Der lange Fall von Coronet ================================================================================ Kapitel 1: Ein welkes Blatt ---------------------------   1. Teil – Ein welkes Blatt   Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.   ***   Regen fiel in einem scheinbar endlosen Strom vom Himmel. Dunkel presste sich die nahende Nacht an die Fenster der Präsidentenvilla, nur vereinzelt von grellen Blitzen erleuchtet. Heute markierte den 72. Tag seit Beginn des Aufstands. Seit dem Ende des Jubeljubiläums. Seit die Aufständischen Panem ins Chaos gestürzt hatten. Und irgendwo tief in Coriolanus Snow sagte eine zarte Stimme ihm, dass er all das hätte verhindern können. Stattdessen terrorisierten die Aufständischen nun auch die Straßen des Kapitols wie ihm neueste Berichte aus den äußeren Bezirken zeigten. Sie kannten die verborgenen Fallen und nahmen sie zielsicher ins Visier. Coriolanus war lange genug Präsident um die Handschrift seines verräterischen, ehemaligen obersten Spielemachers zu kennen. Er hätte den Aufstand verhindern können, da gab er der Stimme in seinem Inneren recht. Sein Fehler war es gewesen Plutarch Heavensbee zu weit zu vertrauen. Grundsätzlich hatte er seine Lektion über Vertrauen gelernt gehabt, lange bevor er Präsident geworden war. Sejanus hatte ihm die Augen geöffnet. Und doch hatte er Heavensbee zu viel Freiraum dabei gelassen das Jubeljubiläum zu einem Mahnmal der Geschichte zu gestalten. Wäre ihm dieser Fehler nicht unterlaufen, dann, so war er sich sicher, wäre Katniss Everdeen und mit ihr die Rebellion in der Arena gestorben. Distrikt dreizehn war auf einen Insider angewiesen gewesen um die Arena in ihrem Sinne zu manipulieren. Doch Coriolanus war blind gewesen. Er war so davon besessen gewesen den Distrikten eine Lektion zu erteilen, indem er ihnen ihre Helden nahm, dass er vergessen hatte, dass die mächtigsten Feinde immer noch diejenigen waren die einem am nächsten standen. Seinen Ministern gegenüber würde er dies freilich nicht zugeben, doch sich selbst gegenüber musste er ehrlich sein. Wenn er diesen Krieg beenden wollte, dann konnte er sich nicht selber belügen. Und dieser Krieg musste beendet werden. Wenn nicht, dann würde das Land, dass er so sorgsam aufgebaut hatte unter seinen Händen zerfallen, bis nichts als Asche übrig blieb. Vielleicht mochten die Aufständischen den Grund für seine harte Hand über Panem nicht erkennen, doch er wusste nur zu gut, dass er die Menschen vor sich selber bewahren musste. Sie waren die letzten einer langen Geschichte aus Leid und Krieg. 75 Jahre Frieden hatten sie dank der Hungerspiele gehabt. Die Aufständischen mussten nur endlich verstehen, dass ihr brutaler Krieg sie am Ende mehr kosten würde, als ihnen vermeintliche Freiheit bringen würde. Seufzend erhob er sich von seinem Schreibtisch. In seinem Alter schmerzten ihm die Knochen immer mehr, auch wenn er sich das nicht anmerken ließ. Selbst ihre weit fortgeschrittene Medizin konnte nicht alles heilen. Gegen die drängendsten körperlichen Gebrechen gab es aber Tabletten und so eine nahm er jetzt ein. Dann trat er vor den kleinen, sorgfältig gestutzten Bonsai, der auf der Fensterbank stand. Das kleine Bäumchen war einst ein Geschenk gewesen an dem Tag als Coriolanus zum Präsidenten gewählt worden war. Seitdem hatte er sich liebevoll seiner Pflege verschrieben. Seine Rosen liebte er, doch dieser Bonsai war anders – persönlicher. Wie seine Präsidentschaft war er, dank seiner Achtsamkeit, über die Jahre gediehen. Mit einer kleinen Gartenschere schnitt er bedächtig einige kleinere Triebe ab, die an unerwünschten Stellen sprießten. Es war eine fast schon meditative Tätigkeit, die ihn zumindest für den Moment die drängenden Probleme seines Landes vergessen ließen. Sehr zu seinem Missfallen registrierte er, dass ein einzelnes welkes Blatt auf der Erde um das Bäumchen lag. Diese Erinnerung an den Herbst, der vor seinem Fenster tobte, entfernte er schnell. Er entdeckte einige weitere Blätter die sich bereits gelblich verfärbten - auch diese fielen der Schere zum Opfer, bis der Bonsai wieder in voller Pracht erstrahlte. Befriedigt strich er über die kleine Baumkrone. Mit Panem gedachte er genau das gleiche zu tun, die unerwünschten Triebe zu beschneiden bis sie wieder in voller Pracht erstrahlen konnten. Jetzt, wo er sich einen Moment des Durchatmens erlaubt hatte, konnte er sich wieder dem Krieg in seinem Land zuwenden. Er rief seine Innenministerin herein, die er zu diesem Zeitpunkt bereits fünfzehn Minuten im Flur hatte warten lassen. Egeria, eine hochgewachsene Frau mit dunklem Teint und markanten Gesichtszügen, war schon länger in seinen inneren Kreis aufgestiegen. Ihre Rolle als Innenministerin verdankte sie insbesondere ihrer besonnen und direkten Art, aber nicht zuletzt auch der Tatsache, dass sie äußerst selten Alleingänge unternahm. Coriolanus hatte sie sorgfältig ausgesucht um für die Öffentlichkeit die Rolle der Innenministerin zu übernehmen und doch nahe genug an seiner Seite zu sein um die Kontrolle zu behalten. Natürlich war sie keine Anfängerin in politischen Ränkespielen, andernfalls hätte sie es nie soweit gebracht. Doch anders als manch einer ihrer Vorgänger hatte sie es nie gewagt gegen ihn zu integrieren. Nun kam sie straffen Schrittes in sein Büro marschiert, ein Tablet unter den Arm geklemmt. Sie hielt sich nicht lange mit Grußformeln auf, dafür war der Krieg längst zu dringlich geworden. „Sir, wir haben Berichte erhalten wonach in Sektor 17 heute Nachmittag eine Demonstration stattgefunden hat.“ Die Ministerin überreichte ihm das Tablet, wobei Coriolanus nicht entging, dass es in ihren Händen zitterte. „Die Bürger haben für ein Ende des Krieges demonstriert. Aufgrund der Rebellenaktivitäten in Sektor 19 hatten wir nur verminderte Friedenswächter vor Ort um die Lage in den Griff zu bekommen.“ Sie versuchte eindeutig ihre Nervosität zu verbergen, denn ihre Unterlippe zitterte kaum merklich als sie weiter sprach. „Wir haben dennoch eine Gruppe von sechs Demonstranten unmittelbar festsetzen können, die sich der Anweisung den Ort unverzüglich zu verlassen widersetzt haben. Sie sind in den Zellblock in Sektor 17 verbracht worden. Was gedenken sie mit ihnen zu tun, Sir?“ Nachdenklich betrachtete er die Aufnahmen des Aufstands auf dem Tablet. Egeria indessen stand aufrecht wartend vor ihm, die Hände verschränkt, doch jede Pore ihres Körpers schien Furcht auszustrahlen. Mit einem Blick erkannte er, was ihre Sorge entfachte. Die Aufnahmen der Festgenommenen zeigten ihm die Gesichter einiger hochrangiger Bewohner des Kapitols. Leute mit Geld und Einfluss, oder aber ihre Kinder. Manche von ihnen standen bereits auf der Liste derer denen er nicht vertraute, doch andere überraschten ihn. Unter den Aufnahmen waren auch Szenen des Aufstands die eine Gruppe von vielleicht hundert Menschen zeigte, aufgezeichnet von einer Überwachungskamera. Sie hielten Schilder hoch auf denen er Forderungen nach Frieden und einem Abkommen mit den Distrikten las. Anscheinend hatten nicht nur die aufständischen Distrikte vergessen warum es die Hungerspiele geben musste. In der Menge der bunt gekleideten Demonstranten konnte er einige weitere mehr oder minder bekannte Gesichter ausmachen. Das und eine schmale Gestalt in einem grotesken Fellmantel, das Gesicht kaum mehr menschlich. Schnurrhaare und Tigerstreifen verbargen Tigris Menschlichkeit erstaunlich gut. Coriolanus spürte wie sein Mund trocken wurde. Mit einer Beiläufigkeit, die man sich nur mit jahrelanger Erfahrung antrainieren kann, schaute er weiter die Galerie an um sich jedes einzelne Gesicht gut einzuprägen. Diejenigen, die schlau genug waren, hatten sich jedoch maskiert, um nicht erkannt zu werden. Schließlich legte er das Tablet ruhig vor sich ab. Er faltete seine Hände mit ruhigen Bewegungen, ein einstudiertes Muster, dass keine seiner inneren Regungen nach außen zeigte. Als er seinen Blick Egeria zuwandte hatte er sich bereits wieder gefangen. „Vielen Dank für die Nachrichten, meine liebe Egeria“, sagte er ruhig, „Das ist natürlich eine Entwicklung die unserer höchsten Aufmerksamkeit bedarf. Wir sollten nicht vorschnell handeln wenn es um das Schicksal dieser Aufwiegler geht. Ihre Strafe muss wohl ausgesucht sein, damit sich so etwas nicht wiederholt.“ Er blickte die Innenministerin an. „Was schwebt Ihnen vor?“ Egeria atmete einmal durch und straffte sich dann. „In Anbetracht der Tatsache, dass die Kinder einflussreicher Geldgeber darunter sind würde ich eine längere Haftstrafe vorschlagen. Nicht nur jene die bei der Demonstration aufgegriffen wurden, sondern auch ihre engere Familie. Wenn wir sie unter unserer Beobachtung halten dürfte sich herausfinden lassen wie sehr sie wirklich mit den Rebellen sympathisieren, oder ob sie sich doch nur Frieden wünschen wie wir alle. Dem Volk gegenüber sollten wir natürlich auch die Demonstration auf das schärfste verurteilen. Wir sollten ihnen in Erinnerung rufen, dass wir alles für den Frieden tun, aber wir zu unserer aller Sicherheit den Reb-“, an dieser Stelle räusperte sie sich kurz, „den Aufständischen die Stirn bieten müssen.“ Mit diesen Worten schloss sie und sah Coriolanus wieder abwartend an. Dieser lächelte seiner Ministerin anerkennend zu. Sie hatte gut gelernt. „Dann bin ich geneigt ihrem Vorschlag statt zu geben. Behalten sie die Personen unter strenger Beobachtung. Ich denke eine Haftstrafe von vier Wochen sollte ihnen genug Zeit geben zu überdenken was das Kapitol alles für sie getan hat.“ „Natürlich, Sir.“ Egeria sammelte das Tablet ein und verließ das Arbeitszimmer. Coriolanus lehnte sich zurück, für einen Moment in die Leere blickend. Der Anblick von Tigris auf den Bildern hatte ein altes Gefühl in ihm geweckt. Selbst jetzt, wo sie längst nicht mehr unter dem Namen Snow lebte, hielten die Familienbande sie noch verbunden. Sie hatten sich voneinander entfernt und dennoch rief ihr Anblick Erinnerungen an längst vergangene Zeiten wach. An einen Krieg wie diesen, den sie nur gemeinsam hatten überleben können. Er wusste nicht welche Rolle sie bei der Demonstration gespielt hatte und wie ernst die Lage war, doch er konnte es herausfinden. Es war eine Kurzschlussentscheidung, die er später vielleicht bereuen würde, doch da hatte er schon nach seinem Telefon gegriffen und wies den Sekretär an den Wagen zu holen. Er würde einen kleinen Ausflug machen. Die kleine Straße in der Tigris Geschäft lag war ungewöhnlich ruhig an diesem verregneten Abend. Seitdem die Soldaten aus Dreizehn immer weiter vorrückten blieben die meisten Stadtbewohner lieber in der Sicherheit ihrer eigenen vier Wände. Die regennasse Straße weckte weitere Erinnerungen an den letzten Krieg in Coriolanus, die er am liebsten längst vergessen hätte. Kalt starrende Augen schienen ihn zu verfolgen als er den Wagen an der Straßenecke verließ um die letzten Schritte zu Fuß zurückzulegen. Seinem Fahrer trug er auf dort zu warten, während er den Kragen seines dunklen Mantels gegen die Kälte hochschlug. Der Herbst neigte sich wahrlich um in den Winter überzugehen. In dem Bemühen sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen ging er gemessenen Schrittes durch die menschenleere Straße. Irgendwo im näheren Umkreis wartete seine Leibgarde verborgen auf ihren Einsatz, doch er fühlte sich eigenartig einsam. Vor der in die Jahre gekommenen Ladenfront hielt er inne. Schaufensterpuppen mit absonderlicher Fellwäsche drängten sich in dem engen Laden. Wie tief sie doch nur gefallen war. Er drückte die Tür auf. Ein kleines Klingeln kündigte ihn an, ehe sich wieder Stille über das Geschäft senkte. Entfernt konnte er ein Scharren hören, dann wurde ein Rollständer voller Pelze zur Seite geschoben und das katzenhafte Gesicht von den Bildern tauchte auf. Ihr persönlich gegenüber zu stehen war anders als Coriolanus es erwartet hätte. Sein ganzes Leben lang hatte er Tigris gekannt, doch jetzt war von dem einfachen Mädchen endgültig nichts mehr übrig. Schon bei ihrem letzten Treffen vor mehr als zehn Jahren war seine Cousine kaum mehr sie selbst gewesen, doch offensichtlich hatte ihr Schönheitswahn nicht aufgehört. Mit Abscheu erkannte er einen gestreiften Tigerschwanz, der bei seinem Anblick heftig zuckte. Das war neu. „Was willst du hier?“, zischte Tigris ihm entgegen wie eine wütende Katze. Er schenkte ihr ein selten gewordenes Lächeln, aber es kam längst nicht mehr von Herzen. „Meine liebe Cousine. Es betrübt mich dich so zu sehen…“ „Gut, dann kannst du ja wieder gehen“, fiel sie ihm harsch ins Wort, „denn du bist hier nicht willkommen!“ Er seufzte und senkte seinen Blick gen Boden, wohl wissend, dass er sie so beeinflussen konnte. Auch wenn der kleine Junge den sie beschützt hatte längst nicht mehr war, war es ihr immer schwer gefallen ihn als der zu erkennen, der er wirklich war. Das konnte er sich zunutze machen. Und tatsächlich, Tigris blieb unsicher stehen, ihren wachsamen Blick auf ihn geheftet. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Was hast du zu sagen?“, fragte sie. „Nun, ist das nicht offensichtlich?“, stellte er ihr eine Gegenfrage. „Unser Land steht in Flammen, das hat Erinnerungen und Sorge in mir geweckt. Trotz allem, was einst vorgefallen ist, bist du Teil der Familie.“ Er schwieg einen Moment, ehe er für mehr Wirkung hinzusetzte: „Die Einzige, die noch am Leben ist.“ Der Satz verfehlte seine Wirkung nicht. In ihren Katzenaugen sah er die Erinnerung an den letzten Krieg und ihre gemeinsame Kindheit aufflackern, als wäre es erst gestern gewesen. Doch dann riss sie sich aus ihrer Erstarrung und schlug, mit erstaunlich viel Kraft für ihren schmalen Körper, zu. Coriolanus Wange brannte und für einen Moment betäubte der ungewohnte Schmerz seine Sinne. „Spiel nicht mit mir!“, spie Tigris mit all ihrem gebündelten Hass aus. Anscheinend schien sie endlich erkannt zu haben, dass er nicht mehr der kleine Junge von einst war. Ihre Hand, die sie immer noch ausgestreckt hielt zitterte und sie zog sie hastig zurück, bevor er danach greifen konnte. Doch ihr Kinn hatte sie immer noch hoch erhoben. „Du vergisst, dass ich auch nicht mehr dieselbe bin.“ Seufzend rieb er sich die Wange, durch die der Schmerz echote. Ein metallischer Geschmack erfüllte seinen Mund. Irgendeine alte Wunde musste sich durch die Ohrfeige geöffnet haben. Also musste er in Bezug auf Tigris seine Strategie anpassen. „Vermutlich habe ich mindestens das verdient“, gab er scheinbar reumütig zu. Vorsichtig betupfte er mit seinem Einstecktuch den Mund, darauf bedacht, dass Tigris scheinbar zufällig das frische Blut auf dem schneeweißen Leinen sah. Wie er erwartet hatte schreckte sie zurück, offensichtlich glaubend, dass ihre Ohrfeige allein für das Blut verantwortlich war. Sie war schon immer zartbesaitet gewesen. „Dann will ich ehrlich zu dir sein“, fuhr er fort, „ich bin hergekommen um dich zu warnen.“ „Dann haben dich die Aufnahmen der Demonstration also erreicht“, stellte Tigris befriedigt fest. „Gut. Ich will, dass du weißt, wie wir, dein Volk, wirklich denken.“ Sie hielt ihm die Hände hin, also wolle sie, dass er sie festnahm. „Du kannst meinen Kopf haben, aber du kannst dir sicher sein, dass das nur der Anfang ist. Wenn du schlau bist, dann rennst du. Dein eigenes Volk wird bald weniger Gnade haben als die Rebellen. Wir alle haben Finnick zugehört, vom niedersten Avox bis hin zu deinen Ministern. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ Ihre Mimik war durch die vielen Operationen kaum noch deutbar, doch das Feuer, das in ihren Augen brannte war offensichtlich. Er hatte es bereits in anderen gesehen, die sich im Recht glaubten. Dennoch vermochte die brennende Intensität mit der sie ihm gegenüber trat es tatsächlich ihn zu überraschen. Ein unangenehmes Gefühl des Kontrollverlustes breitete sich in Coriolanus Mitte aus. Es war lange her, dass ihn jemand wirklich überrascht hatte. Er war hierhergekommen in der Erwartung durch Tigris Informationen über die Demonstranten zu bekommen, ihr ins Gewissen reden zu können, ihr eine ausdrückliche Warnung dazulassen, doch stattdessen bot ihm das einst so schüchterne Mädchen die Stirn. Die einzige zulässige Antwort auf diesen Affront wäre entschlossene Härte. Andere waren für solche Aussagen hingerichtet worden. Doch wie schon draußen auf der Straße erinnerte er sich wieder an den ersten Krieg, an eine schneebedeckte Straße, lähmendes Fieber und schließlich Tigris die ihn gerettet hatte. Sie kannte sein Leid, seine Geschichte wie keine andere. Coriolanus fand sich unfähig zu entscheiden was er tun sollte. Warum nur hatte er sie überhaupt aufgesucht? Er hätte sie mit den anderen festnehmen und im Gefängnis behalten sollen. Mitunter war es einfacher die Probleme aus der Ferne zu lösen. Ein geschicktes Verhör könnte vielleicht besser ihre Zunge lockern. „Ich brauche nicht deinen Kopf, wenn ich sie bereits alle in Zellen habe. Sie werden daran erinnert werden, warum sie sich glücklich schätzen können unter meiner Führung leben zu dürfen.“ Tigris starrte ihn immer noch herausfordernd an, also fuhr er fort. „Ich gehe mit den Leben derer die mir unterstellt sind niemals leichtfertig um. Familie oder nicht“, betonte er. „Mein Ziel war es immer, dass wir alle in Frieden leben können, um unser und das Überleben der Menschheit zu sichern. Dafür braucht es manchmal aber auch gewisse Strenge, sonst herrscht Anarchie. Alles war im Gleichgewicht, bis sich diese Terroristen aus Dreizehn erhoben haben. Unter diesen Umständen kann es keinen Frieden geben und jede Forderung nach Waffenstillstand fordert unseren Untergang. Ich hoffe du verstehst das.“ Und dieses Mal meinte er es tatsächlich. Er wollte, dass sie verstand. Es wäre einfacher wenn er wüsste, dass sie auf seiner Seite stand. Ein Geräusch, dass unmöglich zu deuten war entkam Tigris Kehle. „Fragt der große Coriolanus Snow mich etwa um Verständnis?“ Kleine, spitz gefeilte Zähne blitzen auf. „Hast du vergessen, wie du mich ausgestoßen hast? Wie du mich für deine Spiele benutzt hast, nur um mich auf die Straße zu setzen als ich dir nicht mehr nutzte? Hätte ein Funke Mitleid dich so viel gekostet?“ Ihr Schwanz peitschte wieder erregt. „Ich war bereit mich in den Spielen zu verlieren, nicht an den Tod so vieler Kinder zu denken, doch wenn ich dachte, dass ich dir als Cousine auch nur das kleinste Bisschen bedeute, dann wurde ich so enttäuscht. Nein, ich verstehe nicht. Du weißt wie schrecklich der Krieg war, wie sehr wir gelitten haben! Nur, dass du dieses Mal die Macht hättest das alles“, an dieser Stelle schrie sie fast, „zu beenden! Du kannst den Kindern das was wir erlebt haben ersparen. Warum nur tust du es nicht?“ Stumme Tränen schüttelten sie jetzt. Wann Tigris zuletzt geweint hatte konnte Coriolanus nicht einmal sagen. Sie hatte es nicht getan als sie als Stylistin gefeuert worden war, nicht als die Großmadame gestorben war, nie während der Hungerspiele. Es musste irgendwann in ihrer Kindheit gewesen sein. „Weil ich jetzt weiß, wieso der Krieg notwendig ist. Wie wir einst überlebt haben, werden auch jetzt Kinder überleben, die erkennen, warum wir die Spiele – nein, diese Ordnung – brauchen. Ich tue alles um diesen Krieg zu beenden, aber ich werde es auf meine Art tun.“ Einen Moment war es still, nur das Ticken einer Wanduhr war zu hören. „Das erklärt nicht, warum du mich einfach verstoßen hast. Nach allem was wir als Kinder durchgemacht haben, dachte ich wirklich, dass wir uns näher stehen.“ „Glaub nicht, dass mich die Erinnerungen an den Krieg nicht auch verfolgen. Jeden Schritt des Weges habe ich diese Erinnerungen bei mir getragen. Am Ende sind wir beide die letzten Snows, die sich an die Anfänge erinnern...“ Erschrocken von sich selbst brach er abrupt ab. Er, ein gestandener Mann jenseits der Achtzig, stammelte plötzlich herum wie ein Achtjähriger, ohne wirklich zu wissen was er sagen wollte. Sentimentalität konnte man sich im Krieg nicht leisten. Auch sonst war es eine Schwäche, die er längst eliminiert geglaubt hatte. In Tigris jedoch schien sich etwas bewegt zu haben. Ihre Energie schien zu schwinden. Hatte er sie unabsichtlich doch noch für sich gewonnen? „Ich hoffe du erkennst den Weg der vor dir liegt, Coryo.“ Als sie unerwartet seinen Spitznamen aussprach war ihre Stimme weich, fast wie einst, wenn man einmal über das Bedauern, das darin lag, hinwegsah. Es war deutlich, dass das Gespräch für sie hier zu Ende war. Coriolanus fühlte sich ausgelaugt, als er den letzten Rest an Stärke zusammen nahm und Tigris fest in die Augen blickte. „Sei dir bewusst, dass du ab jetzt unter Beobachtung stehst. Solltest du noch einmal deine Sympathie mit den Terroristen zeigen, musst du bestraft werden. Pass auf dich auf, Tigris.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das muffige Geschäft. Hinter ihm hörte er wie eilig ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Das Seufzen, dass er nun ausstieß, alleine in der kalten Gasse, die ihn so sehr an Hunger und Tod erinnerte, war ein Echtes. Sein Besuch, kaum einmal zehn Minuten, hatte nichts gebracht, außer alte Wunden aufzureißen. Tigris hatte ihm nichts verraten können, außer, dass die Wut noch brodelte. Er müsste sie entfernen wie er es mit Heavensbee hätte tun sollen, doch er tat es nicht. Stattdessen ließ er Friedenswächter anweisen Tigris auf Schritt und Tritt zu überwachen. Wie er so dastand in der kalten Einsamkeit bedauerte Coriolanus wirklich, dass er und Tigris sich so entfremdet hatten. Wenn sie die Welt doch nur durch seine Augen sehen könnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)