Sehnsucht von Norrsken ================================================================================ Kapitel 1: 1992-11-03 --------------------- Mit eingezogenem Kopf duckte Boris sich zwischen den Leuten hindurch. Der Standverkäufer brüllte ihm Verwünschungen nach und wäre das Rauschen von Blut in seinen Ohren nicht so laut, könnte er erahnen, ob der stämmige Mann ihm nachsetzte. Doch unabhängig davon, kam er nicht auf die Idee, langsamer zu werden. Wenn Leute von der Miliz in der Nähe waren, wollte er denen nicht unter die Augen kommen. Also beeilte er sich, vom Marktplatz zu verschwinden und in einer Gasse Schutz zu suchen. Als er im Schatten einer Hauswand Deckung fand, presste er sich dicht an die Steine und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Der Nebelschleier aus warmer Luft zerfaserte vor seinen Lippen und die Unruhe machte ihm weis, er könnte ihn verraten. Er ging in die Hocke und behielt den Blick auf die belebte Straße gerichtet, auf der Hut vor möglichen Verfolgern. Die Knie drückten gegen seine Brust und er spürte seinen gesamten Oberkörper wegen seines erhöhten Herzschlages pulsieren. Seine Haut spannte vor Adrenalin. Die Aufregung brachte ihm etwas Gutes. Er vergaß, wie kalt seine Haut unter der feuchten, eisigen Luft wurde und merkte nicht bewusst, dass er fror. An seinen Hunger erinnerte er sich jedoch und der meldete sich mit lautem Knurren. Unwillkürlich presste Boris die Arme gegen seinen Bauch, als könnte er so das Gefühl unterdrücken. Jeder Muskel in seinem Körper war gespannt, für den unglücklichen Moment bereit, dass jemand zu ihm in die Gasse trat, um sofort auf die Beine zu kommen. Hinter ihm führten die meisten Gänge in Sackgassen und er kannte das Viertel nicht genug, um mit Sicherheit einen Weg zu finden, der ihn ungehindert wegbrachte. In ihm steckte daher die Hoffnung, dass er eine Weile in dieser Gasse aussitzen musste, bevor er einen vertrauten Weg zu seinem Rückzugsort nehmen konnte. Die Silhouetten der Fußgänger huschten vor seinen Augen die Straße entlang und er versuchte, möglichst viele Informationen aufzunehmen, auf Uniformen zu achten und Worte zu erkennen. Es hörte einige Ausrufe von weiter weg, fühlte ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut und biss sich fest auf die Lippe. Plötzlich versperrte ihm ein Stück Stoff die Sicht und er fuhr reflexartig hoch, wollte kopflos auf die Straße rennen, doch wurde am Arm festgehalten. Eine kalte Hand schloss sich wie ein Schraubstock um sein Handgelenk. Jeder Versuch sich loszureißen misslang. Schließlich riss er sich den dicken Stoff vom Kopf, um zu sehen, wer ihn festhielt und blickte in das Gesicht eines Jungen. Seine Gegenwehr erlahmte. Sie waren etwa gleich groß, seine Haut glich Porzellan und sein Haar war rostrot, aber was Boris das Blut gefrieren ließ, war der stechende Blick aus kristallblauen Augen, der ihn taxierte wie ein Raubtier seine Beute. Ihm fiel erst auf, dass er den Atem angehalten hatte, als er nach Luft rang, weil sie ihm ausgegangen war. Er blinzelte angestrengt und öffnete den Mund, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. Ihm gelang es nicht zur Gänze, die Situation zu erfassen. »Zieh die über«, meinte der Junge und nickte auf das Stück Stoff, um das sich Boris‘ Finger verkrampft geschlossen hielten. Der Griff um seinen Arm löste sich. Erst da stellte Boris fest, dass er eine dicke Fliegerjacke festhielt, die ihm sein Gegenüber über den Kopf geschmissen hatte, als er auf die Straße fixiert war. Bei dem Gedanken an mögliche Verfolger rückte sein Kopf herum. »Vergiss es«, schaltete sich der Junge ein und zog so Boris‘ Aufmerksamkeit auf sich. Die hellen Augen leuchteten ihm im Dunkel der Gasse entgegen. Forschend musterte er ihn und schloss sein Fazit, ohne es mitzuteilen. Schließlich wandte er sich zum Gehen, ohne auf irgendwas zu warten. »Wir gehen besser hier lang. In den Gassen kennt sich niemand besser aus als ich.« Spannung löste sich aus Boris‘ Muskeln und langsam setzten sich die wirren Gedanken, die durch seinen Kopf stoben, zu einem Bild zusammen. Der Junge vor ihm war wie er. Die Erkenntnis ließ ihn einen Schritt auf ihn zu machen, bevor er abrupt innehielt. Tief zogen sich seine Augenbrauen zusammen und seine Nasenwurzel kräuselte sich. »Warum hilfst du mir?« Der Junge blieb stehen und blickte über die Schulter zu ihm. Die Hände hatte er in den Taschen seiner abgewetzten Jacke verstaut. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er Boris ein Stück entgegen. »Wenn du versuchst, auf dem Markt etwas mitgehen zu lassen, konzentriere dich nicht auf die beste Auswahl«, erklärte er nüchtern. »Niemand achtet auf die Ware mit Druckstellen – oder vermisst sie. Damit kommst du leichter davon.« Boris schüttelte irritiert den Kopf und blinzelte wieder angestrengt. Das ergab zwar Sinn, was der Junge zu ihm sagte, aber warum er das zu ihm sagte, war ihm unbegreiflich. »Danke für den ungebetenen Hinweis, aber wer bist du eigentlich und was willst du von mir?« Nun war es der Rotschopf, der ihm entgegenblinzelte als wäre ihm Staub in die Augen geflogen. Vielleicht, weil er darauf keine so clevere Antwort hatte. Er gab sich nur für einen kurzen Moment diese Blöße, dann waren seine Gesichtszüge wieder glatt und schneidend wie Papier. »Ich bin Yuriy«, beantwortete er den ersten Teil seiner Frage. »Nachdem du alle Aufmerksamkeit auf dich gezogen hattest, konnte ich mir ungehindert die Sachen nehmen, die ich brauchte – und etwas mehr.« Ungelenk zuckte er mit den Schultern. »Wenn du geschnappt werden willst, kannst du gerne auf die Straße raus. Ich verschwinde jetzt auf jeden Fall.« Boris meinte, ein kurzes Zögern zu erkennen, als Yuriy sich wieder von ihm abwandte. Ihm steckte ein Lachen im Hals, dass er mühsam herunterschluckte, um sie nicht zu verraten. Es war absurd. Ihm drängte sich der Verdacht auf, dass dieser Junge sich aus unerklärlichen Gründen erkenntlich zeigen wollte. Und obwohl er schon anderen begegnet war, die sich auf der Straße rumschlugen, folgte er Yuriy ohne jeden Argwohn durch die Gassen, die einem Labyrinth glichen, in dem er sich verirren würde. Die Fliegerjacke lag schwer auf seinen Schultern und schütze ihn vor dem schneidenden Wind, der von der Straße her zu ihnen wehte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)