Crystalized von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Sicher“, sagte Rei, das Handy gegen sein Ohr gepresst, und lehnte sich dabei gegen eine Küchentheke, die nicht seine war. Er beobachtete die Spinne, die sich träge in der Mittagssonne von einem Faden in der oberen Zimmerecke seilte und es nicht eilig zu haben schien, am Boden aufzukommen. „Nein, ich bin noch in - ich bin erst am Weg. Wird dauern, ich muss blöd fliegen. Umsteigen? Ja, einmal, in Moskau. Hey, ihr wolltet euch unbedingt in Barcelona treffen, das hätte sonst ein Vermögen gekostet!“ Er blickte auf, als ein rotes Kometenglühen Yuriys Eintritt signalisierte und machte ihm Platz, damit der andere an den Kühlschrank gelangen konnte. „Aber nein“, sagte Rei beschwichtigend in das Handy, während er von Yuriy mit einem spöttischen Lächeln bedacht wurde, „ich bin nicht lang hier. Halbe Stunde vielleicht - ja, geht ganz schnell. Und ich habe Beschäftigung.“ „So kann man das auch nennen“, murmelte Yuriy, holte Speck aus dem Kühlschrank, griff sich Brot aus dem Brotkasten zu Reis Rechten und verschwand so lautlos, wie er gekommen war, bevor Rei es noch tiefer bereuen konnte, auf Englisch telefonieren zu müssen. Ein anderer Schatten an seiner statt, silbern und grau wie ein Waldsturm, füllte den Türrahmen aus, indem er sich damit verschränkten Armen dagegen lehnte und Rei musterte. Was für eine Unart, dachte Rei unwillkürlich und presste das Handy noch tiefer gegen sein Ohr, seine Wange, bis beides an der matten Oberfläche des Geräts zu kleben schien. Was für eine Unart, ständig Wege zu versperren und ständig dort zu sein, wo man nicht sein sollte. Plötzlich fühlte er sich unruhig. Plötzlich schien das Gespräch schon seit Jahren zu dauern. Er schloss die Augen, um nicht mehr von Silber und Grün geblendet zu werden. „Hör mal, Takao, kann ich mich später nochmal bei dir melden?“, fragte er schließlich, „ich muss noch - ja, genau. Ich melde mich, bevor ich in den Flieger nach Barcelona steige. Alles klar. Bis später!“ „Alles klar“, imitierte Boris ihn sofort vom Türrahmen aus mit bis ins Unerträgliche gesteigerter, widerwärtig neutraler Kundendienststimme, „bis später, Takao! Ich muss noch - ja, genau, mit meinem geheimen Liebhaber f-“ Reis Hand auf seinem Mund verhinderte ein Weitersprechen, dann wurde sie durch seine Lippen ersetzt und Boris‘ Hände schlangen sich ohne sein Zutun um seine Hüften und hoben ihn ein Stück hoch, während er Reis heftigen Kuss erwiderte. Er grub die Hände in Boris‘ Tanktop, brachte die Dogtags zum Klingeln, als Boris sich zu ihm herabneigte und eine Hand in seinen Nacken legte. Einen Moment lang war da nichts außer dem Kuss und Boris‘ Haut an seiner. Rei atmete in ihn, der Kopf frei und die Brust leicht, auch wenn seine Finger um ihn verkrampft blieben und Boris sein Möglichstes tat, um ihn zwischen sich und der Küchentheke festzuhalten. „Ich hasse es, dass du diese Scheiße abziehst“, murmelte Boris dann gegen seine Lippen, „dass du so tust, als wärst du nicht gerade hier, bei mir, und als würdest du es nicht genau so wollen.“ Rei unterdrückte einen frustrierten Seufzer und löste den Kuss, ohne das gleiche mit der Umarmung zu tun. „Darüber haben wir schon gesprochen.“ „Äh, falsch. Ich habe darüber gesprochen, du hast mir nur erklärt, dass ich das sowieso nicht verstehen kann und hast mich mit Sex abgelenkt.“ Rei hob eine Hand und tätschelte seine Wange, ohne ihren Augenkontakt zu unterbrechen. „Ich bevorzuge es eben, wenn du andere Dinge mit diesem Mund tust, als zu sprechen.“ Boris‘ Augen waren sturmumwölkt vor instinktivem Ärger. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich etwas in Reis Magen bei diesem Anblick ungut zusammengezogen hatte, aber diese Zeit lag schon lange hinter ihnen. „Du willst nie, dass Leute dir irgendwas sagen, Rei.“ „Hmmm. Damit müsstest du dich doch identifizieren können.“ Boris schnaubte. „Du bist genauso ein Arschloch wie Kai, weißt du das? Nur bist du besser darin, es zu verstecken. Alle glauben immer, dass du so freundlich und zuvorkommend bist.“ Seine Fingerspitzen glitten über Reis Hals, unter seinen Kragen, bis sie seine Schlüsselbeine erreicht hatten und Rei unter der Berührung erschaudernd ausatmete. „Ich frage mich, ob ich der einzige bin, der dich so sieht, wie du wirklich bist.“ „Und wie ist das?“, wisperte Rei. Er wollte nicht, dass Boris weitersprach. Er wollte unbedingt, dass Boris weitersprach. „Ein Lügner“, sagte Boris so leise, dass es fast ein Wispern war. Seine Finger fühlten sich auf Reis Haut an wie eine Brise, die lindern oder bis zu einem Frösteln abkühlen konnte. „Es gibt immer irgendeinen Teil an dir, über den du irgendwen anlügst.“ Rei musterte ihn, sein Gesicht mit der gebrochenen Nase und den Augen, die niemals logen. Da war ein Klumpen in seiner Kehle, der sich nicht auflösen lassen wollte. Er dachte an all die Nächte, die er sorgfältig vor dem Rest seines Lebens verborgen hielt und die er so eng umschlungen mit Boris verbrachte, dass er darin vollkommen vergaß, wo er aufhörte, wo seine Grenzen waren. Rei hatte nie etwas besser gekannt als seine eigenen Grenzen und wie man sie immer wieder neu absteckte, aber Boris war wie ein Schlaghammer, für den Wände nur etwas zum Einreißen waren und sonst nichts. „Und du denkst, dass es mit dir anders ist?“ Boris zuckte mit den Achseln, soweit es ihre Körpernähe zuließ. „Was ich wirklich denke ist, dass du immer alles haben willst, wie ein fettes Kind im Süßigkeitenladen.“ Er kam Rei so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen berührten, dann sagte er sehr leise und scharf: „Ich bin aber kein verfickter Schokoriegel, Rei.“ Rei widerstand dem Drang, ihm in die Nase zu beißen, um ihm den Falschgehalt dieser Aussage zu beweisen. Stattdessen stemmte er die Hände gegen seine Brust, bis Boris genug zurückgewichen war, dass zwischen ihnen ein Hohlraum entstanden war und fragte frustriert: „Was willst du eigentlich von mir? Warum führen wir dieses Gespräch überhaupt?“ „Alleine dass du diese Frage stellst!“ Boris stieß ein Geräusch aus, das zu harsch für richtiges Gelächter war. „Du bist so verdammt gut darin, Leute auf der ganzen Welt auf dich warten zu lassen - deine Freunde in Barcelona, deine Familie in China, mich in Moskau-“ „Ich bitte niemanden darum“, fauchte Rei, der spürte, wie seine innere Waage immer mehr aus dem Gleichgewicht rutschte. Boris war gut darin, sehr gut darin, das Equilibrium, dem er zu folgen versuchte, in tausend Stücke zu sprengen. Er hasste ihn dafür. Er liebte ihn dafür. „Du tust so, als wäre das allein meine Entscheidung, dabei habt ihr euch alle selbst dafür entschieden!“ „Und willst du wirklich, dass die Leute sich ständig fragen, ob es ein Fehler war, sich für dich zu entscheiden?“, fragte Boris harsch und hielt ihn fest, als Rei Anstalten machte, sich unter ihm hervorzuwinden. „Ist das das Leben, das du führen willst? Meine Fresse, wenn du schon das fette Kind im Süßigkeitenladen spielen willst, dann steh wenigstens dazu statt zu glauben, dass du nur in einer Abteilung bleiben kannst!“ „Ich hasse deine Metaphern“, presste Rei um den Klumpen in seiner Kehle herum hervor, dann schossen seine Hände nach vorn, als Boris seinerseits mit einem Schnauben zurücktreten wollte, und hielten ihn fest. Boris folgte dem unsanften, drängenden Ziehen seiner Hände und sie kollidierten erneut miteinander, Hüftknochen und Hände und Lippen und Zähne. Das kalte Metall der Dogtags presste sich gegen Reis Hals, als sie sich küssten. Boris nahm ihm die Luft zum Atmen. Boris gab ihm endlich Luft zum Atmen. „Lass uns einfach abhauen“, wisperte Boris irgendwann in sein Haar, „ab in die Transsib und rein in den Wald, ohne Empfang, ohne alles. Scheiß auf Barcelona und China, bleib einfach da.“ Rei schloss die Augen und atmete ein letztes Mal tief durch. Dann sagte er: „Vielleicht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)