Winter der Verdammten von JoeyB (FF-Adventskalender 2019) ================================================================================ Kapitel 1: Winter der Verdammten -------------------------------- „Du kannst jetzt nicht schlafen.“ Er hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Sie klang nicht freundlich oder besorgt. „Hörst du mich? Hiev deinen Scheißhintern hoch.“ Ein klatschendes Geräusch. Seine Wange fing an zu brennen. Eigentlich brannte sie schon die ganze Zeit, aber auf eine andere Art. Thomas blinzelte erschöpft und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. Seine Wange war kalt, eiskalt. Er spürte, wie das Blut unter seiner Haut verlockend kribbelte, als hätte die Ohrfeige ein paar letzte Kräfte in ihm freigesetzt. Mark stand ihm gegenüber und hielt ihm die Hand hin. „Komm jetzt“, sagte er. Oder ich lass dich hier liegen, ergänzten seine Augen. Er war kein Mann, der sein Leben für einen Anderen riskieren würde. Dass er überhaupt noch bei ihm war, besorgte Thomas seit einiger Zeit mehr als dass es ihn beruhigte. Ungefähr seit Mark diesen Kommentar hatte fallen lassen: „Wenn du hier krepierst, werd ich mir ein schönes Stück Fleisch aus deinem Bein schneiden.“ Irgendwann würde der Punkt gekommen sein, an dem Schnee, Erde und Wurzeln ihre Mägen nicht mehr ausreichend füllen könnten. Mark hielt ihn nur am Leben, um ihn im Moment der größten Verzweiflung umbringen zu können. Thomas wollte nach Marks Hand greifen und verfehlte sie beinahe, weil er seinen Arm kaum oben halten konnte. Mark packte sein Handgelenk und zog ihn mit einem Ruck wieder auf die Beine. Woher er diese Energie hatte, war Thomas ein Rätsel. Aber er hatte Mark noch nie verstanden. Seine Stärke, seine Willenskraft, seine Grobheit. Mark drehte sich um und stapfte wieder los, folgte ihren Spuren im Schnee ein paar Meter lang und drehte dann nach links ab. Thomas trottete ihm müde hinterher. Jeder Schritt tat weh. Seine Stiefel waren mittlerweile so durchnässt, dass er seine Füße kaum noch spürte. Oberhalb der Knöchel setzten die Schmerzen ein. Wieso lebte er überhaupt noch? Auch der warme Schmerz unter seiner Wange ließ langsam nach. Er war beinahe traurig darüber. Der Schlag ins Gesicht hatte sich mehr nach Leben angefühlt als alles andere in ihm. Er wickelte seinen Schal enger, um mehr von seiner Haut zu bedecken. Seine Augen konnte er nicht schützen, sonst würde er die Gestalt verlieren, die vor ihm herlief und sich nur gelegentlich zu ihm umdrehte. Es wurde langsam dunkel. Noch eine Nacht würden sie nicht überleben. „Wir hätten niemals abhauen dürfen“, sagte er leise, als er Mark eingeholt hatte. Der Ältere war einen Moment lang stehengeblieben, um auf ihn zu warten. „Ich sterbe lieber in Freiheit als am Strick“, entgegnete Mark bloß. Aber auf Thomas hatte nicht der Strick gewartet. Zehn Jahre noch und er wäre frei gewesen. Ob er die zehn Jahre überlebt hätte? Keine Ahnung. Aber ein gewaltsamer Tod im Gefängnis kam ihm gerade milder vor, als über Tage hinweg zu verhungern und zu erfrieren. Er hatte oft genug gesehen, wie Gefangene gestorben waren: ein Messerstich, eine Kugel im Kopf, manchmal waren es auch einfach Schläge. Es ging schnell. Der längste Tod, den er mitansehen musste, hatte eine Stunde gedauert. Das war gnädiger als die Erkenntnis, dass man seine Gliedmaßen nicht mehr spürte. Die Kälte war grausamer als jeder der Mörder in diesem gottlosen Bau, den sie verlassen hatten. Warum bloß war er Mark gefolgt? Er hatte einfach nicht nachgedacht, es war alles so schnell gegangen. Der Schneesturm hatte die Wärter schon den ganzen Tag auf Trab gehalten. Schließlich war eine Tanne auf einen der Zäune gestürzt. In einem Moment der Unachtsamkeit hatte Mark ein Gewehr erbeuten können. Er hatte Thomas an der Hand gegriffen und mit sich gezogen, hinaus in Richtung Wald. Sie hatten unterwegs eine kleine Hütte geplündert, um warme Kleidung und Proviant zu finden. Thomas wünschte sich, er wäre dort geblieben. Er hätte sich in das warme Bett legen und darauf warten können, dass ihn jemand fand und zurückbrachte. Zehn Jahre Elend waren besser als ein tagelanger Tod. „Wenn wir es erstmal geschafft haben, wirst du mir dankbar sein“, setzte Mark hinzu. „Die werden meine Füße amputieren müssen“, sagte Thomas mehr zu sich selbst. Mark warf ihm einen verächtlichen Blick zu und ging dann weiter. Seine Schritte wurden allmählich doch langsamer, fiel Thomas auf. Vielleicht wartete er nicht aus Rücksicht auf ihn, sondern weil er die Pausen einfach selber brauchte. Sie liefen schweigend nebeneinander durch die Dämmerung. Phasenweise tat Thomas‘ ganzer Körper weh, in anderen Momenten fühlte er einfach gar nichts. Nur eine große, kalte Leere in sich. „Pause“, sagte er irgendwann leise und stieß Marks Arm an, als dieser nicht stehenblieb. „Pause“, keuchte er noch einmal, bevor seine Beine nachgaben und er im Schnee landete. Während die Welt um ihn herum dunkel wurde, fing Mark an zu lachen.   Dann war Thomas im Himmel. Zumindest fühlte es sich so an. Es war warm und die Luft stand angenehm still. Seine Kleidung war trocken. Seine Füße fühlten sich taub an und seine Beine waren in dicke Stoffe gehüllt. Ganz fest, sodass ihm das Bewegen schwerfiel. Aber warum sollte er sich auch bewegen? Er lag lieber reglos da und genoss die warme Ruhe. War er tatsächlich gestorben? Wenn ja, dann störte es ihn gar nicht mehr. Hier war es schön, hier konnte er bleiben. Das Quietschen einer Tür weckte ihn schließlich aus seiner Lethargie. „Pennst ja immer noch“, hörte er eine nur allzu vertraute Stimme. Er musste den Kopf nicht drehen und ihn anschauen, um Mark zu erkennen. Er hatte die letzten sechs Monate in einer kleinen Zelle mit diesem Geistesgestörten verbracht, Pritsche an Pritsche. Der Klang seiner Stimme würde Thomas bis in seinen Tod hinein verfolgen. Den Tod übrigens, dem er offenbar gerade noch von der Schippe gesprungen war – denn offenbar war er weder im Himmel (niemand wäre so verrückt, Mark dort hineinzulassen) noch in der Hölle (dafür war das Bett einfach zu behaglich). „Wo sind wir?“, murmelte Thomas gequält und blinzelte vorsichtig, damit sich seine Augen an das Licht gewöhnen konnten. Es war noch nicht einmal besonders hell, aber er hatte das Gefühl, lange bewusstlos gewesen zu sein. „Kleines Dorf. Hab die Lichter gesehen, als du umgekippt bist“, erzählte Mark und ergänzte in seiner üblich charmanten Art: „Hast ’n Schweineglück gehabt. Länger als zehn Minuten hätt ich dich bestimmt nicht getragen.“ „Er ist wach?“, erklang eine zweite Stimme und nun drehte Thomas doch angestrengt den Kopf zur Seite, um die Umrisse eines zweiten Mannes zu erkennen, der Mark in den Raum gefolgt war. „Es ist ein Wunder“, kommentierte er Thomas‘ Erwachen und kniete sich neben sein Bett, um ihm eine schlanke Hand auf die Stirn zu legen. Er war ein schmächtiger Mann mit einer dünnen Brille, die ihn wie einen langweiligen Bibliothekar wirken ließ. Niemand, dem man viel Aufmerksamkeit schenken musste. Stattdessen lag Thomas‘ Blick auf Mark, der hinter dem Fremden aufragte mit seiner großen, schlanken Gestalt. Seine Kleidung verbarg es gut, aber Thomas wusste, welche Muskeln sich darunter verbargen. Und welche Bosheit. Der Fremde schien nichts davon zu ahnen, denn er zupfte geschäftig Thomas‘ Decken zurecht und sprach mit ruhiger Stimme: „Mein Name ist Daniel. Ich bin der Ortsvorsteher von Little Heath.“ „So heißt das Dorf hier“, kommentierte Mark überflüssigerweise. Thomas hatte nie zuvor davon gehört. Er hatte ja nicht einmal gewusst, dass es in der Nähe des Gefängnisses Dörfer gab. Wie weit waren sie in den letzten Tagen wohl gelaufen? „Dein Freund hat dich nach eurem Wanderunfall hergebracht“, erzählte ihm Daniel. „Wir dachten nicht, dass du es schaffst, aber offenbar hat der Herr noch Pläne für dich.“ „Welcher Herr?“, fragte Thomas verwirrt. „Der da oben“, meinte Mark süffisant grinsend und deutete mit dem Zeigefinger gen Zimmerdecke. Thomas‘ Blick folgte seiner Geste dümmlich, bis ihm klar wurde, von wem Daniel sprach. „Achso. Gott“, schlussfolgerte er und auf einmal sah Daniel nicht mehr aus wie ein wehrloser Schwächling, sondern wie ein wehrloses Schaf. Und Marks Gesichtsausdruck machte ihn zu einem perfekten Wolf, der hinter dem Schaf lauerte und darauf wartete, es anzuspringen. Daniel sprach nicht viel, vermutlich um Thomas in seinem geschwächten Zustand zu schonen. Aber er reichte ihm eine Schüssel heißer und stark verdünnter Suppe und einen Krug mit warmem Tee. Er half Thomas dabei, sich aufzusetzen, ließ ihn und Mark dann aber allein. Mark saß am Tisch und löffelte seine Suppe eifrig leer, also beeilte sich auch Thomas mit dem Essen, bevor Mark auf die Idee kam, ihm mit seiner Portion zu helfen. Die Flüssigkeit brannte heiß in seiner Kehle und füllte seinen Magen nicht einmal halb so gut, wie er gehofft hatte. „Die dünne Plörre gibt‘s schon seit zwei Tagen“, erzählte ihm Mark, als hätte er Thomas‘ Gedanken gelesen. „Der Kerl sagt, sie hätten kaum Vorräte. Ich schätze, seine Schlampe da unten hat alles aufgefressen.“ „Seine Frau?“, übersetzte Thomas. Nicht weil er Probleme mit vulgärer Sprache hatte, sondern vielmehr, weil er wissen wollte, mit wem sie es hier zu tun hatten. „Hmhm“, machte Mark. „Mach dir keine Hoffnungen, sie sieht aus wie‘n Schwein. Aber es soll hier in der Nähe eine Stadt geben. Einen Tagesmarsch, sagt Daniel. Mit Bahnhof.“ „Bahnhof?“ Thomas sah ihn fassungslos an. „Du meinst…?“ „Ich meine, wir schnappen uns ein paar Vorräte, hauen hier ab und verstecken uns in einem der Waggons“, fasste Mark seinen Plan zusammen. Instinktiv wollte Thomas ihn fragen, ob er die Leute hier wirklich bestehlen wollte, aber im Grunde genommen war die Frage lächerlich. Mark würde diese Menschen nicht nur um ihre letzten Vorräte bringen, sondern ihnen auch noch lächelnd ein Messer in den Bauch rammen, wenn er sich selbst irgendeinen Vorteil darin versprach. „Und der Sturm draußen?“, fragte Thomas. „Na, den müssen wir wohl noch aussitzen“, meinte Mark. „Sieht immer noch übel aus. Die Dorfbewohner haben sich alle hier in der Wirtschaft zusammengepfercht wie die Tiere, um Feuerholz zu sparen. Wir haben nur ein eigenes Zimmer, weil du Weichei einen auf zartes Pflänzchen gemacht hast.“ „Ich war bewusstlos“, verteidigte sich Thomas halbherzig. „Hab ich mich beschwert?“, entgegnete Mark und setzte sich auf ein zweites Bett, das Thomas erst jetzt bemerkte. „Ist ein gutes Bett, wirklich.“ „Wie viele Leute sind da unten?“, wollte Thomas wissen. „Elf“, erzählte Mark. „Der Wirt sieht aus, als könnt er ordentlich austeilen, aber der Rest sind Weiber, Kinder oder Schwächlinge. Die werden uns keine Probleme machen.“ „Wir wollen auch keine Probleme“, sagte Thomas vorsichtig. „Die Leute hier haben uns geholfen. Vielleicht sollten wir einfach verschwinden, ohne dass sie was merken.“ So wie es zivilisierte Menschen tun würden, hätte er fast ergänzt. Mark sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er sagte nichts dazu. Er war daran gewöhnt, dass Thomas versuchte, ihm ins Gewissen zu reden – und am Ende doch wieder nur neben ihm stand, wenn er ausrastete und den Kopf eines Mithäftlings gegen die nächstbeste Wand drosch. Sie beide wussten, dass Thomas ihm nicht in den Rücken fallen würde, egal was er tat. „Kannst du laufen?“, fragte Mark. Thomas befreite sich aus seiner Decke und schob vorsichtig seine Beine in Richtung Bettrand. Als er seine tauben Füße auf dem Boden aufsetzte, durchfuhr ihn ein brennender Schmerz. Er versuchte, ihn zu ignorieren und aufzustehen, aber seine Beine brachen förmlich unter ihm zusammen. Als er auf dem Boden lag, machte Mark keine Anstalten, ihm zu helfen. Er betrachtete ihn nur von seinem Bett aus, während Thomas sich am Bettpfosten hochzog und wieder setzte. Er sah in den Augen seines Gegenübers, dass dieser abwägte, wie viel Zeit er Thomas geben würde, um wieder fit zu werden. Mark würde nicht riskieren, den perfekten Zeitpunkt für eine zweite Flucht zu verpassen, nur weil Thomas wackelig auf den Beinen war.   In den nächsten Tagen behielt Mark das Wetter im Auge („Solange wir hier nicht weg können, können die Wärter uns hier auch nicht finden“) und Thomas mühte sich mit Gehversuchen ab. Allmählich kehrte das Gefühl in seine Füße zurück und wieder sprach ihr Gastgeber Daniel von einem Wunder, denn er war davon ausgegangen, dass sein Patient niemals wieder würde laufen können. Dafür, fand Thomas, machte er sich gut. Er übte mit einem alten Gehstock, wann immer seine Kräfte es erlaubten. Mark blieb meistens bei ihm und beobachtete mit kritischem Blick seine Genesung. Ab und zu ging er in die Wirtsstube hinunter, ließ sich dort jedoch nicht lange aufhalten. „Die Leute sind nicht so mein Fall“, erzählte er. Thomas verkniff sich den Kommentar, dass niemand so wirklich Marks Fall war. Zwischenzeitlich fühlte er sich sehr an das Gefängnis erinnert, aus dem sie gerade ausgebrochen waren. Sie schliefen Bett an Bett in einem kleinen Raum und hockten stundenlang schweigend nebeneinander. Wenigstens hatten sie hier ein Fenster (durch das man nichts als weiße Berge sah) und ab und zu kam Daniel vorbei, um ihnen Essen zu bringen und um nach Thomas zu sehen. Er war netter als die Wärter, die ihnen sonst das Essen gebracht hatten, brachte aber kleinere Portionen. Abends gab es heiße Suppe, die den Magen eher wärmte als füllte. Morgens gab es trockenes Brot und manchmal eine gekochte Kartoffel. Es dauerte fünf Tage, bis sich Thomas endlich bereit fühlte, das Zimmer zu verlassen und auf dem Gehstock, von Daniel gestützt, die Treppe hinunterzuhumpeln. Tatsächlich hatten sich die Überreste des Dorfes hier vor dem großen Kamin versammelt und harrten dort aus. Wie hatte eine so große Gruppe über Tage hinweg so leise sein können, dass Thomas sie nie gehört hatte? Daniel bot Thomas an, sich dazuzusetzen und schon nach kurzer Zeit begriff er, warum Mark sich hier nicht wohl fühlte. Die Menschen schwiegen und starrten stumpf das Feuer an. „Wie viele Leute leben in Little Heath?“, fragte Thomas, um ein Gespräch zu beginnen. „Dreißig“, erzählte Daniel, der neben ihm Platz nahm. „Die meisten sind schon früher in die Stadt gegangen. Wir waren in diesem Jahr einfach zu spät.“ „Zu spät?“, wiederholte Thomas. „Der Sturm kommt fast jeden Winter“, sagte der Ortsvorsteher. „Er kündigt sich Tage vorher an. Dann sammeln wir unsere Vorräte auf Planwagen und suchen für einige Wochen Schutz in der Stadt.“ Er seufzte lautlos. „Dieses Jahr waren wir zu spät. Wir haben den letzten Wagen beladen und sind unterwegs vom Sturm überwältigt worden. Wir haben es zurück ins Dorf geschafft, aber die Vorräte und unsere Pferde verloren.“ Thomas nickte verstehend. Das bedeutete, dass irgendwo hier in der Nähe ein Planwagen mit Nahrungsmitteln und gefrorenem Pferdefleisch darauf wartete, geplündert zu werden. „Wir müssen dafür beten, dass Gott uns von diesem Unwetter erlöst, bevor wir nichts mehr haben“, fügte Daniel traurig hinzu. Thomas sah, wie einige der Dorfbewohner langsam nickten. Ihre Bewegungen wirkten müde und resigniert. „Und trotzdem habt ihr uns geholfen“, stellte Thomas leise fest. „Das ist es, was gute Christen tun“, meinte Daniel und blickte ihm fest ins Gesicht. „Was wir haben, müssen wir teilen. Und wenn wir deshalb sterben, wird uns Gott dafür belohnen.“   Thomas blieb noch eine Weile schweigend vor dem Kamin sitzen, aber je länger er in die Flammen starrte, desto kälter wurde ihm. Er versuchte, sich die Gesichter der Menschen um sich herum einzuprägen, aber sie verschwammen vor seinen Augen. Schließlich entschuldigte er sich und quälte sich mit schmerzenden Füßen wieder nach oben, wo Mark vor dem Fenster stand und angestrengt nach draußen starrte. „Und ich dachte schon, ich hätte dich auch an den Kamin verloren“, sagte er, ohne Thomas überhaupt anzublicken. Er hatte es also auch gefühlt: diese Hoffnungslosigkeit von Menschen, die wussten, dass sie bald sterben würden. „Es waren nur zehn“, erzählte Thomas. „Nur zehn?“ Mark sah ihn immer noch nicht an. „Da unten waren nur zehn“, meinte Thomas. „Du hast gesagt, es wären elf.“ „Dann hab ich mich wohl verzählt oder einer war gerade scheißen“, murrte Mark. Er war schlecht gelaunt. Thomas setzte sich auf sein Bett und starrte die Wand an. Als ihm Daniel abends seine Schüssel mit dünner Suppe brachte, hatte er ein schlechtes Gewissen, sie gierig leerzulöffeln.   „Ich hab einen Plan von der Umgebung gefunden“, erzählte Mark, als er am achten Tag außer Atem in ihr Zimmer zurückkehrte. Thomas wandte sich vom Fenster ab und sah überrascht zu, wie sein Mithäftling eine Karte auf dem Tisch ausbreitete. Er beschwerte zwei der Ecken mit ihren leeren Schüsseln, damit sie sich nicht wieder einrollte. „Hier sind wir“, sagte er und deutete auf einen Fleck auf der Karte. „Wo hast du die Karte her?“, fragte Thomas und humpelte auf ihn zu. Ohne Gehstock. Ein schmerzhafter Erfolg in der Geschichte seiner Genesung. „Die Stadt, von der Daniel immer spricht, ist hier“, fuhr Mark fort und legte einen zweiten Finger auf einen weiteren Punkt. „Kempton. Hier ist sogar das Schienennetz eingezeichnet.“ Seine Wangen waren gerötet. Aber nicht vor Aufregung (so leicht ließ er sich nicht beeindrucken). Vor Kälte? „Warst du draußen?“, fragte Thomas vorsichtig. „Ja, in einem der Häuser“, erzählte Mark in einem derart gelassenen Tonfall, als sei es völlig belanglos, dass er das Wirtshaus verlassen und einen Plünderzug begonnen hatte. „Ich leg ein Lager an, damit wir bald abhauen können.“ „Ein Lager“, wiederholte Thomas. Mark wandte den Blick von der Karte ab und sah Thomas direkt ins Gesicht. „Du guckst wie ein Karpfen“, stellte er fest. „Natürlich ein Lager. Glaubst du, ich hau mit leeren Händen hier ab?“ „Du hast Essen gefunden?“, fragte Thomas hoffnungsvoll. „Wie dumm bist du eigentlich?“, fragte Mark verächtlich. „Als hätten die Hinterwäldler hier nicht jeden Krümel zusammengetragen und hergebracht… In meinem Lager sind Waffen.“ Er widmete sich wieder der Karte. „Zu Fuß sind wir einen knappen Tag unterwegs“, sagte er. „Wir brauchen einen Kompass, damit wir uns nicht wieder verlaufen. So ein Scheiß, dass die Idioten ihre Pferde nicht gerettet haben.“ „Du sammelst Waffen“, murmelte sich Thomas selbst diese neue Erkenntnis zu. Er und die Menschen um sie herum verhungerten… und Mark hielt es für nötig, sich zu bewaffnen. „Ich hab mein Gewehr schon im ersten Haus am Dorfrand deponiert, bevor ich dich hier reingebracht hab“, erzählte Mark. „Ich hab noch ein zweites Gewehr gefunden, ein paar Patronen, Messer und Werkzeuge. Warme Kleidung. Das wird uns alles helfen, wenn wir hier verschwinden.“ „Und wann ist das?“, fragte Thomas. „Keine Ahnung“, gab Mark zu. „Man kommt draußen nicht gut voran. Ich hab mir vorgenommen, jeden Tag ein Haus zu durchsuchen.“ Thomas blickte wieder zum Fenster. Von hier aus sah er nur Weiß.   In der Gaststube bot ihm Daniel einen heißen Tee an und deutete ihm, sich vor den warmen Kamin zu setzen. „Wir haben genug Feuerholz im Schuppen, um zwei Monate zu überstehen“, meinte er hoffnungsvoll. „Und wie lange reichen die Vorräte?“, fragte Thomas und erschreckte sich selbst darüber, dass er diese Frage gestellt hatte. Die Dorfbewohner in der Stube straften ihn zwar nicht mit verachtenden Blicken, aber er spürte, dass ihnen die Frage nicht behagte. „Nicht lange“, sagte Daniel bloß. „Wir sollten jeden Tag als Geschenk betrachten.“ Thomas seufzte lautlos. Er würde keine Antwort von Daniel kriegen. Und er würde auch nicht herausfinden, wo genau sich die schwindenden Vorräte befanden, aus denen der Gastwirt, den er bis heute nicht hatte sprechen hören, Mahlzeiten für sie rationierte. Thomas blickte in das Kaminfeuer, aber obwohl seine Haut warm war, fühlte er sich innerlich kalt. Es waren die Menschen um ihn herum. Wann immer er in dieser Stube saß, fühlte er sich unwohl. Ob sie ihn wohl ähnlich abstoßend fanden? Vielleicht hatte Daniel sie ja deshalb oben einquartiert, weil er seine Mitmenschen nicht ständig daran erinnern wollte, dass sie zwei fremde Mäuler mitstopfen mussten. Aus elf Menschen waren dreizehn geworden. Oder zwölf, je nachdem, ob sich Mark damals verzählt hatte. Thomas ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Neben Daniel und ihm selbst zählte er sieben Leute. Ein älterer Mann und ein junges Mädchen fehlten. „Wo sind die Anderen?“, fragte Thomas. „Welche anderen?“, fragte Daniel und nippte an seinem Tee. „Das Mädel mit den Zöpfen“, sagte Thomas. „Die Blonde. Und der Mann, bei dem sie gesessen hat.“ Daniels Blick wanderte durch den Raum. „Oh, du meinst Lonny und seine Enkelin“, sagte er und klang nicht besorgt. „Sie sind nach draußen gegangen. Ich glaube, er wollte Kleidung aus seinem Haus holen.“ „Oh“, sagte Thomas und nickte verstehend. Vielleicht wurde das Wetter doch besser, wenn nicht nur Mark, sondern auch alte Männer und Kinder sich trauten, durch den Schnee zu wandern. „Sie sind schon länger unterwegs“, stellte Daniel fest und lächelte Thomas traurig an. „Du hast deinen Tee gar nicht getrunken.“   Lonny und seine Enkelin tauchten nicht wieder auf. Sie blieben vom Schnee verschluckt, auch am nächsten Morgen. „Und niemand sucht sie“, meinte Thomas fassungslos, als er Mark von seiner Entdeckung erzählte. Mark blieb gelassen. „Die sind da draußen erfroren“, vermutete er. „Warum geht keiner von denen zu dem Haus und schaut nach?“, fragte Thomas. Mark zuckte mit den Schultern. „Wen stört‘s? Zwei Leute weniger, die mitfressen.“ Er knüpfte gerade seinen Mantel zu, um sich für einen weiteren Ausflug durch das Dorf zu wappnen. Er hatte das Kleidungsstück aus einem der Häuser mitgebracht und niemand hatte etwas dazu gesagt. Er hatte auch für Thomas wärmere Kleidung mitgebracht. Und warme, gute Stiefel, die seine Füße lange im Schnee trocken halten würden. Hoffentlich. „Drei“, verbesserte ihn Thomas. „Was?“, fragte Mark. „Es sind drei Leute verschwunden. Erst waren es elf, jetzt sind es acht.“ Thomas sah zu, wie Mark eine dicke Wollmütze auf seinem Kopf zurechtrückte und ganz und gar nicht beeindruckt oder überrascht wirkte. Thomas atmete tief durch. „Das warst du, oder?“ Mark grinste schief. „Du meinst, ich lauere draußen harmlosen Leuten auf und zerstückle sie mit einer Axt?“, meinte er belustigt. „Ja“, sagte Thomas. „Ich hab keine Axt“, entgegnete Mark. „Komisch eigentlich, findest du nicht? Du haben hier so viel Feuerholz, aber nirgendwo liegt eine Axt herum.“ Er zwinkerte Thomas amüsiert zu, bevor er den Raum verließ.   In den nächsten beiden Tagen verschwanden zwei weitere Leute, ein älteres Ehepaar, und Mark kam zufrieden mit einer Axt von einem seiner Raubzüge zurück. „Ich weiß noch nicht, ob ich sie wirklich mitnehmen will“, gab er zu. „Sie ist ziemlich schwer.“ Er drückte sie Thomas ungefragt in die Hand. Sie hatte tatsächlich ein beachtliches Gewicht. Thomas betrachtete vorsichtig die Schneide, um festzustellen, ob Blut daran klebte. Aber sie sah sauber aus. Mark folgte seinem Blick und schnaubte verächtlich. „Ich würde mich nicht mit so einem Gewicht abmühen, wenn ich das hier hab.“ Er zog blitzschnell ein Messer unter seinem Hemd hervor. Thomas war gar nicht klar gewesen, dass Mark sich wieder (oder immer noch?) bewaffnet hatte. Immer gewappnet für das Schlimmste. Aber die Menschen da unten waren keine verurteilten Mörder, sondern hungernde Dorfbewohner.   Thomas wusste nicht, ob er die Menschen warnen sollte. Eigentlich schon. Sie hatten sich einen Mörder ins Haus geholt; sie sollten wissen, dass sie nicht mehr sicher waren. Andererseits… was hätten sie schon tun können? Mark rauswerfen und im Schnee erfrieren lassen? Als ließe er sich das gefallen. Er würde zwanzig Minuten später mit Gewehr vor der Tür stehen und sich rächen. „Das Wetter wird besser“, erzählte ihm Mark, nachdem sich unten nur noch drei Menschen um Daniel scharrten. Thomas hatte sich am Vormittag zu ihnen gesetzt, aber er konnte ihre Anwesenheit nicht ertragen. Er fühlte sich schlecht, weil er wusste, dass ihre Nachbarn starben, weil er Hilfe gebraucht hatte. Aber das war nicht alles. Sie selbst gaben ihm ein ungutes Gefühl. Sie saßen immer noch da, schwiegen den Kamin an und warteten. Worauf? Dass sie nacheinander geschlachtet wurden? Dass Gott sie endlich erlöste? Sie klagten nicht darüber, dass sie weniger wurden; nein, es schien ihnen nicht einmal aufzufallen. Vielleicht waren auch sie insgeheim froh darüber, dass sie ihr Brot mit weniger Leuten teilen mussten als bisher. Thomas wusste immer noch nicht, wo die Vorräte aufbewahrt wurden, aber er war sich sicher, dass die geheime Kammer keine so regelmäßigen Mahlzeiten mehr hervorzaubern würde, wenn sie dreizehn Mäuler hätte stopfen müssen.   Mark hatte Recht. Das Wetter wurde besser. Aus Schnee wurde zwischenzeitlich Regen und Thomas traute sich erstmals vor die Tür. Er lief immer noch holprig, aber den Tagesmarsch nach Kempton traute er sich zu. Danach würde er drei, vielleicht vier Tage in einem Zug gen Süden sitzen. Am besten in einem Waggon voller Essen. Wie eine Made würde er sich durch eine Ladung Kartoffeln fressen und anschließend kugelrund ein neues Leben anfangen. Ohne Mark. Sie hatten nie darüber gesprochen, was passieren würde, sobald sie ihren Zug erreicht hatten. Mark hatte alles geplant und durchgezogen. Ihre Flucht aus dem Gefängnis, ihren beschwerlichen tagelangen Marsch durch die schneebedeckte Landschaft, ihr Überleben hier im Dorf und schließlich den Weg nach Kempton. Aber was war danach? Glaubte Mark, dass Thomas für immer bei ihm bleiben würde? Oder würde er sich seiner entledigen, sobald er ihm nicht mehr nützlich war? … Aber war Thomas überhaupt noch nützlich? War er jemals nützlich gewesen? „Wir warten noch zwei Nächte, um sicherzugehen“, beschloss Mark. „Dann hauen wir ab.“ Er legte einen Kompass auf den Tisch. Tagelang hatte er danach gesucht – und jetzt, wo ihnen das Wetter eine Chance zur Flucht gab, hatte er ihn gefunden. „Wir gehen nachts los, damit wir bei Kräften sind, wenn wir im Dunkeln wandern. Nach meiner Planung kommen wir in den späten Abendstunden in Kempton an. Wir nutzen die Dunkelheit, um uns in einem Zugwaggon zu verstecken.“ Thomas nickte bloß müde. „Wir werden neue Namen annehmen müssen“, erzählte Mark. „Ich würde vorschlagen, wir geben uns als Brüder aus. Dann werden die Leute nicht misstrauisch, wenn wir zusammenbleiben.“ Also keine Trennung nach der Flucht. Mark plante… was eigentlich? Dass sie gemeinsam ein neues Leben anfingen? Dass Thomas für den Rest seiner Tage schweigend dabei zusah, wie Mark jeden, der ihm ungemütlich wurde, beiseite schaffte? Jemand wie Mark konnte nicht lange an einem Ort bleiben; er würde auffallen. Thomas war selbst überrascht darüber, dass er seit ihrer Flucht keinen einzigen Wutanfall gehabt hatte. Im Gefängnis war es so oft passiert. Er war bei der kleinsten Provokation – manchmal nur einem Blick – ausgerastet und hatte zugeschlagen. Mark würde wieder im Gefängnis landen. Und wenn Thomas bei ihm blieb, war das auch sein Schicksal. Wenn er wirklich überleben wollte, musste er sich von Mark trennen. „Wir werden irgendwo hingehen, wo immer die Sonne scheint“, erzählte Mark, als er abends auf seinem Bett lag und genauso aussah wie damals im Gefängnis. Es kam Thomas mittlerweile vor, als sei das ewig her. „Stell dir vor, wir sitzen irgendwo im Gras, trinken Bier und lassen uns die Sonne auf die Bäuche scheinen.“ „Ja, das wird toll“, sagte Thomas leise und schloss die Augen. Unter der Bettdecke zwickte er sich ununterbrochen in den Handrücken, um wach zu bleiben. „Vielleicht finden wir Arbeit“, sagte Mark. „Ich lass die Axt hier, aber vielleicht find ich irgendwo eine neue. Dann werd ich Holzfäller.“ Er musste selbst lachen bei der Vorstellung. „Und was machst du, Kenny?“ Thomas drehte den Kopf verwirrt zu ihm. „Kenny?“, wiederholte er. „Kenny und Finch Smith“, sagte Mark und ließ die Worte genüsslich auf seiner Zunge zergehen. „Das sind wir ab morgen.“ Thomas konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Kenny und Finch“, sprach er die Namen ebenfalls langsam aus. „Brüder, hm?“ „Klar, Brüder“, sagte Mark. „Wenn ich den Leuten erzähle, dass du mein einziger Freund bist, halten die mich noch für ’ne Tunte.“ Das war das letzte, was Mark jemals zu ihm sagte. Thomas antwortete nicht mehr, sondern zwickte weiter in seine Hand, bis er ein leises Schnarchen aus dem anderen Bett hörte. Er stand auf, leise, griff sich den Kompass und verließ den Raum. Er ließ den Mantel und die Stiefel zurück. Mark hatte ihm von seinem Lager erzählt; dort würde er sich eindecken können. Unten saß Daniel allein am Feuer und hielt eine Tasse Tee in seiner Hand. Er wirkte ruhig, als er Thomas mit leiser Stimme fragte: „Du gehst?“ Thomas nickte. „Und er bleibt?“, fragte Daniel. „Ja.“ Er hatte keine Zeit (was, wenn Mark aufwachte und merkte, dass er weg war?), aber er konnte nicht anders: „Komm mit mir.“ Daniel blickte ihn an, lange und ausdruckslos. „Was soll ich denn da draußen?“, fragte er. „Wir gehen in die Stadt“, sagte Thomas. „Da sind deine Leute.“ Ein schwaches Lächeln. „Meine Leute sind tot und das weißt du.“ „Aber nicht alle“, erwiderte Thomas. „Du hast gesagt, dass andere aus eurem Dorf...“ Daniel unterbrach ihn mit einer Geste. „Ich werde nicht mitkommen.“ Er nickte zu einem der Tische. Dort lag ein kleines Bündel. „Es ist nicht viel, aber ich werde hier nichts mehr brauchen“, sagte Daniel. Alles in Thomas schrie ihn an, er müsse Daniel überzeugen. Ihn mitnehmen. In Sicherheit. Daniel musste nicht sterben. Aber als sich ihre Blicke trafen, begriff Thomas, dass der Andere auf seine Art und Weise schon lange tot war. „Danke“, sagte er leise, nahm das Brot und verließ das Haus.   Er fand die Kleidung, die Mark zusammengesucht hatte und steckte sich mehrere Messer ein. Die Gewehre ließ er zurück. Wilde Tiere hatte er bei ihrem tagelangen Marsch nicht gesehen und er würde keinen Menschen erschießen. Das hatte er einmal getan und sich danach nie mehr vergeben können. Er verließ das Dorf im Schatten der Nacht und folgte der Kompassnadel, die sich im schummrigen Mondlicht schwer lesen ließ. Seine neuen Stiefel wurden schnell wieder nass, aber er ignorierte die Unannehmlichkeiten und dachte an die hellen Wiesen und das Bier, von denen Mark gesprochen hatte. Er hatte Mark nie erzählt, dass er früher als Schuster gearbeitet hatte. Vielleicht würde er wirklich wieder Arbeit finden. Vielleicht würde er sich tatsächlich Kenny Smith nennen. Und vielleicht würde er eines Tages vergessen, was hier passiert war. Er konnte im Dunkel der Nacht keine Straßen und Wege erkennen – und selbst wenn er es gekonnt hätte, wären diese noch immer von dichtem Schnee bedeckt und genauso unpassierbar wie das Dickicht, durch das er sich mitunter kämpfte. Immer in Richtung Südsüdwest. Unterwegs kaute er eine Scheibe von dem harten Brot, das ihm Daniel überlassen hatte. Als langsam die Sonne aufging, erhöhte er sein Tempo. Er wusste, dass er sich keine Pause erlauben durfte. Mark würde jetzt wach sein und er würde ihm folgen. Es hatte die ganze Nacht über nicht geschneit, also waren seine Fußspuren im Schnee gut zu erkennen. Er durfte es Mark nicht erlauben, ihn einzuholen.   Die Sonne wanderte schon gen Horizont, als er zum ersten Mal an diesem Tag menschliche Spuren entdeckte. Einen Sack voller Getreide, halb verdeckt vom Schnee. Er griff hinein und ließ die Körner durch seine Finger gleiten. Ein paar Schritte weiter entdeckte er den oberen Teil eines Holzrads, ebenfalls im Schnee festgefroren. Es dauerte einen Moment, bis ihm klarwurde, dass der Hügel, der sich vor ihm auftat, kein Hügel war, sondern ein eingeschneiter Holzwagen. Der Wagen, den die Bewohner von Little Heath hatten zurücklassen müssen. Der Wagen mit all ihren Vorräten. Und ihren Leichen. Thomas schluckte schwer, als er den gefrorenen Körper einer dicken Frau entdeckte. Er hatte sie selbst nie gesehen, aber er wusste, dass Mark von ihr erzählt hatte. Daniels Frau. Ein alter Mann, der in der Ecke des Wagens zwischen zwei Kisten hockte und ein kleines, steifgefrorenes Mädchen an sich drückte. Seine Enkelin. Thomas wusste nicht, ob er weinen oder sich übergeben sollte. Er fasste die Finger eines Manns in seinem Alter an, der erschöpft die Augen geschlossen hatte, als sei er davon überzeugt, er würde nach ein paar Stunden Schlaf wieder aufwachen. Thomas stieg aus dem Wagen und stützte sich an dem Holz ab. Ihm war schwindelig. Am liebsten hätte er sich in den Schnee gesetzt und wäre ebenfalls hier festgefroren. Er wollte nicht weitergehen und das Unvermeidliche sehen. Der Wagen hatte einen Unfall gehabt. Das Rad war gebrochen und sie hatten festgesteckt. Festgesteckt inmitten eines Schneesturms. Daniel hätte sie niemals im Stich gelassen. Er hätte alles getan, um Hilfe zu holen. Sein eigenes Leben riskiert.   Es dauerte lange, bis Thomas es schaffte, sich von dem Wagen zu lösen und weiterzugehen. Seine Schritte waren langsamer geworden, obwohl er wusste, dass er nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenuntergang hatte. Aber er hatte Angst. Er hatte Angst vor jeder Erhebung im Schnee, weil sie bedeuten konnte, dass er vollends den Verstand verloren hatte. Und dann fand er sie, dicht an einen Felsen gedrängt, gemeinsam auf der Suche nach Schutz vor dem Sturm. Daniel hatte eine Decke um ihre Körper geschlungen und sah genauso ruhig aus, wie Thomas ihn zurückgelassen hatte. Mark lag in seinen Armen und schlief. Thomas streckte die Hand aus und berührte seine gefrorene Wange. In der Ferne sah er Rauch aufsteigen.         Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)