Thin Lines von Mitternachtsblick ================================================================================ Kapitel 1: Everybody Wants To Rule The World -------------------------------------------- „Liebling“, sagte Yuriy in gespielt hohem Singsang in den Hörer, „ich komme heim.“ Ein kurzes, bellendes Lachen war die Antwort. „Sie lassen dich raus? Wie zum Teufel hast du das geschafft? Ich dachte, der Antrag auf frühzeitige Entlassung aufgrund von guter Führung ging nicht durch.“ Yuriy summte und war sich des aufmerksamen Blicks des Sicherheitsbeamten nur allzu bewusst. Er hatte nur fünf Minuten Zeit für diesen Anruf, aber mehr brauchte er auch nicht. „Ich war eben ein besonders braver Junge.“ Erneutes Lachen. „Haben sie also endlich die Krallen stutzen und den Dachschaden beheben können?“ „Sie haben zumindest ihr Bestes getan.“ Er ließ einen Moment verstreichen, dann sagte er sehr pointiert: „Es ist Zeit, nach Hause zu gehen und meine Sachen in Ordnung zu bringen.” Kurzes Schweigen. Dann: „Wann kommst du raus?“ „Am Samstag, gegen Mittag. Fahr die Kutsche vor.“ „Sehr wohl, Prinzessin. Euer ergebener Diener wird an Ort und Stelle auf Euch warten.“ * Es war ein strahlend schöner Tag, als Yuriy Iwanov nach zehn Jahren wieder an ungesiebte Luft kam. Er trug nicht die Kleidung, in der man ihn verhaftet hatte - dafür war nicht mehr genug davon übrig gewesen. Aber er trug den Anzug, den er während der Verhandlungen getragen hatte, an die er sich nur noch schemenhaft erinnerte. Im Endeffekt waren sie ein Witz gewesen. Er war zu benommen von den Schmerzmitteln, die ihn bei halbwegs klarem Verstand hielten, und so hatte er nur wenig gesagt, während sein Anwalt von schwerer Traumatisierung seit Jugendjahren sprach, um sein Strafmaß zu mildern. Die Beweise waren zahlreich. Volkov hatte ihn den Wölfen vorgeworfen, um den Rest seines Unternehmens zu retten, einfach so, und dann auch noch die Frechheit besessen, zu versuchen, ihn im Gefängnis um die Ecke zu bringen. Als ob er so leicht ersetzt werden konnte. Als ob er so leicht aus dem Verkehr gezogen werden konnte. Yuriy hielt sein Gesicht in die Sonne und machte einen tiefen Atemzug. „Na los, Iwanov”, sagte einer der wohlmeinenden Wächter, der heute am Außentor Dienst und von Yuriys Drogengeschäften im Gefängnis immer gut gelebt hatte, „hau’ schon ab.” „Versuch’ mich nicht zu sehr zu vermissen, milij”, sagte Yuriy leichthin, woraufhin der Wächter lachte und hinter ihm das Tor schloss. Yuriy steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ sich Zeit damit, das Gefängnis hinter sich zu lassen und den Parkplatz zu erreichen. Kinomiya hatte ihn verkabelt, nachdem sie die ersten Schritte mit ihm besprochen hatten, aber das war nicht das erste Mal, dass Yuriy unter den Augen der Polizei operierte. Boris wartete bereits auf ihn, rauchend mit dem Rücken an ein Auto gelehnt, das Yuriy mit Befremden musterte, wovon es aber auch nicht schöner wurde. Zehn Jahre lang keine Möglichkeit, einander zu besuchen, weil es Yuriys Auflagen verbaten, aber es reichte ein Blick, um die alte Vertrautheit wiederherzustellen. In seiner Abwesenheit war der Umfang von Boris’ Brust- und Schultermuskeln nur noch beeindruckender geworden. Seine schwarze Jeans wurde von einem Gürtel mit protziger, goldener Schnalle zusammengehalten. Die ersten drei Knöpfe seines weinroten Hemds waren geöffnet und erlaubten einen Blick auf das goldene Kreuz um seinen Hals, die Ärmel bis zu den Ellbogen nach oben gekrempelt, sodass man die Tätowierungen auf seinen Unterarmen sehen konnte: Ein stilisierter Falke und ein Wolf im gleichen, kantenhaften Stil, die sich anzublicken schienen. „Nach all dieser Zeit?”, fragte Yuriy auf Russisch mit einem Nicken auf die Tätowierungen amüsiert und trat an ihn heran. „Immer”, sagte Boris ebenfalls auf Russisch mit seiner besten Alan-Rickman-Imitation und streckte ihm die Zigarettenschachtel hin. „Hab’ deine Lieblingsmarke mitgebracht. Willkommen zurück im Leben.” „Oh, Liebling, das wäre doch nicht nötig gewesen.” Trotz des winzigen Knopfs in seinem Jackettknopf, der ihn permanent daran erinnerte, dass diese Freiheit noch keine endgültige war, schmeckte die erste Zigarette außerhalb der Gefängnismauern seit zehn Jahren wie etwas Besonderes. Boris reichte ihm eine Sonnenbrille, die er sogleich aufsetzte, um sich neben ihn zu stellen. Eine Weile rauchten sie schweigend und nebeneinander stehend. Dann hob Yuriy die freie Hand und kratzte sich sehr bewusst dreimal an der linken Wange. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass Boris ihn verstanden hatte und sich im Klaren war, dass sie abgehört wurden. „Hast du schon mein Bett vorbereitet?”, fragte Yuriy schließlich. „Das war nicht besonders schwer”, erwiderte Boris mit einem Grinsen und fuhr sich durch die kurzen, silbergrau gefärbten Haare. Yuriy nickte darauf. „Sind wir vom Flieder weggekommen oder was?” „Ich bin jetzt Mitte Dreißig und muss respektabel aussehen, Yura.” Yuriy lachte ihn schamlos aus und trat den übriggebliebenen Stummel seiner Zigarette aus, dann öffnete er die Tür zum Beifahrersitz und ließ sich hineinfallen. Er stellte fest, dass die Kiste tiefergelegt worden war und warf Boris einen vielsagenden Blick zu. Der, inzwischen auf der Fahrerseite eingestiegen und immer noch mit Zigarette im Mundwinkel, zuckte nur mit den Achseln. „Was, darf ein respektabler Mann keine Hobbys mehr haben?” Da konnte einer offensichtlich nicht die Finger von illegalen Straßenrennen lassen. Yuriy wollte gar nicht wissen, wieviel PS dieses Auto wirklich rausholen konnte, aber er war sich sehr sicher, dass es bis zum Anschlag frisiert war. Er grinste nur und fuhr sich durch die Haare, während Boris den Motor startete und losfuhr. Dann streckte Boris die Hand zur Anlage aus und drehte den Drum’n’Bass so laut, dass nur durch ein Wunder nicht die Autoscheiben aus ihrer Halterung sprangen. Wer auch immer am anderen Ende des Jackettknopfs saß - man hatte ihm mitgeteilt, dass es Kinomiya selbst war, aber den Bullen konnte man nicht vertrauen -, hatte jetzt hoffentlich einen ordentlichen Gehörsturz erlitten. Yuriy blieb nicht untätig. Er rechnete mit einem begrenzten Zeitfenster, bevor er einen Befehl erhalten würde, dafür zu sorgen, dass die Lärmbeschallung aufhörte. Rasch holte er einen winzig zusammengefalteten Zettel aus dem Haargummi, das seine Haare zusammenhielt, dann steckte er ihn Boris zu. Der faltete, einhändig steuernd, den Zettel auf, überflog die Zeilen in Yuriys winziger, dicht gedrängter Handschrift und nickte dann, um ihn zurückzureichen. Yuriy angelte das Feuerzeug aus der Konsole zwischen ihnen und zündete das Papier an, um es brennend aus dem Fenster zu werfen. „In der Dusche dann”, sagte Boris leise. Yuriy nickte, dann beschwerte er sich laut: „Verdammte Scheiße, Boris, ich hör mein eigenes Wort nicht mehr! Wie kann dein Musikgeschmack immer noch so grausam sein?” Boris lachte und drehte die Lautstärke herunter. „Wie kann deiner immer noch so beschissen sein? Haben sie dir im Gefängnis nichts beigebracht?” „Fresse.“ „Zu Befehl, Durchlaucht.“ Yuriy schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück an den Sitz. Es war warm und das Atmen fiel ihm schwer. Er presste eine Hand gegen seine Brust, ein Reflex, der erfahrungsgemäß wenig Linderung brachte. In seiner Jacketttasche befand sich eine Dose mit zwanzig Pillen und eine Verschreibung des Gefängnisarzts für mehr. Das würde ihn durch die nächsten zwei bis drei Wochen tragen, und dann würde er weitersehen. Zu Sicherheit holte er jetzt schon eine der Pillen heraus und schluckte sie trocken, ehe er die Dose wieder einsteckte. Boris‘ Seitenblick ignorierte er gekonnt. Boris wohnte in einer der heruntergekommeneren Viertel der Stadt, auch wenn das Gebäude, in dem seine Wohnung lag, erst kürzlich renoviert worden zu sein schien, zumindest von außen. Außerdem hatte er sein Revier vermutlich schon angesteckt, denn er wagte es, sein Auto direkt vor der Haustür zu parken. Sie stiegen aus; Yuriy konnte inzwischen wieder leichter atmen und folgte Boris in den Appartementkomplex hinein. Ihre Schritte hallten im bereits schon wieder mit schwarzen Trittstreifen und dem einen oder anderen Graffiti dekorierten Stiegenhaus wieder, als sie in den vierten Stock stiegen. Vor der Türnummer 16 machen sie Halt. Yuriy musterte Boris‘ Rücken, während der aufsperrte und dann beiseite trat, um eine ironische Verbeugung anzudeuten. „Bitte einzutreten in mein bescheidenes Domizil“, sagte er. Die Wohnung war tatsächlich größentechnisch auf eine Person zugeschnitten, aber er und Boris waren gemeinsam schon auf weniger Platz ausgekommen und nach seiner Zelle kam ihm das Appartement immer noch groß vor. Es war nichts Spezielles - ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, ein Badezimmer, ein Schlafzimmer. Seine Augen wanderten dennoch über Fotos und Einrichtungsgegenstände, die ihm unbekannt waren. Zehn Jahre waren vergangen, in denen Boris sich eine Identität ohne ihn aufgebaut hatte, nachdem sie seit frühen Kinderjahren immer nur im Doppelpack zu haben gewesen waren. Zehn Jahre, die man Yuriy gestohlen hatte. „Na?“, fragte Boris auffordernd. Yuriy schluckte gewaltsam den Klumpen in seiner Kehle herunter. „Nicht schlecht“, sagte er. Dann packte er Boris am Hemd und zog ihn an sich heran, um die Lippen gegen seine krachen zu lassen. Boris kannte den Plan, deswegen fackelte er nicht lange und zog ihn mit sich ins Badezimmer, ohne sich von ihm zu lösen. Das änderte nichts an der Tatsache, dass Erregung, echte Erregung, wie ein Blitz durch Yuriys Adern schoss und sich in Boris‘ sturmumwölkten Augen widerspiegelte. „Zehn verfickte Jahre“, stieß Boris hervor und es war keine Aussage, bei der er ihre unsichtbaren Zuhörer sonderlich beachtete. Er zerrte das Haargummi aus Yuriys Haaren, bis der ihn angrollte und ihm das Hemd so gewaltsam öffnete, dass es beinahe alle Knöpfe wegsprengte. Boris fluchte herzhaft gegen seine Lippen, vergrub die Finger in Yuriys Haaren und drängte ihn rücklings gegen die Wand, nur um innezuhalten, als dieser schmerzerfüllt aufkeuchte. „Vorsicht“, raunte Yuriy, „dieses Original hier ist beim Transport ein wenig beschädigt worden.“ Boris sah ihn an. Sein Atem war schwer, aber seine Augen blitzten. „Zeig‘s mir.“ Yuriy musterte ihn. Dann ließ er das Jackett auf den Boden fallen und knöpfte sich mit raschen Bewegungen das Hemd auf. Er beobachtete, wie Boris‘ Blick über seinen Oberkörper glitt und sein Gesicht sich immer mehr verfinsterte, während er den Schaden anstarrte, den Garland vor zehn Jahren verursacht hatte. Yuriy hatte akzeptiert, dass er nie wieder so aussehen würde wie vor diesem einschneidenden Ereignis, und dass er auch nie wieder volle Mobilität und Atemfreiheit haben würde, aber es war etwas anderes, jetzt Boris‘ Augen auf sich liegen zu haben. Ein paar Herzschläge, in denen Boris kein Wort von sich gab, wartete Yuriy ab. Dann fragte er: „Ficken wir jetzt noch oder ist es dir vergangen?“ Boris fluchte so laut und herzhaft, dass der übersetzenden Person am anderen Ende des Jackettknopfs hoffentlich die Ohren glühten. „Halt die Fresse, Yura, halt einfach die Fresse“, sagte er rau und zerrte ihm das Hemd endgültig von den Schultern. „Als ob das von Bedeutung wäre.“ Sie küssten sich erneut. Yuriy hatte seine Schwierigkeiten damit, Boris‘ Gürtel zu öffnen, dann fiel er zu Boden. Boris, der immerhin volle Bewegungsfreiheit in seinen Händen hatte, war schneller damit, ihn aus seinen Kleidern zu schälen und Yuriy biss ihm keuchend in die Schulter, als Boris‘ kräftige Hände seine Hüften umfassten und fester gegen die lindernd kühle Kachelwand des Badezimmers drückten. „Dusche“, wisperte er gegen seine Haut und Boris gehorchte. Er zog ihn mit sich, bis sie in der Dusche standen, dann verschwendeten sie einige Momente Zeit damit, das Wasser auf eine erträgliche Temperatur einzustellen. Sie waren beide vokaler als sonst, oder zumindest als Yuriy es in Erinnerung hatte, was zusammen mit dem prasselnden Wasser zu der nötigen Geräuschkulisse beitrug, die Yuriy brauchte. „Du willst das Apollon überfallen?“, wisperte Boris gegen seine Haut, „Und das Zeus? Damit hab ich gerechnet, sobald Siebalds Name wieder am Radar war. Aber wie passen die Bullen da rein?“ „Finger mich“, verlangte Yuriy lautstark, dann ächzte er, als Boris ihn mit einem Ruck umdrehte und seine Wange gegen die Wand drückte. Boris neigte sich nah genug zu ihm, dass er wispern konnte: „Sie wollen Volkov. Erinnerst du dich an den Diamanten, in dem er die Codes für seine ganzen Schließfächer, Schattenfirmen und so weiter versteckt hat?“ Boris nickte und ließ einen Finger ihn in gleiten. Yuriy fluchte herzhaft, weil er dabei nicht gerade sanft war, dann fuhr er genauso leise fort: „Sie haben mir Fotos von Siebalds Nummer Zwei gezeigt - ich habe ihn gleich erkannt. Er trägt ihn als Ring. Den werden wir stehlen, dann buchten sie Volkov vielleicht tatsächlich endlich ein und ich kann den Plan durchführen, den er bei mir abziehen wollte. Meine Kontakte innerhalb der Gefängnisse dieses Landes sind mittlerweile nicht mehr von schlechten Eltern. Was die Bullen allerdings nicht wissen …“ „Damit ist es bezüglich Siebald nicht getan für dich“, schlussfolgerte Boris und ließ noch einen zweiten Finger in ihn gleiten. Yuriy fluchte erneut und schlug mit der Faust gegen die Wand. Dann flüsterte er harsch zurück: „Natürlich nicht. Ich will ihn brennen sehen. Ich will ihn vor mir im Staub knien sehen, bettelnd wie ein Wurm, damit ich ihn treten kann. Er soll alles verlieren, was er sich jemals ergaunert hat, dieser talentlose, fantasielose Wichser. Und die Bullen liefern mir nur eine Möglichkeit, das unter ihrem Deckmantel an ihren Augen vorbei zu tun.“ „Was ist der Plan?“, fragte Boris nur und stieß noch tiefer in ihn. Yuriy gab einen rauen Laut von sich. Dann sagte er es ihm. 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