunde wiederkommen.“ Kipps drehte sich bereits zum Gehen um. Seine Augen, die durch die Brille übertrieben groß aussahen, blickten forschend in alle Richtungen. Ich sah mich ebenfalls im schwachen Schein seiner Lampe um. Der Geisternebel war dünner geworden, an einigen Stellen fehlte er ganz. Nicht weit vom Eingang der Gasse erblickte ich meinen Degen, welcher unter einem vermodernden Holzfass lag. Ich versuchte, darauf zu zueilen, doch mein Knöchel machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung. „Du bist verletzt?“, fragte Kipps verdutzt, „Wie ist das passiert?“ „Ich bin gestolpert im Geisternebel. Muss mir den Knöchel verstaucht haben. Meinen Degen habe ich auch verloren. Ich will ihn nur holen, dann können wir los.“ „Warte, ich mach das schon. Halt du die Sinne nach Geistern offen“, erwiderte Kipps. „Ich höre nichts. Es ist absolut ruhig.“ „Na, dann haben meine Leuchtbomben ja zumindest etwas gebracht.“ „Ist es noch weit dorthin, wo wir hinwollen?“ Ich schaute mir die Häuser an, an welchen wir vorbeigingen. Mein einer Arm lag über Kipps‘ Schultern und leitete seine Körperwärme an mich weiter, während er mich stützte. Die Lampe von ihm hielt ich in der Hand, welche über seinen Schultern lag. In der anderen hielt ich meinen Degen. Kipps‘ eine Hand lag dafür um meine Taille und unterstützte mich beim Gehen. In der anderen befand sich ebenfalls sein Degen. „Wir sind gleich da. Da vorne, der Palast. Da müssen wir rein.“ „In ein Haus?“, fragte ich überrascht, „Aber wir sind da viel leichter in die Enge zu treiben. Kipps, das ist Selbstmord!“ „Es ist ein Palast, kein Haus. Manchmal würde ich mir wünschen, du könntest mir auch einmal vertrauen. Lockwood läufst du auch blind hinterher.“ Seine Miene wurde ernst und sein Blick richtete sich stur geradeaus. Den Rest des Weges wechselten wir kein Wort. Ich stellte nur fest, dass er Recht hatte. Unser Ziel war wirklich ein Palast. Es waren zum Glück nicht so viele Stufen, wie man es aus Filmen her kannte. In der großzügigen Eingangshalle im Erdgeschoss leuchtete eine weitere kleine Petroleumlampe. Um sie herum lag kreisförmig eine Eisenkette, um diese wiederum Eisenspäne und ganz außen schloss sich ein feiner Salzkreis darum an. „Versuch mal, darüber zu steigen ohne etwas zu verwischen. Der Kreis ist klein, aber wir beide sollten einigermaßen drin sitzen können“, meldete sich Kipps zu Wort und half mir ins Innere. „Du hast einen Bannkreis gemacht?“, fragte ich ungläubig. „Ja, ich hatte ja noch die Kette von Lockwood. Ich habe sie nicht losgelassen.“ Ich rollte die Augen auf den anscheinenden Seitenhieb, schwieg jedoch. „Als ich in einem der Häuser aufgewacht war, hat mich eine Geisterdame hierhergeführt. Sie hat wohl etwas zu mir gesagt, aber ich konnte sie nicht hören. Ich habe mir dann gedacht, dass ich, bevor ich mich umschaue, nach dir suche oder die Geisterdame mörderischen Absichten nachgeht, ein Rückzugbannkreis nicht schaden kann.“ „Du wusstest, dass ich hier bin?“ „Zuerst nicht. Ich hatte gehofft, dass der Poltergeist dich auch hier nach unten gebracht hat und dass du noch lebst. Als ich die Stadt erkundet habe, hörte ich eine Bombendetonation. Da wusste ich, dass noch ein Lebender hier sein musste. Danach brauchte ich nur dem Anderlicht folgen. Und jetzt zeig mal deinen Knöchel her.“ Ich kam seiner Aufforderung nach und schob meinen Fuß zu ihm. Obwohl Kipps vorsichtig meinen Schuh auszog und meine zerfetzte Strumpfhose hoch bis zum Knie schob, konnte ich es nicht vermeiden, das Gesicht schmerzhaft zu verziehen. „Hm. Ziemlich dick und blau. Ich bin kein Arzt oder so, aber das sieht nicht sehr gut aus, Lucy.“ „Ach, das wird schon. Das ist gleich wieder besser, glaub mir.“ Kipps schwieg kurz. „Du bist nicht unverwundbar, Lucy. Genauso wie unsere Fähigkeiten ebenfalls vergänglich sind, wird auch dein Körper nicht mehr jede Verletzung auf die leichte Schulter nehmen.“ Ich sah ihn an, sein Blick ging ins Leere, als er ein Stück seines Hemdes zerriss, welches unter seiner Jacke hervorlugte. Vorsichtig und etwas strammer, als ich erwartet hatte, begann er damit, meinen Knöchel zu bandagieren. „Ich weiß“, wisperte ich, „Aber er ist sicher nur verstaucht.“ „Was wirst du später tun?“ „Später? Was meinst du mit später?“ „Wenn dein Gehörsinn verstummt.“ „Ich weiß es nicht. Ich denke, ein schönes Leben mit Lockwood führen. Aber daran will ich noch nicht denken. Ich bleibe im Hier und Jetzt, Kipps.“ Sein Blick ruhte auf mir, schien aber durch mich durchzusehen. Es war schwer für mich, seine Stimmung zu ergründen, da das Brillenglas seine Augen so verzerrte. „Da ist sie wieder“, sagte er dann völlig unerwartet. „Wer?“ „Die Geisterfrau, da vorne. Siehst du sie?“ Ich folgte seinem Fingerzeig und erblickte eine wunderschöne Frau in einem altmodischen, doch sehr edlen Gewand. Nun soweit schön zumindest, bis ich ihre Strangulationsmale am Hals sah. Ihr Mund bewegte sich, doch die Eisenkette schirmte die Worte ab. „Meinst du, du könntest sie verstehen? Sie scheint ein friedlicher Wiedergänger zu sein. Sie hat bisher zumindest keinen Angriff auf mich unternommen.“ „Wenn du mir hier wieder raushilfst und Rückendeckung gibst, versuche ich es“, sagte ich mit einem Hauch Zuversicht in der Stimme. Sie hat sie gebunden. Sie suchen vergebens den Schatz. Er ist nimmermehr hier. „Wer hat sie gebunden? Woran?“ Die Frau mit schwarzem Haar. Die Spieluhr bindet sie. Lässt sie suchen nach etwas, was sie vergessen haben. Die Frau schwebte die Treppe, welche in der Eingangshalle in den nächsten Stock führte, hoch und machte eine Geste, mir etwas zeigen zu wollen, doch als ich Anstalten machte, ihr zu folgen, spürte ich einen Widerstand, welcher an meinem Arm zog. „Lucy. Zurück in den Kreis schnell“, hörte ich Kipps. Ich hinkte in den Kreis zurück und achtete dabei darauf, dass ich nicht stolperte und etwas verschob. Kipps folgte mir, dann konnte ich sehen, weswegen wir zurück gehen mussten. Die Ruhe war vorbei und der Sturm kam. Metaphorisch gesehen. Ihr versteht? „Deine Geisterarmee ist wieder da.“ „Das ist nicht „meine“ Armee! Meinst du, der Kreis hält ihre Angriffe aus?“ „Ich denke eher nicht so. Bete dafür, dass sie nicht angreifen oder sich beim ersten Versuch davon abschrecken lassen. Und hast du hören können, was sie gesagt hat?“ Ich gab ihm wieder, was ich von dem Geist erfahren hatte. „Schatz?“ „Ja, davon sprachen die Rittergeister die ganze Zeit. Sie dachten, ich hätte ihn.“ „Okay. Und Frau mit schwarzem Haar, da muss ich irgendwie an Marissa denken. Das heißt, sie war hier unten und hat wieder irgendeinen Mist ausprobiert. Hört das denn nie auf!“, stöhnte er. Wir zuckten zusammen, als wir ein Zischen hörten. Der Geist wich zurück, als der Salzkreis ihn verletzte. Doch lange hielt der Schock bei ihm nicht an und der Salzkreis sowie der Eisenspänenkreis wurden mit einem Windhauch zerschlagen. Lediglich die Kette verrückte sich nicht. „Das sieht nicht gut aus. Meinst du, wenn wir die Spieluhr finden und verplomben, dass sie verschwinden, Lucy?“ „Keine Ahnung, die Geisterfrau sagte zwar, dass die Spieluhr sie bindet, aber nicht wie viele bzw. welche Geister.“ „Hm.“ Der erste Rittergeist startete einen Angriff auf uns, doch die Kette sorgte dafür, dass seine Hand verpuffte. Ich blickte hinab auf die doch recht dünne Kette und wieder hinauf zur der Geisterschar. Die Kette würden einem geballten Angriff keinen Widerstand leisten können. „Ich hab doch noch etwas gut bei dir, wenn ich mich recht entsinne.“ „Wir werden bald tot sein und du denkst über so etwas nach? Ja, du hast noch was gut bei mir. Zweimal sogar, wenn man es genau nimmt“, murmelte ich den letzten Teil heraus. „Na dann will ich zumindest einen schon mal. Lucy, ich habe einen Plan, aber dafür musst du mir vertrauen. Tust du das?“ Er sah mich an und beugte sich zu mir runter. So dicht, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spürte. „Ich… ich denke schon.“ „Okay. Ich gebe dir Rückendeckung, du versuchst so schnell wie möglich hoch zu kommen, suchst diese Spieluhr und verplombst sie.“ „Was? Auf gar keinen Fall! Bist verrückt Kipps?!“ Ich konnte nicht glauben, was ich da vernahm. Das war nun wirklich ein Selbstmordkommando, in erster Linie für ihn. Wie wollte er es mit einer Geisterarmee alleine aufnehmen, welche auf ihn fokussiert war? Wem oder was wollte er denn damit etwas beweisen? Der nächste Moment überrumpelte mich genauso, wie sein wahnsinniger Plan wenige Sekunden zuvor. Seine warmen Lippen legten sich auf die meinen. Nach einem Moment der Überraschung stieß ich ihn von mir und meine Hand flog automatisch durch die Luft. Ich konnte den Reflex nicht unterdrücken. Feurig rot, wie sein Haar, leuchtete nun auch seine Wange, welche Bekanntschaft mit meiner Hand gemacht hatte. Während die Geister nun anfingen, sich gegen unseren Schutzkreis aufzubäumen, standen wir nur schweigend da. Ein Grinsen zeichnete sich dann auf Kipps‘ Mund ab. „Dein Temperament, deine Treue… ich beneide Tony sehr. Nichtsdestotrotz sollten wir uns an die Umsetzung meines Plans machen.“ „Hast du mir nicht zugehört? Du bist verrückt!“ „Nicht viel mehr als Tony. Du hast doch gesagt, dass du mir vertraust. Außerdem haben wir keine Zeit mehr, uns einen anderen Plan auszudenken.“ Er hatte Recht. Die überschlagenden Kettenenden bebten und wackelten unter den Angriffen. Man konnte förmlich sehen, wie sie mehr und mehr auseinander glitten. „Na gut“, stimmte ich seinem Plan zu, „Aber nimm noch ein paar Bomben von mir.“ Er übernahm zwei Leuchtbomben von mir und zündete sie genau in dem Moment, als die Enden auseinander glitten. Im Schutze des grellen Lichts, welches ich mit den Händen versuchte abzuschirmen, und des Lärms hinkte ich so schnell ich konnte in Richtung der Treppe. Hinter mir hörte ich den Degen von Kipps durch die Luft segeln. Ich blickte mich nicht um, versuchte mehr schlecht als recht zu rennen. Durch den provisorischen Verband war dies sogar einigermaßen möglich. Oben angekommen blickte ich die beiden Gänge entlang, überlegend wohin ich gehen musste. Bis ich sie wieder sah. Die Geisterfrau schwebte vor mir und ließ mich durch eine einladende Handbewegung wissen, dass ich ihr folgen sollte. Ich hörte das schwere Atmen von Kipps, die Stimmen der aufgebrachten Geister und eine weitere Bombe hochgehen. Die Frau führte mich eine weitere Treppe hinauf und blieb in einem Zimmer stehen. Die Einrichtung ließ nicht mehr genau erkennen, um was es sich mal gehandelt hatte. Das Einzige, was ich gleich bemerkte war, dass der Fußboden nicht mehr der Sicherste war. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen. Als ich wieder zur Geisterdame spähte, deutete sie mit dem Finger auf eine Kiste. Die Spieluhr, mutmaßte ich. Die Größe allerdings überraschte mich sehr. Sie war so groß wie ein durchschnittlicher Nachttisch. Ich griff in meine Tasche und suchte nach dem Silbernetz. Als ich es fand und wieder zur der freundlich lächelnden Wiedergängerin sah, überlegte ich nur kurz, bis mich entschied sie noch einmal etwas zu fragen. „Wo sind wir?“ Ihr seid in der vergessenen, unterirdischen Stadt Leather. „Wie kommen wir hier fort zurück an die Oberfläche?“ Geht vom Palast nach rechts und folgt dem Flussbett. Nimm die Bärin dort mit. Ein Mädchen an der Oberfläche sucht sie, um Frieden zu finden. Nun beeile dich. Erlöse diese Stadt. Gib ihr wieder Frieden. Gerade als ich sie fragen wollte, wem ich den Teddybären, welcher auf einem vermoderten Bettenrest lag, geben sollte, hörte ich einen Schrei von unten. Mir lief die Zeit fort. Ich breitete das Silbernetz zu seiner vollen Größe aus und warf es über die Spieluhr. Die Geisterfrau verschwand augenblicklich, mit ihr die Stimmen der anderen Geister in meinem Kopf. Stille kehrte ein. Ich stolperte hektisch die erste Treppe hinab und fand Kipps auf den Stufen der anderen liegend. Er hielt sich seinen Fechtarm. „Ich wusste, dass du es noch rechtzeitig schaffst, Lucy“, meinte er und quälte sich zu einem Grinsen. „Was ist?“ Ich nahm zwei Stufen mit einmal und stolperte erneut. Nur der beherzte Griff zum Treppengeländer verhinderte einen unliebsamen Sturz. Als ich bei Kipps ankam, sah ich was war. Seine Hand begann, sich bläulich zu verfärben und Kipps fror. Einer der Geister musste ihn berührt haben. Die Geistersieche begann sich auszubreiten. „Und ich dachte, ich könnte alt werden. War wohl nichts.“ „Nein, Kipps. Sag so etwas nicht. Ich weiß, wie wir hier herauskommen. Du musst nur durchhalten.“ „Lucy, wir wissen beide, dass die Sieche schneller sein wird. Schneller als die Sanitäter mit der Adrenalinspritze.“ Adrenalinspritze schoss es mir durch den Kopf und ich hatte Mühe, vor Freude nicht zu weinen. Ich griff in meine Tasche und zog – zu Kipps‘ Erstaunen – die wichtige Adrenalinspritze hervor. „Will ich wissen, woher du sie hast?“ „Später Kipps. Später. Jetzt halt still“, meinte ich und versuchte dabei, meine unruhigen Finger unter Kontrolle zu bekommen, während ich den lädierten Jacken- und den Hemdärmel nach oben schob, um die Spritze setzen zu können. So etwas hatte ich noch nie gemacht und das merkte mir selbst Kipps an. Ohne, dass ich etwas dagegen tun hätte können, griff er nach der Spritze, zog mit den Zähnen die Kappe ab und stach sie sich in den Arm. Das Zittern begann augenblicklich nachzulassen und die bläuliche Färbung schien sich nicht weiter auszubreiten, für das Erste zumindest. „Möchte ich wissen, wo du den Umgang gelernt hast?“, fragte ich nun sichtlich erleichtert und mit einem entsprechenden Grinsen auf den Lippen. „Wenn du solche Einsätze, wie ich sie gehabt habe, gehabt hättest, könntest du das auch, glaub mir. Wo ist die Spieluhr und was ist das Pelzige da in deiner Tasche?“ Kipps und ich hatten das Silbernetz über der Spieluhr noch einmal zusätzlich gesichert. Die BEBÜP musste hierher und sie später entsorgen. Tragen kam in unserer Verfassung nicht in Frage. Was es mit den Teddybären auf sich hatte, hatten Kipps und ich in einem langen Gespräch zurück an die Oberfläche irgendwann auch geklärt bekommen. Wir vermuteten, dass der Bär, die „sie“ war, nachdem das Geistermädchen in der Reynolds Road Nr. 7 fragte. Auf die Frage, wieso das Geistermädchen dann aber in dem Haus an der Oberfläche spukte, hatte Kipps auch eine Antwort. Nachdem er den Teddy kurz gemustert hatte, hatte er entdeckt, dass dem Tier ein Arm ausgerissen worden war. „Wahrscheinlich ist ihr Geist an diesen Teddy gebunden, aber sie hat aktuell nur den ausgerissenen Arm und brauch den ganzen Bären, um wieder zur Ruhe zu kommen.“ „Das heißt, wir müssen den Arm vom Teddy finden, ihn annähen und dann ist Ruhe?“ „Wahrscheinlich ja. Und wir wissen in welchen Bereich der Arm nur sein kann.“ „Überall, wo keine Eisenlegierung verwendet worden ist.“ „Richtig.“ Der Weg, den die Wiedergängerin im edlen Gewand uns beschrieben hatte, schien richtig. Uns gegenseitig stützend, spürten wir bald einen frischen Luftzug und einen Anstieg des Bodens. Er war steil und kostete viel Kraft. Als wir das gefrorene Gras unter unseren Stiefeln knirschen hörten, atmeten wir beide hörbar auf. Erschöpft ließen wir uns ins Gras sinken, wobei Kipps verletzter Arm, immer noch kalt war und somit den frischen Raureif nicht zerstörte. Unter meiner wärmeren Hand begann er zu schmelzen und die Feuchtigkeit auf meiner Haut ließ mich erschaudern. „Lass mich nur kurz verschnaufen, dann können wir weiter“, bat Kipps und schloss kurz die Augen. „Ist gut.“ Bald würde es Morgen werden. Die Nacht musste weichen, denn am Horizont war bereits ein helllila Streifen zu erkennen. Es war keine Wolke am Himmel auszumachen. Sterne blinkten uns von oben zu. Wahrscheinlich würde es ein klarer Tag werden. „Glaubst du wirklich, Tony wird jemals aufhören, Geister zu jagen?“ Kipps schob seine Brille nach oben. Die Abdrücke dieser waren wie immer deutlich um seine Augen zu erkennen. „Ich glaube, er wird es immer wollen. Egal, ob an vorderster Front oder in der hinteren“, erwiderte ich, auch wenn ich mit diesen Gesprächsinhalt nicht gerechnet hatte. „Er wird immer an vorderster Front sein. Ich habe Angst, dass er dich dann nicht mehr wahrnimmt.“ „Was? Wieso sollte er mich nicht mehr wahrnehmen? Kipps, sei nicht lächerlich. Auch er wird die Gabe verlieren, wie ich.“ „Nein. Er kann mit der Brille hier, genauso wie ich, weiterkämpfen. Genauso wie Holly und George. Sie sind alle Sehende und wir wissen, dass es George bald gelingen wird, weitere dieser Brillen zu fertigen. Doch du? Deine Spezialität ist das Hören in erster und einzigartiger Linie. Auch das Fühlen in zweiter Linie ist gut ausgeprägt bei dir. Die Orpheus-Gesellschaft hat noch nichts erfunden gehabt, was diese seltene Fähigkeit des feinen Hörens aufrecht erhält.“ Ich wollte den Mund öffnen, um etwas zu erwidern, doch meine Worte verpufften noch bevor ich sie aussprechen konnte, als mir klar wurde, dass er Recht hatte. Er wandte sich mir zu. Der Abdruck meiner Hand war nicht mehr zu erkennen auf seiner Wange. Warum er mich geküsst hatte, darauf hatte ich keine Antwort gefordert und es schien, als würde ich sie auch nicht einfordern müssen. „Es hat lange gedauert, bis ich es verstanden habe, es begreifen konnte. Seit einigen Wochen ist mir aber endlich klar, dass nicht der Wunsch, Geister bis ans Lebensende zu jagen, mich zu Lockwood & Co getrieben hat – nicht nur zumindest – sondern du. Deine Fähigkeit faszinierte mich von Anfang an. Nachdem ich euch beigetreten war, bemerkte ich immer mehr an dir, was mir gefiel. Lucy, ich weiß, dass ich alles aufgeben würde für dich. Ich würde dich nie alleine lassen, wenn du irgendwann keine Fähigkeiten mehr hättest. Ich würde die Brille in Cubbins Gesicht werfen und mit dir ein erwachsenes Leben führen.“ Sein Gesicht war dichter gekommen und er sah mir tief in die Augen. „Ich bin besser für dich als Tony. Glaub mir.“ Ich spürte seine gesunde Hand meine Wange streicheln. Seine Lippen kamen dichter und legten sich erneut auf die meinen. Ich war zu gelähmt, um gleich zu reagieren. Seine Worte nagten an meinem Inneren, lösten Szenarien aus in meinem Kopf, die einfach nicht wahr sein konnten. Ich entzog mich seinem Kuss und wieder löste sich der Reflex in meiner Hand. Doch diesmal hielt Kipps‘ gesunde Hand sie auf. „Diesmal bin ich vorbereitet“, lachte er. Es klatschte und seine andere Wange begann sich rot zu verfärben. Er verzog überrascht das Gesicht und ließ meine Hand los. Das hätte ihm so passen können, dachte ich mir und ließ mir nicht anmerken, dass die Ohrfeige mit der anderen Hand mir selbst weh getan hatte. „LUCY?? KIPPS??“, hörten wir Stimmen unsere Namen rufen. Wir drehten unsere Köpfe in die Richtung, aus der sie kamen und mit etwas Mühe erkannten wir Silhouetten, welche sich vom anderen Schwarz abhoben. Es waren Lockwoods, Georges und Hollys Stimmen und sie kamen mir gerade recht. Mit Elan sprang ich auf und verzog das Gesicht, als mein Knöchel mir beleidigt die Realität erklärte. „WIR SIND HIER! KIPPS IST VERLETZT!“, schrie ich zurück. Die Silhouetten bewegten sich schneller und es tauchten noch weitere auf. Taschenlampenstrahlen blitzen auf und richteten sich auf unsere Position aus. „Lockwood wird mich niemals allein lassen. Hörst du? Niemals!“, sagte ich trotzig zu Kipps und begann, langsam auf die anderen zu zu hinken. „Wie du meinst. Aber Lucy…“ Ich hielt inne und drehte mich zu ihm. „Wenn er dich doch nicht gut behandelt oder allein lässt, dann werde ich da sein. Ich würde die Geisterjagd aufgeben für dich. Ich verspreche es dir, ich werde für immer auf dich warten und immer für dich da sein.“ Die Farben am Horizont wurden heller. Das kräftige Blaulila machte einem orangenen Schein Platz. Der Morgen verdrängte die Nacht und ließ den Raureif an den Bäumen und dem Gras wie abertausende Diamanten funkeln. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und wandte mich den näher kommenden Schritten zu. Es war keine Überraschung, dass es Lockwood war, der uns zuerst erreichte. „Luce, um Himmelswillen. Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Er zog mich in eine feste Umarmung gab mir einem Kuss auf den Kopf. Ich genoss seine Umarmung und schloss erschöpft die Augen. „Ja, mir geht es gut. Aber Kipps wurde von einem Geist berührt. Ich hab ihm eine Adrenalinspritze gegeben, aber er muss dringend behandelt werden.“ Lockwood ließ mich los, nur um mir einen innigen Kuss auf die Lippen zu geben, welchen ich gierig erwiderte. „Ist gut. Ich bin froh, dass es dir gut geht. Und dir natürlich auch“, meinte er an Kipps gerichtet, welcher den Blick von uns abwandte. „Geh zu den Sanitätern, ich bleibe bei Kipps und komme gleich zu dir.“ Ich nickte und löste mich widerwillig von ihm. Lockwood machte Anstalten, seinen Mantel auszuziehen, um ihn Kipps zum Wärmen zu geben, was zu Protesten führte. Ich blickte die beiden an und folgte dann Lockwoods Worten. Holly war es, welcher ich als nächstes in die Arme lief. „Lucy, ihr lebt. Gott sei Dank. Wir hatten solche Angst um euch, als ihr auf einmal von dem Poltergeist mitgerissen worden und in diesem Tunnel verschwunden seid, den wir vorher entdeckt hatten.“ Sie umarmte mich mit Tränen in den Augen. Tröstend strich ich ihr über den Rücken, was ein weiteres Schluchzen auslöste. „AUA, TONY!“ Kipps Worte ließen uns beide aufhorchen. Wir sahen herüber zu Lockwood und ihm. Der Rothaarige hatte Lockwoods Mantel über seinen Schultern liegen und der Körper von meinem Liebsten zitterte. Als Lockwood mit ernster Miene aufstand und zu Holly meinte, sie solle sich mal Kipps betroffenen Arm ansehen, war ich mir allerdings nicht sicher, ob er wirklich vor Kälte oder Wut am Körper zitterte. Er kam wieder auf mich zu und hob mich auf seinen Arm. „Ähm Lockwood, was… was soll das?“ „Dein Fuß ist verletzt, ich lasse nicht zu, dass du weiter gehst und es verschlimmerst. Ich bringe dich zu den Sanitätern, damit sie es sich angucken können.“ Ohne Widerstand ließ ich ihn mich tragen. Die ersten Sanitäter, die uns nun entgegenkamen, schickte er zu Kipps. Als ich über seine Schulter blickte, stellte ich erstaunt fest, dass Kipps eine aufgeplatzte Lippe hatte. Sie blutete frisch. Hatte Quill etwa… ? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. „Lockwood… ich...“, begann ich, nicht sicher ob ich ihn auf die Lippe von Kipps ansprechen sollte. „Ja, was ist?“, fragte er ernst zurück, wobei etwas liebevolles im Unterton zu erahnen war. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Ich bin so froh, wieder bei dir zu sein.“ „Und ich bin froh, dich wieder bei mir zu haben“, flüsterte er zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)