Magician of Sun & Moon von Flordelis ================================================================================ Kapitel 2: Brauchen Sie Hilfe? ------------------------------ [LEFT]Sie kannte Inaba nicht sonderlich gut, doch aufgewachsen in einer großen Stadt war es ihr anhand einiger besonderer Merkmale zumindest möglich, den Weg nach Hause zu finden – auch wenn sie dieses Gebäude im Einkaufsviertel noch nicht so recht als ihr Zuhause akzeptieren konnte. Aber in ihrem Alter blieb ihr keine Wahl.[/LEFT] [LEFT]Sie öffnete die Tür und trat ein. Der Duft von Miso-Suppe lag in der Luft, das verriet ihr, dass jemand hier war, bevor sie hörte, wie ein Messer in der Küche benutzt wurde. Es klang als hacke eine Person auf das Schneidbrett ein, statt es sanfter zu führen.[/LEFT] [LEFT]Nachdem sie ihre Schuhe am Eingang zurückgelassen hatte, ging Mei zur Küche hinüber und lehnte sich ein wenig vor, um durch die Tür hineinzusehen. Ihre Großmutter stand in dem schlauchförmigen Raum und bearbeitete einen Rettich mit einem großen Messer. Wie üblich trug sie einen einfachen schwarzen Yukata, in dem sie meist auch schlief. Ihr graues Haar war zu einem Knoten auf ihrem Scheitel gebunden, so dass sie selbst von hinten einen strengen Eindruck machte.[/LEFT] [LEFT]»Ich bin zu Hause, Nǎinai.«[/LEFT] [LEFT]Schlagartig verstummte das Messer. Ihre Großmutter wandte ihr den Kopf zu, der Ausdruck auf ihrem Gesicht verströmte derart viel Verachtung, dass Mei zurückwich.[/LEFT] [LEFT]»Was hast du gerade gesagt?«, fragte die alte Frau sie mit zischender Stimme.[/LEFT] [LEFT]Im ersten Moment verstand sie nicht so recht, was sie Falsches gesagt haben könnte, doch dann wurde es ihr bewusst. Sie verbeugte sich rasch. »Es tut mir leid, Großmutter.«[/LEFT] [LEFT]Sachi Ueda, der vollständige Name der Mutter ihres Vaters, bedachte sie mit einem stechenden Blick. »Du weißt ganz genau, dass ich diese furchtbare Sprache nicht in meinem Haus haben will. Schlimm genug, dass dein Vater eine dieser Frauen heiraten musste. Ich habe ihm gleich gesagt, dass diese Dirnen nichts taugen.«[/LEFT] [LEFT]Sie schnaubte und wandte sich wieder dem Rettich zu, der gewalttätig auseinandergenommen wurde. Es wunderte Mei kein bisschen, dass sie ihre Großmutter bis Samstag nicht gekannt hatte – und wenn man sie fragte, hätte sie auch weiter darauf verzichten können.[/LEFT] [LEFT]»Es wird nie wieder vorkommen«, versicherte Mei ihr.[/LEFT] [LEFT]Es folgte keinerlei Anerkennung ihrer Worte.[/LEFT] [LEFT]Kleinlaut zog Mei sich von der Küche zurück und suchte stattdessen ihr Zimmer auf. Es war zwar größer als jenes in ihrem alten Haus, aber im Grunde war es nur ein unaufgeräumter Dachboden, auf dem einige ausrangierte Möbel aufgestellt worden waren. Ihr Schreibtisch und ihr Bett gingen zwischen den verstaubten Kisten fast unter, aber zumindest boten ihr diese ein wenig Schutz vor jedem, der versuchen würde, sie beim Schlafen zu beobachten.[/LEFT] [LEFT]Ihr Vater hatte ihr angeboten, ihr sein altes Zimmer zu überlassen, in dem er nun wieder lebte – sofern er zu Hause war, was bei seiner neuen Arbeit vielleicht nur selten wäre –, doch der Gedanke, direkt neben dem Raum ihrer fremden Großmutter zu schlafen, war ihr derart unangenehm gewesen, dass sie abgelehnt hatte. Noch dazu wäre es ihr mit Sicherheit von Sachi als Respektlosigkeit angekreidet worden, wenn sie das Angebot wahrgenommen hätte.[/LEFT] [LEFT]Seufzend legte sie ihre Schultasche auf ihren Schreibtisch, dann ließ sie sich vorsichtig auf den alten Stuhl sinken, der ein knarzendes Geräusch von sich gab. Sie öffnete das kleine Fenster neben sich, um den verweilenden Geruch von Staub und Schimmel loszuwerden. Die frische Luft, die ihr von draußen entgegenschlug, kam ihr vollkommen fremd und unheimlich vor. In ihrem richtigen Zuhause, in der Großstadt, musste sie mehr Smog eingeatmet haben als Sauerstoff. Aber hier gab es so wenig Verkehr, dass man problemlos auf der Straße laufen konnte, ohne sich sorgen zu müssen, dass man jemanden behinderte oder überfahren wurde. Jedenfalls kam es ihr so vor.[/LEFT] [LEFT]Am Schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass die Schule derart klein war – und das bedeutete, Gerüchte würden sich schnell verbreiten. Ihr blieb nur zu hoffen, dass niemand auf die Idee kam, ihre Familiengeschichte zu hinterfragen. Zumindest war der erste Tag gut gelaufen.[/LEFT] [LEFT]»Und ich habe sogar Risette gesehen«, murmelte sie, tatsächlich lächelnd.[/LEFT] [LEFT]Sie hatte Gerüchte gehört, dass ihr Lieblings-Idol die Yasogami High School besuchte, aber sie mit eigenen Augen zu sehen, war unglaublich gewesen. Sie jedoch mit so vielen anderen Schülern zu beobachten, war entmutigend. So konnte sie Risette nicht ansprechen. Und nachdem Mei sogar einem ihrer Begleiter aufgefallen war und er ihr sicher schon von der Starrenden erzählt hatte, war das Kennenlernen oder auch nur das Ansprechen undenkbar geworden. Damit konnte sie also das einzige vergessen, was diese Stadt irgendwie interessant gemacht hätte.[/LEFT] [LEFT]Sie seufzte wieder. Das Lächeln war ihr jedenfalls vergangen – und es wurde nicht besser, als ihre Großmutter von unten ihren Namen rief.[/LEFT] [LEFT]Um sie nicht warten zu lassen – und ihr damit noch einen Grund zu geben, wütend auf sie zu sein – stand Mei auf und ging die Treppe hinunter. An der Küche angekommen blieb ihr nicht einmal die Gelegenheit, etwas zu sagen, da Sachi sofort eine Anweisung gab: »Du musst mir Ingwer kaufen.«[/LEFT] [LEFT]»Klar. Gibt es in der Nähe einen Laden dafür?« Sie war erst seit Samstag hier, kannte sich also nicht im Mindesten aus und war noch nicht einmal dazu gekommen, sich umzusehen.[/LEFT] [LEFT]Sachi schnalzte mit der Zunge. »Natürlich nicht. Es widerstrebt mir, aber du musst dafür zu Junes gehen. Den Laden kennst du bestimmt, in der Großstadt gibt es ihn sicher auch.«[/LEFT] [LEFT]Sie erinnerte sich tatsächlich an ein ziemlich hohes Gebäude in der Nähe der Schule. Das musste Junes sein, so sehr wie es hervorstach.[/LEFT] [LEFT]»In Ordnung, ich kümmere mich darum«, versprach Mei. »Ich bin bald wieder da.«[/LEFT] [LEFT]»Das hoffe ich doch«, grummelte Sachi, während ihre Enkelin davonging.[/LEFT] [LEFT]Sie hatte noch nicht einmal die Schuhe wieder angezogen, da stürzte Mei bereits aus dem Haus hinaus, froh, dieser unangenehmen Atmosphäre entronnen zu sein, wenn auch nur vorübergehend.[/LEFT] [LEFT]Wenn das so weiterging, müsste sie sich doch überlegen, ob sie nicht einem Club beitreten wollte, nur um nicht nach Hause gehen zu müssen. Oder sie suchte sich einen Nebenjob, in Junes brauchte man bestimmt immer irgendjemanden.[/LEFT] [LEFT]Da das Gebäude riesig genug war, genügte es, sich an diesem zu orientieren, selbst aus der Entfernung, um dort hinzugelangen. Sicher, manchmal musste sie ihren Weg wieder ein wenig zurückverfolgen, weil sie in einer Sackgasse gelandet war, aber schließlich erreichte sie Junes. Inzwischen stand die Sonne derart tief, dass sie wusste, es würde dunkel sein, wenn sie wieder herauskäme. In diesem Fall müsste sie einfach hoffen, dass sie den Rückweg fand.[/LEFT] [LEFT]Im Inneren von Junes fühlte sie sich sofort wieder wie in der Großstadt. Jede Filiale war nach demselben Muster aufgebaut und ließ stets eine Variation seines eigenen Werbelieds spielen, deswegen wunderte es sie nicht. Der einzige Unterschied fand sich in der Zahl der Kunden, die sich bei den Lebensmitteln befanden: es waren lächerlich wenig, in ihrer alten Heimat war es abends stets so voll gewesen, man war kaum an die Waren gekommen. Wie konnte sich ein Junes in dieser Gegend nur halten?[/LEFT] [LEFT]»Mal sehen«, murmelte sie, statt sich weiter um so etwas zu kümmern. »Ich brauche Ingwer.«[/LEFT] [LEFT]Obwohl sie nun problemlos an das Gemüse herankam, überforderte die Auswahl sie. Ihre Augen huschten immer wieder über all die verschiedenen Sorten, von denen sie manche nicht einmal kannte. Vermutlich übersah sie dabei den Ingwer, anders konnte es nicht sein. Doch je länger sie brauchte, desto größer wurde ihr inneres Unbehagen. Wenn sie erst so spät wiederkam, bekäme sie bestimmt noch mehr Ärger mit ihrer Großmutter.[/LEFT] [LEFT]Also blieb ihr nur eine Möglichkeit. Sie wandte sich von dem Gemüse ab, um sich nach einem Angestellten umzusehen. Zu ihrem Glück entdeckte sie schnell einen solchen, einen jungen braunhaarigen Mann, den sie anhand seiner Schürze als Mitarbeiter identifizieren konnte. Er war gerade dabei beschäftigt, eines der Regale neu einzuräumen, aber da er der einzige war, den sie sehen konnte, musste sie ihn stören. Sie ging auf ihn zu. »Entschuldigung?«[/LEFT] [LEFT]Er hielt sofort inne und wandte sich ihr mit einem Lächeln zu – nur um verwirrt dreinzublicken, nachdem er in ihr Gesicht gesehen hatte. »Ueda-san?«[/LEFT] [LEFT]Sie neigte den Kopf ein wenig, musterte ihn. Er kam ihr auch vage bekannt vor, doch spontan wollte ihr nicht einfallen, woher. Aller Wahrscheinlichkeit nach besuchte er aber dieselbe Schule, vielleicht waren die Gerüchte einfach schon umgegangen.[/LEFT] [LEFT]Glücklicherweise störte er sich nicht daran, dass sie nichts sagte, sondern verstand von allein, was ihr Problem war: »Ah, du erinnerst dich nicht an mich, stimmts?«[/LEFT] [LEFT]Er lachte leise und zwinkerte ihr zu. »Schon okay, ich war auch mal neu, das sind ziemlich viele Eindrücke. Ich bin Yosuke Hanamura, ich sitze neben dir.«[/LEFT] [LEFT]Natürlich, sie erinnerte sich wieder. Im Klassenzimmer war sie derart aufgeregt gewesen, dass sie sich kaum eine der Personen dort gemerkt hatte, nicht einmal ihren Nebensitzer! Kein guter Start für ihr neues Leben hier.[/LEFT] [LEFT]»T-tut mir wirklich leid.« Sie deutete eine Verbeugung an. »Ich bin erst seit Samstag hier, deswegen bin ich noch von allem überfordert, glaube ich.«[/LEFT] [LEFT]Weiterhin lächelnd reichte er ihr die Hand. »Es ist wirklich nicht so schlimm. Solange du mich jetzt nicht mehr vergisst.«[/LEFT] [LEFT]Sie zögerte einen Moment, doch sie wollte ihn auch nicht vor die Stirn stoßen, wenn er schon so freundlich zu ihr war, deswegen schüttelte sie schließlich seine Hand. »Ich werde mir Mühe geben, Hanamura-san.«[/LEFT] [LEFT]Kaum hatte sie ihn wieder losgelassen, verschränkte er seufzend die Arme vor der Brust. »Ich bin ein bisschen enttäuscht, ich hatte fast gehofft, du würdest mich extra aufsuchen, weil du so fasziniert von mir bist.«[/LEFT] [LEFT]»E-entschuldige …«[/LEFT] [LEFT]Er lachte wieder. »Sorry, ich sollte die Witze wohl bleiben lassen. Also, wobei kann ich dir helfen?«[/LEFT] [LEFT]Stimmt, da war noch etwas.[/LEFT] [LEFT]Sie sagte ihm, was sie suchte, und kehrte mit ihm zur Gemüseauslage zurück. Wie ein richtig guter Angestellter benötigte er nur einen kurzen Blick, um schließlich den Ingwer zu finden. »Ist der gut?«[/LEFT] [LEFT]Sie betrachtete die Wurzel kurz, dann nickte sie. »Vielen Dank. Früher hat Māma das immer eingekauft. Oder ich habe die anderen Hausfrauen an der Theke gefragt.«[/LEFT] [LEFT]Ihre Mundwinkel hoben sich bei der Erinnerung. Dann erstarrte sie. Hatte sie gerade Māma gesagt?[/LEFT] [LEFT]Zu ihrem Glück schien ihm daran nichts aufzufallen, vielleicht dachte er auch, sie habe nur eine eigenartige Art und Weise, Dinge auszusprechen. Er lächelte entschuldigend. »Hier ist wirklich nicht so viel los wie in der Großstadt. Jedenfalls nicht an einem Wochentag. Du solltest mal hier sein, wenn wir einen Feiertag oder ein Angebot haben.«[/LEFT] [LEFT]An dieser Stelle wäre es perfekt gewesen, ihn zu fragen, wo sie sich um einen Job bewerben könnte, aber sie ließ es bleiben. Plötzlich schien ihr der Gedanke, von so vielen fremden Menschen umgeben zu sein, doch eher unheimlich.[/LEFT] [LEFT]»Na ja, ich will dich nicht länger aufhalten«, sagte er plötzlich. »Aber falls du noch eine Frage hast, egal was für eine, bin ich da.«[/LEFT] [LEFT]Er zwinkerte ihr wieder zu. Eine Geste, die sie nicht so recht einzuschätzen wusste, doch es gab ihr tatsächlich den Mut, ihn noch etwas zu fragen: »Kann es sein, dass ich heute hinter dir nach Hause gelaufen bin? Warst du der Junge mit dem Roller?«[/LEFT] [LEFT]»Ja, das war ich.« Stolz streckte er die Brust raus.[/LEFT] [LEFT]»War dieses eine Mädchen bei euch vielleicht Risette?«[/LEFT] [LEFT]Kaum hatte sie diese Frage ausgesprochen, schien er ein wenig enttäuscht. »Oh, du meinst Rise?«[/LEFT] [LEFT]Mei nickte aufgeregt. Ihr Gesicht fühlte sich plötzlich erhitzt an. »K-kannst du mir vielleicht ein Autogramm besorgen? Oder nein! Sag ihr einfach nur Hallo von mir.«[/LEFT] [LEFT]Das ließ ihn wieder lächeln. »Wäre es nicht besser, wenn du selbst mit ihr sprechen würdest?«[/LEFT] [LEFT]Sie wich sofort zurück und blickte zu Boden. Sie konnte unmöglich einfach auf Risette zugehen und sie ansprechen. Allerdings wusste sie nicht so recht, wie sie das erklären sollte.[/LEFT] [LEFT]»Verstehe«, sagte er bereits. »Wie wäre es, wenn ich euch vorstelle? Dann hast du den ersten Schritt schon einmal hinter dir. Rise freut sich bestimmt.«[/LEFT] [LEFT]»Ja?« Aufgeregt sah sie ihn wieder an. »Wirklich?«[/LEFT] [LEFT]Er nickte. »Aber dann schuldest du mir was~.«[/LEFT] [LEFT]»Sicher, was du willst«, sagte sie, ehe sie darüber nachdenken konnte; ansonsten wäre ihr vermutlich aufgefallen, dass es eine schlechte Idee war, einem quasi fremden Jugendlichen zu versprechen, dass er haben konnte, was er wollte.[/LEFT] [LEFT]Er lächelte darüber nur zufrieden und deutete in Richtung der Kassen. »Wenn du zahlen willst, solltest du da lang. Wir sehen uns ja morgen in der Schule.«[/LEFT] [LEFT]»Danke, Hanamura-san.« Sie verbeugte sich noch einmal vor ihm und verabschiedete sich, dann setzte sie ihren Weg fort; vermutlich würde ihre Großmutter schon ungeduldig warten, um ihr einen Vortrag über Pünktlichkeit halten zu können, doch dieses Treffen war es wert gewesen, wenn sie nun doch zu einem Gespräch mit Risette käme, selbst wenn es nur kurz wäre.[/LEFT] [LEFT]Als sie Junes endlich wieder verließ, war es wirklich bereits dunkel geworden. Die Straßenlaternen erhellten die Umgebung allerdings so gut, dass sie sich keine Sorgen um die Dunkelheit machen musste. Außerdem bezweifelte sie, dass jemand in so einer kleinen Stadt sie angreifen würde. Selbst das Finden des Rückwegs bereitete ihr weniger Probleme als sie gedacht hätte, da sie sich hauptsächlich an dem orientierte, was sie auf dem Hinweg gesehen hatte.[/LEFT] [LEFT]Außer ihr war kaum jemand unterwegs, wie sie bald bemerkte. Noch ein großer Unterschied zu ihrer alten Heimat, in der auf jeder Straße zu jeder Tageszeit mindestens eine Person hatte angetroffen werden können. Manchmal waren es nur Obdachlose gewesen, die in ihren Stammecken saßen und auf einen neuen Tag warteten, dann wieder betrunkene Kneipengänger auf dem Heimweg, und selten ausgebüxte Jugendliche, die nun nichts mit sich anzufangen wussten. Hier ließ diese Einsamkeit sie glauben, in einer anderen Welt gelandet zu sein.[/LEFT] [LEFT]Erst an der Samegawa Flussaue fiel ihr endlich wieder eine andere Person auf. Direkt am Ufer stand eine Frau, mit dem Rücken zu ihr. Mit hängenden Schultern starrte sie ins Wasser hinein, hin und wieder zuckten ihre Schultern, nicht einstimmig als würde sie weinen, sondern immer nur eine, in keinem erkennbaren Rhythmus.[/LEFT] [LEFT]Etwas an diesem Anblick ließ Mei innehalten. Einerseits war es unheimlich, was ihr sagte, dass es nicht ihr Problem sein musste, wenn sie keine Schwierigkeiten wollte, doch andererseits benötigte diese Frau vielleicht Hilfe. Hatte Meis Vater ihr nicht immer gesagt und auch vorgelebt, dass man Menschen helfen sollte? So viel Zeit sollte sie doch erübrigen können.[/LEFT] [LEFT]Also nahm Mei allen Mut zusammen, den sie irgendwo in ihrem Inneren auftreiben konnte, und stieg die Stufen zum Ufer hinab. Je näher sie der Frau kam, desto deutlicher wurde, dass sie leise vor sich hin murmelte. Doch egal, wie sehr Mei die Ohren spitzte, sie verstand die Worte nicht.[/LEFT] [LEFT]Schließlich stand sie direkt hinter der Fremden. »Entschuldigung …«[/LEFT] [LEFT]Die Frau reagierte nicht, selbst ihr Murmeln brach nicht ab.[/LEFT] [LEFT]»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Mei weiter.[/LEFT] [LEFT]Da immer noch keine Reaktion erfolgte, legte sie eine Hand auf die Schulter der Frau – das Murmeln verstummte, mit einem Ruck fuhr die andere herum.[/LEFT] [LEFT]Mei wich zurück, erst einen Schritt aus Instinkt, dann einen weiteren aus Furcht.[/LEFT] [LEFT]Die Augen der Frau glühten in einem unheimlichen goldenen Glanz, schwarze Flüssigkeit lief daraus und benetzte ihre Wangen. Sie starrte Mei unbewegt an, ihr Gesicht eine undurchdringliche Maske der Neutralität.[/LEFT] [LEFT]Das muss ein Traum sein! Das kann nicht in der Realität passieren![/LEFT] [LEFT]»Warum?«, fragte die Fremde. »Warum passiert mir das?«[/LEFT] [LEFT]Es klang als wäre sie in einer verzweifelten Lage, in der Mei sie nicht einfach lassen konnte – jedenfalls nicht, nachdem sie sich eingemischt hatte. War es erst einmal so weit, so hätte ihr Vater ihr gesagt, war es absolut unmöglich, sich einfach zurückzuziehen. Und insgeheim befürchtete sie, die Frau würde ihr einfach nach Hause folgen, wenn Mei nun weglief.[/LEFT] [LEFT]»Was ist denn passiert? Kann ich irgendwie helfen?«[/LEFT] [LEFT]Die neutrale Miene wechselte zu einer hochgradig verwirrten. »Helfen? Du willst mir helfen?«[/LEFT] [LEFT]»W-wenn ich kann ...«[/LEFT] [LEFT]Die Frau lächelte glücklich und streckte die Hand nach Mei aus. Ihrem Instinkt folgend wich sie zurück. Die Augen der anderen glühten nicht mehr nur, sie leuchteten regelrecht vor Aufregung, eine unangenehme Aura ging von ihr aus, die Mei riet, so schnell wie möglich zu rennen, egal was andere sagten oder was sie befürchtete. Gleichzeitig waren ihre Beine so schwer geworden, dass sie diese nicht mehr anheben konnte. Wie hypnotisiert starrte sie diese Fremde an, die mühelos die Distanz zwischen ihnen wieder ausglich, die Hand immer noch erhoben, um Mei zu greifen.[/LEFT] [LEFT]Was soll ich tun? Was soll ich-[/LEFT] [LEFT]Ihre rasenden Gedanken kamen zu einem abrupten Halt, als auch die andere plötzlich erstarrte. Für einen Moment sah sie direkt durch Mei hindurch, dann neigte sie den Kopf. »Oh, du also auch?«[/LEFT] [LEFT]Mei wollte sie fragen, wovon sie eigentlich sprach, doch sie war nur in der Lage, ein verwirrtes »Huh?« von sich zu geben.[/LEFT] [LEFT]Ihr Gegenüber wandte den Kopf von links nach rechts, ihr schwarzes Haar flatterte dabei wild um ihr Gesicht. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und stieß ein schrilles Kreischen aus.[/LEFT] [LEFT]Meis Beine gehorchten ihr endlich wieder, ließen sie zumindest einen weiteren Schritt zurück machen, um sich von dieser vermeintlichen Gefahrenquelle zu entfernen.[/LEFT] [LEFT]Mit einem Ruck fuhr die Frau herum und rannte davon, mitten in den Fluss hinein, der ihr glücklicherweise nur bis zur Hüfte reichte. Am anderen Ufer verließ sie das Wasser wieder, rannte weiter – und verschwand plötzlich in einer Nebelwolke, die sich ebenso schnell wieder auflöste.[/LEFT] [LEFT]Der Fluss gluckerte vor sich hin und war das einzige Geräusch in der Stille. Nichts deutete mehr auf das hin, was hier gerade geschehen war.[/LEFT] [LEFT]Mei stieß etwas Luft durch ihre Lippen. »Ist das gerade wirklich geschehen?«[/LEFT] [LEFT]Sie hatte noch nie zu Tagträumereien geneigt, Halluzinationen waren ihr ebenfalls fremd. Wie kam es also, dass sie so etwas Seltsames gesehen hatte? Oder war diese Stadt vielleicht gefährlich?[/LEFT] [LEFT]Unruhig geworden ließ sie den Blick schweifen. Es gab keine Bedrohungen mehr zu sehen, doch sie glaubte, in den Schatten ein Atmen zu hören, das nur auf eine Gelegenheit wartete, sie anzugreifen.[/LEFT] [LEFT]Rückwärts bahnte sie sich ihren Weg zur Treppe. Dort erst fuhr sie herum, lief die Stufen hinauf und folgte dann eilig der Straße, um schnell nach Hause zu kommen. Sie sah sich nicht mehr um, sondern konzentrierte sich ganz auf den Asphalt. Wenn sie erst einmal zu Hause wäre, könnte ihr nichts mehr geschehen, davon war sie überzeugt. Ihr Vater würde sie beschützen, ganz sicher.[/LEFT] [LEFT]Aber erst muss ich dort ankommen.[/LEFT] [LEFT]Ihre Schultern waren derart angespannt, dass sie bereits den kommenden Muskelkater fühlen konnte. In ihren Beinen kündigte sich ein brennender Schmerz an, ein Protest der viel zu selten genutzten Muskeln, die jegliche Gefahr ignorieren wollten – sofern es eine solche überhaupt gab. Doch Mei wollte nicht innehalten, um erst einmal festzustellen, ob eine Bedrohung für sie bestand. Was immer das am Fluss gewesen war, im Grunde wollte sie es gar nicht herausfinden, sondern nur ihren Frieden wiederfinden.[/LEFT] [LEFT]Als sie endlich das Einkaufsviertel erreichte, entspannte sie sich wieder ein wenig. Doch ihre Schritte wurden nicht langsamer, bis sie endlich am Haus ihrer Großmutter ankam. Erst nach dem Öffnen der Tür und ihrem Eintreten, drehte sie sich noch einmal um.[/LEFT] [LEFT]Nirgends war etwas zu sehen.[/LEFT] [LEFT]Ihr Herz schlug von der Aufregung und der Anstrengung noch wie wild.[/LEFT] [LEFT]Sie schloss die Tür und atmete tief durch. Endlich in Sicherheit.[/LEFT] [LEFT]»Mei!«, rief Sachi aus der Küche. »Bist du zurück?! Wo warst du so lange?!«[/LEFT] [LEFT]Von einer gefährlichen Situation in die nächste. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, dieser seltsamen Frau durch den Fluss zu folgen.[/LEFT] [LEFT]Nein, das ist Schwachsinn! Sie ist meine Großmutter.[/LEFT] [LEFT]Nachdem sie ihre Schuhe wieder ausgezogen hatte, ging sie selbst in die Küche und übergab Sachi den Ingwer. Dabei entschuldigte sie sich für die Verspätung. »Ich habe einen Mitschüler getroffen.«[/LEFT] [LEFT]Von der Begegnung mit der eigenartigen Fremden erzählte sie lieber nichts. Sachi mochte sie bislang nicht wirklich, da musste sie ihr nicht noch mehr Minuspunkte an die Hand geben.[/LEFT] [LEFT]Ihre Großmutter begutachtete das Gemüse argwöhnisch, dann gab sie einen abschätzigen Laut von sich und legte es beiseite. »Wenigstens bist du zurückgekommen. Dein Vater hat angerufen, er muss noch arbeiten und kommt erst spät wieder. Also werden nur wir beide essen.«[/LEFT] [LEFT]Etwas in Meis Inneren zog sich schmerzhaft zusammen. Sie lächelte gequält. »Okay. Gut zu wissen.«[/LEFT] [LEFT]Sachi sagte dazu nichts mehr, sie konzentrierte sich schon wieder vollkommen auf die Suppe.[/LEFT] [LEFT]»Falls es nichts mehr gibt, gehe ich erst einmal in mein Zimmer.«[/LEFT] [LEFT]Wieder keine Antwort, das betrachtete Mei als Zustimmung. So leise wie möglich zog sie sich zurück, nur um sich in ihrem Zimmer dann auf das Bett werfen zu können. Etwas Staub wirbelte dabei auf, er glitzerte im Licht ihrer Lampe.[/LEFT] [LEFT]Wenn ihr Vater heute nicht mehr kam, müsste sie ihm morgen hiervon erzählen. Hoffentlich geschah bis dahin nichts Schlimmes. Andererseits glaubte er es ihr in einem solchen Fall vielleicht eher, statt sie einfach nur zum Arzt zu schicken oder es auf die Umstände ihres Umzugs zu schieben.[/LEFT] [LEFT]»Was immer das auch war«, murmelte sie, »ich hoffe, das geschieht nie wieder.«[/LEFT] [LEFT]Viel eher sollte sie sich endlich auf die positiven Dinge des Abends konzentrieren und alles Negative erst einmal vergessen: Hanamura-san hatte ihr versprochen, sie Risette vorzustellen. Vielleicht erwuchs daraus eine tiefgreifende Freundschaft, die ihr diesen Ort versüßen könnte.[/LEFT] [LEFT]»Es wäre jedenfalls schön«, sagte sie leise zu sich.[/LEFT] [LEFT]Schließlich endete dieser kurze Frieden, als ihre Großmutter sie zum Essen rief.[/LEFT] [LEFT]Mei erhob sich von ihrem Bett, lief im Slalom um die Kisten herum und hielt an der Treppe wieder inne. Hinter ihr erklang ein leises Geräusch, wie ein Flüstern. Sie warf einen Blick über die Schulter, sah jedoch nichts, was auf eine andere Person hinwies.[/LEFT] [LEFT]Über sich selbst lächelnd schüttelte sie mit dem Kopf.[/LEFT] [LEFT]Ich bin bestimmt nur zu nervös. Alles ist in Ordnung.[/LEFT] [LEFT]Damit verließ sie ihr Zimmer, ohne den Schatten zu bemerken, der hinter dem Fenster vorbeihuschte und in die Nacht verschwand.[/LEFT] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)