Die längste Nacht von Idris ================================================================================ Kapitel 1: Tote Tage -------------------- Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste Margarete schon, dass sie nicht mehr im Bett lag. Sie war im Wald. Barfuß und im Nachthemd. Sie befand sich in dem fließenden Übergangsbereich zwischen Traum und Wachzustand, und es dauerte einen Moment, bis die Angst einsetzte. Das schwindelerregende Gefühl, wenn man nicht dort aufwachte, wo man eingeschlafen war. Sie drehte sich um sich selbst. Die Bäume wirbelten um sie herum, silberweiß und schwarz, fremdartige Wesen mit langen, gezackten Gliedmaßen. Schon wieder. Das war ihr zweiter Gedanke. Schon wieder war sie nachts in den Wald gelaufen – geschlafwandelt – von einer magischen Macht gezogen, die sie nicht verstand und die sie nicht kontrollieren konnte. Sie fühlte sich wie eine Gliederpuppe, als ob dünne Fäden an ihr zogen, und dieses Gefühl hielt auch noch an, als das Ausmaß der Kälte in ihr Bewusstsein drang. Kälte kroch ihre Beine hoch und sie schlang die Arme um ihre Taille. Ihr beschleunigter Atem materialisierte sich als kleine weiße Wölkchen vor ihrem Mund. Der Himmel war nachtschwarz. Alles andere um sie herum war weiß. Gefrorener Schnee bedeckte den Boden und bedeckte glitzernd wie Lametta die Tannen. Sie war im Wald. In ihrem Wald. Nun, ein Wald sah aus wie ein anderer, und alles um sie herum waren monochrome Schemen, und doch fühlte sich alles daran seltsam vertraut an. Es war IHR Wald. Sie spürte ihn um sich herum wie ein lebendes, atmendes Wesen. Es raschelte neben ihr im Geäst. Ein riesiger Wolf trat zwischen den Ästen hervor und sie entspannte sich. Sein Fell war braun und seine Augen topasfarben, und alles an seiner Erscheinung war furchteinflößend. Er schüttelte sich heftig, so, dass der Schnee aus seinem Pelz in alle Richtungen flog, bevor er auf sie zulief. Ilario. Das war ihr erster Gedanke gewesen. Als ob sie seine Anwesenheit gespürt hätte. Vielleicht hatte sie das. Es war auch sein Wald. Der Wolf trat neben sie. Er war so groß, dass seine Schultern auf Höhe ihrer Ellbogen waren und er drückte seinen Kopf gegen ihren Arm. Sie spürte das Kribbeln ihrer Magie überall dort, wo er sie berührte. Er krümmte sich. Seine Gestalt schien sich zu verformen als ob eine große Hand ihn packte und zu Boden drückte. Einen Moment lang war er unscharf und verschwommen, als flimmerte die Realität um ihn herum wie ein flackernder Fernseher. Einen Wimpernschlag später kniete an seiner Stelle ein nackter Junge im Schnee. Seine braune Haut und sein dunkles Haar waren ein krasser Kontrast zu dem weißen Schnee. Ilario richtete sich auf. „Bist du jetzt wach?“ „Ich glaube schon.“ Sie blickte sich um. Ihre Umgebung hatte eine seltsam traumhafte Qualität, surreal und gedämpft, wie in Watte gepackt. Es hätte ein Traum sein können. Ilario griff nach ihrer Hand, seine Augen prüfend auf ihr Gesicht gerichtet. Sie wusste nicht, wonach er suchte. Aber er war so warm und ihr war so furchtbar kalt. Sie trat auf ihn zu, schlang die Arme um seine Taille und vergrub das Gesicht an seinem Hals. „Wo bin ich?“ flüsterte sie. „In der Nähe des Wasserfalls.“ Seine Stimme klang ein wenig heiser, wie immer, wenn er sich grade erst zurückverwandelt hatte. Als seien seine Stimmbänder noch nicht wieder gewohnt auf diese Weise benutzt zu werden. „Hörst du das Wasser rauschen?“ Sie nickte, ohne ihn los zu lassen. Ihr ganzer Körper bebte. Ihre Knochen fühlten sich steif an vor lauter Kälte, aber er war warm wie ein Heizofen. „Wie lange…?“ „Ich folge dir seit fast einer Stunde. Ich hätte dich früher aufgehalten, aber… Mama hat gesagt, wir sollen dich nicht wecken, wenn es passiert“, sagte er. Es klang frustriert. Zögernd legte er die Hände auf ihren Rücken und ließ sie einen Augenblick dort ruhen. „Du bist eiskalt“, sagte er barsch. „Lass uns nach Hause gehen.“ Sie nickte. Nach Hause. Es war sein Zuhause. Nicht das ihre. Sie blickte an ihren bloßen Beinen hinab. „Ich nehme nicht an, dass du mir Schuhe mitgenommen hast.“ Er schnaubte. „Ich trage doch keine Satteltasche mit mir rum. Du hast die Wahl, wie du getragen werden willst, Prinzessin.“ In seinen Armen wie eine Prinzessin oder auf dem Rücken eines Wolfes. Das war die Wahl. Verlegen drückte sie ihr Gesicht an seinen Hals. „Bitte, zieh einen Pelz an“, flüsterte sie. Er gehorchte. - „Ich habe erwartet, dass das passieren würde“, sagte Allegra. „Deswegen habe ich Ilario, Remi und Cora gesagt, dass immer einer von ihnen dir folgen soll.“ Sie wirkte unbeeindruckt. Kühl und gelassen wie ein stiller, tiefer See, den nichts aufwühlte und nichts erschütterte. Margarete saß auf der Couch im Wohnzimmer der Belvas (nicht „zu Hause“, dachte sie, aber doch so nah dran wie nur irgendetwas), in Thermostrumpfhosen und eine dicke Strickjacke gehüllt und unter eine Decke gekuschelt. Es war sechs Uhr morgens, aber das ganze Rudel war anwesend. Cora saß links von ihr und Bianca rechts, beide noch im Schlafanzug, und sie spürte das warme Kribbeln von Magie und Wärme, die aus beiden Richtungen in sie floss. Bianca aß Cornflakes und Cora trank Kaffee aus einer dampfenden Tasse. „Wieso war das zu erwarten?“ fragte Margarete. „Heute ist der 20. Dezember“, sagte Allegra. Sie saß ihr gegenüber auf einem Sessel, die Beine übereinandergeschlagen und die Hände gefaltet. Ihr schlichtes, dunkles Wollkleid ließ sie weich und mütterlich wirken, alles Attribute, die nicht die ersten waren, die Margarete mit ihr assoziierte. „Weißt du was, das bedeutet?“ Es bedeutete, dass in zwei Tagen Heiligabend sein würde. Das erste Weihnachten, was sie ohne ihre Familie feiern würde. Aber das konnte sie nicht sagen. Das war unaussprechlich. Eine Sekunde lang war ihr heiß, statt kalt, und ihr Mund schmeckte nach Asche. Sie schüttelte den Kopf. „Heute ist Wintersonnenwende. Die Raunächte beginnen.“ „Was ist das?“ Es war Scipio, der antwortete. Er trat aus den Schatten, lautlos wie ein Geist und lehnte sich an Allegras Sessel. „Ein Jahr aus zwölf Mondmonaten umfasst nur 254 Tage. Um mit dem Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bleiben, wurden dem Kalender elf Tage und zwölf Nächte hinzugefügt. Tote Tage.“ Seine Augen glühten und seine Stimme war dunkel und hypnotisch. „Tage außerhalb der natürlichen Zeit. Du spürst die Magie, nicht wahr? Du spürst sie überall. In der Erde, in der Luft, in den Bäumen.“ Margarete nickte, unfähig zu antworten. Scipio machte ihr Angst. Er machte ihr immer Angst, auch wenn er sich die meiste Zeit in der Rolle eines Hollywoodschurken zu gefallen schien. Er hätte etwas Lächerliches an sich haben sollen, aber nichts an Scipio war lächerlich. Unter dem maliziösen Lächeln und dem theatralischen Schnurrbartzwirbeln lauerte noch etwas anderes. Eine dunkle Begierde. Ein Verlangen nach Macht. „Es ist eine gefährliche Zeit“, fuhr Allegra fort. „Für die Menschen. Für die Hexen. Und für uns. Der Vorhang zur anderen Welt ist dünner als gewöhnlich und allerhand … gefährliche Kreaturen können uns einen Besuch abstatten. Magie ruft nach Magie. Du kannst den Sog spüren. Es zieht dich nach draußen, nicht wahr? Du spürst es… hier.“ Sie legte eine Hand auf ihre Brust. Margarete schwieg, aber sie widersprach nicht, und das war so gut wie eine Zustimmung. Der Wald rief immer nach ihr, aber nie war es so stark gewesen wie heute Nacht. „Ich spüre es auch.“ Es war das erste Mal, dass Remi sich zu Wort gemeldet hatte. Er saß am anderen Ende der Couch im Schneidersitz und hatte bis eben die Augen geschlossen gehabt und schweigend gelauscht. Jetzt öffnete er sie und sein fahler Blick ruhte auf Margarete. „Wir spüren es alle“, erwiderte Allegra. Remi schüttelte den Kopf. Seine Hand wanderte zu seiner Brust, wie ein unbewusster Reflex und er rieb sich über das Brustbein als bereite es ihm Schmerzen. „Es ist anders als sonst. Stärker.“ Er zögerte einen Augenblick. „Ich schlief als Mensch ein. Als ich heute Morgen erwachte, war ich ein Wolf.“ Jemand atmete scharf ein. Margarete musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Ilario war. „Es war… schwer mich aus dieser Form zu lösen.“ Es klang wie ein widerwilliges Geständnis, und sie konnte verstehen, dass es sich für Remi so anfühlen musste. Er hatte fast ein Jahr lang unfreiwillig als Wolf gelebt, gefangen in dieser Form und unfähig sich zurück zu verwandeln. Erst Margaretes Magie hatte ihn befreit. „Ich war nicht da.“ Ilario klang betroffen. „Es tut mir leid. Ich hätte…“ Remi wandte den Kopf und warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Sogar, wenn du da gewesen wärst, was hätte es geändert?“ Ilario hob schweigend die Schultern. Seine Augenbrauen waren brütend zusammengezogen und er sah finster aus. Allegra und Scipio tauschten einen Blick. Scipio hob unmerklich die Augenbrauen. Allegra schüttelte ebenso unmerklich den Kopf. „Du warst sehr lange einem starken Zauber ausgeliefert“, sagte sie langsam. „Er haftet vielleicht noch an dir und macht dich… verwundbar.“ Remi neigte den Kopf, ein halbes Zugeständnis. „Es zieht an mir“, sagte er ruhig. „Es zieht mich nach draußen, in den Wald. Und es zieht mich hinaus aus dieser Form.“ Ein Schauer lief über Margaretes Rückgrat. Vielleicht war es die ruhige Art, wie er es sagte. Vielleicht war es die unnatürlich stille Art wie er dort saß, reglos, wie ein Raubtier, bereit dich anzuspringen. Oh, das war nicht gut. „Großartig.“ Es war Cora, die es aussprach. Sie setzte ihre Kaffeetasse mit Nachdruck auf dem gläsernen Wohnzimmertisch ab. „Es gäbe keinen besseren Zeitpunkt, um die Kontrolle zu verlieren. An Weihnachten wird es im Wald nur so wimmeln von Jägern, die ganz scharf darauf sind, einen Wolf abzuknallen. Vielleicht sollten wir ihn irgendwo anbinden.“ „Vielleicht sollte man dir einen Maulkorb anziehen“, knurrte Ilario. Sie schnappte nach Luft. „Du kannst mich mal! Ich sage doch nur, wie es ist!“ „Und ich sage dir, noch ein Wort und ich werde…“ „Ruhe“, befahl Allegra scharf. Beide klappten abrupt den Mund zu. „Ich will keine Streitereien haben.“ Coras und Ilarios Augen leuchteten topasfarben und in Biancas Augen glomm es. Bei Remi waren die Fangzähne hervorgeschossen und sogar Scipio hatte sich ein wenig aufrechter hingestellt. Allegras Alphastimme hatte diese Wirkung. „Wenn ihr euch nicht benehmen könnt, sperre ich euch alle drei gemeinsam ein“, fuhr Allegra fort. „Während der toten Tage sind viel gefährlichere Dinge im Wald unterwegs als die Rotschilds, und das wisst ihr alle ganz genau.“ „Die wilde Jagd“, flüsterte Bianca und drückte ihren Kopf an Margaretes Schulter. Ihre Mutter nickte. „Ja. Es ist die Zeit der Perchta und der wilden Jagd. Und wer einmal in ihr gefangen ist, wird ihr nie wieder entkommen.“ Sie seufzte. „Keiner von euch wird alleine das Haus verlassen. Keiner wird alleine schlafen. Verstanden?“ Alle nickten. Margarete fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Was kann ich tun?“ Über Allegras Gesicht glitt eine einzelne, komplizierte Emotion, irgendetwas zwischen Amüsement und Resignation. „Ich weiß nicht, ob du viel tun kannst. Du bist nicht Claire.“ „Nein“, stimmte Margarete zu. „Das bin ich nicht. Aber ich bin die einzige Hexe, die ihr habt.“ Allegra sah sie lange an, prüfend, suchend. Wortlos machte sie eine Handbewegung. Bianca stand gehorsam auf. Aber nicht Cora. „Wieso dürfen wir nicht dabei sein?“ protestierte sie. „Seit einer halben Stunde spiele ich Wärmekissen und jetzt willst du uns rausschicken wie kleine Kinder?“ „Cora.“ „Ilario darf dabeibleiben!“ Anklagend deutete sie auf ihren Bruder, der finster und schweigend neben dem Kamin im Schatten saß. Allegra warf ihr einen Blick zu. In ihren Augen leuchtete es rot, wie eine flackernde Kerze. Cora senkte den Blick. „Ja, Mutter“, sagte sie leise und sie folgte ihrer Schwester widerspruchslos. Auch Remi erhob sich schweigend. Scipio ging ganz zum Schluss als Letzter, mit einem nachlässigen Lächeln auf den Lippen und der Aura von jemandem, der ohnehin grade etwas Besseres zu tun hat. Allegra wartete, bis alle das Zimmer verlassen hatten, bevor sie weitersprach. „Keiner von uns verlässt in dieser Zeit allein das Haus“, sagte sie. „Nicht einmal Scipio. Und du solltest es auch nicht tun. Aber…“ Sie zögerte. „Der Fairness halber solltest du wissen, dass wir eine ebenso große Gefahr für dich darstellen könnten wie die Geister und Dämonen des Waldes.“ „Was könnte denn passieren?“ fragte Margarete. Es fühlte sich an, als ob sich in ihr ein bodenloses schwarzes Loch geöffnet hätte. Es war Ilario der antwortete. Er war aufgestanden, ohne, dass sie es bemerkt hatte und stand nun neben der Couch. „Spontane Verwandlungen“, sagte er. Er klang angespannt. „Kontrollverlust. Ein bisschen wie Vollmond. Nur zehnmal schlimmer. Sie sollte nicht hier sein.“ Der letzte Satz war an seine Mutter gerichtet. „Sie sollte auch nicht allein sein“, war die ruhige Erwiderung. „Eine unerfahrene Hexe in den Raunächten ist kein schönes Szenario, egal in welche Richtung man es weiterdenkt.“ „Mutter…“ „Schweig.“ Sie hob die Hand und er verstummte abrupt. „Es ist nicht deine Entscheidung. Und nicht meine.“ Abwartend sah sie Margarete an. „Es klingt als sollte ich definitiv hier sein“, sagte Margarete. Sie hatte Remi zurückverwandelt, oder nicht? Sie hatte Cora während Vollmond zurückverwandelt. Sie konnte es wieder tun. Vielleicht. Möglicherweise. Ilario gab ein frustriertes, zorniges Geräusch von sich. Er klang als hätte er eine Menge dazu zu sagen, aber er konnte sich dem Befehl seiner Mutter nicht widersetzen. Was für ein grässliches Gefühl, dachte Margarete, so ausgeliefert zu sein. Sie beneidete ihn eine Familie zu haben. Aber sie beneidete ihn nicht dafür. „Magie zieht Magie an“, sagte Allegra ruhig. „So war es schon immer. In diesen Tagen ist der Wald zum Besten voll damit. Es zieht uns hinaus und es zerrt an unseren menschlichen Hüllen, es legt unser Innerstes frei.“ Es glomm in ihren Augen und ein Schauer lief über Margaretes Rücken. So beherrscht, so kühl sie auch war – auch Allegra Belva trug in sich ein Raubtier. Vielleicht das Gefährlichste von allen, weil sie einen glauben machen konnte, dass es nicht da war. „Du wirst vielleicht überrascht sein, was dabei zum Vorschein kommt. In anderen. Und in dir selbst.“ Margarete zog die Decke fester um ihre Schultern. Ihr Blick wanderte wie von selbst zu Ilario. Er war zum Schweigen verdammt, aber seine ausdrucksstarken, dunklen Augen sprachen Bände. Sie erinnerte sich an seine Finger auf ihrem Handgelenk, seine Hände auf ihrem Rücken. Sie erinnerte sich daran wie sie sich an ihm festgeklammert hatte, als sei er ein Fels in einer tobenden See. „Ich möchte helfen“, wiederholte sie, diesmal mit festerer Stimme. Allegra lächelte sanft und behutsam, und Margarete hatte das Gefühl ihr erneut auf den Leim gegangen zu sein, dass erneut wieder alles genauso lief wie Allegra es von Anfang an hatte haben wollen. „Das ist sehr großzügig von dir. Das Beste, was du tun könntest, um zu helfen, ist unser Haus zu sichern. Aber dabei kann ich dir nicht helfen. Der einzige Mensch, der es dir hätte zeigen können, ist tot.“ Claire. Claire hätte sicher gewusst was zu tun war und wie man sich selbst und alle anderen schützte. Claire hätte keine Angst gehabt. Sie wäre nicht unfähig und hilflos gewesen. Es gab nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der vielleicht – vielleicht – wusste, was Claire getan hatte. Sie wandte sich um und griff nach Ilarios Hand. „Ich brauche Jannik“, sagte sie. Er warf einen Blick zu seiner Mutter und seine Schultern sanken erleichtert nach unten. Er nickte. „Ich bringe dich zu ihm.“ Fortsetzung folgt Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)