Wayward Son von Morwen (Dean x Sam) ================================================================================ Kapitel 12: The Truth --------------------- Trotz seiner Erschöpfung schlief Sam in dieser Nacht nur schlecht. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe und drehten sich pausenlos um die Beerdigung, um die Zukunft seiner Familie und um Deans seltsames Verhalten, bevor sie sich am Abend getrennt hatten, und erst in den frühen Morgenstunden fielen ihm endlich die Augen zu. Zum Glück war es Samstag und zum Glück brauchte er an diesem Wochenende nicht zu arbeiten, darauf hatten alle seine Kollegen bestanden. Darum war es auch fast Mittag, als Sam wieder erwachte, geweckt von seinen Schwestern, die sich im Nebenzimmer lautstark unterhielten. Sam blinzelte für einen Moment die Zimmerdecke an, bevor er sich hochstemmte und aufstand. Auch wenn er sich innerlich immer noch müde und leer fühlte, hatte er sich wenigstens körperlich etwas erholen können, und nachdem er sich ein Sweatshirt und ein Hose angezogen hatte, ging er die Treppe hinunter in die Küche. Seine Mutter saß am Küchentisch und las die zahlreichen Beileidsbekundungen, die in den letzten Tagen im Briefkasten gelandet waren. Jeden Tag trafen neue ein und sie machten Sam einmal mehr bewusst, was für ein Loch sein Vater hinterlassen hatte, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Gemeinschaft. Als sie ihn eintreten hörte, hob sie den Kopf und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Unter ihren Augen waren tiefe Ringe – ähnlich wie Sam hatte sie in den letzten Tagen kaum geschlafen – doch ihr Lächeln war warm und offen und voller Liebe. „Du siehst besser aus“, stellte sie fest. „Ich war mir nicht sicher, ob ich dich wecken soll, aber ich bin froh, dass ich es nicht getan habe.“ „Der Schlaf war tatsächlich nötig“, stimmte Sam ihr zu und beugte sich herab, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. „Danke, Mum.“ Sie nickte nur. Dann suchte sie eine Karte aus dem Stapel von Briefumschlägen heraus und reichte sie Sam. „Die hier ist für dich. Nur für dich.“ „Für mich?“, fragte Sam verwundert und nahm sie entgegen. Dann sah er Jessicas Namen und kalifornische Adresse auf dem Umschlag, und er verstand, was sie gemeint hatte. Aufgrund der großen Distanz und der hohen Kosten für Flüge innerhalb des Landes hatte Jessica nicht zur Beerdigung kommen können, eine Tatsache, für die sie sich in ihrem Brief an Sam tausendmal entschuldigte. Nicht, dass Sam es ihr jemals nachtragen würde. Jessica hatte ihm in den letzten drei Jahren oft emotional aus der Ferne beigestanden, und bei den wenigen Malen, die sie in der Heimat verbracht hatte, hatte sie stets darauf bestanden, Sam mindestens einmal persönlich zu treffen und etwas mit ihm zu unternehmen, um ihn aus seinem ewig gleichen Alltagstrott zu reißen. Sie war auf ihre Weise ebenso unverzichtbar für ihn gewesen, wie Dean, und als er nun dastand und ihre lange, mitfühlende Nachricht an ihn las, musste Sam sich sehr beherrschen, nicht vor seiner Mutter die Fassung zu verlieren, so sehr fehlte ihm seine beste Freundin in diesem Moment. Schließlich wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und ließ die Karte wieder sinken. „Sie hat mir auch eine Karte geschickt“, sagte seine Mutter leise. „So eine warmherzige, junge Frau. Schade, dass sie nicht kommen konnte, ich hätte sie gerne wiedergesehen...“ Sam gab keine Antwort. Seine Mutter und Dean verstanden sich zwar gut, aber er wusste, dass Jessica immer ihr Favorit gewesen war. Es hatte sie damals sehr getroffen, als sie sich wieder getrennt hatten. Sie hatte immer auf Enkel gehofft, etwas, was sich bei Dean und Sam eher schwierig gestalten würde. Mal ganz davon abgesehen, dass Kinder nicht in Deans Lebenskonzept passten. „Kein Kind soll dieselben Erfahrungen machen müssen, mit denen ich aufgewachsen bin“, hatte er Sam einmal gestanden. „Das könnte ich ihm niemals antun...“ „Wo ist eigentlich Dean?“, fragte seine Mutter in diesem Moment und Sam blinzelte. „Sein Auto steht nicht mehr auf der Straße.“ „Er musste etwas Dringendes klären“, erwiderte Sam. „Er kommt später wieder.“ Jedenfalls hoffte er das. Seine Mutter schenkte ihm ein schwaches Lächeln. „Dann koche ich heute also lieber wieder etwas mehr.“ „Das wäre super. – Vielen Dank, Mum.“ Gemeinsam sammelten sie die Briefe zusammen und packten sie in einen alten Schuhkarton. „Wie lange wird er dieses Mal bleiben?“, fragte sie, als sie aufstand und den Karton wegräumte. Sam zögerte. „Das weiß ich noch nicht“, gestand er. Das hängt vermutlich davon ab, was er mir nachher zu sagen hat. „Er ist ruhelos wie ein Seemann, dein Liebster“, sagte sie und seufzte. „Aber ich vermute, man kann dem Ruf der Arbeit als junger Mensch nur schwer entkommen.“ Sam lächelte. Der Vergleich mit dem Leben auf einem Schiff war gar nicht so unpassend. „Vielleicht, aber noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er irgendwann auf festem Boden bleibt.“ „Unterschätz nie die Liebe des Matrosen zur See, Sam Wesson“, meinte seine Mutter. Doch dann legte sich ein warmer Ausdruck auf ihr Gesicht. „Aber ich habe oft genug gesehen, wie er dich ansieht, wenn ihr zusammen seid, und ich zweifle nicht daran, dass er sich am Ende immer für dich entscheiden wird. Das hat die letzte Woche zu Genüge bewiesen.“ Sam schluckte. „... danke Mum“, sagte er mit rauer Stimme. Und vielleicht war ihm nach ihren Worten ein klein wenig leichter ums Herz.     Dean sollte erst am Abend wieder zurückkehren. Sam öffnete ihm die Tür – und war sofort alarmiert, als er seine steinerne Miene sah. „Was ist passiert?“, fragte er besorgt und streckte die Hand nach Deans Fingern aus. Doch der andere Mann wich nur einen halben Schritt zurück, damit Sam ihn nicht berühren konnte, und mied seinen Blick. „Wir müssen reden“, erwiderte er mit einer Stimme, die vor Anspannung leicht zitterte. „Nur du und ich.“ „... okay“, sagte Sam und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Deans Ablehnung verletze. „Setzen wir uns am besten in den Impala.“ Dean nickte knapp und wandte sich ab, um zu seinem Auto zu gehen, und Sam griff hastig nach seiner Jacke und seinem Haustürschlüssel und folgte ihm. „Also...“, begann Sam, nachdem sie eingestiegen waren und die Türen geschlossen hatten. „Was ist so schlimm, dass wir es nicht in meinem Zimmer besprechen können?“ Dean, der die Augen geschlossen hatte, hob einen Zeigefinger. „Bitte gib mir 30 Sekunden, um mich zu sammeln, weil ich gerade kurz davor bin loszuschreien.“ „Oh-okay...“, murmelte Sam, dessen Sorge um den anderen Mann langsam einen neuen Höhepunkt erreichte. Welche Nachricht hatte Dean so verstört, dass er befürchtete, seine sonst so eiserne Selbstkontrolle zu verlieren? Eine halbe Minute verging, dann eine ganze, und schließlich atmete Dean mehrmals ein und aus und öffnete wieder die Augen. „Danke“, sagte er und seine Stimme klang wieder etwas gefestigter. Sam zuckte mit den Schultern. „Keine Ursache.“ Dann legte Dean die Hände auf das Lenkrad und starrte in die Dämmerung hinaus. „Ich habe mit Bobby gesprochen“, teilte er Sam mit. Im Gegensatz zu vorher war seine Stimme mit einem Mal beängstigend tonlos. „Bobby Singer, dem Besitzer des Schrottplatzes außerhalb der Stadt?“, fragte Sam, der nicht verstand, was Bobby mit all dem zu tun hatte. „Bobby Singer, der Schrottplatzbesitzer, ja“, erwiderte Dean. „Der gleichzeitig auch Jäger ist und ein alter Bekannter meines Vaters.“ Sam sog scharf die Luft ein. „Bitte was?“ „Ich kenne Bobby seit meinem sechsten Lebensjahr“, fuhr Dean fort. „Mein Dad hat ihn regelmäßig besucht und ich war fast jeden Sommer dort. Bei ihm konnte ich Schießen üben und auf seinem Hof habe ich auch gelernt, wie man Auto fährt.“ Sam blinzelte. Er selbst hatte weniger Zeit bei Bobby verbracht, aber auch er erinnerte sich noch an lange Sommer und den Geruch von Metall, Motoröl und alten Reifen, und an halb verrostete Karosserien, die in der Sonne so warm geworden waren, dass man Spiegeleier darauf hätte braten können. Er konnte sich nicht daran erinnern, dort jemals einem anderen Jungen begegnet zu sein, aber das musste nichts bedeuten. Bobbys Hof hatte im Laufe der Jahre viele Besucher gesehen. „Warum erzählst du mir das?“, fragte er leise. „Weil Sioux Falls kein Dorf ist, in dem jeder jeden kennt“, erwiderte Dean, der immer noch seinen Blick mied. „Andernfalls hätte ich vielleicht über diesen Zufall hinwegsehen können. Aber so...“ Er lachte kurz und freudlos. „Und dabei bin ich bereits zum ersten Mal stutzig geworden, als ich deinen zweiten Vornamen gehört habe. Allerdings stimmte das Geburtsdatum nicht. Doch gerade mir hätte eigentlich klar sein müssen, wie leicht sich so etwas fälschen lässt...“ Sam wurde immer verwirrter; nichts von dem, was Dean ihm erzählte, ergab irgendeinen Sinn für ihn. „Bitte sag mir, worauf du hinauswillst!“, flehte er. Dean atmete tief durch. „... na schön.“ Dann wandte er ihm endlich das Gesicht zu und sah Sam zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs in die Augen. „Stell dir vor, deine Familie hat gerade eine schreckliche Tragödie durchgemacht“, sagte er. „Stell dir vor, du hast in nur einer Nacht dein Zuhause und deinen Lebenspartner verloren. Und stell dir vor, alles, was dir geblieben ist, sind zwei kleine Kinder, eines davon noch ein Baby. Du bist mittellos und verzweifelt, aber du willst diese Tragödie aufklären, koste es, was es wolle. Doch du willst deine Kinder dabei nicht in Gefahr bringen. Was tust du?“ Sam verstand immer noch nicht, worauf Dean hinauswollte, aber er erkannte die Geschichte wieder. „Ich... ich würde sie jemandem anvertrauen, bei dem sie sicher sind“, erwiderte er. „Jemandem, der sie von diesen Gefahren fernhält.“ „Exakt“, sprach Dean. „Aber so einfach ist es nicht. Denn eines deiner Kinder steckt schon mittendrin. Es hat den Tod seiner Mutter miterlebt und ist zutiefst traumatisiert. Du kannst es an diesem Punkt nicht im Stich lassen, es braucht dich schlichtweg. Doch dein anderes Kind...?“ „Dean...“, wisperte Sam. Er hatte auf einmal eine schreckliche, schreckliche Ahnung. „Es ist noch zu klein, um zu verstehen, was passiert ist“, fuhr Dean erbarmungslos fort. „Es hat sein ganzes Leben noch vor sich. Es würde dir das Herz brechen, dich von ihm zu trennen, aber du weißt, dass es dich vergessen wird. Dass es seine Familie vergessen wird. Und dass es von all diesen Ereignissen nie etwas erfahren muss, sondern eine ganz normale Kindheit haben und ein ganz normales Leben führen kann. – Und du triffst schließlich eine Entscheidung.“ Sam sprach kein Wort. Er konnte nichts sagen; er konnte kaum atmen. Was Dean da andeutete, war einfach zu ungeheuerlich. „Sam“, sagte Dean leise und so behutsam, als wäre Sam aus Glas und könnte jeden Moment in unzählige Scherben zerspringen. „Dein Geburtstag ist nicht der 13. September, sondern der 2. Mai 1983. Du wurdest in Lawrence, Kansas geboren. Deine Eltern heißen John und Mary, und sie haben dich auf den Namen Samuel William Winchester getauft. Und du hast einen Bruder.“ Sag es nicht, schrie alles in Sam. Bitte sag es nicht...! Doch das Schicksal hatte nicht vor, ihn zu verschonen. „Mich.“     „Das... das kann nicht sein“, stieß Sam hervor, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. „Dean, ein solcher Zufall ist einfach nicht möglich...!“ „Bobby hat mir all das bestätigt, was ich dir gerade gesagt habe“, erwiderte Dean. „Wenn du mir nicht glaubst, dann rede mit ihm. Er kann dir die Einzelheiten erzählen.“ Sam schüttelte den Kopf. Er zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, obwohl es im Auto warm war. „Ich glaube das alles nicht...!“ „Es tut mir leid, Sam“, sagte Dean niedergeschlagen und der tiefe Schmerz in seiner Stimme hätte Sam fast instinktiv die Hand nach ihm ausstrecken lassen – bis ihm wieder einfiel, dass Dean nicht von ihm berührt werden wollte. „Es tut mir leid, dass ich dir diese Dinge an einem Punkt deines Lebens aufbürde, der für dich eh schon schwer genug zu ertragen ist. Ich wünschte, ich hätte dir all dies ersparen können.“ Plötzlich stieg Zorn in Sam auf. Die Wahrheit war unglaublich und würde ihn noch lange beschäftigen, daran bestand für ihn kein Zweifel. Aber er hatte sich seine Herkunft nicht ausgesucht, ebenso wie die Gefühle, die er für Dean – für seinen Bruder – entwickelt hatte. Und er konnte und wollte sie nicht kampflos aufgeben, nicht nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten. „Was für einen Unterschied macht es für uns?“, fragte er darum. „Verdammt, Dean, bis vor wenigen Jahren wusste ich noch nicht einmal, dass du existierst! Hättest du das Diner damals nie betreten, wärst du für mich immer ein Fremder geblieben. Denkst du also wirklich, dass die Wahrheit etwas daran ändert, wie ich für dich empfinde?“ Dean starrte ihn ungläubig an. „Wir sind Brüder, Sam, das ändert für uns alles!“, erwiderte er. „Und nur weil du keine Erinnerungen an mich besitzt, heißt das nicht, dass ich mich nicht mehr an dich erinnern kann!“ Seine Stimme wurde leiser. „Denn ich erinnere mich noch immer daran, wie es war, dich auf den Armen zu halten“, fuhr er fort. „An mein Ritual, dich jeden Abend auf den Kopf zu küssen, bevor du eingeschlafen bist. – Doch jetzt...“ Er sah Sam durchdringend an. „Jetzt weiß ich, wie es ist, dich auf eine Weise zu küssen, die nichts Geschwisterliches mehr an sich hat... oder was für ein Gesicht du machst, wenn wir miteinander schlafen. Und Sam, das sind Dinge, die kein Mann über seinen eigenen Bruder wissen sollte.“ Hätte Dean in diesem Moment auf ihn geschossen, die Kugel hätte ihn kaum schwerer treffen können, als diese Worte. Sam starrte ihn an, Tränen der Wut und der Verzweiflung in den Augen. „Also ist es das nun?“, fragte er. „Das Ende? Hast du vor, genauso plötzlich wieder aus meinem Leben zu verschwinden, wie du damals gekommen bist?“ Deans Augen weiteten sich bestürzt. „Sam, nein! Wie könnte ich aus deinem Leben verschwinden, jetzt, da ich weiß, dass wir eine Familie sind?“, entgegnete er. „Du bist mein Bruder und ich werde immer für dich da sein, wenn du mich brauchst!“ Er zögerte. „... nur halt ein bisschen anders, als vorher.“ „Wenn du deine Gefühle einfach so abschalten kannst, dann herzlichen Glückwunsch!“, sagte Sam verbittert. „Ich kann es nicht, und ich will es auch gar nicht, weil ich dich liebe, du Blödmann! Ob wir Brüder sind, ist mir herzlich egal. Ich will dich einfach nicht als das verlieren, was du vorher für mich warst.“ Dean warf ihm einen gepeinigten Blick zu. „Sam, wir können nie wieder das sein, was wir vorher waren. Das muss dir klar sein.“ Sam war wie betäubt. Eine deutlichere Ansage hätte Dean ihm nicht machen können. Mit einem Mal fühlte er sich sehr erschöpft und sehnte sich nach Ruhe – und Abstand. Von diesem Gespräch, aber auch von Dean. „Dann habe ich nichts weiter zu sagen“, erwiderte er leise. „Sam...!“ Doch Sam öffnete bereits die Beifahrertür und stieg aus. „Sam, bitte!“, flehte Dean. „Lass uns nicht auf diese Weise auseinandergehen...!“ Und ob Brüder oder nicht, Sam brachte es einfach nicht übers Herz, ihm endgültig Lebwohl zu sagen. „Gib mir Zeit“, sagte er stattdessen. Es war ein vorsichtiges Friedensangebot, mehr nicht. „Und kontaktier mich für die nächsten Wochen nicht. Ich... muss über all das hier in Ruhe nachdenken.“ Dean nickte, eine Erleichterung auf dem Gesicht, die nur allzu offensichtlich war. „Okay, Sammy, ich verstehe“, erwiderte er. „Alles, was du brauchst.“ Ich brauche nur dich, dachte Sam müde. Und zwar nicht als Bruder. Doch er sagte kein Wort, sondern nickte nur. Dann warf er die Tür zu und ging zum Haus seiner Eltern zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.     Bobby stieß ein Seufzen aus, als er am nächsten Morgen die Tür öffnete und Sam erblickte. „Ah, verdammt“, sagte er. „Er hat mit dir geredet, oder? Was für ein Desaster...“ Er bedeutete Sam, in den Hausflur zu treten. „Komm schon rein, Junge. Mach’s dir gemütlich. Ich hol schon mal den Whiskey – ich habe das Gefühl, dass wir ihn brauchen werden...“ „Ich darf noch nicht trinken“, wollte Sam aus Gewohnheit ablehnen, aber dann hielt er inne, als ihm wieder einfiel, was Dean gesagt hatte. Nicht einmal sein Geburtstag stimmte noch, er war in Wirklichkeit schon vier Monate älter. „... oder vielleicht doch“, murmelte er und ließ sich in der Wohnstube auf die Couch sinken. Bobby verschwand in der Küche und kam einen Moment später mit einer Flasche und zwei Gläsern wieder. Er goss jeweils einen Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die Gläser und reichte eines davon dann Sam. Dieser schüttelte jedoch nur den Kopf. Für dieses Gespräch wollte er nüchtern sein. Bobby zuckte mit den Schultern und nahm dann selbst einen kleinen Schluck von dem Whiskey. Für eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und Sam ließ den Blick über die Vielzahl von Büchern und kuriosen Gegenständen in Bobbys Wohnzimmer schweifen. Früher hatte er sich bei all dem nichts weiter gedacht, doch jetzt, da er wusste, dass der andere Mann ein Jäger war, ergab seine Sammlung von religiösen Artefakten und okkulter Literatur wesentlich mehr Sinn. Schließlich war es Bobby, der die Stille beendete. „Ich nehme an, du bist hier, weil du die ganze Geschichte hören willst“, vermutete er. Sam nickte. „Dean hat mir bereits den Anfang erzählt“, sagte er. „Er hat versucht, mir begreiflich zu machen, was John damals dazu bewogen hat, mich wegzugeben. Was ich jedoch nicht weiß, ist, wie es danach weiterging.“ „Ich verstehe“, meinte Bobby. Er nahm noch einen Schluck von seinem Whiskey, dann lehnte er sich zurück und sein Blick ging in die Ferne. „Es war Dezember ‘83“, erzählte er. „Ich kannte John Winchester damals noch nicht. Es war stattdessen eine Bekannte von uns beiden, Missouri, die eines Nachts auf meiner Türschwelle stand, mit einem Baby auf dem Arm, und mich bat, eine Familie für das Kind zu finden. Ich war völlig überrumpelt, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.“ Er stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus, doch seine Miene wurde schnell wieder ernst. „Aber  dann fiel mir plötzlich deine Mutter ein. Ein paar Monate zuvor hatte sie mir im Vertrauen erzählt, dass sie und ihr Mann schon seit mehreren Jahren erfolglos versuchten, ein Kind zu bekommen, und angefangen hatten, Adoption in Betracht zu ziehen...“ „Wussten meine Eltern von John und seiner Situation?“, fragte Sam, doch noch während er die Worte aussprach, fiel ihm sein Denkfehler auf, und er schüttelte den Kopf. „Obwohl, nein, vergiss es... Als Dean damals aufgetaucht ist, war ihnen der Name Winchester völlig unbekannt.“ „Alles, was sie von dir wussten, waren deine Vornamen und das falsche Geburtsdatum, das ich ihnen gegeben hatte“, bestätigte Bobby. „Ich erzählte ihnen etwas von einer entfernten Cousine, die mit ihrem Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, und sie akzeptierten meine Geschichte. Dann ließ ich meine Beziehungen spielen, um dein Geburtsurkunde und die Adoptionsunterlagen zu fälschen. Und der Schwindel fiel nie auf.“ Er stieß ein von Herzen kommendes Seufzen aus. „Jedenfalls bis zu dem Moment, in dem ihr Jungs euch begegnet seid und euch miteinander angefreundet habt. Wie groß ist die Chance...?“ Er schüttelte den Kopf und trank erneut von seinem Whiskey. „Ihr Winchesters und eure Angewohnheit, einem alten Mann das Leben schwer zu machen.“ Sam schnaubte. „Du bist nicht alt, Bobby.“ Seine Stimme wurde leiser. „Und ich bin kein Winchester.“ Was auch immer Bobby sagte und was auch immer Dean sich erhoffen mochte: Sam würde sich nie als Winchester fühlen. Niemals. Und auch wenn er Johns Gründe, ihn wegzugeben, von einem logischen Standpunkt aus nachvollziehen konnte, so würde er ihn nie als Vater betrachten. Dieses Recht hatte John Winchester für immer verwirkt. Nein, Sams Eltern würden immer Aaron und Jill Wesson sein, und niemand sonst. „Was... ist mit John?“, fragte Sam vorsichtig. „Wieviel weiß er über mich?“ „So gut wie nichts“, erwiderte Bobby. „Das war damals die Abmachung, die wir getroffen haben. Er weiß weder, wie du mit Nachnamen heißt, noch, wo du wohnst oder wie du aussiehst. Dazu hat er sich bewusst entschieden, um nicht in Versuchung zu kommen, dich aus deinem Leben zu reißen. Das einzige Foto, was ich ihm je von dir gezeigt habe, ist das von deiner Einschulung, als du sechs Jahre alt warst. Heute würde er dich jedoch nicht mehr wiedererkennen.“ Sam atmete tief durch. Das war immerhin etwas, vermutete er. Auch wenn er noch nicht genau wusste, was sich nun ändern würde, jetzt, da Dean und er die Wahrheit kannten. Aber als würde Bobby seinen Gedankengang erraten, fuhr er fort: „Keine Sorge, Dean hat mir das Versprechen abgenommen, John nicht zu erzählen, dass ihr die Wahrheit herausgefunden habt. Und ich gehe davon aus, dass auch du nicht vorhast, sie irgendwem zu erzählen.“ „Nein“, bestätigte Sam. Auch wenn seine Gründe andere waren, als Bobby wahrscheinlich vermutete: er konnte schlichtweg niemandem, der ihn zusammen mit Dean erlebt hatte, erzählen, dass er in Wirklichkeit mit seinem eigenen Bruder geschlafen hatte. „Allerdings mache ich mir Sorgen um Dean“, sagte Bobby und griff nach dem zweiten Whiskeyglas. „Ich habe natürlich mit Überraschung und Schock gerechnet, als ich ihm erzählt habe, was ich dir gerade erzählt habe, aber nicht mit einer Reaktion, also ob...“ Er seufzte. „Ich weiß es nicht. Als hätte ich vor seinen Augen sein Haustier erschossen oder etwas in der Art.“ Sam konnte es sich deutlich vorstellen. Er musste ein ähnliches Gesicht gemacht haben, als Dean ihm die Wahrheit erzählt hatte. „Dabei hat er als Kind noch jahrelang von dir geredet, so als ob du noch immer Teil der Familie wärst“, fuhr Bobby fort. „Es hat mir damals mein verdammtes Herz gebrochen, wie sehr er dich vermisst hat. Ich glaube, er war acht Jahre alt, als er schließlich damit aufgehört hat und ihm klar wurde, dass du nicht wiederkommen würdest.“ Sam schloss die Augen und schluckte schwer. Langsam konnte er Deans Reaktion immer besser nachvollziehen – und warum es ihm wesentlich schwerer fiel als Sam, mit der Wahrheit umzugehen. Sam, wir können nie wieder das sein, was wir vorher waren. Das muss dir klar sein. Was nicht bedeutete, dass es nicht trotzdem verdammt wehtat, ihn in dieser Hinsicht zu verlieren. „Erzähl mir mehr von Dean“, bat er leise. „Wie war er als Kind?“ Bobby kratzte sich an der Wange. „Still“, erwiderte er nach einer Weile. „Aufmerksam. Loyal.“ Er nahm einen Schluck von seinem Whiskey. „Ich weiß nicht, wie John es geschafft hat, ihn so zu drillen, aber er sprang bei jeder Bitte und tat alles, um die Ansprüche seines Vaters an ihn zu erfüllen. Es war manchmal nahezu unheimlich.“ Bobbys Miene verdüsterte sich. „Ich war verdammt froh über jeden Tag, den der Bengel damals nicht allein in irgendeinem Motel im Nirgendwo absitzen musste, sondern bei mir auf dem Hof verbracht hat, während John auf der Jagd war. Es ist kein Leben für ein Kind, und dass Dean sich zu dem Mann entwickelt hat, der er heute ist, grenzt ehrlich gesagt an ein Wunder.“ Sam wurde plötzlich schlecht. Dean hatte bereits einiges davon angedeutet, aber Sam hatte sich kaum eine Vorstellung davon machen können, wie schwer er es tatsächlich gehabt hatte. Nicht wirklich. „Ich verstehe“, sagte er mit rauer Stimme und stand dann auf. „Danke, Bobby.“ Der andere Mann nickte. „Nichts zu danken“, erwiderte er. „Es ist deine Geschichte, Sam. Du hattest ein Recht darauf, sie zu hören.“ Ein Recht, auf das Sam liebend gerne verzichtet hätte, um seine Beziehung mit Dean zu bewahren. Aber nun waren die Dinge anders gekommen und er musste versuchen, das Beste daraus zu machen. „Bis bald, Bobby“, verabschiedete er sich, als Bobby ihm die Tür öffnete. „Und... bitte grüß Dean von mir, wenn er das nächste Mal hier ist.“ Bobby hob überrascht eine Augenbraue, doch dann nickte er. „Wie du willst. Mach’s gut, Sam. Und grüß deine Ma von mir.“ „Das werde ich.“ Und damit trennten sich ihre Wege. Bobby hatte die Haustür schon wieder hinter sich geschlossen, als Sam in das Auto seiner Eltern stieg und zurück in die Stadt fuhr. Sein Gespräch mit Bobby beschäftigte ihn die ganze Fahrt hindurch bis nach Hause, und er fragte sich, wie um alles in der Welt es in Zukunft für ihn weitergehen sollte. Für ihn – und für Dean. Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er fand keine Antwort. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)