Löwenherz von FreeWolf (Beyblade 2020: August) ================================================================================ Kapitel 1: Baldrian mit einem Schuss Enzianlikör ------------------------------------------------ „…und hier sind die Aufenthaltsräume für die Teams“, verkündete Daitenji, während er die kleine Gruppe einen Korridor entlang führte. Lai blickte sich um, doch alles sah gleich aus. Wie sollte er den Weg durch den Backstagebereich der Arena jemals alleine finden? Er bemerkte erst, dass er an dem Mückenstich auf seinem rechten Handrücken kratzte, als der Schorf sich löste und er Flüssigkeit an seiner Fingerkuppe fühlte. Lai beeilte sich, die Hände in die Hosentaschen zu stecken, während er der kleinen Gruppe aus Teamleadern und Coaches folgte. Sie durchschritten den Korridor und Lai bemühte sich entgegen dem dumpfen Pochen hinter seiner Stirn, sich die Position ihres Aufenthaltsraums einzuprägen, während sie die nächste Station der Tour ansteuerten. Der Rundgang durch die Arena war eigentlich Routine. Meister Tao schlenderte neben ihm einher, neben ihm war Rei, der einen neutralen Gesichtsausdruck trug und sichtlich gelangweilt war. Sie waren die einzigen Blader neben Yuriy Ivanov, die an der Besichtigung teilnahmen – Rei hatte darauf bestanden, dass er und Lai sich die Aufgaben als Teamleader teilten. Es ist nicht fair, dass ich nach all der Zeit daherkomme und dir das ohne weiteres wegnehme, hatte er gesagt, auch wenn Mao, Kiki und Gao darauf bestanden, Rei das Amt zu übergeben. Immerhin hatte Byakko Rei ausgewählt und nicht Lai. (Lai ignorierte den Druck auf seiner Brust, der ihm das Atmen schwer machte, und ging stur neben Rei weiter statt einen Schritt hinter ihm wie es ihm eingebläut worden war.) Sie brachten die restlichen Aufenthaltsräume hinter sich und standen schließlich in der Arena, dem Endpunkt der Tour. Daitenji nickte zufrieden und drehte sich zur Gruppe um. „Das war fürs erste alles“, erklärte der ältere Herr gut gelaunt. Die digitale Uhr unter dem großen Bildschirm inmitten der Arena zeigte sieben Uhr morgens an. Lai blickte auf die vielen leeren Sitze und versuchte sich den riesigen Raum mit Menschen gefüllt vorzustellen, während der Vorsitzende der BBA weitersprach. „Bitte geben Sie die Informationen zum Ablauf des Turniers hier in Madrid an Ihre Teammitglieder weiter. Wenn es keine weiteren Fragen gibt–“ „Daitenji-san, tatsächlich habe ich noch eine Frage …“, Judy Tate schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn sie hob die Hand. Lai verkniff sich ein Augenverdrehen; Yuriy Ivanov, der außerhalb des Blickfeldes von Daitenji stand, hielt sich nicht zurück. Der Coach von F-Sangre gähnte hinter vorgehaltener Hand. Der Coach der PPB hatte an jeder Turnier-Location irgendeinen Extrawunsch. „Das Hotel, in dem wir unser Team untergebracht haben, ist zwar bestens ausgestattet, doch es fehlen uns die Trainingsräume für eine ungestörte Vorbereitung auf das Turnier“, erklärte sie mit einem Seitenblick in Richtung Hitoshi Kinomiya, der einen genervten Gesichtsausdruck zur Schau trug. „Ist es möglich, Räume hier in der Arena zu nutzen?“ Daitenji schien auf die Frage vorbereitet zu sein. Er lächelte der blonden Frau freundlich zu. „Nun, es gibt wie in New York und Rom Trainingsräume für Sie alle zur freien Nutzung. Für die Reservierung müssen Sie sich allerdings an Frau Alvarez wenden, sie übersieht die Raumplanung hier vor Ort. Ihre Kontaktdaten finden Sie auf dem Informationsblatt in der Orientierungsmappe.“ Judy Tate schien zufrieden, denn sie verschränkte mit einem Nicken die Arme vor der Brust; ihre Haltung entspannte sich. Lai und Rei wechselten einen Blick. „Wir sollten das heute noch machen“, murmelte Lai möglichst leise in Richtung seines Teamleaders. Dieser nickte. „Willst du sie anrufen?“, gab er genauso leise zurück, obwohl sie wussten, dass niemand der Anwesenden Chinesisch sprach. Lai zögerte einen Moment; bislang hatte Rei diese Art der Kommunikation für sie übernommen. Sein Englisch war besser, er verstand mehr, er- Die Aussicht, sein unsicheres Englisch zu erproben, drückte trotz der klimatisierten Räume auf seinen Brustkorb, ließ seinen Atem stocken. Seine Unsicherheit musste ihm aufs Gesicht geschrieben stehen, denn Rei fügte beiläufig lächelnd hinzu, als wäre es kein großes Ding: „Wenn du willst, versteht sich. Du musst nicht.“ Lai ignorierte den sauren Geschmack in seinem Mund, den dieses Zugeständnis von Schwäche in ihm auslöste, nach Kräften. Er brachte mit engem Hals ein stures, zorniges Nicken zustande. „Mach ich“, presste er hervor und hoffte, dass es natürlich klang. Rei nickte, sein Gesichtsausdruck blieb neutral. Für Lai fühlte sich das an wie ein Schlag ins Gesicht: Er kannte den anderen gut genug, um zu wissen, dass Rei nicht daran glaubte, dass Lai der Aufgabe gewachsen war. Der Druck auf seiner Brust nahm ihm die Luft. Meister Tao neben Lai stieß wie zufällig mit dem Gehstock an seinen Knöchel. Lai schreckte zusammen. Er blinzelte irritiert auf den alten Mann hinab. „Meister Tao -!“ „Ein Sud aus Baldrian mit einem Schuss Enzianlikör“, murmelte der Alte in seine Richtung und kicherte. Lai stieß prustend die Luft aus, die er angehalten hatte. Der Druck in seiner Brust ließ etwas nach, machte das Atmen einfacher. Er merkte erst jetzt, dass er die Fäuste geballt hatte, sich seine Nägel schmerzhaft tief in seine Handflächen bohrten. Er atmete bewusst langsam aus und entspannte seine Hände, nahm sie aus den Hosentaschen. Meister Tao kicherte als hätte er etwas ausgeheckt. „Damit würde der Frau den Stock aus dem Hintern fallen“, verkündete er etwas zu laut und Lai war froh, dass Tao kaum Englisch sprach. Er kicherte unzeremoniell, fühlte noch mehr der Spannung, die sich in ihm gebildet hatte, nachlassen, während Rei geschlagen seufzte. „Meister Tao, das können Sie doch nicht sagen!“, schalt er ihren Coach. Dieser zuckte nur mit den Schultern. „Dir würde das auch gut tun!“, gab er zurück und spazierte frohen Mutes weiter in Richtung Ausgang. Lai unterdrückte ein weiteres unzeremonielles Kichern und zuckte grinsend mit den Schultern, während Rei sich resigniert an den Kopf fasste. Gemeinsam traten sie aus dem klimatisierten Arenagebäude in den Augustmorgen in Madrid. Trotz der frühen Morgenstunden schlug ihnen die Hitze bereits wie eine Wand entgegen. Lai fühlte, wie sich das dumpfe Pochen hinter seiner Stirn verstärkte. Eine plötzliche Welle der Müdigkeit ließ ihn gegen die grelle Morgensonne blinzeln. Er ignorierte die Erschöpfung, die sich in seine Glieder stahl, während er neben Rei und Meister Tao durch die noch ruhigen Straßen Madrids in Richtung ihres Hotels schritt.   Wenig später saßen sie gemeinsam mit Mao, Kiki und Gao um einen Tisch im Frühstücksraum des Hotels. Mao, die Lai gegenüber Platz genommen hatte, streckte sich, während Gao ausgiebig gähnte. Es war eng an ihrem Tisch. Sie saßen Ellbogen an Ellbogen, Schulter an Schulter. Als Gao sich nach vorn beugte, um ihm Tee einzuschenken, war er so nah, dass Lai seine Körperwärme direkt an seiner Seite fühlte. Es war warm und fühlte sich trotz der Enge irgendwie heimelig an. Die nervöse Energie, die Lai umhüllte sie eine zu enge, juckende zweite Haut und ihn noch vor dem Morgengrauen aus dem Bett getrieben hatte, ließ etwas nach. Stattdessen brach die Müdigkeit über ihn herein, ließ seine Glieder schwer werden. „Ich konnte schon wieder nicht schlafen!“, beschwerte sich seine Schwester, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. „Ich dachte, es wäre in Madrid weniger heiß als in Rom!“ Sie fächelte sich mit der flachen Hand Luft zu, um ihre Worte zu unterstreichen. Rei lächelte ihr freundlich zu. Lai übersah, dass sie ihn ansah als hätte er die Sterne in den Himmel gehängt und konzentrierte sich auf die Tasse Tee vor sich. „Hier ist es wenigstens klimatisiert. Ich fand es in Rom schlimmer“, gab er zurück. Sie verzogen kollektiv das Gesicht während sie an die Klimaanlage dachten, die im Hotel in Rom am ersten Abend aufgehört hatte zu funktionieren. Die Hitze in dem beengten Raum war beinahe unerträglich gewesen. Mao langte über Kikis Kopf, der auf seinen Armen ruhte, hinweg nach einem Teller mit Obst und hielt es Lai mit hochgehobenen Augenbrauen hin. Er war nicht hungrig, aber nahm einen Apfel an sich und biss hinein. „Vielleicht haben wir diesmal Glück und die Klimaanlage hält noch ein paar Nächte lang“, murmelte er undeutlich mit vollem Mund. Kiki kicherte verschlafen, ohne sich zu bewegen. „Schlimmer als vor drei Jahren in Rom kann es kaum werden“, gab Rei von sich. Er lächelte angesichts der neugierigen Blicke, die ihn trafen. Kiki hob den Kopf. „Wie, vor drei Jahren?“, kam es ungläubig von ihm. Lai versuchte sich daran zu erinnern, was sie vor drei Jahren getan hatten, doch ihm fiel nichts ein. „Das war mit den Bladebreakers. Wir haben wegen Takao einen Zug verpasst und mussten dann über ein paar Umwege zum Finale nach Russland. In Rom war es wahnsinnig heiß und wir haben zu fünft in einem ziemlich engen Hotelzimmer geschlafen. Takao hat so laut geschnarcht, dass niemand sonst schlafen konnte“, erzählte Rei leichthin, ein Schmunzeln auf den Lippen. Lai ignorierte den sauren Geschmack in seinem Mund, sagte sich, er kam vom Apfel, nicht von Reis Erzählung, und trank einen Schluck Tee, um ihn hinunterzuspülen. Er suchte nach Worten, um das seltsame Schweigen, das sich über sie breitete, zu brechen und sah zu Mao. Sie erwiderte seinen Blick ratlos. Es war immer noch schwierig, über die Zeit, in der Rei nicht im Dorf gewesen war, zu sprechen. Eigentlich hatten sie gemeinsam beschlossen, nicht mehr so zu reagieren, solche Situationen zu vermeiden. Das klappte wohl nicht immer. Kiki zog scharf die Luft ein, als Mao ihn gegen das Schienbein trat. Der Grünhaarige blinzelte langsam. „Ach ja, das hab ich schon voll vergessen“, murmelte er lahm. Gao erhob sich umständlich, murmelte etwas davon, dass er unbedingt noch Obst vom Buffet holen wollte. Mao seufzte, während Rei sie mit einem irritierten Blick bedachte. Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, da traf ihn Meister Taos Gehstock unerwartet am Rücken. Rei rieb sein Schulterblatt. „Wofür war das?“, fragte er murrend, doch Meister Tao ignorierte ihn, setzte sich auf den freigewordenen Platz zwischen Lai und Mao und zog eine kleine Flasche aus dunklem Glas aus einer verborgenen Innentasche seines Hemdes. Er öffnete den Schraubverschluss und zog genießerisch den Geruch der Flüssigkeit ein. Taos kleine, von Falten umrahmten Augen blitzten schelmisch. „Eidechsenkot und Fledermausblut, gemischt mit ein wenig Skorpiongift und für vier Jahre eingelegt in Lacköl!“, erklärte er und Lai war sich sicher, dass er Blödsinn redete. „Das hält jung!“ Auf Lais skeptischen Blick hin schob er ihm das Fläschchen ungefragt unter die Nase. Lai verzog angeekelt das Gesicht als er feststellte, dass es sich um ein starkes Kräuterlikör aus der Minibar handeln musste. Mao sah aus als müsste sie sich übergeben als Tao einen Schluck der dubiosen Flüssigkeit trank. Er gab ein befriedigtes Schmatzen von sich und steckte das Fläschchen wieder ein, nicht ohne Lai verschwörerisch zuzuzwinkern. „Sollten Sie das trinken, Meister Tao?“, fragte Rei vorsichtig. Meister Taos Stock kollidierte zur Antwort mit dem Kopf seines Gegenübers. „Ich sage doch, das hält jung!“, gab ihr Coach von sich. Rei rieb seine Stirn und schien die Diskussion mit Meister Tao fürs erste aufzugeben. Dieser wartete, bis Gao vom Buffet zurückkehrte, um den Teller mit Obst, den Gao mitbrachte, für sich zu beanspruchen. „Oh, vielen Dank, mein Junge! Und jetzt husch, hol dir einen Stuhl, ich habe etwas für euch!“ Gao drehte sich seufzend um, um in gebrochenem Englisch einen freien Stuhl von einem ihrer Nebentische zu erbitten. Als sie dicht gedrängt rund um den Tisch saßen, Ellbogen an Ellbogen, Schulter an Schulter, sah Tao mit Schalk in den Augen in die Runde. Er kramte in den Falten seines Oberteils, um ein zerknittertes Blatt Papier hervorzuholen und an Lai zu reichen. Es war ein zerknitterter Flyer aus Hochglanzpapier. Der Flyer zeigte zwei maskierte Gestalten in farbenprächtigen Kostümen, die entfernt an Papageien erinnerten. Die Lettern auf dem Flyer verkündeten irgendwas auf Spanisch, doch Circo war eindeutig. Lai schmunzelte als er das Blatt an Kiki weiterreichte, dessen Augen zu leuchten begannen. „Können wir da hin? Bitte?“, fragte er aufgeregt und klang dabei wie ein kleines Kind. Mao musterte den Flyer. „Sie machen auch was mit Beyblades!“, stellte sie freudig überrascht fest. Sie wechselte einen Blick mit Kiki und beide sahen zu Rei – nicht zu Meister Tao oder zu ihm, wie Lai feststellte. Er trank einen weiteren Schluck Tee, um den plötzlich zu sauren Geschmack des Apfels hinunterzuspülen, während Rei lächelnd nickte. „Wir haben hart gearbeitet, um so weit zu kommen“, bestimmte er. „Da spricht nichts dagegen, uns mal einen halben Tag freizunehmen.“   Später – sie hatten den Vormittag im Fitnessstudio des Hotels zugebracht, bis Barthez‘ Soldat wortlos hineinmarschiert waren –wurde es ernst. Rei hatte ihm nach dem Training das Informationsblatt aus der Orientierungsmappe in die Hand gedrückt und ihn vor der Tür zum Zimmer, das sich Lai mit Mao teilte, alleingelassen. Die Telefonnummer, unter der er Frau Alvarez erreichen sollte, war gelb markiert. Im angeschlossenen Badezimmer rauschte die Dusche, er hörte Mao schief einen chinesischen Popsong summen, den sie wohl während ihrer letzten Reise zu ihrem Onkel nach Hong Kong aufgeschnappt hatte. Lai wischte seine schwitzige Hand an der Hose ab und fasste nach dem Telefonhörer, den er anstarrte, seit die Dusche angegangen war. Es war nur ein Telefonat. Das konnte nicht so schwierig sein. Lai wählte die Nummer mit zittrigen Fingern und hielt sich den Hörer ans Ohr. Das Freizeichen ertönte einmal, zweimal, ehe Lai hastig auflegte. Was sollte er sagen? Wie erklärte er den Grund für seinen Anruf auf Englisch? Und was, wenn sie sein Englisch nicht verstand? Lai überwand in drei hastigen Schritten den kurzen Weg zum Fenster und riss es auf. Hitze schlug ihm entgegen und er atmete gierig und mit engem Hals die heiße Luft ein. Sein stolpernder Herzschlag räsonierte in seinem Brustkorb und bis in seine Schläfen, wo es schon den ganzen Tag über dumpf vor sich hin pochte. Lai ballte seine Hände zu Fäusten und lockerte sie gleich wieder, um wieder Gefühl in seine tauben Finger zu bekommen. Stopp. Er umfasste Galeon in seiner Hosentasche und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er nahm erneut den Telefonhörer auf und wählte, wartete auf das Freizeichen. Es ertönte einmal, zweimal, dreimal. Dann meldete sich eine Stimme auf Englisch, während zeitgleich die Badezimmertür aufging. Lai erschrak so sehr, dass er den Hörer fallen ließ. „Lai?“ Mao musste glauben, er sei verrückt, wie er dastand und das Telefon anstarrte als sei es ein Ungeheuer. Aus dem Hörer kam verzerrt eine Stimme. Mao nahm den Hörer auf, meldete sich auf Englisch: „Hello? Yes … Sorry about that … Team Baihuzu … Baaaai-Huuu-Zuuu … Bravo, Alpha, India, Hotel, Uniform, Zebra, Uniform … Yes, exactly. Yes, please. Yes. … No. … Is this afternoon still-? … Really? Then this afternoon, and … no, morning is better. Yes. … yes. Thank you.” Maos Blick lag auf ihm, auf eine Art besorgt, die ihm den Atem raubte und den Hals eng machte. Er schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Lai starrte auf den Boden zu seinen Füßen, unfähig, sich zu bewegen. Das Pochen hinter seiner Stirn schwoll zu einem unerträglichen Donner an, während sein Gesicht sich zuerst heiß, dann kalt anfühlte. Ihm war schlecht. Mao druckste herum, ehe sie endlich sprach: „Alles okay? Du siehst blass aus, Lai“ „Alles klar“, würgte er hervor, ehe er mechanisch ins Badezimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Lai bemerkte erst als er seine heiße Stirn erschöpft gegen die Kloschüssel lehnte, dass er Galeon noch immer so fest umklammete, dass die Kanten des Angriffsrings in seine Haut schnitten. Kapitel 2: Lavendel und ein Schluck Maotai ------------------------------------------ Die digitale Uhr in ihrem Zimmer zeigte 04:52, als Lai einsah, dass es aussichtlos war, weiter auf Schlaf zu warten. Er war vor etwas mehr als zwei Stunden von einem Albtraum aufgeschreckt und hatte seitdem beobachtet, wie sich die Lichter, die durch die nicht ganz geschlossenen Rollläden des Hotelfensters hindurch die Zimmerdecke färbten veränderten. Er hatte dem vereinzelten Rauschen von Autos auf der Straße vier Stockwerke unter ihm gelauscht und erfolglos versucht, sich vorzustellen, es sei das Geräusch von Wind in den Bergen ihres Heimatdorfes. Nun gesellten sich zu den Geräuschen des langsam anbrechenden Morgens die ersten Vögel, die im Garten des Hotels beeindruckend laut zwitscherten. Lai fühlte beim Aufsetzen dem letzten Echo von Schlaf nach, während kaum greifbare Gefühle in ihm wehten. Sie schwollen im Versuch, sie zu fassen, zu dumpf rauschenden Sturmböen an, die gegen den engen Raum seines Körpers aufbegehrten. Lai wischte sich erschöpft übers Gesicht. Dann schwang er die Beine aus dem Bett und bahnte sich leise einen Weg ins Badezimmer. Das grelle Neonlicht über dem Waschbecken brannte in seinen Augen, was das ferne Donnern hinter seinen Schläfen zu einem dumpfen Pochen hinter seiner Stirn anschwellen ließ. Er trank einen Schluck Leitungswasser aus der hohlen Hand und verzog angewidert das Gesicht. Wie konnten Menschen auf Dauer so leben? Er dachte an klares Brunnenwasser und die Wasserfälle, unter denen sie während der letzten Monate trainiert hatten, und seufzte tonlos. Lai spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, um den letzten Schlaf zu vertreiben, ehe er zurück ins Zimmer kehrte, den Geschmack von Chlor auf seiner Zunge. Im schmalen Streifen Licht, der aus der halb geschlossenen Tür zum Badezimmer drang, fasste er nach der Wasserflasche neben seinem Bett und leerte sie in einem Zug. Das Plastik gab ein knackendes Geräusch von sich, das in seinen Ohren überlaut widerhallte. Mao murrte und drehte sich um, sodass sie mit dem Gesicht zu ihm lag. Sie kräuselte die Nase. „Lai?“, murmelte sie, die Stimme gedämpft vom Schlaf wie in so vielen Nächten ihrer Kindheit. Etwas in seiner Brust zog sich schmerzhaft eng zusammen. Lai streckte unwillkürlich die Hand nach Mao aus, eine alte Gewohnheit, hielt jedoch inne, bevor er sie berührte. Er befeuchtete seine Lippen mit der Zunge. Sie waren nicht in der alten Hütte ihrer Eltern, erinnerte er sich bewusst. Sie waren erwachsen und hatten nicht stundenlang wachgelegen und vor allem schon vor Jahren aufgehört, aussichtslos zu warten. Lai schwieg, atmete langsam und kontrolliert, während er versuchte, den Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken. „Schlaf weiter“, wisperte er schließlich rau und kaum hörbar. Lai wartete einen Herzschlag, einen zweiten, einen dritten. Mao seufzte und umarmte ihr Kissen, und er war sich sicher, dass seine Schwester weiter träumte, in den Schlaf gewiegt von den Geräuschen des nächtlichen Barcelona hinter den Fenstern und dem leisen Brummen der Klimaanlage. Dann griff er wahllos nach einer Hose und einem Überwurf, die auf dem Boden lagen, zog sich lautlos um und verließ leisen Schrittes das Hotelzimmer, dessen Tür mit einem Klicken hinter ihm zufiel. Lai atmete auf, als er im Flur stand. Er bemerkte erst jetzt, als er den rauen Teppichboden unter seinen Sohlen spürte, dass er seine Schuhe vergessen hatte.   Seine Schritte führten ihn in den Fitnessraum des Hotels, in dem flackernd das Licht anging als er ihn betrat. Lai blinzelte gegen das grelle Neonlicht und die kalte Luft der Klimaanlage und atmete zweimal tief durch, ehe er begann, sich aufzuwärmen. Er brauchte eine Weile, um in die Gänge zu kommen. Während er sich streckte und dehnte und seine Muskeln aufwärmte, wich die Erschöpfung langsam einer unruhigen Energie, einem elektrischen Kribbeln, das darauf wartete, sich zu entladen. Es gehörte zu ihm wie die schwüle Hitze vor einem Unwetter in den Bergen, umschloss jede seiner Bewegungen und spannte wie eine zu enge Hülle, so eng, dass es ihm den Atem nahm. Ganz selten wich sie einem Gefühl von zufriedener Wärme, wie nach einem anstrengenden Tag unter der brennenden Sonne, dem ein Gewitter folgte. Dieses Gefühl hatte Lai lange nicht mehr erlebt.   Lai setzte sich wahllos an eines der Fitnessgeräte und begann mit einem Set aus Übungen.   Einen ungewissen Zeitraum später – es musste noch früh sein, doch ab uns an drang das Geräusch von Menschen aus dem Gang zu ihm – dehnte Lai seine müden Muskeln erneut. Die elektrische Spannung unter seiner Haut verteilte sich gleichmäßig in einem zufriedenen Brennen, während er sich streckte. Lai warf einen Blick auf die Uhr an der Wand gegenüber. Vielleicht konnte er noch eine Stunde Schlaf nachholen. Lai schreckte auf, als sich die Tür öffnete. Er hatte dem Eingang den Rücken zugedreht, erkannte aber an den gedämpften Stimmen, dass die Neuankömmlinge kein Englisch sprachen. Lai beendete die Übung und richtete sich auf. Als er sich umdrehte, erkannte er die vier Blader von Barthez‘ Soldat, dicht gefolgt von ihrem Coach, der ihn mit einem undeutbaren Blick musterte. Lai hielt die Luft an – und starrte. Es war ihm peinlich bewusst, doch ein elektrischer Impuls durchzuckte ihn beim Gedanken, wie sehr er sich in seinem Match gegen ihren Teamleader, Mihaeru, blamiert hatte. Er wollte sich bewegen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Das Kribbeln zog sich enger um ihn, schloss sich mit eisernem Griff um seine Brust, während er versuchte, kontrolliert zu atmen. Er hatte den Beyblade des anderen vollkommen verfehlt, wie ein dummer Anfänger. Sein Herz flatterte, Nervosität brummte unter seiner Haut. Trotz der Klimaanlage kam ihm die Luft unangenehm stickig vor. Lai biss die Zähne so fest zusammen, dass es wehtat, während ein Donnern von seinen Schläfen in seine Stirn zog. Er zwang sich dazu, hoch erhobenen Hauptes und betont langsam an dem anderen Team vorbeizuschreiten. Als er auf einer Höhe mit Mihaeru war, nickte er grimmig. Er war ein Profi; er war es würdig, in der Weltmeisterschaft anzutreten. Der andere sah ihn einen Moment lang an, als wolle er etwas sagen, schien jedoch mit einem Seitenblick auf Barthez darauf zu verzichten.   Die Tür zum Fitnessraum fiel mit einem leisen Klicken hinter ihm ins Schloss. Er schaffte die nächsten drei Schritte zum Treppenhaus, ehe er losstürzte und erst anhielt, als er drei Stockwerke weiter oben über den Treppenabsatz stolperte. Lai fing sich an der Wand ab und lehnte sich schwer atmend dagegen. Seine müden Muskeln zuckten, seine Beine schmerzten. Ihm war schlecht. Lai ließ sich an der Wand entlang auf die Stufen gleiten. Er stützte sich schwer auf seinen Knien ab als sein Hintern den Boden berührte und atmete. Er wusste nicht, wie lange er einfach nur dasaß und sich aufs Atmen konzentrierte, während er dem langsam abklingenden Gewitter hinter seiner Stirn lauschte, wie es über seine Schläfen in Richtung seines Hinterkopfes zog. Ein knorriger Gehstock, der mit seiner Schulter kollidierte, riss ihn aus seiner Trance. Lai blinzelte irritiert. „Meister Tao?“, sprach er ihren Coach an, der ihn nachdenklich musterte. „Lavendel und ein Schluck Maotai“, gab er von sich und Lai wusste nicht, was das heißen sollte. „Lavendel“, wiederholte er mit gerunzelter Stirn. „Und ein Schluck Maotai!“, ergänzte Meister Tao mit einem zahnlosen Lächeln. Er zwinkerte Lai vergnügt zu. „Und jetzt auf die Füße, mein Junge, wir müssen uns vergnügen!“ „Aber-“, setzte Lai an, um zu protestieren. Sie nahmen immerhin an einem Wettbewerb teil und es war verdammt wichtig, dass sie trainierten. Doch dann hielt er inne und dachte an Gaos verträumten Gesichtsausdruck als er von dem kleinen Markt sprach, den sie besuchen wollten, und an Kikis und Maos aufgeregtes Geplapper über den Zirkus. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.   Er schaffte es, Mao nicht zu wecken, als er das Zimmer betrat. Lai schloss die Tür, penibel darauf bedacht, kein überflüssiges Geräusch zu machen und schlich zu seinem Bett, auf das er sich leise sinken ließ. Dann gähnte er, ausgiebig und lauter als notwendig. Mao murrte und vergrub ihren wilden pinken Haarschopf in ihrem Kissen. Lai verbiss sich ein Lächeln, während er zum Fenster ging, um es zu öffnen. Ihm schlug die pralle Augusthitze entgegen, trocken und so anders als die schwülen Morgen vor dem Monsunregen in ihrem Dorf. Mao setzte sich auf und streckte sich gähnend. „Warum machst du das, Lai?“, beschwerte sie sich müde, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb. „Es kommt doch nur Hitze rein!“ Lai zuckte mit den Schultern, ehe er die wenigen Schritte zu seiner Schwester überwand und ihr durchs Haar wuschelte. Sie wehrte sich, indem sie ihn mit ihrem Kissen schlug. „Hör auf! Weißt du wie lange ich nachher brauche, bis das alles wieder glatt ist?“, beschwerte sie sich. Lai lachte, während er in Richtung seines eigenen Kissens hechtete, um seiner kleinen Schwester nichts schuldig zu bleiben. Er bewarf sie mit einem seiner Kissen und lächelte verschmitzt. „Deswegen wecke ich dich ja! Oder soll ich Meister Tao das Wecken überlassen?“ Mao fing sein Kissen auf und schauderte, wohl beim Gedanken an Meister Taos unkonventionelle Weckmethoden. Lai verzog das Gesicht beim Gedanken an die Chilischoten, mit denen Meister Tao und Rei ihn einmal geweckt hatten. Mao schnaufte, knüllte das Kissen in ihren Händen. „Du bist schrecklich!“, verkündete sie und warf es zurück. Lai fing es mühelos. Lai grinste schief. „Aber wenn ich schrecklich bin, bist du das dann nicht auch?“, triezte er und sah einen Moment lang auf sein Kissen. Mao kniff die Augen zusammen. „Du bewegst dich auf dünnem Eis, Lai Chou“, drohte sie. „Lieber dünnes Eis als kaltes Wasser!“, rief er. Er warf Mao sein Kissen entgegen, das seine Schwester mit einem erschrockenen Japsen fing, ehe er mit knallender Tür ins Badezimmer verschwand. Maos Ausruf von der anderen Seite der Tür und das dumpfe Geräusch eines Kissens, das sie traf, ließ ihn kichern. „Du bist so blöd! Wehe du brauchst das ganze warme Wasser auf, Lai!“     Es war mittags als Rei und Lai sich mit einem synchronen Seufzen auf die Stühle des kleinen Cafés fallen ließen und ein müdes Lächeln teilten. „Wer hätte gedacht, dass Sightseeing so anstrengend sein kann“, gab Rei von sich, während er sich mit der flachen Hand Luft zufächelte. Lai gab einen Laut der Zustimmung von sich, streckte sich und gähnte. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Das meinte Meister Tao also mit ‚Stadt-Workout‘“, murmelte er und unterdrückte ein weiteres Gähnen. Dann sah er sich um. „Wo ist der überhaupt geblieben? War er nicht gerade noch hinter uns?“ Rei zuckte mit den Schultern und zeigte vage in Richtung einer Reihe von Marktständen, wo sie eben noch Gewürze und getrocknete Früchte bestaunt hatten. „Ich glaube, er ist irgendwo dort geblieben. Er hat etwas von Orujo geredet.“ Lai begegnete Reis gequältem Grinsen mit einem resignierten Schulterzucken, während der andere seufzend nach der Speisekarte griff. „Was möchtest du?“ Lai zuckte mit den Schultern, während er seine Schulter an Rei lehnte, um einen Blick auf die Speisekarte zu werfen. Die Buchstaben mochten zwar Wörter bilden, waren für ihn jedoch ohne Bedeutung. „Haben sie Tee?“ Rei versuchte mit zusammengekniffenen Augen, die Getränke auf der Speisekarte zu identifizieren. „Ich habe keine Ahnung“, gab er schließlich von sich und verzog in einer entschuldigenden Geste das Gesicht. Lai zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück, die Arme locker vor der Brust verschränkt, ehe er seinen Blick schweifen ließ. Das Café lag auf einem kleineren Marktplatz, der nicht stark besucht zu sein schien – was an der Mittagshitze liegen mochte. Lai unterdrückte ein Gähnen und fühlte Reis besorgten Blick auf sich ruhen, den er jedoch nach Kräften ignorierte. Die Sonne brannte auf den Sonnenschirm über ihnen, erwärmte die Luft und Lai fühlte, wie seine Glieder schwer wurden. Die Hitze in der Stadt war anders als in ihrem Dorf; es kühlte nachts nicht ab und selbst Wind brachte nur wenig Erleichterung mit sich. Der Kaffee kam und Lai scheiterte erfolgreich daran, ein erneutes Gähnen zu unterdrücken. Er rieb sich mit der flachen Hand übers Gesicht, fühlte den verpassten Schlaf und die Erschöpfung, die das Turnier ihm brachte, wie eine schwere Decke auf sich. Er blinzelte auf den Kaffee, den Rei bestellt hatte, während er ein erneutes Gähnen unterdrückte: Eine Schicht Milch, eine Schicht Kaffee, beide säuberlich voneinander getrennt in einem Glas verschwommen vor seinen Augen.   „…Lai?“   Er wusste nicht, ob Rei ihn schon einmal angesprochen hatte, doch Reis besorgter Blick sprach Bände. Er hob das Glas an, um einen Schluck zu trinken und gab ein nachdenkliches Geräusch von sich. „Der ist überraschend süß“, urteilte er. Lai blickte auf den Kaffee und fuhr sich durchs Haar. Er konnte nur hoffen, dass sein Lächeln nicht so gezwungen aussah wie es sich anfühlte. Rei schien nicht überzeugt; auch nach all der Zeit, die Rei nicht im Dorf verbracht hatte, war es leicht, die kleinen Zeichen zu lesen, die seine Gedanken verrieten. Er spielte mit dem Kaffeelöffel, öffnete den Mund, schloss ihn. „Müde?“, erkundigte er sich dann gezwungen beiläufig. Lai blickte auf den Kaffeelöffel und schüttelte stur den Kopf, während es hinter seinen Schläfen prickelte. Er spannte seinen Kiefer an, fühlte, wie das Prickeln sich langsam auszubreiten begann, von den Schläfen in die Stirn und in seinen Kiefer. Er beobachtete Reis Hände. Der Kaffeelöffel hörte auf, sich zu bewegen. „Sicher?“ Lai hob den Blick zu Reis Gesicht. Anspannung war dort zu lesen, in der Art, wie er seinen Kopf hielt, den Kiefer angespannt als würde er sich auf die Wange beißen. Die Sorgenfalte auf Reis Stirn sagte ihm, dass der andere nach Worten suchte – wie häufiger in letzter Zeit, wenn sie zu zweit irgendwo saßen, als wiege er die Worte auf der Zunge, ehe er sie doch nicht aussprach. Lai zwang sich, die Luft, die er angehalten hatte, langsam auszuatmen. Er entspannte bewusst seinen Kiefer, während er daran scheiterte, Reis Blick zu erwidern. „Ich bin okay, Rei, wirklich“, versicherte er mit einem Lächeln, das sich fast authentisch anfühlte. Reis Blick ließ ihn nicht gleich los, doch er nickte, wohl wenig überzeugt. Er lächelte vorsichtig, als taste er sich in unbekanntes Gebiet, die Sorgenfalte noch immer prominent auf seiner Stirn. „Okay, aber versprich mir-“   „Da habt ihr euch versteckt!“   Was auch immer Rei hatte sagen wollen wurde von Mao, Gao und Kiki unterbrochen. Während seine kleine Schwester sich ungefragt neben Rei auf einen der Metallstühle fallen ließ, besetzte Gao den neben Lai. Er grinste Kiki, der ihm die Zunge herausstreckte, schelmisch an. Der Grünhaarige verdrehte die Augen, ehe er sich zum Nachbartisch umwandte. Lai verkniff sich ein Grinsen, während Kiki auf die beiden freien Stühle zeigte und den anderen Gästen mit wilden Gesten zu verstehen gab, dass er sie zu ihnen herüberziehen wollte. Es wurde plötzlich eng am Tisch, als sie zusammenrückten, um Platz für die zusätzlichen Stühle zu schaffen. Gao versuchte, die Tüten, die er trug, irgendwie unter dem Tisch unterzubringen, der vor seiner Körpermasse lächerlich klein wirkte. Seine Arme und Schultern stießen immer wieder an Lais, der näher an Rei rückte, damit Gao mehr Platz hatte. Ihre Schultern stießen aneinander. Sie teilten ein Grinsen, ehe Rei auf die noch unbesetzte Sitzgelegenheit deutete und sich an Kiki wandte. „Für wen hast du den organisiert?“, fragte er. Kiki sah ihn einen Moment lang verständnislos an. „Meister Tao“, antwortete er. „Wen sonst?“ Noch ehe Rei antworten konnte, wandte Kiki seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu: Er lehnte sich an Mao und langte in eine Tüte auf ihrem Schoß. Die Pinkhaarige versuchte hektisch, die Papiertüte aus seiner Reichweite zu bringen und schob sie auf Reis Schoß. „Hör auf, du Knirps!“, fauchte Mao. „Das macht man nicht in einem Café!“ Kiki gab einen leidenden Laut von sich. „Aber ich bin hungrig!“ Rei grinste verschmitzt und zwinkerte Kiki zu, während er die Arme um die Papiertüte schloss. „Später“, versprach er. Der Grünhaarige seufzte und lümmelte auf seinem Stuhl. Lai reckte den Nacken und lehnte sich an Rei, sodass ihre Schultern sich berührten, um in die Tüte hineinzusehen. „Was hast du denn eingekauft?“, fragte er neugierig. Seine kleine Schwester grinste stolz. „Ich habe alle Zutaten für Paella gefunden!“, verkündete sie stolz. „Das will ich unbedingt nachkochen!“ Rei wechselte einen Blick mit Lai. Beide schluckten. Wenngleich es der Pinkhaarigen in letzter Zeit nicht an Enthusiasmus fehlte, waren ihre Kochkünste noch recht … ungeschliffen. „Bist du dir sicher, Mao?“, fragte Rei vorsichtig nach. Maos runzelte die Stirn. „Warum sollte ich mir nicht sicher sein?“, hakte sie grimmig nach. Bevor Rei etwas antworten konnte, mischte sich Gao ein. Er beugte sich leicht vor und verkündete breit lächelnd: „Ich darf helfen!“ Lai atmete sichtbar auf. „Gut“, murmelte er. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, während Mao ihm beleidigt die Zunge herausstreckte. Zur Versöhnung schob Lai ihr seinen inzwischen kalten Kaffee entgegen, den sie mit einem zufriedenen Lächeln akzeptierte. Kiki trommelte derweil mit ungeduldigen Fingern auf die Tischplatte. Er sah sich um. „Wo ist Meister Tao überhaupt?“, fragte er. „Er hat versprochen, dass er rechtzeitig für den Zirkus da ist!“ Mao verdrehte die Augen. „Bleib mal ruhig, wir haben noch Stunden bis die Zirkusvorstellung beginnt“, gab sie zurück und stützte die Hand aufs Kinn. Rei nickte, lächelte ihr zu. „Mao hat Recht. Bis dahin wird Meister Tao sicher auftauchen!“, bekräftigte er optimistisch. Lai dachte an den Stand mit Orujo, von dem er zwar nicht genau sagen konnte, was es war, aber definitiv Alkohol. Er war sich nicht sicher, ob er Reis Optimismus teilte. Eine halbe Stunde später war klar, dass sie Tao vermutlich an den Orujo oder einen anderen Stand mit lokalen Spirituosen verloren hatten. Lai seufzte. „Ich glaube, wir müssen Meister Tao suchen gehen“, beschloss Rei resigniert und sprach damit das aus, was auch Lai dachte, ehe er in die Runde blickte. „Wollen wir noch eine Runde über den Markt drehen?“ Lai nickte. „Ihr müsst Rei und mir ja noch zeigen, was ihr entdeckt habt“, schlug er vor. Der Blick seiner anderen Teamkameraden hellte sich sogleich auf. Gao nickte. Sein Blick nahm einen verträumten Glanz an. „Wir haben vorhin einen Stand mit Churros entdeckt, das müssen wir unbedingt kosten!“   Sie streunten eine Weile herum, achteten halbaufmerksam darauf, ob Meister Taos zahnloses Lachen irgendwo ertönte und fischten schließlich in ihren Hosentaschen nach Euros für Churros. Lai stellte fest, dass Churros unglaublich fettig waren, aber auch unglaublich gut schmeckten. „Gut, oder?“, Gao strahlte. Lai nickte enthusiastisch mit vollem Mund, während er versuchte, nicht über Maos unglückliches Gesicht zu lachen. „Aber die Pickel, die ich morgen haben werde!“, jammerte sie schwarzseherisch. „Was, das sind Pickel? Ich dachte das sei dein Gesicht!“, triezte Kiki. Mao verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. „Wart’s erst mal ab, irgendwann erwischt die Pubertät dich schon auch noch!“, drohte sie. Lai verschluckte sich prustend und japste gequält nach Luft. Gao musste ihm kräftig auf den Rücken schlagen, damit er nicht erstickte. Ein knorriger Gehstock traf Gaos linken Oberarm, sodass dieser beinah die Tüte mit Churros fallen ließ. „Gib mir auch was von den Churros ab, mein Junge!“, forderte ihr Meister. Gao hielt ihm die Churros entgegen, nachdem er sie mit einiger Mühe davor bewahrt hatte, auf dem staubigen Boden zu landen. „Bitte, Meister Tao!“ Tao fasste mit spitzen Fingern nach dem fettigen Stück Teig, riss ein Stück ab und schob es sich in den Mund. Er kaute skeptisch auf dem Bissen herum, ehe er wohlwollend nickte. „Dazu passt Ratafia perfekt!“, verkündete er und beförderte aus irgendeiner Innentasche seines Mantels eine kleine Flasche aus Glas mit einer braunen, klaren Flüssigkeit zutage. „A-aber Meister Tao“, protestierte Rei schwach, doch der Alte winkte ab. Er werkelte erfolglos eine Weile am Schraubverschluss der Flasche herum, ehe er sie Lai in die Hand drückte. „Mach‘ sie auf, Junge“, wies er ihn an. Lai runzelte die Stirn, wechselte einen Blick mit Rei, der hilflos die Schultern zuckte. „Ich glaube, Sie brauchen eher ein Glas Wasser“, murmelte Lai also. Meister Tao schwang seinen Gehstock, doch Lai wich ihm mit einem Schritt zur Seite aus. „Pah! Wasser ist für Schwangere und Kinder!“ Lai hob amüsiert eine Augenbraue. „Na, wenn Sie das sagen“, brummte er und werkelte mehrmals übertrieben am Flaschenverschluss herum. „Aber ich kriege die Flasche leider nicht auf, tut mir Leid. Vielleicht wollen unsere Vorfahren nicht, dass Sie sie heute trinken.“ Tao seufzte und blickte versonnen auf seinen Gehstock. „Vielleicht“, stimmte er zu. Mao seufzte und schüttelte ungläubig den Kopf, Gao und Kiki wechselten einen Blick. Rei blickte resigniert zum Himmel. Lai wusste, dass er Blödsinn erzählte, aber manchmal half nur Vorfahren-Logik, um ihren Meister davon abzuhalten, sich zu sehr zu betrinken.   Ein Geräusch von der anderen Seite des Platzes erregte ihre Aufmerksamkeit: Über die Geräusche des Marktes hinweg wehte ein Popsong zu ihnen herüber. Lai grinste. Vielleicht waren ihre Vorfahren ihnen heute wohlwollend gesonnen und lenkten Meister Tao von seiner Verkostungstour ab, die nur im Desaster enden konnte. Mao reckte den Hals, während Kiki schon drei Schritte vorausgelaufen war und sich aufgeregt zu ihnen umdrehte. Er winkte ihnen zu, eine klare Geste, dass sie folgen sollten. „Das sind Kostüme!“, rief er aus. Mao klatschte in die Hände. „Das müssen wir uns anschauen!“ Mao fasste nach Lais Arm, wie immer, wenn sie nicht alleine irgendwo hingehen wollte. Sie zog ihn mit sich und Lai stolperte hinterher. „Mao!“, protestierte Lai, allerdings ohne sich ihren Schraubstockgriff zur Wrhe zu setzen, als sie ihn schon halb über den Platz gezogen hatte. „Hör auf, mir den Arm auszureißen! Ich komm‘ ja!“ Ein Lachen ließ ihn über die Schulter blicken, wo der Rest ihres Teams ihnen folgte. Rei bemerkte seinen Blick und zuckte lächelnd mit den Schultern.   Sie blieben kurz hinter der Menschentraube stehen, die sich gebildet hatte, und reckten die Köpfe. Kiki fluchte verhalten, bevor er auf Gaos Schultern kletterte. Mao ließ Lais Arm los, um nach seiner Hand zu fassen und sie aufgeregt zu drücken. Sie spähten an den anderen Zuschauerinnen und Zuschauern vorbei in Richtung der bunt gekleideten Straßenkünstler, die im Rhythmus der Musik Keulen jonglierten. Sie begannen mit drei, dann warf ihnen ein blonder Mann, der wohl so etwas wie ihr Assistent war, von der Seite her mehr Keulen zu, sodass sie vier, dann sechs, dann acht Keulen in der Luft hielten. Lai nickte beeindruckt und wechselte einen Blick mit Mao, die begeistert grinste. „Das ist wie mit Großmutters Kürbissen!“ Sie strahlte ihn an, und auch Lai konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen als er nickte. Die Straßenkünstler warfen die Keulen eine nach der anderen dem blonden Mann zu, der sie etwas ungeschickt auffing und verstaute. Ein Lachen ging durch das Publikum. Lai bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Rei neben seine Schwester trat. Mao nahm seinen Arm und lehnte sich auf eine Weise an ihn, die etwas in Lais Brust sich schmerzhaft zusammenziehen ließ. Er schüttelte den Kopf und blickte wieder nach vorn. „Glaubst du, sie gehören zum Zirkus?“, hörte er Mao atemlos fragen. Reis Antwort war sehr leise: „Keine Ahnung. Vielleicht.“ In diesem Moment wechselte die Musik zu einem beatlastigen Popsong, den viele in der Menge zu kennen schienen, denn sie begannen, im Rhythmus der Musik zu klatschen. Die beiden Straßenkünstler wandten sich einander zu. Die Masken, die sie trugen, verdeckten ihre Gesichter oberhalb der Nasen, doch Lai konnte deutlich erkennen, wie sie einander anlächelten. Dann begann die rechte Jongleurin – die eindeutig eine Frau war – im Rhythmus der Musik mit den Hüften zu schwingen. Ihr Partner verneigte sich und hielt ihr einladend die Hand entgegen. Sie vollführte einige tänzelnde Schritte auf ihn zu, als lasse sie ihn absichtlich warten, ehe sie seine Hand ergriff. In dem Moment warf der Blonde ihnen Gymnastikbänder zu, die sie geübt fingen. Die beiden schienen ihre Kräfte zu messen, während sie einander umkreisten und die Bänder fliegen ließen. Sie lächelten einander auf eine Art an, die Lai an ihr Team denken ließ, ehe sie die Bänder hoch in die Luft schleuderten. Die beiden hoben synchron ihre Arme. Etwas Metallisches blitzte auf. Mao fasste nach Lais Hand und drückte sie aufgeregt. Lai erwiderte die Geste seiner Schwester, drückte fester zu als beabsichtigt. Blut rauschte in seinen Ohren; er konnte den Blick nicht von den Beyblade-Startern wenden. Etwas in seiner Brust krampfte sich zusammen, presste die Luft aus seinen Lungen wie ein Schlag vor die Brust. Zugleich begann etwas in ihm zu brodeln. Woher kam dieses plötzliche, heftige Gefühl? Lai schüttelte hastig Maos Hand ab, ballte seine fest zu Fäusten, um den Sturm in sich zu zügeln. Die Beyblades flogen hoch in die Luft, was den beiden Maskierten genug Zeit ließ, das Gymnastikband des jeweils anderen aufzufangen. Die Bänder zogen Schleifen in der Luft, doch Lai konnte den Blick nicht von den Beyblades abwenden, die einander in der Luft umkreisten. Hinter Lais Schläfen donnerte es. Er starrte mit offenem Mund, beobachtete, wie die Beyblades auf den fragilen Stoffbahnen landeten und gleich wieder in die Luft geschleudert wurden. Lai sah die Beyblades fliegen und fühlte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er fühlte einen Moment lang nichts, ehe alles über ihn hereinbrach wie ein plötzliches Gewitter in den Bergen. Die kalte Wut durchzuckte ihn wie einen Blitz, der in seiner Magengegend einschlug und dort saure, sengende Flammen hinterließ. Woher kam diese Wut auf einmal? Verdammt, er musste hier weg. „Wow“, kam es da atemlos und voller Bewunderung von Rei. „Sie sind perfekt synchron, sonst würde das nie klappen!“ Lais rationale Seite wusste, dass Rei mit seinen Worten keinen Seitenhieb auf ihn vorhatte. Es war eine leise Stimme in seinem Hinterkopf, die vom Donner seines Ärgers, der in ihm vibrierte, verschluckt wurde, während sein Innerstes sich erneut schmerzhaft zusammenzog. Lai verschränkte fest die Arme vor der Brust, während er feindselig auf die Beyblades der beiden Straßenkünstler blickte. Er machte ein abfälliges Geräusch, den Blick abgewandt und biss die Zähne fest zusammen, während sein Innerstes ein erneuter Blitz kalter Wut durchzuckte. „Das ist doch nichts als Kinderspielchen“, brummte er gepresst und viel zu laut. Ihm war schlecht. „Was hast du gesagt?“, kam es scharf von einem der beiden Straßenkünstler. Die Langhaarige drängte sich zu ihm durch und baute sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Lai biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Es nützte nichts. Er hob die Hand in einer vagen Geste. „Sorry“, entschuldigte er sich höhnisch. „Wir riskieren in unseren Bey-Battles Kopf und Kragen, weißt du … da sehen eure Tricks im Vergleich alt aus“ Die Straßenkünstlerin verzog wütend ihren Mund und ihre Hand zuckte. Lai fühlte ein Kribbeln durch seinen Körper gehen, während er stur auf die Maske vor sich starrte. Er sah den Schlag ins Gesicht kommen und rührte nicht einen Muskel, um ihn abzufangen. Er hatte es verdient. Schwielige Finger trafen sein Gesicht mit einem lauten Klatschen. Lai hob langsam die Hand an seine Wange, ohne den Blick von der Maske seines Gegenübers zu nehmen. Die junge Frau machte zwei Schritte auf ihn zu, bis sie ihm so nahe war, dass er die Mischung aus Schweiß und Parfum riechen konnte, die sie umgab. Rund um sie wurde es laut und unruhig, doch Lai bekam nichts davon mit. Hinter ihm schnappte jemand überrascht nach Luft, Rei rief ihn bei seinem Namen. Er hörte undeutlich, wie der zweite Straßenkünstler erschrocken nach seiner Schwester rief und Meister Tao amüsiert vor sich hin kicherte, aber er kümmerte sich nicht darum. Es drang kaum durch das Gewitter kalter Wut, das in ihm tobte. „Du Miststück“, spuckte Lai förmlich aus. „Was fällt dir ein?“   Hände legten sich auf seine Schultern, seine Arme, wie um ihn zurückzuhalten. Ein pinker Haarschopf drängte sich plötzlich zwischen sie. „Was machst du mit meinem Bruder? Lass‘ ihn in Ruhe!“ Mao war wütend, ihre Stimme klang schrill. Lai fühlte, wie sich das Kribbeln aus seinen Fingern über seine Arme und in seinen ganzen Körper zog. Sein Herz hämmerte schmerzhaft laut in seiner Brust. Er bleckte wütend die Zähne. Er konnte seine eigenen Kämpfe schlagen, verdammt. Er brauchte niemanden, der ihn beschützte, schon gar nicht seine kleine Schwester! Die Maskierte schien Mao von oben bis unten zu mustern, ehe sie unterkühlt erwiderte: „Halt dich da raus.“ Dann wandte sie sich Lai zu. Die Unruhe rundum schien sie nicht zu beirren; im Gegenteil schien sie die Aufmerksamkeit des Publikums nur weiter anzustacheln. Lai fühlte deutlich den Blick seines Gegenübers auf sich, während die Maske nur ihr höhnisches Lächeln zeigte. „Willst du rausfinden, ob unsere Tricks wirklich nur Tricks sind?“ Lai riss von den Händen los, die ihn hielten, und stierte wütend auf sein Team, ehe er Rei in einer herrischen Geste bedeutete, sich bereit zu machen. Er griff nach seinem Starter, einen entschlossenen Zug um den Mund. „Aber immer doch“ Kapitel 3: Pfefferminz ---------------------- „Sis!“ Weder sein Ruf noch sein Griff an ihrem Umhang richteten etwas gegen Giulias Sturkopf aus. Seine Zwillingsschwester blickte ihn durch die Maske hindurch mit einem brennenden Blick an, ehe sie sich mit einer abrupten Bewegung losriss und Raoul mit einem Stück bunten Stoffes in der Hand hinter sich ließ. Er seufzte und blickte auf den Stofffetzen, ehe er aufblickte, um zu sehen, wen Giulia als ihr Opfer auserkoren hatte. Seine Augen weiteten sich erschrocken hinter der Maske als er erkannte, vor wem sich Giulia aufbaute, die Hände in die Hüften gestemmt und das Kinn hoch gereckt. War das nicht das chinesische Team? ¡Coño! Er warf einen Blick über die Schulter zu Romero. Der lehnte sich mit verschränkten Armen neben den kleinen Rollkoffer mit ihren Requisiten und blickte aufmerksamkeit in Richtung Giulia. Als er Rauls Blick bemerkte, lächelte er und zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Was will man machen? Wir können sie ohnehin nicht aufhalten.   „Willst du rausfinden, ob unsere Tricks wirklich nur Tricks sind?“   Giulias Ton klang danach, als würden gleich Fäuste fliegen, doch sie trat stattdessen einen halben Schritt zurück, um ihrem Gegenüber Platz zu machen. Raul blickte von seiner Schwester zum Chinesen, der mit einem Schritt aus der Menge heraus gefolgt war. Er hob einen Beyblade-Starter in die Höhe wie eine Waffe. Sein Gesicht wütend verzerrt zeigte er auf Giulia. „Ich werd' dir zeigen, wie ein richtiger Beyblade-Kampf aussieht!“, verkündete er finster. Raul runzelte die Stirn. Ein richtiger Beyblade-Kampf? Was fiel diesem dahergelaufenen Blader ein? Etwas in ihm regte sich zornig. Raul trat einen Schritt näher an seine Schwester und machte sich bereit, einzugreifen – ob zum Schutz Giulias oder ihres Gegenübers wusste er selbst nicht. Durch das ganze Team hinter dem Schwarzhaarigen ging eine Veränderung. Sie rückten zusammen, wie Raubtiere bereit zum Sprung, die Hände an ihren Gürteln. Sie alle schienen auf den Blader vor Giulia konzentriert zu sein. „Lai!“, rief der Teamleader von Baihuzu; Rei. Der Rei, dessen Matches Raul seit Jahren mit strahlenden Augen und voller Bewunderung im Fernsehen verfolgte, wann immer er Zugang zu einem Fernseher hatte. Der Spanier versuchte, das nervöse Flattern in seiner Magengrube hinunterzuschlucken. Er stand vor seinem Idol. Giulia konnte das einfach nicht entgehen. Er presste die Lippen zusammen und warf hinter der Maske einen Seitenblick zu seiner Schwester. Sie stand kerzengerade dar, das Kinn stolz gereckt und bereit, ihrem Gegner zu beweisen, dass sie nicht zum Spaß bladeten. Sie erinnerte ihn an das Bild ihrer Großtante, die als Teil der Maquis für die Zweite Republik gekämpft hatte und das auf ihrem Nachttisch stand, seit sie zum ersten Mal mit großen Augen ihre Geschichte gehört hatte. Raul fühlte Giulias Blick auf sich, ehe sie ihn über die anderen Blader von Baihuzu schweifen ließ. Sie hielt bei Rei an. Raul konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch er hörte das höhnische Lächeln förmlich aus ihrer Stimme, während sie den Langhaarigen provozierte: „Wenn du dir solche Sorgen um deinen kleinen Freund machst, warum kämpfst du dann nicht mit?“ Raul schluckte erneut, versuchte die Nervosität zu ignorieren, während er sah, dass Rei sich ohne weiteres Wort einen halben Schritt hinter dem anderen Chinesen bereitmachte. Giulia bewegte ihren linken Arm in einer vertrauten Geste. Auch ohne weiteren Blick wusste Raul, dass sie sich auf seine Unterstützung verließ; sie hob ihren linken Arm und er spiegelte die Geste mit seinem rechten in einer fließenden Bewegung. Er hörte die umstehenden Zuschauer aufgeregt murmeln und fühlte die vertraute Wärme über ihn hinwegwaschen wie immer, wenn sie auftraten. Ohne einen weiteren Blick zu wechseln starteten sie ihre Beyblades.     Lai fasste seine Reißleine so fest, dass ihm ihr Griff schmerzhaft in die Hand schnitt. Er zog an ihr mit mehr Kraft als beabsichtigt und Galeon flog in hohem Bogen durch die Luft, um gemeinsam mit den Beyblades der beiden Gaukler auf das unebene Kopfsteinpflaster zu treffen. Er nutzte den unebenen Untergrund, um direkt zwischen seine Gegner zu springen und sie anzugreifen. Rei stieß einen verhaltenen Fluch aus; er war wohl nicht darauf gefasstt, dass sie so schnell Nägel mit Köpfen machen. Sein schwarzer Beyblade schoss quer durch den Halbkreis an Schaulustigen auf seine Gegner zu. Hinter ihm holte Drigger mühsam auf, registrierte Lai mit einer gewissen Genugtuung, während Galeon die beiden gegnerischen Beyblades erreichte. Sie wirkten als wären sie auf Balance hin ausgerichtet, mit einer stabilen Basis und einem tiefen Schwerpunkt. Galeon war dagegen leichter und wendiger. Das musste er zu seinem Vorteil nutzen. Lai zögerte nicht lange und schickte Galeon mitten zwischen die beiden Gegner. Sie tauschten eine Reihe von schnellen Schlägen aus, ehe Drigger einen Augenblick später zum Kampf dazukam. Noch bevor Rei einen Treffer landen konnte, stoben die beiden gegnerischen Blades auseinander und brachten Distanz zwischen sich und Galeon und Drigger. Lai grinste scheinbar selbstsicher, während er versuchte, die Taktik ihrer Gegner zu durchblicken. Ihm war unbehaglich zumute, während er die beiden gegnerischen Beyblades beobachtete. Sie umkreisten einander beinahe spielerisch auf dem unebenen Untergrund, schienen auf eine Reaktion von Galeon und Drigger zu warten. Dabei vollführten sie einige Tricks, die Lais Mund plötzlich austrockneten. Rei sog scharf die Luft ein und sprach verlieh Lais Gedanken Ausdruck. „Sie sind perfekt synchron“, murmelte er, sichtlich beeindruckt. Lai fühlte ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust aufsteigen, das er hastig niederdrückte. Er machte ein abfälliges Geräusch. „Das ist doch alles nur Show!“ Er warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, begegnete dem Blick seines Co-Kapitäns mit grimmiger Entschlossenheit, die sämtliche Unsicherheit überspielte, ehe er seine Aufmerksamkeit auf den Platz vor sich zuwandte. Ihre Gegner hatten begonnen, sich zu bewegen und ließen ihre Umhänge fliegen, während sie miteinander tanzten. Von irgendwoher kam billige Musik. Er ballte die Fäuste, fühlte, wie sich seine kurzen Fingernägel Halbmonde in seine Haut drückten, während ein Gewitter sich in ihm zusammenballte. Lai begegnete dem selbstsicheren Lächeln der maskierten Frau; es verhöhnte ihn. So nicht, rollte in seiner Magengrube der erste Donner. Galeon schoss nach vorne, doch die beiden gegnerischen Beyblades stoben davon und die beiden Zirkusclowns liefen ihnen lachend ein paar Schritte hinterher, ehe sie sich umwandten. Das Publikum rundum klatschte. Lai biss wütend die Zähne zusammen, so fest, dass sein Kiefer schmerzte. „Hey!“ Seine Gegnerin lachte. „Was, seid ihr zu sehr an die Arena gewohnt?“, provozierte sie und beschrieb mit einer ausladenden Geste einen Halbkreis. „Der ganze Platz ist unsere Arena!“ Lai atmete kontrolliert durch und versuchte, sich nicht von dem Gehampel vor sich ablenken zu lassen, das das Publikum rundum immer weiter anheizte. Stattdessen schickte er Galeon hinter seinen Gegnern her, fest entschlossen, ihnen eine Lektion zu erteilen.   Plötzlich schoss ein silberner Blitz an seinem Beyblade vorbei. Lais Herz machte einen erschrockenen Sprung und mit ihm stolperte sein Beyblade über den unebenen Untergrund der Pflastersteine. Galeon strauchelte, fing sich, doch hatte er einiges an Schwung eingebüßt; der schwarze Beyblade blieb hinter Drigger zurück. Lai blinzelte. Seine Augen brannten in der trockenen Luft der spanischen Mittagssonne, während er Galeon stabilisierte. „Alles okay? Die beiden sind verdammt gut …“ Reis aufmunterndes Lächeln fühlte sich an wie Säure auf seiner Haut. Lai nickte, während er versuchte, durch die Enge in seinem Hals hindurch zu atmen. Er schluckte, während er mit dem rauschenden Sturm in seinem Kopf kämpfte, der sich als dumpfes Donnern hinter seiner Stirn manifestierte. Er würde nicht verlieren. Nicht gegen diese beiden Witzfiguren, und schon gar nicht gegen Rei, der immer einen Schritt voraus, immer besser war als er. Galeon stolperte über eine zweite Unebenheit und Lai ballte die Fäuste. Konzentrier dich, schalt er sich. Er erinnerte sich an lange Stunden Training, stellte sich breitbeinig hin, die Fersen in den Boden gestemmt, und atmete bewusst ein und aus. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, Galeon stabil zu halten, während sein Beyblade auf seine Gegner zuschoss und wieder Schwung aufnahm. Der Brunnen war knapp vor ihnen. Lai beobachtete, wie die beiden Blades sich verlangsamten und fühlte ein grimmiges Grinsen an seinen Mundwinkeln ziehen. Gleich hab‘ ich euch! Er warf einen siegessicheren Blick in Richtung Rei, der ihm entschlossen zunickte. Sie hatten ihre Gegner wie auf dem Präsentierteller. Lai wollte gerade zum Angriff ansetzen, da scherten die Blades ihrer Gegner aus, nach links und nach rechts, um den Brunnen zu umkreisen. Die beiden Blader vollführten eine Pirouette, die ihre Kostüme flattern ließen. Der junge Mann vollführte einen Handstandüberschlag und winkte lachend in die Menge, als die Zuschauer ihm applaudierten. Lai fluchte, und riss Galeon in einer hastigen Bewegung herum, damit der schwarze Beyblade nicht mit dem Brunnen kollidierte. Er stoppte nur Zentimeter vor der Mauer und büßte, genauso wie Drigger, allen Schwung ein. Lai sah zu Rei und fühlte leise Genugtuung darüber, dass auch der andere nicht unberührt von ihrem Kampf war. Der Langhaarige wirkte ruhig, doch der harte Zug um seinen Mund ließ darauf schließen, dass er seinen Ärger unterdrückte. Drigger nahm wieder Fahrt auf. Lai knirschte mit den Zähnen und schickte Gelaon auf Verfolgungsjagd. Ihre bunt gekleideten Gegner wirbelten herum, ließen ihre farbenfrohen Kostüme fliegen und schienen vom Publikum um sie herum, das Laute des Staunens von sich gab, nur noch weiter angestachelt. Die maskierte Frau lachte hell auf, während ihr Beyblade davonstob. Sie und ihr Partner nickten einander zu; da wechselten die Blades erneut die Richtung und verschwanden im Getümmel des Marktes. Er fühlte, wie sein Gesicht heiß wurde. Die beiden Beyblades schlängelten sich scheinbar mühelos zwischen Füßen hindurch und erklommen bald die Stoffbahnen der Markisen, die in einer leichten Brise flatterten. Lai schluckte, während sich der Schweiß auf seiner Stirn plötzlich kalt anfühlte. Sie taten all dies mit einer Leichtigkeit, die ihn insgeheim beeindruckte.   „Lai, tu es nicht!“   Er schüttelte resolut eine Hand ab, die sich kalt und fest auf seinen Arm gelegt hatte. Reis Warnung prallte an ihm ab. Lai wischte sich über die Stirn und schickte Galeon durch den schmalen Durchgang, den die Schaulustigen freigemacht hatten, hinter seinen Gegnern her. Der schwarze Beyblade fuhr in die Menge wie ein wilder Sturmwind; einige Passanten schrien auf und sprangen zur Seite. Galeon machte ungelenke Kurven um die vielen plötzlichen Hindernisse und erreichte die Stange, über die die Beyblades gerade beinahe waagrecht nach oben geschossen waren. Lai fixierte sie wie eine Raubkatze ihre Beute und knirschte mit den Zähnen. Was diese Zirkusclowns konnten, konnte er schon lange! Galeon nahm Schwung und erklomm den steilen Weg über Holzgerüste und provisorische Stangen, die Sonnensegel hielten, zu den Markisen. Der schwarze Beyblade kämpfte auf den dünnen Stoffbahnen sichtlich um sein Gleichgewicht. Von der Menge rund um sie ertönte plötzlich ein erschrockenes Japsen als Galeon strauchelte. Die beiden gegnerischen Beyblades schossen über den Rand der Markisen hinaus. Das war seine Chance! Blut rauschte in Lais Ohren, während er die Hand ausstreckte, um Galeon anzufeuern. „Los, Galeon!“   Der schwarze Blade riss Löcher in die Sonnensegel als er nach vorne schoss. Lai verbiss sich einen Fluch. Ihm wurde die Brust eng beim Gedanken daran, dass er sich vor so vielen Menschen blamierte wie ein blutiger Anfänger. Doch er konnte es noch retten, sobald seine Gegner den Boden berührten. Lai leckte sich über die trockenen Lippen und fixierte die beiden Blades mit dem Blick eines Raubtiers, das auf den richtigen Moment lauert. Ihre Gegner hielten inne und standen plötzlich still, was unweigerlich Lais Aufmerksamkeit auf sich zog. Er beobachtete mit einer Mischung aus widerwilliger Faszination und Empörung, wie die beiden einander zunickten und die junge Frau sich nach vorne beugte, damit ihr Partner auf ihre Schultern steigen konnte. Sie hielten die Hebefigur, während das Publikum ihnen zujubelte und ihre Beyblades durch die Luft flogen. Sie schienen förmlich zu fliegen und umkreisten einander wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen. Sie verkeilten sich ineinander, so stark, dass Funken stoben. Das kreischende Geräusch von Metall auf Metall hinterließ ein Klingeln in Lais Ohren und eine Gänsehaut auf seinen Armen. „Was machen die da?“, knurrte Lai, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte und beobachtete, wie die Blades sich gegeneinander bewegten. Sie schienen nicht Schwung zu verlieren, wie das in einem normalen Beyblade-Kampf der Fall war, sondern … schneller zu werden? Das konnte nicht richtig sein. Rei schnappte nach Luft; es klang, als realisiere er etwas. „Scheiße, Lai, pass auf!“ Lai runzelte die Stirn, um seine Verunsicherung zu verstecken. „Von Zirkusclowns lasse ich mich nicht kleinkriegen!“, versicherte er seinem Co-Kapitän weitaus selbstsicherer als er sich fühlte, während Galeon endlich, endlich auf dem Boden auftraf. Durch die Beyblades seiner Gegner ging eine Bewegung, geradewegs als hätten sie darauf gewartet.   Da brach die Welt über Lai herein. Der blaue der beiden Beyblades stieß sich plötzlich ab und kollidierte mit einer Kraft mit Galeon, dass es Lai schmerzhaft die Luft aus den Lungen presste. Sein schwarzer Beyblade überschlug sich und kam vor den Füßen eines der Zuschauenden zum Liegen. Lai schnappte hilflos nach Luft, während sein Sichtfeld plötzlich schrumpfte. Er ballte seine Hände zu Fäusten, krampfte sie in den Saum seines Überwurfs. Trotz der Mittagshitze zog sich eine Gänsehaut über seine Arme. „Ich-“, murmelte er, schluckte, befeuchtete die trockenen Lippen mit dem Gefühl von Übelkeit im Mund. „Ich-“ Nicht gut genug, ging es wie ein Zittern durch ihn. Er schluckte Galle hinunter, während er mit dem Instinkt kämpfte, einfach davonzustolpern und sich irgendwo zu verkriechen. Sein Hals war zu eng. Er bekam keine Luft. Lai biss die Zähne zusammen. Seine Augenwinkel brannten. Er hörte dumpf, wie sich Schritte näherten, erkannte ein Paar Sneakers, die sich in sein Sichtfeld schoben. „Ich habe verloren“, presste er hervor. (Nicht gut genug, wisperte eine immer Stimme in seinem Kopf, die gefährlich nach Rei klang.) „Ich-“ Lai wurde schwarz vor Augen. Er registrierte am Rande, wie ihn etwas – jemand; Rei? – auffing, während er mit einem geschlagenen Laut zu Boden sank. Durch das Rauschen in seinen Ohren glaubte er sich selbst ein „Nicht gut“ murmeln zu hören und noch ein paar andere Dinge, die aus seinem Innersten hervorschwappten, doch es fühlte sich weit entfernt an und sein Kopf war wie in Watte gepackt. Stimmen umgaben ihn, zunächst fremde, dann vertraute Laute, die dumpf durcheinanderwirbelten. Lai fühlte eine Hand auf seiner Stirn und eine Stimme, die ihn entfernt an Meister Tao erinnerte, etwas beruhigend Kühles an seinen Schläfen. Er atmete mit einem Schnauben aus und ließ los. Kapitel 4: Der Teufel --------------------- Raul landete den Sprung von Giulias Schultern sicher auf dem Kopfsteinpflaster, wie es ihnen nach jahrelanger Übung ins Blut übergegangen war. Er sah, wie Giulia ihren Beyblade mit einer eleganten Handbewegung einfing und tat es ihr gleich. Euphorie machte seinen Kopf leicht. Sie hatten gewonnen! Ein breites Lächeln saß in seinen Mundwinkeln. Er trat neben Giulia, nahm ihre Hand – eine Gewohnheit aus Kindertagen, die sie wohl nie mehr abschütteln würden – und verneigte sich gemeinsam mit seiner Schwester. Rund um sie brandete Applaus auf, zunächst vereinzelt, dann etwas lauter. Raul sah aus den Augenwinkeln, wie ein paar der Leute ein paar klimpernde Münzen und Fünfeuroscheine in die kleine Box warfen, mit der Romero die Runde machte. Sie beide atmeten schwer; er wusste, dass Giulia es nicht zugeben würde, doch der Kampf war anstrengender gewesen als gedacht. Immerhin war Rei einer der größten Rivalen des amtierenden Weltmeisters-   ¡Coño!   Raul fiel das Lächeln aus den Mundwinkeln, als ihm klar wurde, dass sie mit ihrem Kampf gegen einen Großteil der Regeln verstoßen hatten, die die World Beyblade Battle Association vorgab. Sein Blick fiel auf seine Schwester, die ungerührt in die Menge winkte. Ein zufriedenes Lächeln blitzte unter ihrer Maske hervor. Die vielen bunten Lagen Stoff seines Kostüms zogen plötzlich mit grausamer Gewalt an Rauls Schultern. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, irgendwas,-   Dann passierte plötzlich ganz viel auf einmal. Der Blader aus dem chinesischen Team, der Giulia provoziert hatte, sackte in sich zusammen. Raul beobachtete in einer Schockstarre, wie Rei seinen Teamkameraden auffing und hinter einer dichter werdende Wand aus Schaulustigen verschwand. Jemand gab einen erschrockenen Laut von sich; Raul erkannte ihn erst im zweiten Moment als seinen eigenen. Er wurde von einer Person angerempelt, die nach vorne lief, und stolperte in dieselbe Richtung. Er erhaschte einen weiteren Blick auf Rei und seinen Teampartner, bevor sich Schultern in sein Blickfeld schoben und die beiden hinter den Rücken der Schaulustigen verschwanden. Rundum wurde aufgeregtes Gemurmel laut. Die Umstehenden riefen durcheinander, auf Chinesisch, Englisch, Französisch, Spanisch. Jemand telefonierte in erschrecktem Staccato. Raul schwirrte der Kopf. Er wollte den Mund öffnen, etwas sagen, sich einen Weg nach vorne bahnen, um zu helfen. Er wollte- Jemand rammte ihm unangebracht brutal einen Gehstock gegen das Schienbein und riss ihn aus seinen sich überschlagenden Gedanken. Raul unterdrückte einen Fluch und starrte in das zahnlose Lächeln eines runzligen alten Mannes, das seltsam schelmisch wirkte. Er kramte in einer Tasche, beförderte ein dunkles Fläschchen zutage, das verdächtig nach Alkohol aussah, und kippte es in einem Schluck. Raul musste starren, denn der Alte blinzelte ihm verschwörerisch zu und legte einen Finger an die Lippen. Der Alte schüttelte dann den Kopf und machte eine Handbewegung als wolle er ihn verscheuchen. Dann zog er ein zweites Fläschchen aus seiner Tasche, träufelte etwas davon auf ein Taschentuch und setzte seinen Weg – freigemacht mithilfe brutaler Hiebe mit dem Gehstock, der wohl mehr Requisite als Notwendigkeit war – fort. Raul blinzelte irritiert. In der Lücke, die in der Menge frei wurde, sah der Spanier den Weltmeister höchstpersönlich neben Rei und dem Bewusstlosen in die Hocke gehen. Takao Kinomiya reichte dem Teamleader von Baihuzu den schwarzen Beyblade, den er aufgehoben hatte. Sie wechselten ein paar Worte – zumindest vermutete mit einer Geste, die seltsam angespannt wirkte. Rei nickte, einen harten Zug um den Mund. Der alte Mann trat hinzu, und Raul erinnerte sich plötzlich daran, weshalb er ihm so bekannt vorgekommen war: Er begleitete das Team als … Coach? Der Alte sagte etwas, was den Weltmeister dazu brachte, stammelnd Platz zu machen. Zugleich scharte sich der Rest von Team Baihuzu um die drei wie ein Kokon. Raul erhaschte noch einen Blick in Richtung der einzigen Frau im Team, die ihn feindselig anfunkelte.   „Was ist da los?“ Giulia war plötzlich hinter ihm. Raul schrak zusammen und stolperte nach hinten, gegen ihre Brust. Giulias lange, starke Finger bohrten sich in seine Schultern, fingen seinen all auf und erdeten ihn. Raul schüttelte benommen den Kopf. „Ich weiß es nicht“, brachte er hervor, ehe er sich benommen aufrichtete, das Echo von Julias Fingernägeln noch unter der Haut. „Wir müssen hier weg“ Er fasste entschlossen nach ihrem Handgelenk und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Giulia stolperte die ersten Schritte, ehe sie ihre Stiefel in den Boden stemmte und ihm ihr Handgelenk entriss. Er sah ihr förmlich an, wie sie auf stur stellte; er erkannte es an ihren halb von der Maske verdeckten, flatternden Nasenflügeln. „Was soll das?“, zischte sie aufgebracht. Raul biss sich auf die Wange, warf einen hastigen Blick über die Schulter, doch niemand schien ihnen weiter Acht zu geben – zumindest nicht wenn sie nicht lauter wurden. „Wir müssen hier weg“, erklärte er erneut, versuchte mehr Nachdruck in seine Stimme zu legen. Giulia verschränkte die Arme vor der Brust. „Wozu?“, fragte sie provokant, lauter als zuvor. „Spinnst du? Wir haben den Platz noch für eine Stunde, hermano, und gutes Geld dafür gezahlt hier aufzutreten. Weißt du, wie viel Geld wir machen, weil wir gerade gewonnen haben?“ Raul wollte schreien, sich die Haare raufen, sich auf den Boden werfen wie ein Fünfjähriger. Er atmete tief ein, hielt die Luft für einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig an, atmete aus. Er hielt seine Stimme bewusst ruhig, während er sprach. „Giulia, bitte“, beschwor er seine Schwester erneut. „Das nützt uns alles nichts, wenn wir deswegen aus der Weltmeisterschaft fliegen!“ Raul war sich nicht sicher, ob das, was er sagte, bei seiner Zwillingsschwester ankam. Für die Angesprochene schien die Diskussion jedenfalls beendet zu sein, denn sie machte einen Schritt in Richtung ihrer Ausrüstung. Raul blinzelte verdutzt als sie Anstalten machte, ihr Programm fortzusetzen. Raul biss sich auf die Innenseite seiner Wange und sah resigniert zu Romero, der ihm nur zunickte. Der Blonde war in ein paar Schritten bei ihnen und umfasste Giulias Arm in einer bestimmten Geste. „Komm, Giulietta“, sprach er die Brünette mit dem Kosenamen an, der sie schon als sture Vierjährige dazu gebracht hatte zu tun was er wollte. Raul beobachtete fasziniert, wie die Angesprochene sich nach einem letzten sturen Blick in Richtung der Menschentraube rund um ihre Gegner abwandte. Sie murmelte undeutlich etwas von „Verlustgeschäft“ während sie schnaubend zum Rollkoffer stolzierte, in dem sie ihre Requisiten transportierten. Raul tauschte einen Blick mit ihrem Coach, der nur mit den Schultern zuckte. Giulia blickte über die Schulter hinweg ungeduldig zu ihnen beiden, die Hand in die Hüfte gestemmt. „Was ist?“, blaffte sie. „Kommt schon!“ Romero steckte die Hände in die Hosentaschen und machte sich auf den Weg. Raul blickte noch einmal mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zurück auf die Menschenmenge, hinter der ihre Gegner verborgen waren, ehe er hastigen Schrittes den Weg zur U-Bahn-Station zwei Straßen weiter einschlug und zu Giulia und Romero aufschloss.   Giulias Schweigen hielt an, während sie von einer U-Bahn-Linie in die andere wechselten und sich schließlich in einen überfüllten, stickigen Bus zwängten, der sie in Richtung Stadtrand brachte. Sie behandelte ihn wie Luft, verbrachte die Fahrt stattdessen damit, betont unbeteiligt aus dem Fenster zu sehen oder sich in ihr Handy zu vertiefen. Sie sprach normal mit Romero. Raul fühlte einen verletzten Stich, als sie mit ihm scherzte und lachte als sei ihr Zwillingsbruder Luft. Raul gab irgendwo zwischen dem dritten U-Bahn-Stopp und der Bushaltestelle, von der aus sie die letzten Meter laufen mussten, auf. Verletzt vermied er es, Giulia anzusehen, senkte den Kopf und hielt seine Hände beschäftigt, indem er mit seiner Maske hantierte.   Sie erreichten den Kostümwagen, Raul gebückt, Giulia mit kantigen Bewegungen, die klar zeigten, wie sehr sie sich beherrschen musste. Kaum fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss, bot ihnen den Anschein von Privatsphäre, explodierte Giulia. „Was fällt dir ein?!“ Sie machte einen Schritt nach vorne und war ihm so nahe, dass er ihren Atem auf dem Gesicht fühlte. Raul trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen eine Kiste, stolperte in die Kostüme, die dicht an dicht auf der Garderobenstange an der Wand hingen, die die gesamte Querseite des Wagens einnahm. Ein Kleiderhaken bohrte sich in sein Schulterblatt, Tüll kratzte an seinem nackten Unterarm und raschelte ihm ins Ohr als als er die Hände hob. „Giulia, bitte, ich-“, versuchte er sie zu beruhigen, doch ohne Erfolg. „Nichts“, unterbrach ihn Giulia scharf. Ihr Zeigefinger bohrte sich schmerzhaft in sein Brustbein. „Ich will nichts hören, klar?“ Raul schluckte. „Aber es gibt einen-“, versuchte er erneut, doch Giulias feuriger Blick ließ ihm die Worte in der Kehle steckenbleiben. „Es gibt einen guten Grund, Giulia“, äffte Giulia ihn höhnisch nach, wobei sie bei jedem Wort ihren Zeigefinger in seine Brust rammte. Sie schnaubte ungehalten. „Mir ist es scheißegal – hörst du?“, schäumte sie. „Scheiß-egal, was für einen guten Grund du dieses Mal wieder gefunden hast. Deine Aktion hat uns verdammt viel Geld gekostet, und es ist deine Schuld!“ Raul wollte erwidern, dass es nicht seine Schuld war, sondern ihre, dass er nicht derjenige gewesen war, der außerhalb des Tourniert einen ihrer Kontrahenten zum Match herausgefordert hatte, dass er niemals- Er presste die Lippen fest zusammen, starrte angestrengt auf die gegenüberliegende Wand, an der unter dem kleinen Fenster des Wohnwagens die Nähstation aufgebaut war. Seine Hand fand den Fetzen von Giulias Kostüm in seiner Hosentasche, schloss sich zur Faust darum, während Giulia sich ihren bunten Umhang über dne Kopf zerrte und achtlos zu Boden pfefferte, gemeinsam mit ihrer Maske.   Die Tür schlug hinter ihr zu, als sie ohne weiteres Wort hinausrauschte. Raul schloss die Augen und gab dem Impuls nach, sich nach hinten fallen zu lassen, hinein in die Kostüme, hinter denen er als Kind nach der Tür in eine vergessene Welt gesucht hatte. Die Stoffbahnen fingen ihn in einer bunten Umarmung aus weichem Stoff und harten Knöpfen und klimpernden Behängen auf. Er ließ sich schwer gegen die Wand dahinter sinken, das kalte Aluminium der Kleiderstange im Nacken, die Fäuste gegen die Wand hinter sich gepresst. Raul blinzelte angestrengt gegen das Brennen in seinen Augenwinkeln an. Die Wand wich nicht, um ihn in eine fantastische Welt einzlassen, genauso wie sie in Kindertagen nie gewichen war.   Er wusste nicht, wie lange er so verharrte, an die Wand gelehnt und umgeben von Stoffbahnen, ehe er sich dazu aufraffte, sich der Welt zu stellen – aber einen Schritt nach dem anderen. Er bückte sich nach Giulias Maske und hängte sie gemeinsam mit seiner an den dafür vorgesehenen Haken. Dann kämpfte er sich aus seinem Umhang wie dem Show-Outfit, das sie für ihre Auftritte im Zuge der Beyblade-Weltmeisterschaft ausgewählt hatten, um in ein weitaus bequemeres Trikot mit dem ausgeblichenen Logo ihres Zirkusses und Jogginghosen anzuziehen. Er sah Giulias Umhang lange an, ehe er sich schließlich mit einem tiefen Seufzen danach bückte. Er betätigte einen Lichtschalter und ließ sich auf den Hocker vor der Nähmaschine sinken.   Er nähte, bis ihm die Augen tränten, zuerst Giulias Umhang, dann das Kostüm für Romero, womit er ihn zum Geburtstag überraschen wollte. Die Stickerei, mit der er die Ärmel und den Kragen des Hemdes verzierte, war detailliert und perfekt dazu geeignet, sich abzulenken. Er schreckte auf, als die Tür sich plötzlich öffnete und Romero den Kopf hereinstreckte. „Raul?“ Raul drehte sich hastig um, um seine Arbeit hinter seinem Rücken zu verstecken. „Was ist?“, blaffte er irritiert. Er stand hastig auf, um die wenigen Schritte zur Tür zurückzulegen. Er trat nach draußen, auf die Stufe, mit der man in den Wohnwagen gelangte, und schloss die Tür hinter sich, um sich dann dagegenzulehnen – eine Vorsichtsmaßnahme, um Romero daran zu hindern, in den Wohnwagen zu platzen und die Überraschung zunichte zu machen. „Was willst du?“, wollte er dann mürrischer als notwendig wissen. Romero sah ihn auf eine Art an, die normalerweise für Giulia reserviert war – es war eine Mischung aus Unwillen und Resignation, die er trug, seit sie als Teenager galten. „Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist“, erklärte er. Raul zuckte mit den Schultern, ehe er sie sinken ließ. „Schau doch nach Giulia“, gab er beleidigt zurück und ärgerte sich zugleich darüber, dass er ich so kindisch verhielt. Er war der vernünftigere, erwachsenere der Fernandez-Zwillinge, verdammt! „Wie ich Giulietta kenne, muss sie sich noch ein wenig abreagieren, bevor ich mit ihr reden kann“, wandte Romero ein und schmunzelte im nächsten Moment, als wäre ihm ein erfreulicher Gedanke gekommen. „Wie ich sie kenne, verausgabt sie sich auf dem Schwebebalken oder hat einen Hindernisparcours quer durch die Manege gebaut“, vermutete er mit einem leisen Lachen. Raul verdrehte die Augen. Romero fuhr ungerührt fort:  „Außerdem bin ich jetzt erst mal hier bei dir. Willst du mich aufklären, was das Problem an dem kleinen Schaukampf war? Wir haben ziemlich gutes Trinkgeld bekommen, weißt du.“ „¡Coño!“, entfuhr es Raul. Er starrte ihren Coach ungläubig an. Hatte Romero wirklich nicht verstanden, wo das Problem lag? „Hast du eine Ahnung, wie wahrscheinlich es ist, dass wir wegen der Aktion disqualifiziert werden? Die WBBA hat ziemlich klare Regeln, was Kämpfe außerhalb der Arena angeht, und wir haben uns quasi einen Straßenkampf mit unseren nächsten Gegnern geliefert!“ Romero sah ihn an, als würden ihm Tomaten von den Augen fallen. „Das waren unsere nächsten Gegner?“, fragte er nach. Als Raul nickte, schüttelte er den Kopf. „Und da dachte ich, es wären nur irgendwelche Touristen im Cosplay,“ Romero seufzte. „Das ist ganz schön ein Problem.“ Raul nickte mit Nachdruck. „Sag ich doch.“ Romero seufzte erneut. Er blickte versonnen in die Ferne, ehe er wieder auf Raul fixierte. „Ich glaube, Giulia auch. Ich rede mal mit ihr.“ Raul sah Romeros Rücken zu, wie er ins Zelt schlüpfte, und schüttelte den Kopf, ehe er ihn gegen die geschlossene Tür des Wohnwagens lehnte.     Es war viel, viel später, dass Raul sich im Dunkeln ins Zimmer tastete. Er hörte seine Schwester in ihrer Ecke ihres Wohnwagens mit ihrer Decke rascheln, während er sich im Licht seiner Nachttischlampe umzog und sich mit einem kaum unterdrückten Seufzen auf sein Bett warf. Er war sich nicht sicher, ob Giulia schlief oder nur dalag, während er sich reckte und sein Licht ausschaltete. Er blieb auf dem Rücken liegen, die Glieder von sich gestreckt, und blickte zu den verblassenden Klebesterne an der Decke des Wohnwagens als Giulia sich leise zu Wort meldete. „Ich hab‘ heute den Teufel gezogen.“ Er brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie sich auf die Tarotkarten bezog, die Giulia täglich zog. Raul blinzelte angestrengt gen Decke. „Der Teufel klingt nicht gut“, gab er zurück. Im Gegensatz zu seiner Schwester hatte er sich nie für die hohe Kunst des Kartenlesens interessiert. Er hörte förmlich, wie Giulia die Augen verdrehte. „Ich hab‘ mich hinreißen lassen“, gab sie schließlich sehr, sehr leise zu und klang nur eine Spur ungeduldig. „Ich hab‘ die Möglichkeit gesehen, unsere Finanzen aufzubessern und nicht weiter nachgedacht, wen wir da vor uns stehen haben.“ „Die pinken Haare hätten uns echt was sagen können“, bemerkte er trocken. „Oder dass sie alle asiatisch ausgesehen haben.“ „Oder die Namen der Blades“, zählte Giulia auf. Es herrschte Schweigen zwischen ihnen, ehe Giulia kicherte und damit den Bann brach. Raul gluckste. Das plötzliche Licht von Giulias Nachttischlampe, das sie anschaltete, ließ Raul blinzeln. Er richtete sich auf, um Giulia anzusehen. Sie blickte ihn ernst an. „Denkst du, sie disqualifizieren uns nicht, wenn ich der chica anbiete, ihr die Haare zu machen? Das Pink sieht aus der Distanz echt besser aus als es ist.“ Die Vorstellung war so absurd, dass Raul lachte, bis ihm der Bauch wehtat.   Später, als sie wieder im Dunkeln lagen und dem Atem des jeweils anderen lauschten, sprach Raul noch einmal. „Glaubst du, sie werden uns disqualifizieren?“, fragte er leise und gab dem steten Sprudeln seiner kreisenden Gedanken über seine Lippen nach. „Dann müssten sie ja die anderen auch disqualifizieren, sie haben schließlich auch gekämpft, und das ist doch nicht das Ziel, oder? Was, wenn wir es nicht schaffen? Dann haben wir so viel Geld ausgegeben, ohne etwas für den Zirkus zu tun. Das können wir doch nicht machen, das ist so eine Verschwendung … und was, wenn wir fast ins Finale kommen, aber knapp am Preisgeld vorbeischrammen? Wie sollen wir den anderen da noch ins Gesicht seh-“ Er hörte ein erneutes Rascheln, den dumpfen Schlag wie ihn nur eine flache Hand auf ein Kissen machen konnte und fühlte den Blick seiner Schwester auf sich, die ihn quer durch den kleinen Raum anstarrte. „Haben wir unsere Masken abgenommen?“, fragte sie. Raul stockte. „Was-?“ „Haben wir unsere Masken abgenommen?“, wiederholte Giulia mit Nachdruck, als wolle sie auf etwas hinein. Raul schwieg, dachte nach. „Ich glaube nicht“, sagte er dann. „Dann weiß niemand, dass wir es waren“, erklärte Giulia simpel. Raul fühlte ein Gewicht von seiner Brust weichen, das er nicht bewusst wahrgenommen hatte. „… wirklich?“, fragte er. Giulias Hälfte des Wohnwagens raschelte als würde sie sich aufsetzen. Als Raul den Kopf wandte, konnte er sie im Zwielicht des einfallenden Mondlichts schelmisch lächeln sehen. „Wir haben sogar einen ziemlichen Vorteil damit“, überlegte sie. „… will ich wissen, was du gerade zusammenspinnst?“, murmelte Raul mehr zu sich und unterdrückte ein Gähnen. „Ich stelle mich nur meinen dunklen Seiten.“, erklärte Giulia mysteriös. Raul konnte förmlich fühlen, wie es in ihrem Oberstübchen ratterte. Er ahnte übles. „Giulia, was hast du vor?“ „Schlaf“, befahl Giulia statt einer Antwort mit fester Stimme und sagte dann nichts mehr. Raul schloss den Mund, dämmte den Wortschwall ein, dass er zur Quelle zurückstaute. Er fühlte ein aufgeregtes Kribbeln unter seiner Haut, wie vor einem Auftritt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)