Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 3: Heiß und scharf -------------------------- Nathan starrte den Inhalt seines Kühlschranks an und seufzte. Da er, noch beschwingt von seinem erfolgreichen Arbeitstag, die Quesadillas im Büro hatte liegenlassen, war er auf dem Heimweg noch schnell im Obst- und Gemüseladen um die Ecke vorbeigegangen. Nathan liebte es, in den vollgepackten Gängen nach immer neuen Zutaten und Kombinationsmöglichkeiten zu suchen. Nicht selten kam er dabei mit etwas nach Hause, das er noch nie zuvor in seinem Leben probiert hatte.   Dieses Mal hatte er sich zusammengerissen und nur „ein wenig“ von den zu einladenden Stapeln aufgetürmten Waren mitgenommen. „Ein wenig“, das jetzt zwei Einkaufstüten füllte; obenauf einige Austernpilze, die er vorgehabt hatte zum Abendessen zu braten. Zumindest bis er das Bund Karotten gefunden hatte, dass ihm anklagend seine Wurzelfinger entgegenreckte, als wollte es sagen: „Und was ist mit uns?“ Nathan seufzte erneut und schenkte den Pilzen einen entschuldigenden Blick. „Tut mir leid, Jungs, ihr werdet wohl bis morgen warten müssen. Die Ladys waren zuerst da.“ Er verstaute seine frischen Vorräte, bevor er das schon etwas schlapp gewordene Bündel Wurzelgemüse aus dem Kälteschlaf holte. Das einstmals so saftige Grün war dummerweise schon ziemlich heruntergekommen. Er würde es ausdünnen müssen, wenn er es noch verwenden wollte. Aber vielleicht … Sein Blick wanderte zu den Kräutern, die er neben der Spüle in ein Glas gestellt hatte. Darunter Dill, Petersilie, thailändisches Basilikum und Bohnenkraut, aber auch Estragon, Koriander und Kerbel. Nathans Gehirn begann zu arbeiten. Süß und scharf in einer Texturmischung aus weich und knackig. Die perfekte Mischung. Ich muss das ausprobieren. Ohne wirklich wahrzunehmen, was er tat, griff Nathan nach dem großen Messer und begann zu arbeiten. Zuerst befreite er die Karotten von ihrer Schale, dann schnitt er sie in schmale Streifen und schließlich in winzige Würfel. Ebenso verfuhr er mit einer Schalotte, zwei Knoblauchzehen und einer Stange Sellerie. Danach waren die Nudeln dran. Mit einem geübten Blick ging er die Pasta-Schublade durch und entschied sich für Linguini. Sie würden die Soße besser halten als Spaghetti, aber weniger davon aufnehmen als die gedrehten Fussili. Perfekt für sein Gericht. „Und jetzt brauche ich …“ Er sah sich in der Küche um. „Platz. Verdammt, ich brauche mehr Platz!“ Neben dem Herd, der gerade einmal zwei Kochplatten aufwies, hatte er nur ein Stück von der Breite seines Küchenbrettes zur Verfügung. Der Rest wurde von diesem chromglänzenden Monstrum eingenommen, das ihn höhnisch anblickte, als wollte es sagen: „Du kannst mir gar nichts.“ Aber Nathan konnte und er würde. Und zwar jetzt gleich. Mit neu gewonnenem Enthusiasmus rupfte er den Stecker aus der Wand, schlug das Kabel um die Maschine und packte mit beiden Händen zu. Ein Ruck und die wuchtige Maschine schwebte über der Arbeitsfläche. Ächzend und schnaufend balancierte Nathan das schwere Teil um die Ecke. Doch wohin jetzt? Auf den Schreibtisch konnte er sie unmöglich stellen. Das Sideboard beherbergte bereits seinen Fernseher und auf dem Couchtisch würde es nur im Weg herumstehen. Suchend sah Nathan sich um. Es musste doch hier irgendwo … „Argh!“ Als hätte die Maschine gemerkt, dass sie kurz davor war, aus dem Fenster zu fliegen, wurde sie schwerer und schwerer in seinen Händen. Ihr Gewicht zog ihn immer weiter nach unten, bis er schließlich nachgab und sie auf dem Fußboden abstellte. Dort stand sie nun ebenso unnütz herum wie anderswo, aber wenigstens nicht mehr in der Küche. „Dann bleib halt da“, murmelte er, kehrte dem widerspenstigen Gerät den Rücken zu und ging wieder zurück in die Küche, wo ihn jetzt ein sage und schreibe 45 cm breiter Streifen ungenutzte Arbeitsfläche anlachte. Nathan grinste. So hatte er sich das vorgestellt. Eilig befreite er das neu gewonnene Areal vom Staub, der sich unter und hinter der Maschine gesammelt hatte, bevor er Olivenöl, Tomatenmark, Salz, Essig, Zucker sowie die frischen Kräuter im lockeren Halbkreis darauf verteilte. Zum Schluss holte er noch den Mörser aus der hintersten Ecke des Küchenschrankes. Marvin hatte ihm das edle Utensil zum letzten Geburtstag geschenkt. Allein das Gewicht war beeindruckend. Mehr als drei Pfund feinsten, italienischen Marmors musste Nathan auf die Arbeitsfläche hieven, bevor er endlich anfangen konnte zu kochen. Und kochen würde er jetzt! Langsam erhitzte er die gesprenkelte Keramikpfanne und gab Olivenöl sowie die gewürfelten Zwiebeln dazu. Schon bald stiegen erste Bläschen auf; die Zwiebeln begannen zu zischeln. Sorgfältig rührte Nathan mit dem großen Holzlöffel um, damit sie nicht braun wurden. Als die Stücke glasig geworden waren, fügte er Karotten und Sellerie hinzu und rührte weiter, bis auch das restliche Gemüse leicht angedünstet war. Es roch bereits herrlich nach Essen.   Als Nächstes kam das Tomatenmark. Es zischte, als die rote Paste auf die Pfanne traf. Schnell vermischte Nathan die Zutaten, ließ das Mark leicht anrösten und gab schließlich Salz, Pfeffer, etwas Essig und Zucker dazu. Nachdem er noch eine halbe Tasse Wasser beigefügt hatte, reduzierte er die Hitze und deckte die Pfanne mit einem Glasdeckel ab. Jetzt würde er die Soße köcheln lassen, bis sie gut durchgezogen und das Gemüse gar geworden war. Danach musste er nur noch ein wenig abschmecken und der erste Teil war erledigt.   Fehlen nur noch zwei. Mit einem geübten Griff stellte er noch schnell einen Topf mit Wasser auf die freie Herdplatte, bevor er sich dem Mörser zuwendete. Natürlich hätte er die Kräuter und Gewürze auch einfach mit in die Soße geben können, aber das Ergebnis wäre nicht das gleiche gewesen. Was Nathan im Sinn hatte, waren verschiedene Geschmacksrichtungen, die im Mund erst einzeln zur Geltung kamen, bevor sie sich zu einem großen Ganzen zusammenfügten. Und genau deswegen würde er jetzt Handarbeit walten lassen. Das ausgesuchte Grün des Karottenbundes verschwand zusammen mit dem Knoblauch und einer guten Handvoll frischem Koriander in der großen Schale, in die Nathan zuvor bereits einige Cashewkerne gegeben hatte. Er griff nach dem Stößel und zerrieb die feinen Zutaten sorgfältig. Zwischendurch gab er immer wieder ein wenig Olivenöl und ganz zum Schluss noch etwas Sesamöl dazu. Salz, Pfeffer und etwas Zitronensaft rundeten das Ganze ab. Nathan schnupperte. Der intensive, frische Geruch, der von dem Pesto ausging, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Zusammen mit der eher bodenständigen Soße und der leichten Pasta, würde sich ein Gericht ergeben, dass perfekt zur Jahreszeit passte. Nicht mehr ganz Winter, aber noch nicht ganz Frühling. Nur eine Verheißung, ein Vorgeschmack, der dazu einlud zu träumen.   Über seine Schwärmerei hätte Nathan beinahe vergessen, die Nudeln ins Wasser zu geben. Schnell holte er das nach und stellte auf seinem Handy einen Timer für die Garzeit. „Jetzt brauche ich nur noch die richtige Aufmachung.“ Flach? Nein. Schüssel? Nein! Ah, da. Der. Der ist gut. Nathan zog einen der riesigen, weißen Pastateller hervor, die er sich einmal in einem Anfall von Wahnsinn gekauft hatte. Die Dinger waren so gigantisch, dass sie keinen Platz in der winzigen Küche fanden und deshalb – ebenso wie das restliche Geschirr – im Wohnzimmer aufbewahrt werden mussten. Doch trotz ihres fast schon obszönen Ausmaßes würden sie genau die richtige Bühne für seine Linguini à la Nathan ergeben. Kaum hatte er das gedacht, klingelte auch schon sein Handy. Die Nudeln mussten abgegossen werden. Keine Zehn Minuten später saß Nathan vor seiner Kreation. Auf einem Berg genau auf den Punkt gegarter, unschuldig weißer Linguini thronte ein kräftiger Hieb der kräftigen, orangeroten Soße. Gekrönt hatte Nathan das Ganze mit einem guten Esslöffel des saftiggrünen Pestos. Es sah fast aus wie aus einem Kochbuch. „Halt, erst ein Foto“, gemahnte sich Nathan und schoss eine Reihe von Bildern, bevor er das Gerät beiseite legte und nach dem Besteck griff. „Na dann, guten Appetit.“ Er nickte der Kaffeemaschine zu, die ihm gegenüber immer noch vorwurfsvoll auf dem Boden hockte, und hob die Gabel. Jetzt war der Moment der Wahrheit gekommen. Der Moment, der die Frage beantworten würde, ob es auch wirklich so schmeckte, wie Nathan es sich ausgemalt hatte. Er wickelte einige Nudeln auf, ergänzte noch ein wenig Soße und führte sie anschließend zum Mund. Kurz pusten und dann … Geschmack! Zur Sicherheit schloss Nathan die Augen, um sich auch wirklich auf das Erlebnis einzulassen. Es war heiß und vollmundig, aber gleichzeitig frisch und kühlend. Süß und salzig mit einem angenehmen Biss, der nicht mehr ganz knackig war, sondern eher ein vollmundiges Wohlgefühl auslöste. Schnell nahm Nathan noch einen zweiten Bissen und die Berg- und Talfahrt wiederholte sich, wenngleich auch mit anderen Anteilen. Je nachdem, von welcher Soße man mehr nahm, schmeckte es mal so, und mal so. Hier war es süß und dort eher scharf, an anderer Stelle wiederum einfach nur lecker. Ein Gericht, dass niemals langweilig wurde, weil es immer wieder anders schmeckte. Immer wieder neu, mit jedem Bissen. „Es ist perfekt“, murmelte er den Mund noch voller Nudeln. „Ich muss das aufschreiben.“ Er ließ die Gabel fallen, rappelte sich auf und eilte zum Schreibtisch. Mit fahrigen Bewegungen suchte er nach einem freien Stück Papier, fand es und begann zu schreiben. Vergessen war sein Essen, vergessen die Kaffeemaschine oder Marvin oder sonst irgendetwas. Jetzt galt es nur, das Rezept möglichst detailgetreu niederzuschreiben. Wie viel Koriander, wie viel Knoblauch, wie viel Gramm Karotten hatte er in etwa genommen? Wie lange die Soße köcheln lassen? Zwei- oder dreifach konzentriertes Tomatenmark? Welches Olivenöl? Nathan war so versunken in seinen Aufzeichnungen, dass er gar nicht merkte, wie die Zeit voranschritt. Als er den Stift endlich beiseite legte, war sein Essen kalt geworden und die Uhr auf halb elf vorgerückt. Nathan rieb sich die Augen. Wird Zeit ins Bett zu gehen. Den Teller mit den übrig gebliebenen Linguini trug er zurück in die Küche. Hier sah es immer noch aus wie auf einem Schlachtfeld. Nathan gab jedoch lediglich die Reste zurück in den Topf und schloss den Deckel darüber. Aufräumen und Abwaschen würde er morgen zusammen mit dem Frühstücksgeschirr und vielleicht … Es klopfte. Nathan fuhr herum. Der Teller, den er noch in der Hand gehalten hatte, entglitt seinen Fingern und polterte in die Spüle. Nathan fluchte. Es klopfte erneut. Das war nicht die Tür. Ganz davon abgesehen, dass Nathan nicht gewusst hätte, wer zu dieser späten Stunde noch vor seiner Wohnung stehen sollte, hatte das Geräusch merkwürdig geklungen. So als hätte jemand von außen gegen die Scheibe geklopft. Die Haare in Nathans Nacken richteten sich auf. Er konnte nicht anders als auf den dunkelroten Vorhang Ende des Wohnzimmers starren. Es war genau das Fenster, an dem am Samstag … er konnte es nicht aussprechen. Nicht einmal denken. Er ist wieder da. Er ist wieder da, hämmerte es in seinem Kopf. Und gleichzeitig meinte er Marvins Stimme zu hören. Es ist nur eine Einbildung. Reine Nervensache. Da kann niemand sein. Na los, geh nachsehen. Du kannst das. Nathan ignorierte seinen wummernden Herzschlag und das Zittern seiner Hände. Mutiger, als er sich fühlte, griff er nach dem großen Tranchiermesser und gleichzeitig nach seinem Handy. Sollte er flüchten müssen, würde er nicht wieder vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt in seinem Badezimmer ausharren. Er würde die Cops rufen und diesem Spuk ein Ende setzen. Aber erst einmal würde er überprüfen, ob dort draußen tatsächlich jemand war. Nur zur Sicherheit. Das Messer wie eine Lanze vor sich haltend näherte Nathan sich dem Vorhang. Er griff mit der freien Hand danach und zählte langsam bis drei. Und dann noch einmal. Beim dritten Mal traute er sich immer noch nicht, den Stoff beiseitezuschieben. Was, wenn dort wirklich jemand stand? Was dann? Jetzt sei nicht so ein Feigling. Los, mach! Noch einmal atmete Nathan tief durch, nahm all seinen Mut zusammen und riss den Vorhang zur Seite.   Ihm gegenüber stand eine dunkle, mit einem Messer bewaffnete Gestalt.   Panisch wich Nathan zurück, bereit zuzustechen, aber dann … wurde ihm plötzlich klar, was er da sah. Ein ersticktes Lachen entkam seiner Kehle. Das, was er im ersten Moment für einen fremden Mann gehalten hatte, war nur sein eigenes Spiegelbild. Hinter sich konnte er sein Wohnzimmer ausmachen; die gemütliche Stehlampe, die Regale, ja sogar den Umriss des Sofas. Auf der anderen Seite des Glases jedoch war nichts. Nur die beleuchteten Vierecke auf der gegenüberliegenden Seite der Straße und jede Menge leerer Raum. Mit einem tiefen Aufatmen legte Nathan das Messer beiseite und trat ans Fenster. Er öffnete die Verriegelungen und schob die schwere Scheibe nach oben. Kalte Nachtluft strömte an ihm vorbei in das warme Wohnzimmer und das ferne Rauschen der Hauptstraße legte sich auf seine Ohren. Ein klappernder Truck fuhr unter ihm vorbei. Nathan sah die Scheinwerfer auftauchen und wieder verschwinden. Irgendwo lachten Leute. Eine Gruppe von Barbesuchern vielleicht, die jetzt den Heimweg angetreten hatten. Schritte kamen näher und verklangen dann wieder in der dunklen Nacht. Nathan begann sich zu entspannen. Es war wirklich nur eine Sinnestäuschung gewesen. Der Sims, der sich unterhalb seines Fensters befand, war leer. „Guten Abend, Nathan.“ Nathans Kopf ruckte nach oben und kollidierte schmerzhaft mit dem Fensterrahmen. Er schrie auf, schlug ihn sich gleich noch einmal an und schaffte es endlich, das schmerzende Körperteil nach drinnen zu ziehen. Rückwärts stolpernd flüchtete er vor der lebendig gewordenen Dunkelheit, die sich jetzt neben seinem Fenster auftürmte. Dabei wischte er nicht nur haufenweise Notizen sondern auch das kostbare Messer vom Schreibtisch. Es ging polternd zu Boden und schlitterte über die blank polierten Dielen. Nathan hechtete hinterher, aber zu spät. Die Waffe verschwand zielsicher unter dem Sofa und mit ihr Nathans einzige Hoffnung auf Rettung. „Oh, habe ich dich erschreckt?“ Nathan wirbelte herum. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete er die Gestalt, die sich jetzt aus den Schatten schälte. Es war der Mann. Der gleiche Mann, den er schon einmal gesehen hatte. Er war wieder da. Und er lächelte. „Darf ich reinkommen?“ Die Frage des Fremden hatte beinahe ein Nicken zur Folge. Erst im letzten Moment zogen Nathans verbliebene Gehirnzellen die Bremse und machten aus der begonnenen Bewegung ein Kopfschütteln. Der Fremde verzog keine Miene. „Darf ich hereinkommen?“, wiederholte er nur seine Frage. Nathan schien es, als wäre sein Tonfall dieses Mal ein wenig drängender, fordernder. Fast so als … bräuchte er die Erlaubnis. Als könnte er nicht einfach einen Fuß über die niedrige Brüstung setzen, zu Nathan ins Zimmer kommen und ihn kaltblütig umbringen. Stattdessen stand er da, als wartete er auf etwas. „Äh …“ Zu mehr Eloquenz fühlte Nathan sich gerade nicht imstande. Der Fremde wendete kurz den Kopf, als wolle er sich umsehen, bevor er sich wieder Nathan zuwandte. „Mir wäre es wirklich angenehm, wenn wir diese Unterhaltung nach drinnen verlegen könnten. Also, darf ich hereinkommen?“ Noch einmal deutete der Mann auf die Fensteröffnung. Und kam tatsächlich nicht rein. Es war absolut surreal. „Ähm … nein?“, äußerte Nathan vorsichtig. Vermutlich war es ohnehin egal, was er antwortete. Er war ohnehin so gut wie tot. Die Augen des Fremden glommen auf. „Nein?“, fragte er nach. Sein Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Trotzdem meinte Nathan zu spüren, dass etwas von ihm ausging. Eine dunkle Macht, die sich nach Nathan ausstreckte und ihn doch nicht erreichen konnte. Nicht ganz. Nicht hier. Nicht in seinem Zuhause. „Nein“, wiederholte Nathan, dieses Mal fester. Noch immer starrte der Fremde zu ihm herein. Dann lachte er plötzlich. Es war ein junges, unschuldiges Lachen. „Oh, entschuldige. Ich vergesse meine Manieren. Vielleicht sollte ich mich zunächst vorstellen. Mein Name ist Ezra.“ Ezra. Nathan rollte den Namen in Gedanken auf seiner Zunge hin und her. Er klang fremd und gleichzeitig vertraut. Wie ein … Freund. Und wenn Nathan jetzt seinen Namen kannte, war er auch kein Fremder mehr. Das hieß doch, dass er ihn hereinlassen konnte, oder nicht? Nein! Nathan ballte die Hand zur Faust. Das hier war ganz und gar nicht nett oder harmlos oder irgendwas. Da stand ein Irrer mitten in der Nacht vor seinem Fenster. Im sechsten Stock! Und wollte hereingelassen werden! Auf gar keinen Fall!! „Ich werde jetzt die Polizei rufen“, verkündete Nathan und tastete nach seinem Handy. Schnell., bevor er es sich anders überlegen konnte, wählte er die Nummer. „Nathan, lass mich …“ „Notrufzentrale, was möchten Sie melden?“ „Ja, ich …“ „Nathan.“ „Also da ist …“ „Nathan.“ „Ich möchte gerne …“ „Nathan!“ „Argh! Könntest du mal die Klappe halten? Ich versuche zu telefonieren.“ Nathan funkelte seinen ungebetenen Gast an, während er den Hörer zuhielt. Ezra legte den Kopf ein wenig schief, blieb aber, wo er war. Nathan knurrte und wandte sich wieder dem Telefon zu. „Ja, also, ich habe da … ach wissen Sie was, vergessen Sie es. Ich rufe später nochmal an.“ Er legte auf, bevor die Frau am anderen Ende noch einmal nachfragen konnte. Dann starrte er das Display an, als könne er nicht glauben, was er gerade getan hatte. Er hatte aufgelegt. Warum? Weil es vollkommen verrückt ist. Sie hätte dir eh nicht geglaubt. „Können wir uns jetzt unterhalten?“ Nathan blickte auf. Ezra stand immer noch vor dem Fenster, während er hier auf dem Boden herumhockte wie ein Vollidiot. Das war wirklich vollkommen bescheuert. Wahrscheinlich habe ich mir tatsächlich den Kopf angestoßen und liege gerade bewusstlos in meinem Wohnzimmer herum, während das offene Fenster meine Heizungsrechnung in die Höhe treibt. Ich sollte schleunigst aufwachen. Nathan schloss die Augen, zählte leise bis zehn und öffnete sie wieder. An seiner Aussicht hatte sich nichts verändert. Da stand immer noch ein Mann vor seinem Fenster. Also noch einmal. Augen fest zupressen, bis zehn zählen, öffnen. Ezra war immer noch da. „Scheiße!“ „Wie meinen?“ Jetzt sprach die Halluzination auch noch mit ihm. So ein verdammter Mist! Ächzend rappelte Nathan sich auf und trat sicherheitshalber noch einen Schritt zurück, bevor er den Mann auf dem Sims einer ersten, ernsthaften Musterung unterzog. Der Fremd trug einen langen, schwarzen Mantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Sein Gesicht war blass, die Haare dunkel. Hohe Wangenknochen und eine schmale, ausdrucksvoll geschwungene Nase gaben ihm etwas Verwegenes, Kühnes. Am auffälligsten waren jedoch seine Augen. Ein tiefes, unergründliches Blau, das mitten in Nathans Seele hinab zu blicken schien. Wie ein Abgrund, der in einen hineinschaut, dachte er und schüttelte gleich darauf den Kopf. Was für ein Unsinn! „Was willst du?“, fragte er und versuchte dabei fest und sicher zu klingen. Da der Mann – Ezra – offenbar nicht vorhatte, ihn umzubringen, wurde er ihn vielleicht am schnellsten los, wenn er ihm gab, was er wollte. „Geld? Den Fernseher? Mein Handy?“ Ezras Lippen zuckten. „Nichts von alldem. Ich möchte dich lediglich etwas fragen. Wegen Samstagnacht.“ Samstagnacht. Die Nacht, in der Nathan diese schrecklichen Geräusche gehört hatte. Noch jetzt lief ihm ein Schauer über den Rücken, wenn er nur daran dachte. Eine Reaktion, die sich offenbar auf seinem Gesicht widerspiegelte. Ezra musterte ihn eindringlich. „Du hast etwas gesehen, nicht wahr? Was war es? Sag es mir!“ Der Befehl traf Nathan wie eine Ohrfeige. Ihm war, als drückte etwas seine Kiefer auseinander, um die Antwort mit glühenden Zangen aus ihm herauszuholen. Unwillkürlich wich er weiter zurück. Ezra fauchte. „Was ist los? Willst du mir nicht antworten?“ Doch. Doch, das wollte Nathan unbedingt. Aber gleichzeitig sträubte sich alles in ihm gegen diesen … Zwang. Genau das war das Wort, das er gesucht hatte. Irgendwas war hier faul. „Warum willst du das wissen?“, stieß er hervor. Im Grunde war er selbst überrascht, dass er das hinbekommen hatte. Auch Ezra schien in höchstem Maße irritiert. „Wie kannst du …?“, begann er, bevor er sich selbst stoppte. Seine Gesichtszüge wurden ausdruckslos. „Egal! Sag mir jetzt, was du gesehen hast.“ „Sag du mir erst, warum du das wissen willst.“ Einige Augenblicke lang starrten sie sich einfach nur an. Nathan war sich bewusst, dass, wenn sie jetzt woanders gewesen wären, er vermutlich flach auf dem Rücken gelegen hätte, ein Knie auf der Brust und eine Waffe zwischen den Zähnen. Aber aus irgendeinem Grund war er noch am Leben und es sah so aus, als würde er es auch bleiben. Wenigstens bis er Ezra verraten hatte, was der wissen wollte. Und genau deswegen würde er garantiert nicht … Ezra seufzte leise. „Na schön, du hast gewonnen. Ich gebe auf. Also würdest du mir jetzt bitte sagen, was du in dieser Nacht gesehen hast?“ Dieses Mal war es wirklich eine Frage. Eine Bitte. Nathan konnte den Unterschied spüren. Und er konnte Nein sagen, wenn er wollte. Und genau deswegen wollte er es nicht mehr. Verdammte umgekehrte Psychologie. „Ich … ich habe nicht wirklich etwas gesehen“, gab er stockend zu. „Nur gehört. Es klang wie ein … ein Tier, das sich an irgendwelchen Abfällen gütlich tat. Und dann war da noch ein Krachen. Das war, nachdem mein Telefon geklingelt hatte. Ich habe eine Nachricht von …“ Nathan biss sich auf die Zunge. Er durfte Marvin nicht hier mit reinziehen. „… einem Freund bekommen. Danach bin ich weggelaufen. Mehr weiß ich nicht.“ Ezra reagierte zunächst nicht auf diese Eröffnung. Er sah zwar immer noch in Nathans Richtung, aber sein Blick schien durch ihn hindurch ins Leere zu gehen. Irgendwann erwachte er aus seiner Starre. „Ist das wirklich alles?“, wollte er wissen. Nathan nickte. Ezra atmete hörbar aus. Nathan hatte das Gefühl, dass er enttäuscht war. Doch noch bevor er danach fragen konnte, hatte Ezra sich bereits wieder in der Gewalt. Ein nichtssagendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Nun gut, dann werde ich wohl weitersuchen müssen. Trotzdem würde ich dir gerne meine Telefonnummer dalassen. Nur für den Fall, dass dir noch etwas einfällt.“ Er zog eine edel aussehende Visitenkarte aus der Manteltasche und hielt sie Nathan hin. Fast schon automatisch machte der zwei Schritte nach vorn und wollte gerade danach greifen, als ihm bewusst wurde, wie nahe er gerade an das Fenster getreten war. Sofort blieb er stehen. Sein Kopf schnappte nach oben und er konnte gerade noch den Anflug eines Grinsens aus Ezras Gesicht verschwinden sehen, bevor der ihn fragend ansah. „Was ist?“, wollte er wissen. „Nimm sie nur. Ich beiße nicht.“ Nathan schluckte. Irgendetwas an diesem Satz war nicht in Ordnung. So überhaupt nicht in Ordnung. Er konnte nur nicht den Finger darauf legen, was es war. Mühsam schob er seine Mundwinkel nach oben. „D-danke. A-aber vielleicht … vielleicht legst du sie einfach aufs Fensterbrett? Und ich hole sie mir dann, wenn du weg bist. Das macht weniger Umstände.“ Nathan wusste, dass er absoluten Schwachsinn plapperte. Und er wusste, dass Ezra das ebenfalls wusste. Trotzdem teilte ein Lächeln seine eigenartig rosigen Lippen. „Du bist schlauer, als du aussiehst“, konstatierte er und legte die Karte tatsächlich auf die Fensterbank. „Hier, bitte sehr. Kein Netz und kein doppelter Boden.“ Wie um seine Worte zu beweisen, hielt er die Hände hoch und trat einen Schritt zurück. Nathan hielt unwillkürlich den Atem an. Ezra musste jetzt am Rand des Simses stehen, nur einen Schritt entfernt vom sicheren Tod. „Du solltest aufpassen, dass du da nicht runterfällst. Es ist ziemlich tief.“ „So?“ Ezra tat überrascht und lehnte sich noch ein Stück nach hinten. „Ach du meine Güte, ja. Das sind bestimmt wie viel? 20, 25 Meter?“ „Bitte, sei vorsichtig!“ Nathans Stimme hatte wie von selbst einen flehenden Klang angenommen. Ezra sah ihn an und wirkte amüsiert. „Du sorgst dich tatsächlich um mich, oder?“ Nathan blinzelte. Jetzt, wo Ezra fragte, klang das tatsächlich reichlich dämlich. Der andere schien aber gar keine Antwort zu erwarten. Er sah Nathan nur noch einen Augenblick lang an, bevor er sich umdrehte und über die Schulter hinweg rief: „Pass auf dich auf, kleiner Nathan. Und halte dich lieber von dunklen Gassen fern. Manchmal lauern dort sehr unschöne Überraschungen auf unvorsichtige Spaziergänger.“ Dann war er fort. Nathan stürzte zum Fenster. Er lehnte sich über die Brüstung und spähte panisch nach unten, aber da war niemand. Keine zerschmetterte Leiche auf dem Gehweg und auch sonst war niemand zu sehen. Sein nächtlicher Besucher hatte sich in Luft ausgelöst. „Der Wahnsinn. Einfach absoluter Wahnsinn“, murmelte Nathan und sah hinab auf das elfenbeinfarbene Rechteck, das neben ihm auf dem Fensterrahmen lag. Neugierig hob er es auf und besah es von allen Seiten. Das Papier war dick, geprägt und schimmerte im Licht des aufgehenden Mondes wie Seide. Ein absolutes Kleinod, das bestimmt ein Heidengeld gekostet hatte. Wenn man es ansah, rechnete man mit Goldbuchstaben und der Adresse eines Top-Anwalts oder eines erfolgreichen Börsenmaklers der oberen Zehntausend. Es gab da nur ein Problem: Die Visitenkarte war leer.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)