Öde Örtlichkeit von Varlet ================================================================================ Kapitel 1: Öde Örtlichkeit -------------------------- Sie hatten wirklich großes Glück gehabt. Einen Kopfschuss überlebt nicht jeder, hörte Jodie auch Wochen später die Worte ihres Arztes. Es war schon lange her, seitdem Jodie an jenem Tag überfallen wurde. Irgendjemand – vermutlich ein Auftragsmörder der Organisation – hatte Jodie heimtückisch angegriffen und ihr in den Kopf geschossen. In Erwartung, dass Jodie diesen Abend nicht überlebte, ließ er sie am Tatort einfach liegen. Und fast hätte er sein Ziel erreicht. Beinahe hätte sie aufgegeben, doch Shuichis Stimme holte sie wieder zurück und forderte sie zum Kämpfen auf. Sie war zäh und gab einfach nicht auf. Ein Kopfschuss war meistens eine lebensgefährliche Verletzung, die in den meisten Fällen auch tödlich endete. Doch es gab Menschen die Glück hatten. Kam man rechtzeitig ins Krankenhaus, konnte die Kugel herausoperiert werden, bei anderen Patienten hingegen wäre ein Eingriff viel zu gefährlich gewesen und sie lebten mit der Zeitbombe im Kopf. Selbst ein Schuss aus naher Distanz konnte überlebt werden, wenn gewisse Faktoren stimmten. Die Überlebenschancen hingen unter anderem davon ab, wo und in welchem Winkel die Kugel in den Kopf eintrat und welches Kaliber die Waffe besaß. Zwischen den beiden Großhirnhälften und dem Kleinhirn gibt es eine anatomische Trennung mit schmalen Lücken. Wenn die Schusslinie genau dort liegt, kann es sein, dass das Projektil keine wichtigen Areale zerstört. Aber auch ein Schuss durch das Frontalhirn kann mit Folgeschäden überlebt werden. Das kann sich unter Anderem darin äußern, dass es zu einer Steigerung der Aggressivität, zu einer mangelnden Belastbarkeit bei Stress oder einem introvertiertem Verhalten kommt. Andere Folgeschäden sind Sprach- sowie motorische Störungen, hatte ihr der Arzt erklärt. Davor hatte Jodie am meisten Angst gehabt und schließlich hatte sich der erste Verdacht des Arztes bestätigen. Jodie hatte zwar großes Glück, musste aber eine lange und anstrengende Reha über sich ergehen lassen und sowohl das Laufen als auch das Schreiben wieder erlernen. Einen Stift zu halten, stellte sich dabei als schwierigstes Problem heraus. Lesen und Reden bereiteten ihr keine Probleme, aber das Gehen führte sie an ihre Grenzen. Kaum dass Jodie die Diagnose damals bekam, überkam sie die Verzweiflung. Sie lag tagelang einfach nur im Bett und versuchte zu vergessen. Laut Ärzten war dies eine ganz normale Reaktion, vor allem wenn man bedachte, dass nicht nur ihr Körper sondern auch ihre Seele verletzt wurde. Die Ärzte wollten ihr die Zeit lassen, die sie brauchte, doch James versuchte Jodie tagtäglich davon zu überzeugen, weiter zu machen und sich anzustrengen. Sie hatte die Sorge in seiner Stimme gehört, denn er wusste, wenn sie sich erst einmal gehen ließ, würde sie möglicherweise nie wieder zur alten Stärke zurück finden. Trotzdem brauchte die Agentin erst einmal eine Pause von allem. Wochen später riss Shuichi der Geduldsfaden und er redete Tacheles mit ihr. Erst danach war sie bereit um ihr altes Leben zu kämpfen. Die Übungen gestalteten sich in den ersten Tagen schwer und Jodie dachte oft daran, aufzugeben. Letzen Endes hatte sie weitergemacht und war Schritt für Schritt voran gekommen. Mit der Zeit wurde es immer besser, allerdings wollte das Gehen noch nicht so klappen, wie es sich Jodie vorgestellt hatte. Aufstehen konnte sie nur, wenn sie sich irgendwo festhielt und wenn sie die ersten Schritte machte, war sie auch schon wieder erschöpft und sank in den Rollstuhl zurück. Übertrieb sie es, stürzte sie und musste sich erst einmal wieder tagelang schonen. Jodie hatte es satt und drehte ihr Gesicht in das Kissen. Sie wollte nicht mehr schwach sein, wollte keine Last für ihre Kollegen werden, doch je mehr sie dagegen ankämpfte, desto mehr streikte ihr Körper. Durch ihr Schluchzen überhörte Jodie das Klopfen an der Tür. „Jodie?“ Als sie ihren Namen hörte, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf. „Shu“, wisperte sie leise. Normalerweise machte es ihr nichts aus, wenn er sie weinen sah, aber jetzt war alles anders. Es war komisch, wenn er von ihrem Handicap wusste. Der Agent kam näher. „Soll ich…einen Arzt rufen?“, wollte er wissen. Er mochte es nicht, wenn Jodie weinte, aber wenigstens war er nicht die Person die sie zum Weinen brachte. „Nein“, murmelte die Agentin. „Ich…ich will nach Hause.“ Shuichi nickte verstehend. „James hat bereits mit dem Arzt gesprochen. Du musst allerdings noch ein paar Wochen hierbleiben.“ Sie seufzte. Aber welche andere Wahl hatte sie auch? Sie wohnte alleine und in ihrer Wohnung wäre sie den Tücken des Alltags hilflos ausgeliefert. Außerdem konnte sie sich derzeit nicht gegen Angriffe wehren. Zwar war dies im Krankenhaus ähnlich, doch es gab einen Alarmknopf und die Agenten wechselten sich mit regelmäßigen Besuchen ab. Und durch James Kontakte konnte sie länger im Krankenhaus bleiben als geplant. „Aber…“, fing Jodie leise an. „Vielleicht…ist es zu Hause…besser…“ „Das glaube ich nicht“, sprach Akai. „Zu Hause würdest du dich nur einigeln und deine Übungen übertreiben oder gar nicht machen.“ Er versuchte zu lächeln. „Es dauert nicht mehr lange.“ Jodie wirkte nicht glücklich. „Ich…schaff das nicht…“ „Das ist doch Unsinn.“ Die Agentin seufzte. „Das Gehen funktioniert nicht…so gut. Ich kann nicht mehr alleine Aufstehen und…“ „Es dauert eben seine Zeit. Bis vor einigen Wochen konntest du gar nichts mehr machen und hast um dein Leben gekämpft.“ Shuichi beobachtete sie. „Der Arzt hat selbst gesagt, dass du großes Glück gehabt hast…sieh es als Wunder an. Wärst du schwach, hättest du den Anschlag auf dich nicht überstanden. Du bist viel stärker als du denkst.“ Jodie schwieg. „Schau nicht so. Du weißt, das ich recht habe.“ Sie wirkte immer noch nicht überzeugt. „Wenn das so ist…“ Shuichi kannte Jodie zum Glück recht gut. „Wenn du aufgeben willst, werde ich dich nicht aufhalten. Aber dann kannst du nicht mehr gegen die Organisation arbeiten. Und beim FBI wirst du auch fehlen, immerhin gehörst du schon beinahe zum Inventar. Aber wenn es wirklich deine Entscheidung ist, stehe ich dir nicht im Weg.“ „Shu…ich…“ „Eigentlich hab ich etwas Anderes von dir erwartet, Jodie“, fuhr er fort. „Ich habe erwartet, dass du bei jeder Übung dein Bestes gibst und nicht, dass du so schnell aufgibst. Da hab ich mich wohl geirrt.“ Sie schluckte. „Ich…das…ich will…nicht aufgeben“, murmelte sie leise. „Das hört sich doch schon viel besser an. Dann hör auf herum zu jammern und akzeptier, was passiert ist und dass deine Genesung dauert. Und wenn es sein muss, stelle ich dir höchstpersönlich ein paar Übungen zusammen.“ Zaghaft griff Jodie nach seiner Hand und hielt sie fest. „Du…hilfst mir…?“ „Klar.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)