Der Winter der Verdammten von Puppenspieler ================================================================================ Monat des Hüters 1186 --------------------- „Wir sind verdammt.“ Felix‘ Worte waren ein Echo der letzten Jahre. Der Kämpfe, der Stagnation, der Hoffnungslosigkeit im Angesicht des Kaiserreichs, das unerbittlich ganz Fódlan unter sich begraben wollte. Sie waren ein Echo der Verzweiflung, in der Ingrid die letzten Jahre wie unter einem Zauberbann verbracht hatte. Kämpfen. Rebellieren. Den kaiserlichen Armeen die Stirn bieten. Kein Platz für nichts anderes als den Krieg. (Kein Platz für Verlobungen – darüber war sie zugegeben sogar froh.) Sie waren ein Echo der Müdigkeit, die mit der zermürbend langen Kriegsdauer kam und die gewiss nicht nur sie erfasst hatte. Sie waren eine Erinnerung daran, wie düster ihre logistische Lage aussah. Garreg Mach war nicht gut gelegen, was Versorgungsstrecken anbelangte. Die Zeit, seit das Kloster verlassen worden war, hatte ihm massiv zugesetzt. So viel war zerstört und beschädigt worden. Die Gärten und Gewächshäuser waren nur noch eine traurige Erinnerung an das blühende Leben damals. So vieles musste erst wieder neu aufgebaut werden. Die Ställe waren leer bis auf die Tiere, die ihre Truppen selbst mitgebracht hatten. Es war tiefster Winter. Es war nicht einmal einfach, die fehlenden Vorräte aufzufüllen. Das Wild in der Umgebung hatte sich zum Winterschlaf verborgen; zu jagen war kaum eine hilfreiche Option, um die Nahrungsmittelknappheit zu beheben, die hier herrschte. Und über allem hing die Sorge vor dem unweigerlich bevorstehenden Angriff der kaiserlichen Armee auf das Kloster, der sie mit Sicherheit früher oder später treffen würde. Möge es später sein. Ingrid seufzte müde, rieb die kalten Hände an ihrem Mantel in der Hoffnung, sie wieder ein wenig aufzuwärmen, während Sylvain– Lachte. Er lachte über Felix‘ Worte, und es erstaunte sie überhaupt nicht. Es war wie immer. Sylvain hatte einfach ein Händchen dafür, genau die falschen Reaktionen zu finden. Sie verzog die Mundwinkel, als sie zu ihm hinübersah. Alles an seinem Blick, seinem Gebaren überzeugte sie, dass sie gar nicht wissen wollte, was gerade in seinem Kopf vor sich ging. „Ah, Felix. Immer noch der gleiche alte Launemacher. Wie schön, dass das auch die Schlachten der letzten Monate nicht verändert haben.“ Sie hatte es wirklich nicht gewollt. Verärgert fasste sie ihn ins Auge. „Sylvain! Das ist kaum der richtige Zeitpunkt für deine schlechten Sprüche.“ Sie konnte sich nicht erinnern, wann jemals die richtige Zeit dafür gewesen wäre. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wann denn das letzte Mal gewesen war, dass sie irgendetwas nicht unzufrieden gestimmt hatte, das Sylvain von sich gab. Warum musste er Felix auch noch provozieren?! Auch, wenn er gerade nicht der Einzige war, dessen Worte unangemessen waren. Ihr missgelaunter Blick wanderte weiter zu besagtem Felix. „Und Felix, das gilt für dich genauso. Was ist das für eine Haltung! Mit solchen Worten trittst du jede Truppenmoral mit Füßen.“ Sie schüttelte tadelnd den Kopf. Sie verstand ihn. Der Krieg war kräftezehrend gewesen. Hoffnungszehrend. Ermüdend und verzweifelnd – aber sie hatten durchgehalten! Bis jetzt. Hatten an ihren Idealen und an ihrem Glauben festgehalten, trotz aller Widrigkeiten. Und sie würden weiterkämpfen. Jetzt doch sogar mehr denn je. „Wir sind nicht verdammt. Jetzt, wo die Magistra und Seine Hoheit endlich wieder zurückgekehrt sind, können wir zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder wirklich Hoffnung schöpfen.“ Jetzt, wo der zukünftige König zu seinem Volk zurückgekehrt war, wo die Magistra wieder an ihrer Seite war, die sie durch so viele grausame Schlachten geführt hatte mit ihrer taktischen Brillanz, jetzt gab es einen Weg. Ein Ende für den ewigen Krieg gegen das Kaiserreich. Eine Möglichkeit auf den Sieg. Doch Felix sah das nicht. Er schüttelte den Kopf, das Gesicht verzogen in unbeherrschter Abscheu. „Sieh richtig hin, Ingrid“, begann er. Er klang frustriert und müde mehr noch als angriffslustig. „Das ist kein Adelsmann, kein Prinz mehr – nur ein Keiler in Menschenhaut, der blind seiner Mordgier nachgibt und wütet, bis das Land unter ihm rot getränkt von Blut ist und er alles Leben in seinem Blickfeld ausgerottet hat. Das ist keine Hoffnung.“ Wie eine Beleidigung klang das Wort aus seinem Mund. Ausgespuckt wie eine besonders klebrige Süßigkeit. Er schüttelte abermals den Kopf. „Das ist Verdammnis. Wir sind verdammt, wenn dieser Keiler so weiter macht.“ „Du irrst dich“, widersprach sie nachdrücklich, sah Felix und Sylvain beide mit einem Blick an, der keine Widerworte duldete. Nicht, dass Sylvain aussah, als hätte er viele Widerworte. Und Felix– war Felix. Von ihm erwartete Ingrid nichts anderes als den stummen Protest in seinem Blick. Es verärgerte sie trotzdem. Dimitri würde wieder zu sich zurückfinden. Sie verstand den Schmerz, den ihr Prinz durchlitt. Sie verstand seine Verzweiflung. Er hatte so viel verloren. Und sie glaubte an ihn – musste an ihn glauben, denn Glenn hatte an ihn geglaubt, und niemals wollte sie das Andenken ihres Verlobten leichtfertig übergehen, wenn es nicht den triftigsten Grund dafür gab. Sie verstand. Dimitri konnte nicht von jetzt auf gleich wieder ganz der Alte sein. Nicht nach allem, was er durchgemacht hatte. Aber er würde zu sich zurückfinden, sich auf seine Pflichten besinnen, wie der Ehrenmann, der er immer gewesen war. Es konnte gar nicht anders sein. Dimitri war ihr Prinz. Der Mann, der den Thron besteigen würde. Ihr König sein würde. Der Mann, in dessen Dienste Ingrid ihre Lanze stellte. „Träumerin“, spie Felix aus – als könne er ihre Gedanken lesen. Sie öffnete den Mund, um ihn zurechtzuweisen für seine Unverschämtheit, doch er hatte sich längst abgewandt. Hievte den großen Korb hoch, den er mit Trümmern gefüllt hatte, um sie hinauszuschaffen. Als er die Tore der Eingangshalle grob mit der Schulter aufdrängte, stoben Schneegestöber und kalter Wind hinein und tanzten durch die Luft: Eine ungebetene Erinnerung daran, dass das kalte Wetter sie noch für eine ganze Weile begleiten würde wie ein böser Fluch. Mit einem schweren Seufzen wandte sie sich wieder von der Tür ab. „Er ist so ein Sonnenschein“, kommentierte Sylvain mit einem Seufzen, kaum, dass sie wieder halbwegs in seine Richtung sah. „Und du provozierst ihn doch immer“, gab sie trocken zurück, ohne jedes Mitleid für den Rotschopf, dem Felix‘ Vortrag offenbar auch nicht gefallen hatte. „Hey, ich hab das nicht mit Absicht gemacht! Ich wollte doch nur die Stimmung auflockern. Er hat mit der Verdammnis angefangen.“ Ingrid schüttelte nur den Kopf. Sie wusste, dass alles, was sie jetzt sagen konnte, ohnehin an Sylvain abperlen würde wie Öl an Wasser. „Mach lieber deine Arbeit. Aufräumen und Putzen war deine Idee, also streng dich wenigstens an. Es lockert die Stimmung eher auf, wenn wir zügig fertig werden, als wenn du noch mehr flapsige Sprüche zum Besten gibst.“ Sylvain widersprach nicht. Sehr zu ihrem Erstaunen – normalerweise war er nicht der Beste darin, Einsicht zu zeigen, bis ihm seine Verfehlungen nicht schon ein metaphorisches Schwert an die Kehle hielten – hob er abwehrend die Hände und grinste schief. „Jawohl, liebste Ingrid. Alles, damit dein hübsches Gesicht nicht weiter von Zornesfalten gefurcht wird.“ Vielleicht gab es nur schlicht schlimmeres als Widerspruch. Ohne Sylvain noch einer Antwort zu würdigen, die über einen bösen Blick hinausging, der ganz klar sagte spar dir deine Mätzchen, kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück. Konsequent schichtete sie Trümmer in einen Korb, überprüfte die Gegenstände, die im Dreck verborgen lagen. So vieles war kaputt gegangen, musste ersetzt werden. Einiges ließ sich zum Glück aber tatsächlich noch reparieren, auch wenn es handwerkliches Geschick erfordern mochte. Einiges war unversehrt genug, um nur gesäubert werden zu müssen. Das Schlimmste, fand Ingrid, war all die Zerstörung, die sie nicht mit einer zügigen Putzaktion verschwinden lassen konnten. Die immer Erinnerung bleiben würde an all die Gräueltaten, die diesem wunderbaren Ort zugefügt worden waren. Die Arbeit war monoton und simpel, forderte kaum viel Aufmerksamkeit von ihr. Zwar war sie froh darum, in dieser Aufgabe nicht die nächste Belastung zu finden, doch gleichzeitig war es schwer – so viel Zeit zum Denken zu haben. Kaum, dass sie beschlossen hatte, sich Seiner Hoheit anzuschließen, hatte sie einen Boten zu ihrem Vater gesandt. Bislang hatte sie keine Antwort bekommen. Natürlich nicht. Eine Botschaft zu überbringen dauerte seine Zeit. Doch es machte sie unruhig, nicht zu wissen, wie ihr Vater zu ihrer Entscheidung stand. Wie er die Kunde vom zurückgekehrten Prinzen aufnahm. Noch nicht direkt gehört zu haben, dass sie wirklich entbehrlich genug an der heimatlichen Front war, so dass sie sich voll und ganz und ohne Sorgen ihren Pflichten an der Seite ihres Prinzen stellen konnte. Nicht, dass sie zurückkehren würde, wenn ihr Vater darum bat. Es war wichtig, die Grenzen des letzten Rests Königreich zu verteidigen, dessen war sie sich völlig bewusst. Doch es war auch zermürbend. Erschöpfend. In den letzten Jahren hatte sie nichts anderes mehr getan als zu kämpfen und zu bangen und Verhandlungen mit allen möglichen Persönlichkeiten zu führen, von denen ihre Familie sich Unterstützung erhoffte. Sie war nicht die einzige. Ihr Vater hatte genauso hart gearbeitet. Ihre Kameraden und Freunde. Sie trugen alle eine schwere Last. Doch jetzt – jetzt hatte sie einen besseren Weg, dem Königreich zu dienen. Sie würde dem zukünftigen König den Weg zum Thron ebnen, wie es sich für eine Ritterin ihres Reiches gehörte. Sie würde endlich wirklich etwas tun können, um ihrem Vater all die Sorgen zu nehmen, die zunehmend seinen Gang beugten, statt nur die nächste Schlacht der Stagnation zu führen. Während sie sinnierte, kündete ein neuerlicher kalter Windstoß von Felix‘ Rückkehr. Er sah immer noch so grimmig aus wie bei seinem Abgang, und ohne ein Wort oder einen Blick kehrte er dazu zurück, seinen Korb mit Trümmern zu füllen. In seinem Haar hatte sich Schnee verfangen, der in der unbeheizten Halle kaum schmelzen wollte. Als er doch den Blick hob und zum Sprechen ansetzte, wünschte Ingrid sich, er hätte es nicht getan: „Und, inzwischen aufgewacht?“ Sie stieß die Luft aus, traktierte ihn mit einem verärgerten Blick. „Felix–“ „Schluss jetzt! Weg mit dem Thema. Das vermiest doch nur der ganzen Belegschaft die Laune.“ Und dann mischte sich Sylvain ein. Ingrid warf auch ihm einen Blick zu, doch sie schaffte es gar nicht, im Übermaß wütend auf ihn zu sein. Sie war dankbar um die Unterbrechung, ehe ein ausgewachsener Streit aus dem Thema wurde. „Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen heiteren Gedanken zuwenden?“ Er hob die Augenbrauen, grinste sie auffordernd an. Ingrids Blick wanderte wie von selbst zu Felix weiter, der im ersten Moment aussah, als wolle er Sylvain für seine dummen Ideen erschlagen. Er fing ihren Blick auf, und zwischen ihnen knisterte jahrzehntealtes Verständnis. „Niemand will von deinen Eroberungen hören, Schürzenjäger“, schnaubte er dann abweisend, sprach damit auch Ingrids Gedanken aus. Sylvain lachte nur, winkte ab. „Heute nicht. Ich will dich doch nicht eifersüchtig machen, Felix. Nein, nein! Ich dachte einfach… wie wir hier so im Dreck hocken und wühlen – das erinnert mich glatt an unsere Kindheit. Wo wir schon so eine nostalgische Arbeit haben, wieso schwelgen wir nicht ein bisschen in Erinnerungen?“ Ingrid schwieg. Felix schwieg. Sie fing den Blick ihres Freundes auf. Einen Herzschlag lang war sie wieder zehn Jahre alt und Sylvain hatte gerade völlig todernst gemeint einen Mann in Frauenkleidern bezirzt. „Nein“, sagte Felix dann, entschieden. In seiner Stimme schwang etwas mit, das über pure Verärgerung hinausging – eine dunkle Vorahnung, die Ingrid teilte. Sie erinnerte sich noch zur Genüge an die Peinlichkeiten, die sie als Kinder angestellt hatten. Sie erinnerte sich an dumme Streiche, dumme Spiele, dumme Ideen und dumme Kleinkindschwärmereien. Felix, offensichtlich, erinnerte sich auch. Felix, offensichtlich, hatte genauso wenig das Bedürfnis, ihre alte Schmach erneut zu durchleben, wie sie selbst. Sylvain hörte es auch. Es wunderte Ingrid gar nicht mehr, dass er es als Einladung nahm: „Ach, Felix, sei nicht so. Es sind gute Geschichten! So wie damals, als wir die Schminkschatulle deiner Mutter–“ „Noch ein Wort, und du siehst diese Trümmer von unten.“ „Oder damals, als Ingrid mit ihrer Lanze den Kronleuchter–“ „Sylvain! Ich war fünf!“ Sylvain lachte vergnügt. „Ah, und was für ein entzückendes kleines Ding du damals warst, liebste Ingrid. Das erinnert mich daran… Diese Phase, als du die Haare wie dein damaliges großes Vorbild König Lambert getragen hast – einfach hinreißend!“ Es war nicht hinreißend gewesen. Rückblickend wusste Ingrid, es hatte furchtbar ausgesehen – und zusätzlich war es ein viel zu großer Arbeitsaufwand gewesen, sich das Haar so glatt nach hinten zu bürsten und so zu fixieren. Sie schnaubte beleidigt, widerstand gerade so dem Impuls, den Fetzen eines Wandteppichs nach Sylvain zu werfen, den sie gerade in den Händen hielt. „Zügle deine Zunge“, mahnte sie nur dunkel. Sie hätte genauso gut dem Wandteppich erklären können, wie man Gedichte schrieb. Vielleicht hätte sie damit sogar noch mehr Erfolg gehabt. „Aber ich hab doch gerade erst angefangen! Kommt schon. Und ihr wart so niedliche kleine Kinder.“ „Ganz anders als du“, schoss Felix zurück. Ingrid stimmte ihm gedanklich zu. „Du warst damals schon genauso unerträglich wie heute. Nichts als Mädchen und dumme Sprüche im Kopf, und zum Training musste man dich an den Haaren schleifen. Du hast dich wirklich kein bisschen verändert.“ Es war eine Beleidigung. Sylvain grinste, als hätte Felix ihm ein großes Kompliment gemacht. „Und ich werde mich auch nie ändern“, fügte er stolz hinzu. Ingrid seufzte. Sie hatte genug von Sylvains peinlichen Erzählungen. Wirklich. Und sie hatte genug von seinem aufgeplusterten Ego. Mit einem falschen, liebenswürdigen Lächeln wandte sie sich an ihn: „Dann macht es dir also nichts aus, wenn Felix und ich ein paar alte Geschichten über dich auspacken, oder? Wenn du dich ohnehin nie ändern willst, dann ist dir gewiss auch keine vergangene Verfehlung peinlich. Ich meine, ich erinnere mich noch so unfassbar gut daran, wie du damals diese Dienstmagd beeindrucken wolltest, als du bei uns zu Besuch warst. Weißt du noch? Die Sache mit dem Spargel…“ Es war so befriedigend, zu sehen, wie Sylvains Gesicht engleiste, während neben der Geschichte, die Ingrid gerade anriss, zweifelsohne auch noch tausend andere Peinlichkeiten seiner Vergangenheit in seinem Kopf darum kämpften, welche von ihnen denn am peinlichsten war. Er lachte nervös, rieb sich über den Nacken. „Also, wenn ich so drüber nachdenke… vielleicht wechseln wir doch das Thema. Haha…“ Sie wechselten das Thema nicht – sie schwiegen. Doch es war ein angenehmes Schweigen. Felix schimpfte nicht mehr über ihren Prinzen. Sylvain erzählte keinen Unfug. Und Ingrids Gedanken begannen ganz von selbst wieder zu wandern, verloren sich bald auf den Pfaden der Erinnerung. Es war seltsam. Sie hatte ewig nicht mehr zurückgedacht an ihre Kindheit und all die Dinge, die sie damals erlebt hatte. Aber wozu auch? Es hatte einfach keinen Platz mehr gehabt in ihrem Leben, nicht in den letzten Jahren. Jetzt ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie alte Erinnerungen aus den letzten Winkeln ihres Gedächtnisses grub, so wie sie Hausrat aus den Trümmern grub. Nicht die peinlichen Erinnerungen. Keine Geschichten, wie Sylvain sie erzählen würde. Aber es waren trotzdem so viele. So viele Erinnerungen an ihre Kindheit. An Glenn. An ihre Freunde. An ihren Prinzen. So viele Erinnerungen, an die sie viel zu lange nicht mehr gedacht hatte. Glenn, der sie nachts durchs halbe Fraldarius-Anwesen begleitet hatte, weil sie der festen Überzeugung gewesen war, dass dort ein Geist sein musste, und ihr nebenbei Rittermärchen erzählte, um die gespenstische Stille zu füllen. Glenn, der ihr die Spiele beigebracht hatte, die Soldaten in ihren Lagern zum Zeitvertreib spielten. Dimitri, mit dem sie so oft die Lanzen gekreuzt hatte, um gerade in jüngeren Jahren danach gemeinsam die Vorratskammer zu plündern und ein völlig unvernünftiges Chaos in der Küche zu hinterlassen, weil doch nach dem ersten Hunger direkt das Training wieder rief. Felix, der ihr immer mal wieder seinen Nachtisch zugeschoben hatte, weil er Süßigkeiten hasste, und sie, wie er sagte, doch sowieso so ein nimmersatter Vielfraß war, dass das gewiss auch noch reinpasste. (Es hatte immer reingepasst.) Sylvain, der ihr immer wieder alberne Geschenke gemacht hatte – weil sie ein Mädchen war. Weil er ja ausprobieren musste, ob das einem Mädchen gefallen würde, ehe er bei einer Angebeteten auf die Nase damit fiel. (Erst heute wurde ihr bewusst, dass er ihr solche Dinge wie Waffenöl wohl eher um ihrer selbst Willen geschenkt hatte.) Sie bemerkte kaum, wie ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. „Vielleicht würde es Seiner Hoheit helfen“, kommentierte sie irgendwann gedankenverloren. „Sich nicht nur auf die grausamen und leidvollen Facetten seiner Vergangenheit zu besinnen.“ Felix schnaubte. „Ich glaube nicht, dass der Keiler noch genug Menschlichkeit für schöne Erinnerungen hat“, gab er kalt zurück. Sylvain hingegen zuckte recht unbekümmert mit den Schultern. „Wir werden es nicht herausfinden, wenn wir es nicht versuchen. Also?“ Ingrid sagte es nicht laut – aber zum ersten Mal seit sehr langer Zeit gab sie Sylvain wirklich recht. Monat des Pegasus 1186 ---------------------- Ein ganz kleiner Teil von ihm wünschte sich, es wäre alles nur ein Albtraum. Es war nicht, als würde er daran glauben. Felix hatte schon vor vielen Jahren gelernt, dass die schrecklichsten Dinge nicht der nächtlichen Fantasie entsprangen, sondern dem kalten, grausamen Leben. Die Tragödie von Duscur war ein wunderbares Beispiel dafür. Das gesamte Verhalten seines Vaters seitdem auch. Seine Blindheit dafür, zu akzeptieren, dass an einem ritterlichen Rittertod überhaupt nichts Ehrenwertes war. Seine blinde Hörigkeit diesem Keiler gegenüber. Damals, als er ihn aufgenommen hatte wie einen dritten Sohn – und heute noch. Es schien Felix sogar, dass die Besessenheit seines Vaters mit dem Keiler in den letzten Jahren seines möglicherweise tatsächlichen Todes nur noch gewachsen war. „Der alte Mann hat den Verstand verloren.“ Es war nicht einmal für irgendjemandes Ohren bestimmt – aber er hatte eben Gesellschaft, und diese Gesellschaft konnte sich ruhig anhören, wie wenig er noch von dem alten Grafen Fraldarius hielt. „So spricht man nicht von seinem Vater, Felix.“ Er hätte wissen müssen, dass er von Ingrid nichts anderes als Maßregelungen zu erwarten hatte. Wie auch nicht? Sie musste doch ihren geplanten Schwiegervater verteidigen – vor ihrem geplanten Schwager. Auch nicht gerade gerecht. Aber von ihrer Warte aus konnte Felix das durchaus nachvollziehen: Natürlich war Ingrid auf der Seite seines Vaters. Seines Vaters, der immer noch Loblieder auf seinen toten Sohn sang, der heute noch leben könnte, wäre er nicht so verrannt in ritterliche Ideale gewesen. Dumm. Ekelhaft. „Ich spreche von meinem Vater, wie ich will. Und es ist nicht von der Hand zu weisen. Schiebt sein Land ab, um einer wilden Bestie in den Tod zu folgen – ich sehe nicht, was daran kein Wahnsinn ist.“ „Wir folgen ihm auch“, hielt Ingrid dagegen. Totschlagargument. Wenn sie ihm folgten, dann musste der Keiler ja etwas für sich haben. Als ob es überhaupt noch um den Keiler ging. Es ging um das Königreich, um ihre Heimat, um das platte, persönliche Bedürfnis, das Kaiserreich in Trümmer zu schlagen. Mit oder ohne Keiler. Felix würde das Kämpfen niemals aufgeben. Es war müßig, das Ingrid zu erklären. Gegen starrsinnige Ritterlichkeit kam man mit gesundem Menschenverstand einfach nicht an – Felix konnte es trotzdem nicht sein lassen. Nur, dass er unterbrochen wurde, noch bevor er zu seiner Tirade hatte ansetzen können: „Können wir nicht einfach in Frieden unser Mittagessen genießen, ohne dass ihr zwei eine Grundsatzdiskussion draus macht?“ Konnten sie offensichtlich nicht. Felix warf Sylvain einen vernichtenden Blick zu, der nur noch finsterer wurde, nachdem der Rotschopf kaum sichtbar darauf reagierte. Manchmal– „Du solltest mir lieber helfen, Sylvain!“ Ingrid klang ernsthaft verraten. Felix warf ihr einen kurzen Blick zu, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Gautiers Lieblingssohn seinen Papi verteidigen würde. Bei ihm suchst du vergebens Unterstützung.“ Auf Sylvains Gesicht flackerte Wut auf, brennendheißer Ärger, und es befriedigte Felix auf eine gar nicht faire Art. Ob er ihn weiter provozieren sollte? So lange, bis Sylvain freiwillig zur Waffe griff? Ein Trainingskampf, um seinen Ärger unter Kontrolle zu bekommen, klang unheimlich verlockend. Zu schade, dass Sylvain dazu zu faul war. Zu schade, dass Ingrid hier war, um ihn mit wütenden Blicken an jeder weiteren bösen Spitze zu hindern – oder seine bösen Spitzen zumindest zu dezimieren. Es war doch immer dasselbe. „Sylvains Eltern haben hiermit nichts zu tun, Felix. Hier geht es um deinen Vater. Graf Rodrigue ist ein unsäglich ehrbarer Mann, der viel für das Königreich und sein Volk getan hat – und seinen Prinzen! Du magst persönliche Differenzen mit ihm haben, aber das gibt dir nicht das Recht, ihn so dermaßen respektlos zu behandeln.“ Felix, wenn man ihn fragte, hatte alles Recht, wütend auf diesen alten Mann zu sein und ihn so schlecht zu behandeln, wie er wollte. Es war nicht, als würde sein Vater ihn besser behandeln. Er schnaubte, stand mit zu viel Schwung vom Tisch auf. „Ich gehe. Deine Loblieder auf den alten Mann haben mir den Appetit verdorben.“ Ein Trainingskampf klang wirklich immer attraktiver. Er kam nicht weit. Fünf Schritte, dann hörte er Sylvain hinter sich: „Felix, warte!“ Noch einmal fünf Schritte, und der lange Lulatsch hatte zu ihm aufgeschlossen, obwohl Felix seine Schritte beschleunigt hatte. Er würdigte seine unerwünschte Begleitung mit keinem Blick, während er zügigen Schrittes den Speisesaal durchquerte und hinaus aufs Außengelände des Klosters zusteuerte. Kalte Winterluft schlug ihm entgegen, kaum, dass er hinaustrat. Winzige Schneeflocken rieselten träge zur Erde, nicht genug, um die vielzahligen Fußabdrücke wieder aufzufüllen, die das Leben im Kloster hinterlassen hatte. „Nimm es Ingrid nicht übel.“ Felix schnaubte. Sein Atem stob in weißen Wolken gen Himmel. „Sicher. Sie muss es ja besser wissen als ich.“ „Nein, das meinte ich doch gar nicht! Ach, Felix… Du weißt doch, wie das ist.“ Er wusste nicht, was er wissen sollte. Skeptisch warf er einen Blick zu Sylvain, sah ihn sein Haar raufen und nach Worten ringen. Nein, er wusste nicht, wie das war. Er wollte es vermutlich auch gar nicht wissen, so wie Sylvain aussah. „Was ich meine – na ja. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Graf Rodrigue ein ziemlich sympathischer Typ Mensch ist… solange man nicht sein Sohn ist.“ „Und das gibt Ingrid welches Recht genau?“ Gar keines, so einfach war das. Ob Ingrid nun wusste oder nicht, wie unangenehm sein Vater in Interaktion mit Felix war – es war einerlei! War es denn ernsthaft zu viel verlangt, dass Felix‘ Bedenken ernstgenommen wurden? Es ging ja nicht einmal nur darum, dass er wütend auf den Alten war. Es ging um die blinde Unvernunft, die der Mann portraitierte. Diese alberne Hörigkeit dem Keiler gegenüber, der ihn wie Dreck behandelte. Und der Alte kroch trotzdem weiter vor ihm im Staub. Folgte jedem Befehl ohne Kritik, egal, wie dumm er war. Warf Land und Leute weg, um einem lächerlichen Hirngespinst von Königlichkeit hinterherzurennen, das nicht existierte. Sie hatten eine Grenze zu verteidigen! Felix‘ Onkel mochte noch so kompetent sein, das änderte nichts daran, dass er bei aller Kompetenz längst nicht die tiefen Einblicke in alle Bedürfnisse der Fraldarius-Ländereien hatte, die sein Vater hatte. Und Felix glaubte keine Sekunde daran, dass der Mann sich die Zeit genommen hatte, seinen jüngeren Bruder wirklich intensiv einzuweisen. Er hatte von der Rückkehr des Keilers gehört und gewissermaßen alles stehen und liegen lassen. War ins Tal der Schmerzen geeilt, um sich ihm zu Füßen zu werfen, und jetzt hatte Felix ihn am Hals. Oder zugegeben – nicht einmal das. Es war nicht, als sähe er wirklich mehr von der Aufmerksamkeit des Alten, als wenn er ihn überhaupt nicht um sich hatte. „Es gibt ihr gar kein Recht.“ Sylvains Antwort kam so spät, dass er sie eindeutig vorher mehrfach im Kopf herumgeschoben hatte. „Aber sie kann kaum Rücksicht nehmen auf die Dinge, von denen sie nichts weiß, oder?“ „Sie muss es nicht wissen!“, gab Felix brüsk zurück. Er warf Sylvain einen kurzen, wütenden Blick zu, wandte sich dann wieder ab, um weiterzumarschieren – wohin auch immer. Weg von dem Gespräch am liebsten. Auch wenn er darin wohl kaum eine Chance hatte. Er schnaubte missgelaunt. So gern er mit den Verfehlungen seines Vaters hausieren ging, und so wenig Scham er darin kannte, gnadenlos über die schlechten Eigenschaften seiner Familie, Freunde und Bekanntschaften zu sprechen – es gab Grenzen. Und zuzugeben, dass alles und die ganze Welt dem eigenen Vater wichtiger war als er selbst, war unangenehm. Das musste niemand wissen. „Dann muss sie auch kein Verständnis haben.“ „Sie könnte einfach aufhören, sich einzumischen.“ Warum auch immer er es Sylvain überhaupt erzählt hatte. Nein, er erinnerte sich noch ganz genau. Es war vor zwei Jahren gewesen, in einer kurzen Ruhepause des Krieges. Sie hatten sich getroffen – ohne Ingrid, die aufgrund einer Verletzung lieber zuhause blieb und sich auskurierte. Sie waren frustriert, zerschlagen und über alle Maße erschöpft gewesen, und in allem Frust hatten sie nicht einmal mehr Worte füreinander gefunden. „Gehen wir etwas trinken.“ Es war Sylvains Idee gewesen. Felix war sicher gewesen, er wollte es nur, um die nächstbeste hübsche Bedienung anzumachen. Stattdessen hatte er sich betrunken. Felix hatte mitgemacht. Er hatte eh nichts Besseres zu tun gehabt. Und irgendwann am Abend, als der gröbste Rausch des Alkohols langsam stiller wurde, hatten sie irgendwo in einer ruhigen Ecke gesessen, und über Dinge gesprochen, die noch nie zwischen ihnen Thema gewesen waren. Miklan. Glenn. Sylvains Eltern. Sylvains Sorgen, am Ende selbst kein besserer Vater zu sein. (Dumme, unbegründete Sorgen. Sylvain war ein unverantwortliches Weichei, aber Felix traute ihm nicht zu, ein Kind schlecht zu behandeln.) Felix‘ Unzufriedenheit damit, für seinen Vater kaum mehr persönlichen Wert zu haben als ein besserer Soldat. Sie hatten nie wieder darüber gesprochen. Zugegeben, Felix hatte halb geglaubt, der Alkohol hätte die Erinnerungen getilgt – zumindest bei Sylvain. Er hatte sich offensichtlich getäuscht. „Aber so funktioniert unsere Freundschaft. Ingrid ist nunmal die, die uns den Kopf wäscht.“ Sylvain grinste. Etwas in seinem Grinsen ließ Felix ahnen, dass er vom eigentlichen Thema ablenken würde. „Das hat sie doch schon immer gemacht. So wie damals, als du dich mit der Söldnerbande auf Durchreise anlegen wolltest. Wie alt warst du noch mal? Elf?“ „Und ich hätte sie erledigen können“, gab er schnaubend zurück. Es waren keine beeindruckenden Söldner gewesen! Nur ein Haufen schwächlicher Mietklingen, die ihr Geld nicht wert waren. Er hatte es den Leuten nur beweisen wollen. Aber Ingrid hatte ihn aufgehalten. „Sicher hättest du das“, stimmte Sylvain zu, und er klang genauso unaufrichtig dabei wie jedes Mal, das er einem Mädchen das Blaue vom Himmel versprach, „Aber die ganzen Knochenbrüche hätte kein Heiler der Welt danach heilen wollen.“ Er übertrieb maßlos. (Nicht. Felix hatte aber überhaupt keine Lust, das einzusehen, alleine, weil ihm der Gedanke absolut zuwider war, dass Sylvain von allen Menschen einmal im Leben im Recht sein könnte.) Um von der ganzen Sache wegzukommen, schüttelte er den Kopf, genervt und verärgert. „Was genau willst du eigentlich gerade von mir?“ „Nun, ein Abstecher ins nächste Dorf wäre nicht übel. Ein hübsches Mädchen an jedem Arm bringt dich sicher auf andere Gedanken und lässt dich deinen Kummer vergessen.“ „Ich bin nicht so ein liebestoller Bock wie du.“ Sylvain summte nachdenklich. Er ließ den Blick schweifen, als suche er einen besseren Vorschlag. Felix zweifelte daran, dass er etwas finden würde – nachdem ihm Training nicht einmal einfallen würde, wenn er alle anderen Worte aus seinem Wortschatz tilgte. Sylvains Miene hellte sich trotzdem in einem neuen Einfall auf. „Wir könnten Schneemänner bauen. Wie früher.“ Felix seufzte. „Nein. Wir sind keine kleinen Kinder mehr, Sylvain.“ Er sah den Protest in Sylvains Augen. Er sah die dummen Argumente, und er sah auch die Erinnerungen, die der Schwachkopf zweifelsfrei wieder aufwärmen würde. Damals hatte es Spaß gemacht. Selbst dann noch, als Glenn richtig wütend geworden war, weil sie dem großen ritterlichen Schneemann seine Rüstung angezogen hatten. Entschieden schüttelte Felix den Kopf, ehe er sich in noch mehr nutzlosen Schneemannsgeschichten verlor. „Nein“, beschied er noch einmal mit Nachdruck. „Wir sind keine kleinen Kinder. Und wir gewinnen keinen Krieg mit einer Schneemannarmee.“ Das funktionierte auch nur in Kleinkinderfantasien. „Wir gewinnen ihn ja nicht einmal mit einem Keiler“, fügte er bitter hintenan. Sylvain war weise genug, nicht weiter darauf einzugehen, sondern das Thema einfach wieder zu wechseln: „Du solltest trotzdem auf andere Gedanken kommen. Hilft nicht, wenn du jetzt noch ewig weiter über die Ungerechtigkeit der Welt brütest – glaub mir, ich hab das schon hinter mir. Und es hat mir nicht gutgetan!“ Sehr zu Felix‘ Bedauern führte Sylvain es nicht weiter aus. Er hätte ihn zu gern in Zukunft immer wieder daran erinnert, dass seine eigenen dummen Gedanken schuld an seinen Fehltritten waren. Eigentlich brauchte er doch aber nicht einmal eine Ausführung. Er konnte sich recht gut vorstellen, in welche Richtung Sylvains Brütereien gingen. Er seufzte resigniert. Er wurde den Kerl nicht mehr los, oder? Er könnte wegrennen, aber das war ihm dann doch zu erbärmlich. Außerdem war Sylvain ein Meister darin, ihm nachzulaufen. Wie ein treuer Schoßhund. Welpe. Zu mehr brachte er es doch gar nicht, und den treudoofen Welpenblick bekam er auch zustande, wenn er mal wieder aus einem Kratzer eine abgetrennte Gliedmaße machte. Felix seufzte noch einmal; er gab auf. „Gut. Bring mich auf andere Gedanken. Ich erwarte allerdings, dass du mich mit Mädchen, Mädchengeschichten, Schwärmereien, Liebeskummer und allem anderen, was irgendwie mit deinen bisherigen Eroberungen zu tun hat, verschonst.“ Sylvain schwieg. Um Felix‘ Mundwinkel zuckte kurz so etwas wie Triumph. Vielleicht konnte er ihn so doch loswerden. Es war nicht, als hätte Sylvain andere Hobbies oder Antriebe im Leben als die Damenwelt. Er kämpfte. Passabel. Mehr nicht! Wenn er seinen faulen Hintern öfter zum Training schleppen würde, könnte er bedeutend mehr erreichen. Er beherrschte ein Stück Magie. Wann auch immer und wie auch immer Sylvain auf die Idee gekommen war, sich dem Studium der Magie zu widmen, inzwischen waren seine magischen Fähigkeiten ähnlich passabel wie seine Kampftechnik. Felix vermutete immer noch, dass ein großer Faktor in der Entscheidung die Faulheit gewesen war, auf dem Schlachtfeld Blitze zu schleudern und Feuerbälle zu werfen, statt ernsthaft mit einer Waffe kämpfen zu müssen. Seine Heilmagie reichte auch gerade so für erste Hilfe. Faul. Sylvain war so unambitioniert faul, dass es frustrierend war. Jetzt hatte Felix noch mehr das Bedürfnis, ihn zur Trainingshalle zu zerren und ihn so lange zu verprügeln, bis er zu der Einsicht kam, dass er sich endlich zusammenreißen und sein Training ernster nehmen musste. Sylvain schien andere Ideen zu haben. Mitten im Laufen beschleunigte er, nur, um sich dann umzudrehen und vor Felix aufzubauen. Weiße Schneepunkte klebten in einem Schopf und auf seiner Kleidung wie eine Schicht Puderzucker. Weil er nicht an Sylvain vorbeilaufen wollte, blieb er notgedrungen stehen, die Arme abwartend vor der Brust verschränkt und die Augenbrauen angriffslustig erhoben. „Was?“ „Wie wäre es, wenn ich zur Abwechslung meine unsterbliche Liebe einfach dir erkläre, statt all den Mädchen da draußen?“ Wie dieser Mistkerl es schaffte, dabei auch noch so todernst und aufgesetzt aufrichtig auszusehen, würde Felix ewig ein Rätsel bleiben. Schauspieler. Schmierenkomödiant. Er knurrte, packte ihn grob am Kragen. „Jetzt reicht’s. Du kommst jetzt mit zur Trainingshalle, und du wirst erst wieder gehen, wenn du mindestens einen ernsthaften Schlag gegen mich gelandet hast.“ „Was?! Felix, komm schon, das ist unfair! Ich werde eher vor Erschöpfung ohnmächtig, als dass ich das schaffe!“ Felix sah ihn ohne jedes Mitleid an. „Dann machen wir morgen weiter. Los, beweg dich.“ Sylvain bewegte sich. Schleppte sich neben Felix dahin wie ein Verurteilter auf dem Weg zum Galgen, und den ganzen Weg zur Trainingshalle jammerte er darüber, wie grausam Felix war, wie unfair seine Forderung war, und dass das die mieseste Reaktion auf eine Liebeserklärung war, die er jemals bekommen hatte. „Sei froh, dass sie nicht noch schlimmer ist“, grollte Felix, als es ihm zu viel wurde. Ob es die Drohung oder sein Tonfall war – irgendetwas brachte Sylvain tatsächlich dazu, den Mund zu halten. Vielleicht war es auch nur Ingrid, die vor den Toren zur Trainingshalle stand wie bestellt und nicht abgeholt. Ihr kummervolles Gesicht hellte sich in Erleichterung auf, als sie Felix erblickte. „Habt ihr noch einen Trainingsplatz für mich?“ Felix war immer noch sauer auf sie. Aber vor allem war er gerade genervt genug von Sylvain, dass er seine Genervtheit über seine Wut stellen konnte. Er packte den Rotschopf wieder am Kragen und schubste ihn in Ingrids Richtung. „Hier. Der hier braucht eine Tracht Prügel. Oder zwei.“ Oder fünf. Ingrid lachte leise. „Da helfe ich doch gerne. Übrigens habe ich uns ein Mittagessen mitgebracht.“ Es war keine Entschuldigung. Aber es war nah genug dran, dass Felix‘ Wut verpuffte und er nickte, grimmig zufrieden. „Gut. Sylvains Portion gehört mir.“ „Felix!!!“ Felix grinste, dann wandte er sich von seinen Kameraden ab, um eine Trainingswaffe zu holen. Auch wenn sein schlimmster Ärger verraucht war – das Training wurde deshalb sicher nicht abgeblasen. Monat der Einsamkeit 1186 ------------------------- Der Himmel schien sich nicht zwischen Schnee und Regen entscheiden zu können. Vom Frühling, der schon längst auf dem Weg sein sollte, war auch noch nicht viel zu spüren. Grauer Himmel, kalte Temperaturen, tristes Wetter. Sylvain fand es trotzdem gar nicht so übel. Allein, dass immer und zu jeder Tageszeit frisch gekochter Tee von Mercedes bereitstand, um ihre Gemüter aufzuwärmen, war eine ziemlich angenehme Ablenkung vom Sauwetter und der tristen Aussicht.   Zumindest Sylvains Gemüt wärmte es sehr, eine Tasse heißen Tee holen zu können, kaum, dass er mit der Stallarbeit fertig war. Feierabend – für den Moment zumindest. Für den Rest des Tages, wenn nicht irgendeine Arbeit auftauchte, die absolut keinen Aufschub duldete. Inzwischen hatten sie eine gute Routine hier im Kloster gefunden. Sylvain war sehr froh darum! Das ganze Chaos zwischen Klosterputzen und Kriegsführung, mit dem ihr Einzug in die neue Basis begonnen hatte, hatte definitiv der allgemeinen Truppenmoral nicht unbedingt geholfen, und inzwischen wieder einen geregelten Tagesrhythmus zu haben, bot eine geradezu tröstliche Illusion von Normalität. Solange Sylvain nicht zu lange über sein aktuelles Schicksal nachdachte, war es fast wieder wie früher.   Wenn er ignorierte, dass dieser Krieg die Zukunft ihres ganzen Reiches, ihres ganzen Landes prägen würde. Wenn er ignorierte, dass die vorangegangene Schlacht auf der Großen Brücke Myrddin sie gezwungen hatte, die Waffen gegen einst geliebte Schulkameraden zu erheben und damit einen Vorgeschmack darauf gab, was ihnen in Zukunft nur noch öfter blühen würde. Wenn er ignorierte, dass Felix‘ Laune nur schlechter statt besser wurde, je länger sein Vater in der Nähe war. Wenn er ignorierte, dass Seine Hoheit immer noch das Gegenteil von einem vielversprechenden Thronfolger war.   Er hatte ein recht großes Talent im Ignorieren, immerhin – und ein noch größeres Talent darin, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Sofern es sie denn gab. Ausgeschlossen, dass er in Zukunft nur mit seinem guten Aussehen und seinem Charme die alten Schulkameradinnen auf dem Schlachtfeld dazu bewegen könnte, zu desertieren. In der Anwesenheit von Graf Fraldarius sah er allerdings wirklich einen Gewinn. Es war eine Sache, Truppen zur Verfügung zu stellen, aber eine ganz andere, auch selbst für eine Sache einzustehen. Dass ihr Herr ebenfalls hier war, motivierte die Soldaten der Fraldarius-Familie spürbar zusätzlich. Sylvain war sich auch recht sicher, dass die allgemein positive Haltung Dimitri gegenüber, die von dieser Front kam, ebenfalls an der positiven Haltung des Grafen dem Prinzen gegenüber lag. Und was eben diesen Prinzen anging…   Sylvain wusste nicht mehr, was er von Dimitri halten sollte.   Einerseits: Dimitri war sein Freund. Immer gewesen. Würde es immer sein. Und er hatte viel Mitgefühl für den Jungen, der seine Familie, seine engsten Freunde, eigentlich sein gesamtes direktes Sozialumfeld verloren hatte. Natürlich hatte das Dimitri nachhaltig geschadet – alles andere wäre wohl nur noch bedenklicher gewesen. Er verstand, dass es Seiner Hoheit nicht gut ging. Ehrlich. Er verstand, dass der Kerl Ballast mit sich herumschleppte, und das in einem Ausmaß, das sie sich alle nicht vorstellen konnten. Sie mochten alle irgendwann geliebte Menschen verloren haben – aber nie auf einen Schlag alles. Andererseits: Es war nicht einfach ignorierbar, dass Dimitri gerade Fehler über Fehler machte. Dass er in seiner blinden Fixierung auf die Kaiserin und ihren Niedergang alles andere und seine Pflichten aus den Augen verlor, seine Kameraden, seine Untertanen, sein Reich. Er war ein grausamer Mörder geworden. Inzwischen sah Sylvain den Keiler in ihm, den Felix seit schon bald zehn Jahren beschrie. Das war nicht mehr der Dimitri, den er einmal gekannt hatte. Der dumme Junge, der Dolche an Mädchen verschenkte statt Blumen. Oder Pralinen. Oder irgendetwas anderes normales.   Er wollte den alten Freund aber nicht aufgeben. Genauso wenig, wie er Felix in Frieden lassen wollte, egal, wie oft der Kerl versuchte, ihn loszuwerden. (Da ging er lieber trainieren.) Genauso wenig, wie er Ingrid loswerden wollte, egal, wie oft sie ihm Gardinenpredigten hielt. (Völlig zu recht, meistens. Das sah Sylvain ja ein. Es nervte trotzdem!)   Mit Dimitri zu reden, das funktionierte nicht. Hatte er versucht. Hatte Ingrid versucht. Hatte Felix auf seine überaus charmante Art auch versucht. Sie alle bissen bei Seiner Hoheit auf Granit. Und es waren ja nicht nur seine alten Freunde. Gilbert. Rodrigue. Sogar die Magistra hatte es mehr als einmal versucht – hoffnungsloserweise. Dimitri hielt stur an seinen verrannten Ideen fest, und sie konnten weiterhin nichts anderes tun als zu folgen, zu kämpfen, und zu hoffen, dass alle Schwarzmalerei Schwarzmalerei bleiben würde, und der Prinz sie nicht in den Untergang führte, sondern doch in eine strahlende Zukunft. Verstand einprügeln klappte auch nicht – vor allem allein deshalb, weil Dimitri sich außerhalb aller Schlachten sowieso konsequent von allen abkapselte und gar nicht erst versuchte, Interaktion zuzulassen. Trainingskämpfe lehnte er rigoros ab. („Du wirst sterben, wenn du dich je meiner Klinge gegenübersiehst.“) Vielleicht könnte Felix sonst auf die Art zu ihm durchdringen. Tee kochen und umtütteln half auch nicht, wenn man Mercedes‘ kummervollen Berichten glauben durfte – und warum sollte sie lügen? Ganz davon ab, dass es offensichtlich war.   Das einzige Mal, das Sylvain sich wieder an seinen alten Freund erinnert gefühlt hatte, seit sie sich zum denkbar schlechtesten Klassentreffen der Geschichte wieder in Garreg Mach eingefunden hatten, war in einem Gespräch mit Dedue gewesen, kurz, nachdem der auf der Brücke von Myrrdin von den Toten wiederauferstanden war.   Und das war der Grund, weshalb er, nachdem er seinen Tee ausgetrunken und sich von allem Arbeitsschmutz gesäubert hatte, Ingrid und Felix zusammengetrommelt hatte.   Sie saßen im warmen Lampenschein in der Küche, jeder eine Tasse Tee vor der Nase. Ingrid hatte ein karges Abendmahl zusammengezimmert. „Wir sollten das wirklich versuchen“, begann Sylvain, sparte sich alle großen Vorreden. Mit der Tür ins Haus zu fallen war beizeiten eben doch die beste Taktik, und große Vorreden machten ein Thema auch nicht leichter. „Was?“, hakte Felix nach, doch sein Tonfall klang eher nach erspar uns deine dumme Idee doch einfach. „Na. Mit Seiner Hoheit in Erinnerungen schwelgen.“   Er rechnete nicht mit Begeisterung. Zustimmung, von Ingrid vielleicht. Von Felix eher das Gegenteil davon, und entsprechend wunderte es ihn wenig, dass sein Freund die Augenbrauen missgelaunt zusammenzog, die Mundwinkel verärgert verzog. „Dem Schwachsinn hängst du immer noch nach? Das ist doch albern. Selbst du solltest so langsam begriffen haben, dass der Keiler seine Menschlichkeit längst verloren hat.“ Sylvain schüttelte den Kopf. „Ich habe letztens gesehen, wie er mit Dedue gesprochen hat. Für einen Moment war er fast wieder der alte Dimitri.“   Während Ingrid weiterhin schwieg, verzog Felix angeekelt das Gesicht. „Dass der Keiler sich freut, seinen hörigen Schoßhund wiederzuhaben, wundert mich wenig. Die sind doch beide aus dem gleichen Holz geschnitzt. Und es ändert nichts. Dieses Tier hat oft genug in den letzten Monaten bewiesen, dass es keinen Bedarf an Veränderung hat.“ Es war nicht, dass Felix damit falsch lag. Sylvain wollte das trotzdem nicht einfach so stehen lassen und schüttelte nur wieder stur den Kopf. „Ach komm schon. Was verlieren wir denn? Höchstens ein paar Nerven. Außerdem – ganz ab davon, ob das nun einen positiven Effekt hat oder nicht, zumindest wir können uns an den alten Erinnerungen erfreuen.“ „Niemand außer dir freut sich über peinliche Geschichten, Sylvain.“ Tat er nicht, übrigens. Er fand nur viele der Geschichten, die in Ingrids und Felix‘ Augen peinlich waren, so überhaupt nicht peinlich. „Wenn es peinliche Geschichten über Seine Hoheit sind, habt ihr bestimmt auch Spaß dran“, hielt er unbekümmert dagegen. Felix sah gar nicht überzeugt aus. Ingrid entkam ein unterdrücktes Kichern, das ihn sofort dazu brachte, sich ihr knurrend zuzuwenden.   „Entschuldigung. Mir ist gerade nur eine alte Geschichte wieder eingefallen.“   Sylvain grinste, fast triumphierend. „Ingrid, liebste Freundin! Erzähl sie uns doch. Vielleicht hilft das, das Herz von diesem Griesgram hier ein bisschen zu erweichen und ihn zu überzeugen.“ „Eher das Gegenteil“, mahnte Felix. Ingrid störte das offensichtlich wenig, denn ohne sich um seine Warnung zu kümmern, begann sie zu erzählen: „Das eine Mal, dass wir alle bei Felix‘ Familie übernachtet haben. Als wir… uff. Vier oder fünf Jahre alt waren. Es muss ganz jung gewesen sein. Bevor wir lesen konnten.“ „Die Märchenbücher“, ergänzte Sylvain lachend. Felix stöhnte genervt, dann ertränkte er seine bissigen Kommentare in einem Schluck Tee, um sie schließlich zweifelnd anzusehen. „Müsst ihr das unbedingt wieder aufwärmen?“ „Es waren gute Märchen.“ Inzwischen fand Sylvain das auch. Früher hätte er Ingrid und Felix und Dimitri gern ein paar Köpfe kleiner gemacht, als sie ohnehin schon waren – erst zu erwarten, dass er ihnen Geschichten vorlas, weil er als einziger von ihnen lesen konnte, und dann die ganze Zeit meckern, dass die Geschichten doch bestimmt gar nicht so im Buch standen, dass Sylvain sie veralberte, dass er am Ende nur geschwindelt hatte, dass er lesen konnte. Sie wussten natürlich viel besser, wovon die Märchen handelten, die sie noch nie gehört hatten.   „Es war wirklich süß“, seufzte er zufrieden, lehnte sich schwerer auf die Lehne seines Stuhls, auf dem er rittlings saß. „Kaum zu glauben, was für ein süßes, weichherziges Ding du damals noch warst, Felix.“ „Kein Wort mehr, Sylvain.“ Sylvain grinste breit – aber er hielt den Mund. Es war nicht, als würde es noch Worte brauchen. Die Märchen, die Felix damals in aller kindlichen Unschuld gedichtet hatte, standen jetzt ohnehin schon unausgesprochen im Raum und er war sich sehr sicher, dass jeder von ihnen sie gerade im Kopf hatte. „Dimitris Geschichte mit der sprechenden Zauberlanze war aber auch unheimlich niedlich.“ Es klang ein bisschen, als wollte Ingrid mit dem Themenwechsel Felix‘ Gemüt besänftigen. Wenn dem so war, dann scheiterte sie allerdings ganz heftig, denn sie erntete nur ein abfälliges Schnauben zur Antwort.   „Einmal Keiler, immer Keiler. Das war genauso eine Lüge wie jedes nette Lächeln als Kind.“   „Felix–“ „Lass gut sein, Ingrid. Da stößt man nur auf taube Ohren – wie beim Keiler selbst.“ „Bitte was?“ Sylvain sah Felix ohne größere Regung an. „Du bist doch genauso verrannt. Warum genau fällt es dir so schwer, einzusehen, dass dein Keiler nur ein Teil des Ganzen ist? Hast du Angst davor?“ Er hob die Augenbrauen, sah, wie sich Felix‘ Kiefer verärgert anspannten. Bevor der Kerl die Gelegenheit bekam, zurückzuschießen, fuhr er fort: „Der Dimitri, der von Zauberlanzen erzählt und Dolche an Mädchen verschenkt und dich vor Ewigkeiten seinen Bruder genannt hat – der ist genauso ein Teil davon.“ „Wenn er je ein Teil davon war, dann ist er vor fast zehn Jahren gestorben.“ Wie Glenn. Wie seine Familie. Wie am Ende doch ein Teil von jedem, der an jenem Tag persönlich betroffen gewesen war. „Dann bist du also auch tot?“ Felix setzte zum Protest an, besann sich dann aber eines Besseren und beließ es bei einem weiteren Schnauben.   Es war kein fairer Vergleich. Es war nicht einmal ein wirklich passender Vergleich, das war Sylvain durchaus bewusst. Aber vielleicht half er. Dimitri hatte sich verändert. Ja. Aber das hieß doch nicht, dass der Dimitri, der er irgendwann einmal gewesen war, einfach verschwunden war. Dass davon nichts übrig war. Felix‘ Weichherzigkeit war auch noch irgendwo da, versteckt in schroffen Worten und bösen Blicken. Und Ingrid… na. Ingrid war einfach immer Ingrid. Die furchtbare kleine Meckerziege, um deren Gemecker Sylvain den Großteil der Zeit dann ja doch dankbar war. (Und sie war immer wirklich eine große Hilfe in allem Frauendrama gewesen, letztendlich.) Und er… war eindeutig auch immer noch er selbst. Nicht nur im Positiven, zugegeben.   Felix‘ mürrisches Seufzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Versucht es doch. Aber kommt dann bloß nicht zu mir, um zu weinen, dass es nicht funktioniert. Da ist nichts mehr als der Keiler, selbst dann, wenn er sich wieder daran erinnern sollte, wie man Mensch schauspielert. Da hilft keine nette Erinnerung, über die man lachen könnte. Er wird nicht lachen.“ „Und wenn doch?“ In Ingrids Augen lag ein leiser Nachhall jugendlichen Übermuts, als sie Felix ansah – der dagegen sah einfach nur genervt und frustriert aus. Und resigniert. „Es gibt kein Doch.“ Sylvain war versucht, Ingrids Frage einfach noch einmal zu wiederholen. Kurz, bevor er es wirklich tat, kam ihm aber noch eine bessere Idee, und er grinste breit in die Runde. „Und wenn doch, dann werden wir neue gemeinsame Erinnerungen machen. Für den Fall, dass mal wieder jemand eine Erinnerung an seinen guten Charakter braucht. So ein Felix zum Beispiel.“ Vielleicht brauchte er die jetzt schon. Es sah aus, als hätte er das dringende Bedürfnis, Sylvain seine Tasse an den Kopf zu werfen.   „Versucht es. Es wird ohnehin nicht klappen. Und wenn doch, dann fangen wir mit den neuen Erinnerungen direkt auf dem Trainingsplatz an.“   Sylvain hätte eher an ein beschauliches Lokal in einem beschaulichen Dörfchen gedacht. Gutes Essen, hübsche Mädchen… Aber wenn ihr Prinz wirklich irgendwann wieder zu sich selbst zurückfinden würde – dann war ihm wohl auch das Training recht. Epilog: Monat der Harfe 1186 ---------------------------- Neun Jahre. Neun Jahre, die er nur einen Lebenssinn gekannt hatte. Neun Jahre, in denen die Stimmen der Verstorbenen ihm Rache ins Ohr geflüstert hatten, ihn in Ketten gelegt mit seiner eigenen Verzweiflung, der einzige Überlebende einer Tragödie von viel zu großem Ausmaß zu sein. Neun Jahre, in denen er seine ganze Familie verloren hatte. Seine engsten Freunde. Seinen engsten Hofstaat. Lehrer, Kameraden, Vorbilder. Einen zweiten Vater, schlussendlich.   Neun Jahre, in denen seine Kameraden ihn trotzdem nicht aufgegeben hatten.   Sie waren immer noch da. Gustave, der ihn in jungen Jahren angeleitet hatte und ihm immer noch ewigste Treue schwor. Dedue, der seinetwegen fast sein Leben gegeben hätte. Der Dimitris Wohl immer noch über alles andere stellte, ihn respektierte, bewunderte, liebte – trotz all seiner Fehler. Trotz der blinden Rachsucht, die ihn so lange geleitet hatte. Die Magistra, die seit ihrem Wiedersehen nie den Glauben in Dimitri verloren hatte. Die ihm hatte beistehen wollen, obwohl er es ihr wirklich nicht einfach gemacht hatte. Seine Klassenkameraden, die natürlich auch und vor allem der Magistra folgten, aber trotzdem nie versucht hatten, sich von ihm zu distanzieren. Annette, Mercedes, Ashe. Ingrid, die seinetwegen ihren Verlobten verloren hatte. Die trotzdem seine Gesellschaft suchte, die ihm keinen Vorwurf machte. Sylvain, der ihn immer noch mit den gleichen flapsigen Sprüchen wie vor Jahren vom Ernst des Lebens ablenkte. Felix, dessen Vater nur seinetwegen gestorben war, und der trotzdem bereit war, ihm zu verzeihen, solange Dimitri dieses Opfer würdigte.   Er verstand sie nicht. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Doch. Er wusste es: Er würde endlich den Weg gehen, den er gehen wollte. Den er gehen musste, um sich selbst treu zu sein. Es hatte nie einen anderen Weg gegeben – er war nur zu blind gewesen, ihn zu sehen, zu verwirrt von all den Stimmen in seinem Kopf, die Mord und Totschlag schrien.   Doch damit war es nun vorbei. Nicht für Rodrigue. Nicht für seinen Vater. Nicht für seine Stiefmutter. Nicht für Glenn. Doch. Auch für sie. Aber vor allem für ihn selbst – und für die Kameraden an seiner Seite. Er würde lernen, nicht in der Vergangenheit zu leben, sondern für die Zukunft. Die Toten zu ehren und zu respektieren, ohne sich von ihnen in Ketten legen zu lassen. Felix‘ Worte waren harsch gewesen, aber nicht völlig falsch. Die Toten blieben tot, ganz gleich, was er tat und nicht tat.   Es war nicht einfach.   Nach allem, was passiert war, wieder auf seine Kameraden und Freunde zuzugehen, war härter, als Dimitri jemals geglaubt hätte. Er konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Er konnte aber auch nicht die Schwere seiner bisherigen Verfehlungen jedes weitere Gespräch, jede Interaktion diktieren lassen. Er konnte sich nicht unzählige Male entschuldigen – es würde nichts ändern, außer, dass die Dinge, die geschehen waren, niemals ruhen könnten. Fast war es, als müsste er neu lernen, wie simple menschliche Interaktion funktionierte.   Also lernte er. Lernte, indem er nicht mehr versuchte, sich von den anderen abzukapseln. Indem er sich wieder darauf besann, wie es früher gewesen war, als sie gemeinsam unter der Führung der Magistra geträumt und gelacht hatten, in den Momenten, in denen die Stimmen in seinem Kopf leiser und der Rachedurst schwächer gewesen waren.   Als er auf dem Trainingsplatz zwischen den letzten, schmelzenden Schneeklumpen und jungen Frühlingsboten Felix, Ingrid und Sylvain erblickte, zögerte er trotzdem. Er war nie über den Tod seiner Eltern hinweggekommen. Rodrigues Tod lag kaum eine Woche zurück. Trotzdem war in Felix‘ Blick keine übermäßige Ablehnung, als Dimitri sich der kleinen Gruppe näherte. Trotzdem lächelten Ingrid und Sylvain zur Begrüßung. „Hoheit! Wollt Ihr mit uns trainieren?“ Dimitri lächelte kurz. „Ich bin tatsächlich zum Training herkommen, Ingrid. Wenn ich euch Gesellschaft leisten darf, dann gerne.“ „Natürlich. Es ist fast wie früher, nicht wahr?“ Ingrids Worte brachten Felix zu einem genervten Stöhnen, Sylvain dafür zum Lachen. Ein bisschen war es wie ein alter Witz, den Dimitri einfach nur nicht verstand, und den ihm auch niemand erklären wollte, wie es aussah.   Er hatte so viel verpasst.   All die Zeit, die er sich nur in seiner Rache verlaufen hatte, war das Leben an ihm vorbeigezogen – und gerade in solchen banalen Kleinigkeiten merkte er es viel zu schmerzhaft. Aber er wollte wieder ein Teil davon sein. Er wollte sich davon nicht abschrecken lassen, er wollte wieder Zugang finden. Also lächelte er, warf einen amüsierten Blick zu Ingrid. „Um ganz wie früher zu sein, müsste Sylvain sich schon längst verdrückt haben, stimmt.“ Der Kommentar entlockte sogar Felix‘ ein fast erheitertes Schnauben – Dimitri hörte es nur, weil er darauf lauschte. Sonst wäre es in Sylvains Protestgeheul untergegangen. „Ihr seid herzlos zu mir, Hoheit.“ „Er sagt die Wahrheit, Faulpelz.“   Felix und Sylvain verloren sich in einem Streitgespräch über Trainingsmoral, das wohl schon fast so alt war wie sie selbst – und seltsam tröstlich in seiner Vertrautheit.   „Wie früher“, kommentierte Dimitri gedankenverloren. Neben ihm lachte Ingrid leise. Sie wandte den Blick von den beiden Streithähnen, statt sie wie sonst so oft auseinanderzuzerren, und sah zu Dimitri auf. „Wir sollten froh sein, dass sie nicht in allem wie früher sind“, gab sie schalkhaft zurück. „Ich vermisse es nicht unbedingt, dass Felix nachts auf Geisterjagd gehen will. Oder dass Sylvain an uns übt, wie er am besten seine Mädchen umgarnen kann.“   Dimitri lachte unwillkürlich auf. Zugegeben, die Geisterjagden hatte er gemocht! Welcher junge Bursche hatte denn auch etwas gegen große Abenteuer? Aber schon als Sechsjähriger hatte er es nicht gebraucht, von Sylvain bezirzt zu werden, nur, damit er nach jedem albernen Spruch erst einmal „Wie war ich?“ fragte.   Felix seufzte. Sylvain seufzte und lachte gleichzeitig. Ingrid strahlte, als hätte er gerade die Nacht zum Tag gemacht, und alle drei tauschten einen Blick, den Dimitri nicht verstand, bevor Sylvain geschlagen die Hände hob.   „Trainieren wir.“   Sie setzten sich in Bewegung, um ihren Kaffeekranz zu beenden und Trainingswaffen zu holen, während Dimitri immer noch halb neugierig und halb verständnislos hinter ihnen hersah. Ein paar Schritte, und Felix drehte sich um, die Augenbrauen auffordernd erhoben.   „Beweg dich, Dimitri.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)