Krieg der Götter von Clio1208 (Verlorene Krieger) ================================================================================ Kapitel 2: Der kleine, lilafarbene Retter ----------------------------------------- Ein Schreck durchfuhr Suris gesamten Körper und wie vom Donner gerührt stand sie bloß da, starrte mit offenem Mund ihre Freundin an und war außer Stande zu sprechen. Erinnerungen an eine furchtbare Zeit vor vier Jahren fluteten ihr Hirn. Damals, als in regelmäßigen Abständen Digimon in der realen Welt erschienen, um sie dem Erdboden gleichzumachen. Chaos und Zerstörung auf den Straßen, überall miteinander kämpfende Monster, bewaffnete Männer und Fahrzeuge vom Militär an jeder Ecke, eingestürzte Gebäude und tagtägliche Hiobsbotschaften in den Nachrichten, solange bis der Strom in Tokyo ausfiel und keine mehr gesendet werden konnten. Zwar hatten Suri und ihre Familie die Katastrophe unbeschadet überlebt, doch sie konnte sich immer noch gut an die Angst erinnern, die sie während der Zeit geplagt hatte. „Bist du verrückt?! Willst du uns umbringen?! Wir müssen sofort hier weg, bevor diese Monster hier aufkreuzen!“, fuhr sie Kaida haltlos an. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ihre beste Freundin anschrie. Sonst war sie eine sehr geduldige und gelassene Natur, was ihre Mitmenschen betraf. Doch mit ihrem Trip in die gefährliche Digiwelt hatte sie definitiv den Bogen überspannt. Panisch sah Suri sich um, vermutete hinter jedem der blühenden Büsche eine bösartige Kreatur, die nach ihrem Leben trachtete und richtete ihren Blick wieder zornig auf Kaida. Es war einer der wenigen Momente, in dem sie einmal etwas verdutzt wirkte. Diese Anfuhr war nicht nur für Suri das erste Mal. „Entspann dich. Ich war schon ein paar Mal hier und kein Digimon hat mich angegriffen“, sagte sie schließlich. „Wie viele hast du denn gesehen?“ „Naja, eins. Aus der Ferne.“ „Du bist schrecklich.“ „Und du benimmst dich wie ein feiges, hysterisches Würstchen. Du könntest mir ruhig ein bisschen Anerkennung zollen. Sowas wie – Was? Du hast es allen Ernstes geschafft, dich in die Digiwelt zu hacken? Respekt, Kaida und danke, dass du mich mitnimmst.“ „Hier ist es gefährlich! Hättest du mir vorher gesagt, wo wir hingehen, dann wäre ich nicht mitgekommen. Deine Hackerleistungen in allen Ehren“, erwiderte Suri, ihre Fäuste streng in die Hüften gestemmt. „Was hast du denn gedacht, wo wir hingehen? Ich hab dir gesagt, wir gehen in eine andere Welt. Welche gibt es denn noch außer der Digiwelt?“ „Weiß ich doch nicht. Du bist von uns beiden das Superhirn.“ Kaida schnaubte grimmig. „Na schön. Dann gehen wir eben wieder, damit du dir deine vollgeschissenen Windeln wechseln kannst." „Schön.“ Vor sich hin brummelnd begann Kaida, in ihrem Rucksack herumzuwühlen, bis sie ihr iPad herausholte. Suri sah sich derweilen immer wieder hektisch um, prüfte ihre Umgebung auf die gefährlichen Bestien, die einst Tokyo in Schutt und Asche gelegt hatten. Sie sah nicht, wie sich Kaidas Stirn in Falten legte, während sie über ihrem Tablet brütete. „Error“, murmelte sie und schüttelte verständnislos ihren Kopf. „Ist was?“, hakte Suri nach, ihren Blick immer noch auf dem dichten Gestrüpp. Als Antwort gab sie mal wieder irgendwelches Fachchinesisch von sich, das Suri nicht verstand. „Was bedeutet das für den normalen Menschen?“, hakte sie genervt nach und kassierte von Kaida einen milde angewiderten Blick. „Weißt du, es täte dir echt gut, mal ein bisschen Computersprache zu lernen. Das bedeutet, dass wir hier nicht mehr rauskommen. Irgendwer oder irgendwas sperrt die URL zur realen Welt.“ Suri traute ihren Ohren nicht. Für sie war ganz logisch, dass ein Problem, das Kaida nicht bewältigen konnte, eins war, das niemand bewältigen konnte. Programmieren, Hacken und ähnliches Zeug waren ihr Fachgebiet, auf dem sie jeden auf ihrer Schule – auch die hiesigen Informatik-Lehrer – geschlagen hatte. Suri konnte sich noch an Kaidas siegreiches Grinsen und den offenkundigen Ärger der anderen Programmier-Wettbewerbsteilnehmer erinnern, als das Superhirn ihnen einen virtuellen Arschtritt verpasst hatte. Das war letztes Jahr auf dem Schulfest. Wie viel sie seitdem noch dazu gelernt hatte, wusste Suri nicht und dennoch tippte Kaida emsig auf ihrem Tablet herum ohne das gewünschte Resultat. „Oh Mann, was ist, wenn…“, murrte Suri, doch wurde von einem energischen „Pssst!“ unterbrochen. Tatsächlich verstummte sie, denn die Miene ihrer besten Freundin hatte sich wütend verzogen. Misserfolg auf ihrer Königsdisziplin kannte und duldete sie nicht und wahrscheinlich war es gefährlich, sie jetzt zu stören. Noch dazu würde es auch nichts bringen. Suri unterdrückte ein verzweifeltes Haare raufen und zog ihr Smartphone hervor. Vielleicht konnte sie jemanden aus der realen Welt anrufen, der ihnen aus ihren Schwierigkeiten half? Doch wie befürchtet hatte sie keinen Empfang. Das unheilvolle Rascheln eines Buschs lenkte sie schließlich ab, ihr Blick schnellte nach links. „Kaida“, flüsterte sie beiher verängstigt, um ihre Freundin, die ganz und gar in ihr Treiben vertieft war, zu alarmieren. Doch sie reagierte nicht, tippte einfach weiter und schien sie genauso wenig gehört zu haben, wie das Knacken des Geästs. Während Suri das Gebüsch anstarrte, hämmerte ihr Herz vor Angst in ihrer Brust. Wenig später betrat eine Art grüner Oger mit spitzen Hörnern und Zähnen und einer massiv aussehenden Holzkeule die Lichtung und funkelte aus seinen bösartigen Augen zu ihnen herüber. „Wer wagt es, das Revier von Ogremon zu betreten?“, knurrte die Kreatur mit tiefer Stimme. Erst jetzt sah Kaida von ihrem iPad auf und für einen Augenblick starrten sich die drei bloß gegenseitig an. „Du redest“, raunte Kaida ihrer Freundin zu, welche sie entsetzt ansah. „Ich? Warum ich?“ „Weil du hier die Softskills hast.“ „Ich glaube nicht, dass uns das weiterhilft“, meinte Suri und begutachtete ängstlich die schwere Keule der etwa mannshohen Kreatur. „Dann musst du ihn töten. Du kannst doch Karate.“ „Da hab ich aber nicht töten gelernt, du Witzbold.“ Kaida seufzte. „Kein Wunder, dass du da nicht gerne hingehst.“ Suri warf ihr einen verdatterten Blick zu, ehe das Wesen weitersprach und sie von ihrer im höchsten Maße merkwürdigen Freundin ablenkte. „Niemand betritt ungeschoren Ogremons Revier!“, brüllte es wütend. Die beiden Mädchen zuckten zusammen und Suri fragte sich, ob das Monster in der dritten Person von sich sprach oder es irgendwo noch ein übleres Vieh von der Sorte gab. Sie erschauderte innerlich, setzte ein unsicheres Grinsen auf und antwortete: „Wir wusste nicht, dass wir uns auf einem Privatgrundstück aufhalten. Danke für den Hinweis, wir werden sofort gehen.“ „Das kann Ogremon nicht zulassen. Ogremon wird euch mit seiner Keule zerschmettern!“ Das Vieh hob seine schwere Keule über den Kopf und rannte auf sie zu. Reflexartig fasste Suri Kaida bei der Hand, wirbelte mit ihr herum und rannte ein paar Schritte Richtung Wald. Doch der schmerzerfüllte Laut ihres Angreifers ließ sie innehalten und über ihre Schultern sehen. Der Oger taumelte nach hinten und fiel auf sein Gesäß. Ein erheblich kleineres Wesen versperrten ihm den Weg. Ein Wesen, das nach einer Art mutiertes Meerschweinchen mit lilafarbenem Fell aussah. „Das hilft uns“, stellte Suri verwundert fest und Kaida brummte: „Wer weiß, wie lange noch. Wenn dieses grüne Scheißvieh wieder auf den Beinen ist, macht es aus ihm eine Pfütze. Lass uns abhauen.“ Sie drehte sich wieder herum, wollte weiter ins Gehölz vordringen, doch wurde von ihrer Freundin an ihrer Hand zurückgehalten. „Wir können es doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen“, sagte Suri und blickte mitfühlend zu dem kleinen Wesen, das sich sichtlich verausgabte, damit sie und Kaida nicht einem Oger zum Opfer fielen. „Warum? Es hat doch beschlossen, zu kämpfen“, fragte Kaida völlig verständnislos und kassierte ein Augenrollen. So anstrengend wie Suris mangelndes Fachwissen manchmal für sie war, so anstrengend war Kaidas mangelnde Empathie für Suri. „Wir bleiben. Vielleicht braucht es irgendwann unsere Hilfe und zu dritt werden wir es schon irgendwie gegen das Ding schaffen“, bestimmte sie und nun verdrehte Kaida die Augen. Beiher gab sie zahlreiche, gewichtige Argumente für eine Flucht von sich, die Suri allesamt geflissentlich ignorierte. Mit gestrafften Schultern ging sie wieder auf die Lichtung, mit höchstem Widerwillen und finsterer Miene folgte ihre Freundin. Wie Kaida es vorhergesehen hatte, kämpfte sich der Oger wieder auf seine Beine und schlug mit seiner Keule nach dem kleinen Tierchen. Nur seiner geringen Körpergröße und der damit einhergehenden Flinkheit verschaffte ihm einen Vorteil. Doch vor lauter Ausweichen war es nicht mehr in der Lage anzugreifen. Suri blickte sich hektisch um, sah einen faustgroßen Stein zu ihren Füßen und hob ihn rasch auf. Mit aller Kraft warf sie ihn nach dem grünen Scheißvieh, wie Kaida es soeben getauft hatte und landete einen Treffer an seiner Schulter. Es stieß einen zornigen Laut aus, war für kurze Zeit abgelenkt, sodass das kleine Wesen wieder mit Seifenblasen um sich spucken konnte. Leider brachte das nicht mehr viel. Der Überraschungsmoment war vorbei und der wütende Oger ließ sich nicht mehr überrumpeln. „Ihr müsst in Deckung gehen!“, rief das lilafarbene Meerschweinchen und warf ihnen aus seinen goldenen Augen einen besorgten Blick zu. „Du schaffst das aber nicht“, entgegnete Suri, die bereits den nächsten Stein aufhob. Kaida fluchte verärgert und tat es ihr letztendlich nach. Gemeinsam attackierten sie das vor Wut schäumende und schreiende Vieh solange, bis es das kleine Digimon zu fassen bekam und es gegen den nächsten Baum schleuderte. Danach trampelte er auf Suri und Kaida zu. „Ogremon wird euch töten! Und danach wird er euch fressen!“, war sein Kampfschrei, der Suri einen eiskalten Schauder den Rücken herab jagte. Für eine Flucht war es zu spät. Sie warf sich gegen Kaida, sodass beide zu Boden fielen und nur knapp der zuschlagenden Keule auswichen. „Kaida!“, rief das Meerschweinchen und taumelte sichtlich lädiert auf seinen kurzen Beinchen über die Wiese. Seine goldenen Augen waren besorgt, doch auch erschöpft auf Kaida gerichtet. „Nein, bring dich in Sicherheit!“, erwiderte Suri laut und wich beiher dem nächsten Keulenschlag mit einer Seitwärtsrolle aus. Besorgt sah sie zu Kaida, die in etwa die Sportlichkeit eines Schokoladenkuchens besaß. Obwohl sie für ihr Leben gerne aß, war sie alles andere als dick, doch sportlich ebenso wenig. Im Anbetracht ihrer Lebensgefahr betete Suri, dass sich ihre Freundin heute geschickter anstellte als im Sportunterricht. Diese schien jedoch von ihrem Handy abgelenkt zu sein, auf welches sie mit gerunzelter Stirn starrte. ‚Ich fass es nicht. Selbst jetzt kann sie ihre Gerätschaften nicht aus der Hand legen‘, dachte sich Suri und wollte Kaida gerade zurechtweisen, als plötzlich ihr kleiner, lilafarbener Retter laut rief: „Dorimon digitiert zu…“ Das Digimon hatte sich zu drehen begonnen und sein kleiner Körper wurde von leuchtenden Zahlen umringt. Ein gleißendes Licht ging plötzlich von ihm aus, welches seine Schemen komplett verbarg. Als das Strahlen eine Sekunde später wieder versiegte und das Digimon wieder zu erkennen war, stellte Suri verblüfft fest, dass es sein Äußeres verändert hatte. Es war nun ein lilafarbener, kindshoher Dinosaurier mit kleinen Flügeln und einem rotfunkelnden Stein auf der Stirn. Seine goldenen Augen waren entschlossen auf den Oger gerichtet. „… Dorumon!“, schloss es seine Verwandlung ab und die Zahlen verschwanden. „Wow“, meinte Suri, während sie Dorumon mit großen Augen betrachtete und dabei ihre Deckung vernachlässigte. Ein grüner, hässlicher Fuß hielt auf sie zu und wollte sie zerstampfen. „Metallkanone!“, kam es lautstark von dem Dinosaurier und eine Salve aus Metallbrocken rettete sie in der letzten Sekunde vor ihrem sicheren Tod. Der Angriff ließ den Oger zur Seite kippen. Suri nutzte die Chance, sprang auf und half ihrer Freundin auf die Füße. „Würdest du vielleicht mal dein Handy wegstecken und wieder im Hier und Jetzt ankommen?“, fragte sie sie gereizt, doch Kaida machte keine Anstalten, das Smartphone wieder in ihre Hosentasche zu tun. „Ich hab hier eine merkwürdige App auf meinem Handy. Ich glaube, sie hängt mit diesem Drachen da zusammen“, murmelte sie beiläufig. „Scheiß auf die App! Wir müssen Dorumon helfen!“ Mit diesen Worten klaubte Suri wieder Steine zusammen und warf sie so präzise und wuchtig wie sie konnte nach Ogremon. Kaida löste sich endlich von ihrem Smartphone und schloss sich Suri an. Letztendlich konnten die beiden in Zusammenarbeit mit Dorumon den Oger bezwingen. Das grüne Vieh stieß einen letzten, markerschütternden Schrei aus, zersetzte sich dann in winzige Datenpartikel und verschwand. Schwer atmend und erschöpft standen die siegreichen Helden auf der Wiese und sahen sich gegenseitig an. Dorumon wurde wieder zu dem lilafarbenen Meerschweinchen, was es einmal war und trottete auf sie zu. „Geht‘s dir gut?“, fragte es primär Kaida und erhielt einen Blick, der an Trockenheit kaum zu überbieten war. „Wie sieht es denn aus?“ Nach ihrer barschen Erwiderung entfernte sie sich ein paar Schritte, ließ sich an einem Baum nieder und holte wieder in Tablet hervor, auf dem sie mit konzentrierter Miene herumtippte. Das Meerschweinchen blickte ihr hinterher und murmelte: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Suri tätschelte ihm beruhigend den Kopf. „Nein. Sprich einfach später nochmal mit ihr, gerade ist sie in einer Schaffenskrise.“ „Eine Schaffenskrise?“ Das Digimon sah sie aus seinen großen, goldenen Augen verwirrt an. Seufzend nahm Suri im Schneidersitz auf dem satten Gras Platz. „Sozusagen. Sie versucht einen Weg zu finden, aus der Digiwelt herauszukommen. Aber bisher ist es ihr noch nicht gelungen.“ „Wie bitte? Sie ist doch gerade erst gekommen. Ich habe ewig lang auf sie gewartet und sie will wieder verschwinden?“, empörte sich das kleine Digimon und Suri schaute verwirrt drein. „Ewig auf sie gewartet?“, wiederholte sie fragend. Dorimon überlegte kurz und präzisierte: „Naja, ganze vier Tage.“ Suri konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Naja, ganz so ewig ist das aber nicht.“ „Kam mir aber so vor.“ „Aber warum auf sie gewartet?“, fuhr Suri mit ihrer Befragung fort. Sie war neugierig, was in ihrer Situation wohl so ziemlich jeder wäre. Immerhin hatte sie es noch nie mit der Digiwelt und ihren Bewohnern zu tun gehabt. Ihr Gesprächsthema, Kaida, war eher mit sich selbst und dem Datengewirr auf ihrem Tablet beschäftigt. Etwas anderes hätte Suri allerdings auch gewundert. „Na, sie ist meine Partnerin“, erklärte Dorimon mit einem Seitenblick auf das Superhirn und zu Suris ohnehin schon zahlreichen Fragen kamen neue hinzu. Die beiden gravierendsten pickte sie sich heraus und stellte sie: „Wie meinst du das – deine Partnerin? Und warum weiß Kaida nichts davon?“ „Das weiß ich auch nicht so genau. Auf jeden Fall werde ich sie beschützen“, meinte Dorimon mit einem zu alles entschlossenem Blick und Suri schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. Innerlich empfand sie Mitleid mit dem Meerschweinchen, denn Kaida war keine Person, der solche Gefälligkeiten auffielen und das Wort ‚Danke‘ aus ihrem Mund war auch eher eine Seltenheit. Hoffentlich hatte das Digimon stählerne Nerven und eine gehörige Portion Geduld. „Und wer hat beschlossen, dass ihr Partner seid? Du?“, hakte Suri weiter nach, doch seiner Miene war zu entnehmen, dass es ziemlich ratlos und noch dazu überfordert war. Scheinbar war es ebenso redensfaul wie seine sogenannte Partnerin. Das war schon mal ein Vorteil, so würde es jedenfalls nicht an Kaidas Wortkargheit zugrunde gehen. Es warf dem Superhirn einen etwas sehnsüchtigen Blick zu. „Weiß ich nicht genau. Aber sie freut sich nicht besonders, mich zu sehen“, mutmaßte es und mit all ihrer Überzeugungskraft winkte Suri gelassen ab. „Wie gesagt – sie ist gerade bloß beschäftigt. Bestimmt werdet ihr bald Freunde.“ „Ja, bestimmt.“ Zögerlich spähte es herüber, hopste schließlich über das Gras und hielt dabei auf Kaida zu. „Schlechte Idee“, murmelte Suri und blickte dem Kleinen besorgt hinterher. Doch das Digimon kannte Kaida immerhin schon so gut, dass es sie nicht ansprach, sondern sich bloß neben sie legte und mit einem bitterernsten Blick nach möglichen Gefahren umsah. Kaida nahm keine Notiz von Dorimon, fuhr ohne aufzuschauen fort. Während Suri die beiden so betrachtete, gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Der erste Gedanke war eine Feststellung – es gab nicht bloß zerstörerische, bösartige Digimon. Das kleine, lilafarbene Meerschweinchen hatte sich zu einem Dinosaurier digitiert und sich schützend vor die beiden Oberschülerinnen geworfen. Es bot dabei den vollendeten Kontrast zu den Digimon, die Suri aus dem Fernsehen kannte. Eine Liveübertragung vor vier Jahren hatte sie glauben lassen, auf der Erde sei die Hölle ausgebrochen und Digimon wären allesamt bösartige Dämonen. Dorimon war aber alles andere als bösartig und ein Dämon wohl auch nicht. Der zweite Gedanke drehte sich um ihren Abschied. So wie Suri Kaida kannte, würde es nicht lange dauern, bis sie eine Lösung für ihr Problem finden würde. Schon bald würden sie die Digiwelt inklusive Dorimon verlassen. Der Fokus des kleinen, lilafarbenen Meerschweinchens war so unverwandt auf Kaida gerichtet, dass ihm das wohl das Herz brechen würde. Wer auch immer das Superhirn und das Digimon zu Partnern ernannt hatte, Dorimon nahm seinen Job verdammt ernst. Außerdem gingen ihr noch zahlreiche Fragen durch den Kopf, welche damit begannen, wie, in Teufels Namen, Kaida einen Weg in die Digiwelt finden konnte und damit aufhörten, was es mit dieser Partnerschaft auf sich hatte. Letztendlich drängte sich ihr jedoch der Sonnenuntergang ins Bewusstsein und ließ sie alle anderen Gedanken vergessen. Wenn Kaida es nicht bald aus der Digiwelt schaffte, würden sie die Nacht in der Digiwelt verbringen müssen. Suri erhob sich, klopfte sich Gras von ihren Shorts und schritt allmählich zu ihrer Freundin. „Wie läuft’s?“, fragte sie vorsichtig und sah, wie das Superhirn ihre Lippen aufeinander presste. So etwas wie Zuversicht oder Triumphgefühl zeichnete sich nicht auf ihrem hübschen Gesicht ab, eher unterschwellige Wut über ihre bisherige Erfolglosigkeit. Der Augenblick könnte nicht ungünstiger sein, sie anzusprechen, doch es musste sich allmählich um ein Nachtlager gekümmert werden, wenn sie nicht in völliger Finsternis den Wald nach Feuerholz absuchen wollten. Zwar glaubte Suri immer noch daran, dass Kaida bald des Rätsels Lösung parat hatte, doch sicher war sicher. „Ich weiß nicht, welches Arschloch die Pforten zur realen Welt geschlossen hat, aber es muss ein verdammt gutes Arschloch sein“, knurrte sie, nahm ihren düsteren Blick von ihrem Tablet und schaute zu ihrer Freundin auf. „Für den Fall, dass du es heute nicht noch schaffen solltest, würde ich Vorbereitungen für die Nacht treffen.“ „Was für Vorbereitungen? Einen Sektempfang für die fremden Digimon, die uns auflauern werden?“ Suri seufzte über den altbekannten Sarkasmus ihrer Freundin, der noch bissiger wurde, wenn sie schlechte Laune hatte. „Feuerholz, Blätter für einen weicheren Untergrund, sowas halt“, entgegnete sie, ohne auf ihre pampige Antwort zu achten und Kaida sprach den Satz, vor dem Suri schon gegraut hatte: „Ich hab Kohldampf.“ So leidenschaftlich gerne Kaida speiste, so biestig wurde sie, wenn sie Hunger hatte. Suri kannte ihre Freundin lang genug, um zu wissen, wie unleidig und barsch sie werden konnte, wenn sie nichts zu essen hatte und sie bezweifelte, dass es hier irgendwo einen Snackautomaten gab. Etwas beunruhigt beäugte sie ihre beste Freundin und überlegte fieberhaft, wie sie dieses Problem beheben sollte. Um sie milde zu stimmen, sagte sie: „Ich besorg auch was zu essen.“ „Prima, hier um die Ecke soll es ein gutes Restaurant geben“, bemerkte ihre Freundin zynisch. „Sushi krieg ich hier wohl nicht, aber irgendwo wird es schon was Essbares geben“, erwiderte Suri, ein Augenrollen unterdrückend und fügte hinzu: „Mach du hier weiter und ich kümmer mich um den Rest.“ Ihre Reaktion bestand aus einem einfachen Nicken und schon lag ihre Aufmerksamkeit wieder auf dem Display ihres Tablets. Suris Blick wanderte zu Dorimon und sie fragte: „Du passt auf sie auf?“ Nach kurzem Überlegen hatte Suri beschlossen, ihren Beschützer bei Kaida zu lassen. Suri konnte notfalls noch auf ihre Sportlichkeit zurückgreifen, zumindest hoffte sie das. Und ein Instinkt sagte ihr, dass Dorimon ohnehin lieber bei seiner sogenannten Partnerin wäre. „Natürlich“, versprach das kleine Digimon mit einem entschlossenen Blick und Kaida ließ ein spöttisches Schnauben vernehmen. „Ich brauch keinen Aufpasser“, brummelte sie. Dorimons Miene verzog sich und bekümmert senkte es den Kopf. In Suri regte sich Verärgerung und ihr Mitleid verstärkte sich. Es war eine Sache, wenn sie ihren Frust an Suri ausließ. Sie hatte damit schon Erfahrung gesammelt und konnte damit umgehen. Doch das kleine Wesen kannte ihre hungerbedingte Übellaunigkeit noch nicht und nahm sie gewiss persönlich. „Hab ich dir schon gesagt, dass du unausstehlich bist, wenn du Hunger hast?“, hakte Suri säuerlich nach. „Mehr als einmal. Wenn du es ändern willst, dann besorg mir was zu essen, verdammt“, war ihre schroffe Antwort, auf die sich Suri verärgert herumdrehte und davon stapfte. Im spärlichen Dämmerlicht kämpfte sie sich durch den tropischen Wald, auf der Suche nach Früchten, Nüssen oder Pilzen und Feuerholz. Bei einem hochgewachsenen Baum mit breitflächiger Krone wurde sie nach etwa einer halben Stunde fündig. Orange-rote Früchte, etwas größer als der standardgemäße Apfel, baumelten von den Ästen. Auch in ihr regte sich allmählich der Hunger, was die fremdländischen Früchte noch schmackhafter aussehen ließen. Sie fragte sich, ob sie auch genießbar oder gar giftig waren, doch ihr Zögern fand ein rasches Ende. Bald würde es komplett dunkel sein und dann würde sie ohnehin nichts mehr zu Essen finden. Dorimon würde schon wissen, ob man die Dinger essen konnte und wenn nicht, hatten Suri und Kaida halt Pech gehabt. Der grimmige Gedanke, dass Kaida selbst daran Schuld war, rauschte durch ihren Kopf, doch gleich darauf tadelte sie sich selbst. Kaida tat immerhin alles dafür, sie irgendwie hier rauszubringen und wenn Suri mit ihr stritt, würde das ihre Situation auch nicht besser machen. Sie seufzte, kletterte dann flink den Baum hoch und pflückte die apfelähnlichen Früchte. Für mehr Fassvermögen wandelte sie ihre Trainingsjacke kurzerhand in einen Beutel um. Nachdem sie noch etwas Feuerholz gesammelt und unter ihre Arme geklemmt hatte, machte sie sich auf den Rückweg. „Dorimon! Kann man die essen?“, rief Suri schon von Weitem und präsentierte ihm ihr Sammelgut. Das kleine Digimon, welches Kaida nicht von der Seite gewichen war, hob seinen Kopf. Sein frustrierter Blick hellte sich auf und es erwiderte: „Ja, die schmecken sogar richtig gut.“ Nun schaute auch Kaida auf und glättete prompt ihre gestresste Miene bei dem Anblick der üppigen Ausbeute. Suri schenkte ihr ein freundschaftliches Lächeln und hoffte, dass sich ihre Laune bessern würde. Eine halbe Stunde später hatten sie tatsächlich ein Lagerfeuer errichten können, über dem sie die köstlichen Früchte rösteten. Eine Stunde später errichteten sie aus Palmenblättern einen weichen Untergrund, auf dem sie schlafen konnten. Eineinhalb Stunden später hatte sich Dorimon zum Schlaf gebettet. Suri griff neben sich, zum kleinen Holzstapel und legte ein paar Äste auf das knisternde Feuer. Gegenüber von ihr saß Kaida im Schneidersitz und betrachtete grüblerisch die züngelnden Flammen. Zweifelsohne arbeitete ihr Hirn immer noch an einer Lösung für ihre missliche Lage. „Dorimon hat mir ein paar Dinge erzählt“, riss Suri sie aus ihren Gedanken und tätschelte beiläufig den Rücken des schlummernden Digimons. Dann berichtete sie ihrer Freundin von der sogenannten Partnerschaft, über die Dorimon allerdings nicht mehr gewusst hatte. Am Ende ihrer Ausführung, fragte sie Kaida: „Weißt du etwas darüber?“ „Nein. Vielleicht hat es sich bei einer Partnerschaftsbörse angemeldet?“ Suri musste grinsen. „Ach ja? Bei welcher kann man dich denn finden?“ „Leckt-meine-Eier.com.“ „Deine Sprüche werden auch immer origineller.“ „Ich tu mein Bestes. Und wie mach ich dem Vieh begreiflich, dass ich sowas wie eine Partnerschaft nicht will?“ Suri zuckte mit den Schultern. „Schonend. Oder besser noch - gar nicht. So ein kleiner Kumpel wird dir gut tun.“ „Vergiss es. Ich brauche kein Haustier.“ Suri dachte an ein Ereignis in ihrer Kindheit zurück. Damals hatte Kaidas Mutter ihrer unsensiblen Tochter einen Hund kaufen wollen. Sie hatte gedacht, dass Kaida in ihrem tiefsten Inneren furchtbar einsam wäre und sich mit einem Lebewesen so etwas wie Sozialkompetenz antrainieren konnte. Kaidas Kommentar darauf hatte sie allerdings von der Idee abgebracht. ‚Wenn du das Tier ins Haus holst, wirst du dich darum kümmern. Ansonsten verhungert es.‘ Suri schob die Erinnerung von sich und meinte: „Nun ja, ich glaube nicht, dass du Dorimon als Haustier sehen kannst.“ „Was ist es denn sonst? Es läuft mir hinterher, macht, was ich sage und ist abhängig von mir, weil es ohne mich scheinbar nicht digitieren kann.“ „Digitieren? Was ist das denn schon wieder?“ Kaida erklärte: „Na, diese Verwandlung. Kurz vor der Verwandlung hat sich auf meinem Handy eine App geöffnet, die ich niemals installiert habe. Ich glaube, das hat was mit Dorimon zu tun.“ „Also bist du jetzt wohl doch bei einer Partnerschaftsbörse angemeldet. Und woher weißt du, dass das digitieren heißt?“ „Das hat es doch vorhin gerufen – ‚Dorimon digitiert zu…‘ Es ist unglaublich, wie zerstreut du in deinem Alter schon bist“, lautete ihr simpler Kommentar, über den Suri dezent die Augen rollte. Sie ließ das Thema auf sich beruhen und meinte: „Wäre vielleicht trotzdem keine schlechte Idee, ein wenig freundlicher zu Dorimon zu sein.“ Daraufhin schwieg Kaida. Wenig später lagen die beiden Mädchen auf ihren rudimentären Blätterbetten und verbrachten ihre erste Nacht mit unruhigem Schlaf und wirren Träumen in der Digiwelt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)