Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 10: Nachbeben --------------------- Der Wagen war teuer. Ein Luxusmodell mit Ledersitzen, einer Konsole aus edlen Hölzern, verchromten Armaturen und einem Teppich, der dicker war als der im Wohnzimmer seiner Großeltern. Es war einschüchternd; allerdings nicht so sehr wie die Tatsache, dass Ezra zunächst drei Blocks in die falsche Richtung gefahren war, um dort Nathans Handy zu zertrümmern und in einem Müllcontainer zu versenken. Sein eigenes hatte er in der verwüsteten Wohnung zurückgelassen. Auf die Frage, ob das nicht verdächtig wäre, hatte er nur geantwortet, dass sich jemand darum kümmern würde. Wer das war, wusste Nathan nicht, aber er vermutete stark, dass es mit dem Anruf zu tun hatte, den Ezra getätigt hatte, kurz bevor sie gegangen waren.   Ein flüchtiger Blick streifte ihn. Er konnte es fühlen. „Ist alles in Ordnung?“ Ezras Stimme war immer noch dieselbe. Rau, dunkel und ein wenig mysteriös. Wie Nebel über einem nächtlichen Tannenwald. Auch seine Augen waren immer noch dieselben. Tiefblaue Bergseen, unter deren Oberfläche ein Abgrund lauerte. Und doch war alles anders als noch vor ein paar Stunden, denn jetzt kannte Nathan die Wahrheit.   Mit einiger Anstrengung hob er den Kopf und schob einen seiner Mundwinkel nach oben. „Tja, ich weiß nicht. Einerseits habe ich das Gefühl, dass ich dir dankbar sein sollte. Immerhin hast du mir gerade das Leben gerettet. Andererseits scheinst du es gar nicht abwarten zu können, mich wieder loszuwerden.“   Ezra antwortete nicht sondern hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet. Als er an eine Ampel kam und anhalten musste, presste er die Kiefer aufeinander. „Wie kommst du darauf?“ Nathan, der bereits nicht mehr mit einer Fortsetzung der Unterhaltung gerechnet hatte, schluckte. „Na ja … Du wechselst ständig die Fahrspur, fährst immer knapp über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit und sprichst kein einziges Wort mit mir. Außerdem beantwortest du keine meiner Fragen. Nicht einmal die, ob der Wagen neu ist. Ich denke, das sind recht eindeutige Hinweise.“ Nathan versuchte, über seinen eigenen Scherz zu lachen. Er hatte diese dumme Smalltalk-Einleitung ganz am Anfang der Fahrt benutzt, um irgendwie mit Ezra ins Gespräch zu kommen. Ihm hatte lediglich eisiges Schweigen geantwortet. Genau wie jetzt.   Die Ampel sprang auf Grün. Ezra legte den Gang wieder ein, aber als er losfuhr, war es langsamer und weniger sportlich als die letzten Male. Nach einer Weile warf er einen Blick in Nathans Richtung. „Du bist ein guter Beobachter.“   Nathans Lächeln erstickte im Keim. „Dann stimmt es also?   Ezra sah weiter stur nach vorn. „Ich muss“, gab er einsilbig zurück. „Eigentlich hättest du von all dem gar nichts mitbekommen sollen.“   Nathan schnaubte. „Dann hättest du vielleicht nicht so viel Zeit auf meiner Fensterbank verbringen sollen.“   Ezra warf ihm erneut einen kurzen Blick zu, sagte aber nichts. Nathan erkannte an der Gegend, dass sie sich ihrem Ziel näherten.   „Was wirst du jetzt tun?“, fragte er, nachdem das Schweigen schon wieder eine Weile angedauert hatte. „Wirst du diese Typen jagen? Sind sie es, die die Friedhöfe geplündert haben? Die, hinter denen du her bist.“   Erneut antwortete Ezra nicht, aber das musste er auch nicht. Nathan wusste ohnehin, dass es so war. Aber da war noch etwas, das ihn beschäftigte.   „Dieses Ding, das mich da angegriffen hat … es war unheimlich stark. Und schnell. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich tot gewesen. Ich frage mich, allerdings, wie es dazu kommen konnte. Hattest du nicht gesagt, dass du auf mich aufpasst? Was wäre gewesen, wenn ich nicht … wenn du nicht in die Wohnung gekonnt hättest? Oder war das auch gelogen?“   Ezra schwieg weiter beharrlich und Nathan hätte sich selbst ohrfeigen können. Er hätte wissen müssen, dass …   „Es war keine Lüge.“   Ezra sah ihn nicht an, aber sein Ton war deutlich gereizt.   „Oder glaubst du, ich wäre freiwillig draußen geblieben, wenn es mir ein Leichtes gewesen wäre, zu dir hineinzugelangen und dich mit Gewalt dazu zu bringen, mir zu verraten, was ich wissen wollte?“   Nathan sagte nichts. Wenn Ezra es so ausdrückte, ergab die Sache wieder einmal viel zu viel Sinn. „Aber ich musste warten, dass die … dass deine Verfolger zu dir kamen. Gewisse Umstände führen dazu, dass es mir nicht möglich ist, sie aufzuspüren.“ „Dann hast du gewusst, dass sie heute Nacht kommen würden?“ „Nein!“ Das Wort kam so schnell und heftig, dass Nathan misstrauisch wurde. Fragend blickte er Ezra an. Dessen Hände schlossen sich fester um das Lenkrad. „Ich hab nicht gewusst, dass sie kommen würden. Die Tage zuvor hatte ich gehofft, dass sie es tun würden, aber heute … Heute hatte ich angenommen, dass sie weitergezogen sind. Ein Irrtum, wie sich herausstellte.“   Nathan brauchte eine Weile, bis er begriff, was das hieß. „Du hast mich also benutzt“, stellte er ernüchtert fest. „Du hast mich benutzt. Als Köder für diese … diese …“   „Ghule“, erwiderte Ezra knapp. Er schien nicht gewillt, auf Nathans Vorwurf einzugehen.   „Ghule?“, wiederholte Nathan. „Was sind Ghule?“ Ezra presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich war ihm das Wort einfach nur so herausgerutscht, aber Nathan hatte nicht vor, es dabei bewenden zu lassen.   „Was sind Ghule?“, wiederholte er mit fester Stimme. Ezra sah ihn kurz an und dann wieder weg. „Ghule sind … Du hast selber gesehen, was sie sind.“   Nathan ließ ein Zischen hören.   „Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Ich wäre heute Abend beinahe draufgegangen. Ich verdiene eine Antwort. Wenigstens das.“ Er hörte Ezra förmlich mit den Zähnen knirschen. Es war eine eigenartige Vorstellung. Ob sie wohl wirklich spitz waren?   „Ghule sind Untote. Sie gleichen zwar noch den Menschen, die sie früher einmal waren, aber in ihnen befindet sich keinerlei natürliches Leben mehr. Es ist lediglich eine … höhere Macht, die sie am Leben hält.“ „So wie Vampire?“   Ezra zuckte kurz. Das Schweigen kehrte zurück und für einen Augenblick hatte Nathan das Gefühl, dass er Ezra wieder verloren hatte, bevor dieser erneut zu sprechen begann.   „Ghule und Vampire sind sich durchaus ähnlich, auch wenn einige Einschränkungen, die uns betreffen, für sie nicht gelten. Gleichzeitig besitzen wir viele Freiheiten, die ihnen versagt sind. Beispielsweise haben Ghule keine Heilfähigkeiten, sodass ihre Körper mit der Zeit Spuren davontragen, die sie als das kennzeichnen, was sie sind.“   Das schwarze Blut.   Nathan konnte sich vorstellen, dass das für einigermaßen Aufsehen sorgte. Die Wunde unter seinem Verband puckerte im Takt seines Herzschlags.   „Und warum buddeln sie Leichen aus? Machen sie daraus neue Ghule?“ Ezra verzog den Mund zu einem nachsichtigen Lächeln. „Jede Art von Leben benötigt Energie.“ „Und das bedeutet?“   Ein vielsagender Blick traf ihn. Nathan wurde bleich. „Du meinst sie fressen sie?“   Sofort waren da wieder die Geräusche aus dem Parkhaus. Das Schlürfen und Schmatzen, Reißen und Knacken. Doch jetzt fütterte sein Gehirn ihn auch mit den passenden Bildern. Katherine, die wie ein Tier über eine halb vermoderte Leiche gebeugt dasaß und das Fleisch des Toten in sich hineinschlang wie ein Hund die heruntergefallenen Abfälle in einem Schlachthaus. Ihre Augen glommen hungrig auf, während ihre Zähne wächserne Haut und vermodernde Knochen zermalmten, als wären sie Teegebäck. Die Vorstellung war so bizarr, dass Nathan sogar vergaß, sich zu schütteln oder zu übergeben. Das war einfach nur …   „Eklig.“   Ezras Mundwinkel zuckten. „Ich dachte mir, dass du so denkst. Es liegt daran, dass sich ihre Körper ebenfalls bereits in einem Zustand der Verwesung befinden. Deswegen können sie nur verrottetes Fleisch zu sich nehmen. Alles andere würde sofort abgestoßen werden.“ „Dann sind es also Zombies.“ „Nein. Zumindest nicht so, wie sie in den Filmen dargestellt werden.“   Ezra hatte den Blick gesnach vorn gerichtet, aber er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.   „Ghule sind tot, aber sie sind intelligent. Ihre Wandlung beschert ihnen ewiges Leben. Es macht sie schneller, stärker und lässt sie niemals altern. Allerdings fühlen sie auch nichts mehr. Sie können nicht riechen oder schmecken. Ihre Sinneserfahrungen beschränken sich auf das Sehen und Hören. Im Grunde sind sie wie … wie tote Vampire.“   Nathan runzelte die Stirn. „Aber Vampire sind doch auch tot. Oder untot, wenn dir das lieber ist.“   Ezra öffnete den Mund. Er schien etwas sagen zu wollen und sich gleichzeitig nicht sicher zu sein, ob es klug war, das zu tun. Nathan wusste, wie sich das anfühlte.   „Vampire sind nicht tot“, sagte Ezra langsam. „Wir leben. Wir spüren alles, unsere Körper sind warm. Auch unser Herz schlägt immer noch. Wie bei einem Menschen.“ Sie waren jetzt in Marvins Straße angekommen. Ezra fuhr langsamer, um nach einer Parklücke zu suchen. Als er keine fand, blieb er mitten auf der Straße stehen. Er zog die Handbremse an, legte den Schalthebel um und drehte den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor erstarb. Stille trat ein, nur ab und zu unterbrochen von einem leisen „Pling“ des abkühlenden Metalls. Nathan konnte Ezra atmen hören. „Wie meinst du das?“, wollte er wissen „So, wie ich es gesagt habe.“ Nathan schluckte. Er hatte die Worte gehört und doch hatte er das Gefühl, das mehr dahinter steckte. Viel mehr. Und er wehrte sich dagegen, es zu verstehen. „Aber ihr trinkt Blut“, sagte er, wie um sich daran zu erinnern, mit wem er es zu tun hatte. Ezra nickte. Da war etwas in seinem Blick, dass vorher nicht da gewesen war. Etwas wie Bedauern oder Reue oder … Sehnsucht. Nathans Herz klopfte ihm bis zum Hals.   „Warst du je in Versuchung, mein Blut zu trinken.“   Warum sagte er das jetzt? Warum klammerte er sich so an diesen Gedanken? „Hättest du gewollt, dass ich das tue?“, fragte Ezra zurück. Nathan schüttelte den Kopf.   „Dann stell mir nicht solche Fragen.“ Ezra wollte sich abwenden, aber Nathan hielt ihn zurück. Seine Hand berührte Ezras Arm, den Stoff seines Mantels. Darunter ein Hemd und dann … Haut. Warme, lebendige Haut. Nathan hätte sie gerne berührt. „Warum bist du gestern gegangen?“   Ezra senkte den Blick und atmete tief durch. Es klang fast wie ein Seufzen. „Als du … mich gefragt hast, was passieren würde, hast du deine Frage so formuliert, dass ich davon ausging, dass die Worte den Bann aufgehoben hatten. Aber gleichzeitig war ich mir nicht sicher, ob du wirklich wolltest, dass ich hereinkomme. Deswegen bin ich gegangen.“   Er lächelte schmal. „Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich mir nicht weiß, ob ich mich immer unter Kontrolle hätte. Ob ich nicht doch etwas tun würde, dass du später bereust.“   Oder ich.   Wieder hatte Ezra die Worte nicht ausgesprochen, aber Nathan war sich sicher, sie fast schon gehört zu haben. Er versuchte zu atmen.   „Aber du hast … Meine Wunde! Du hast dich doch heute auch nicht auf mich gestürzt, nur weil da ein bisschen Blut war.“ Wieder lächelte Ezra, doch dieses Mal war ein bitterer Unterton darin. Sein Blick streifte Nathans verletzte Hand. „Das liegt wohl daran, dass ich heute bereits gegessen habe.“ „Du hast bereits …?“ „Bevor ich zu dir kam.“   Nathans Herz schlug schneller, während sein Verstand versuchte, all die Dinge zu verarbeiten, die gerade auf ihn einstürzten. Das hieß also, dass Ezra heute Nacht einen Menschen überfallen hatte? Ihn überwältigt und ausgesaugt? Womöglich in einer der dunklen Gassen, von dem er ihn erzählt hatte. Oder war das auch eine Lüge gewesen? Wie war das abgelaufen. Wie?   Nathan räusperte sich. Seine Kehle fühlte sich trocken an.   „Derjenige, von dem du getrunken hast … kanntest du ihn?“ „Nein.“ „War es ein Mann oder eine Frau?“ „Ein Mann.“ „Und ist er noch am Leben?“   Dieses Mal dauerte es, bevor Ezra antwortete. Er wandte den Kopf ab und sah durch die Scheibe nach draußen.   „Ja“, sagte er schließlich. „Und wo ist er jetzt?“   Ezra atmete ein und wieder aus.   „Ich habe ihn in ein Krankenhaus gebracht.“ „Dann wird er wieder?“ „Ja.“   Nathan versuchte, erleichtert zu sein. Ezra hatte niemanden umgebracht. Mit Ausnahme dieser zwei Ghule, aber die waren schon tot gewesen, also war das wohl in Ordnung. Oder nicht? Doch noch bevor er entschieden hatte, wie er darüber dachte, sprach Ezra weiter.   „Du solltest nicht zu viel auf diesen einen geben, den ich verschont habe. Ich habe bereits Menschen getötet. Dutzende. Hunderte vielleicht. Ich bin kein netter … Vampir.“   Da war ein Stocken und Nathan war sich sicher, dass er etwas anderes hatte sagen wollen. Doch dann bestand Nathans Verstand darauf, dass er sich dem ersten Teil der Aussage zuwandte. Der Sache mit den Toten, die auf Ezras Konto gingen. Hatte er das wirklich getan oder behauptete er das nur, um Nathan von sich fernzuhalten?   „Warum?“   Als Ezra ihm nicht antwortete, präzisierte er seine Frage.   „Warum hast du sie umgebracht? Denn offenbar musst du das ja nicht, um ihr Blut zu bekommen. Warum also hast du sie getötet?“ Ezras Blick war ins Leere gerichtet. Er schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein.   „Es waren andere Zeiten“, sagte er irgendwann, als Nathan schon gar nicht mehr mit einer Antwort gerechnet hatte. Noch immer sah Ezra ihn nicht an. Nathan versuchte ein Lächeln.   „Dann … ist es lange her, dass du jemanden getötet hast?“   Ezra schloss die Augen.   „Nicht so lange, wie du gerne hättest.“ „Aber ich …“ „Nein, Nathan!“   Ezra drehte sich zu ihm herum. In seinen Augen, die Nathan sonst immer so kalt erschienen waren, loderte ein unheiliges Feuer. Eines, das drohte, ihn zu verbrennen.   „Ich sagte dir bereits, dass wir Abstand voneinander halten müssen. Um deinetwillen. Du hast heute Abend gesehen, was dabei herausgekommen ist, weil ich es nicht getan habe. Du hättest sterben können.“   Nathans Mundwinkel bewegten sich ein winziges Stück nach oben. „Dann habe ich also kein Mitspracherecht dabei?“   Ezra schwieg und senkte den Kopf. Nathan fand, dass er traurig aussah. „Ich wünschte, ich könnte es dir gewähren“, meinte er schließlich leise. Sein Blick ruhte auf Nathans Hand, die immer noch auf seinem Arm lag. „Aber ich kann es nicht. Nicht, wenn es deinen Tod bedeutet. Du weißt nicht, auf was du dich da einlässt. Du kennst mich nicht.“ Er griff nach Nathans Hand und pflückte sie von seinem Ärmel. Seine Finger streiften dabei Nathans Haut und er stellte fest, dass Ezra die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hände waren tatsächlich warm, allerdings viel weicher als die von Jomar. Eigentlich erstaunlich. „Du solltest jetzt gehen. Ich bringe dich noch zur Tür.“ Nathan wollte protestieren, aber Ezra war bereits ausgestiegen. Er kam um den Wagen herum und riss den Schlag auf, bevor Nathan nach dem Türöffner greifen konnte. Stattdessen streckte ihm sich jetzt eine Hand entgegen. Nach einem kurzen Zögern ergriff er sie. Wieder traf warme Haut auf warme Haut. Er wusste, dass es unsinnig war, aber sein Herz begann schneller zu schlagen, während er aus dem Auto stieg und sich von Ezra in die Höhe ziehen ließ. Für einen Moment waren sie einander erneut so nahe, wie sie es bereits in seiner Wohnung gewesen waren. Doch die Situation hatte ihren Schrecken verloren. Er wusste, dass es absolut dumm war, der pure Wahnsinn, aber für einen Moment war er versucht, sich einfach in Ezras Arm zu lehnen. Ihm zu zeigen, dass er ihm – trotz allem – vertraute. Aber das war töricht. Er wusste es. Auch Ezra zögerte sichtbar, bevor er Nathans Hand wieder losließ und einen Schritt zurücktrat. Er wich Nathans Blick aus, aber Nathan konnte sehen, dass er scheinbar mit etwas kämpfte. Nur womit?   „Ist alles in Ordnung?“, fragte er und erinnerte sich dunkel, dass ihm vor nicht allzu langer Zeit die gleiche Frage gestellt worden war. „Ich kann sonst auch alleine …“   „Nein, alles in Ordnung. Ich bringe dich.“   Ezra schloss die Wagentür und ließ die Verriegelung klicken. Danach schob er Nathan förmlich über den Gehweg auf das Haus zu, in dem Marvin wohnte. Erst, als sie fast daran vorbeigegangen waren, wurde sich Nathan bewusst, dass Ezra ja gar nicht wusste, wo sie hin mussten. „Halt, hier ist es“, rief er gerade noch rechtzeitig. Ezra stoppte sofort und wirbelte zu dem Haus herum. Im Licht der Straßenlaternen konnte Nathan sein Gesicht nicht gut erkennen, aber er war sich sicher, dort so etwas wie Erleichterung zu sehen.   „Gut, dann klingle. Ich warte, bis dir aufgemacht wird.“   Nathan lachte leise.   „Also eigentlich kann ich auch gleich reingehen. Das Schloss ist schon seit langem kaputt. Marvin meckert immer darüber, dass die Hausverwaltung es nicht repariert, aber …“   Er verstummte. Das hier war Ezra. Er war ein Vampir und hatte ihn gerade vor einem Haufen tollwütiger Ghule gerettet. So triviale Dinge wie ein kaputtes Türschloss würden ihn sich nicht interessieren. „Gut dann … bringe ich dich noch bis zur Tür.“   Nathan lag auf der Zunge zu sagen, dass das nicht notwendig war, aber er protestierte nicht, als Ezra ihm die Tür aufhielt und ihm in den dunklen Flur folgte. Hintereinander stiegen sie die ausgetretenen Stufen hinauf, ohne Licht zu machen. Im dritten Stock hielt Nathan an.   Marvins Wohnung lag am Ende eines kleinen Ganges, an dessen Wand er eine riesige Regenbogenflagge gepinselt hatte. Die Hausverwaltung war davon nicht begeistert gewesen, aber Marvin hatte ihnen geantwortet, dass er die Wandbemalung erst dann entfernen würde, wenn sie die Tür reparierten. Somit hatte immer noch jeder freien Zutritt und Marvin immer noch seine Flagge. An der Tür hing ein unechter Blumenkranz. „Tja also … ich wäre dann da.“   Er drehte sich zu Ezra herum, der immer noch im dunklen Flur hinter ihm stand. Und wieder waren sie sich viel zu nahe. „Du solltest vielleicht sichergehen, dass er auch zu Hause ist“, sagte Ezra. Es klang, als suchte er nach einer Ausrede, noch ein wenig länger zu bleiben. Nathan grinste schwach.   „Marvin wird vermutlich nicht erfreut sein, dich zu sehen.“ „Du hast ihm von mir erzählt?“ „Mhm, vielleicht?“ Erst nachdem er das gesagt hatte, wurde ihm klar, dass er seinen Freund vermutlich gerade in Gefahr gebracht hatte. Was, wenn Ezra nur deswegen mitgekommen war, um sie beide …   „Keine Sorge. Ich habe nicht vor, ihm etwas anzutun.“ Ezras Stimme klang auffallend neutral. Nathans Gesicht wurde warm. „D-das hab ich auch gar nicht gedacht.“ „Aber dein Herz hat angefangen, schneller zu schlagen. Du hattest Angst.“ „Du kannst das tatsächlich hören?“ „Ja.“   Damit trat Ezra an Nathan vorbei und klopfte, noch bevor der etwas dagegen tun konnte, kräftig an die Tür. Nathan zuckte zusammen.   „Was hast du getan?“ „Das einzig Richtige.   Von drinnen war erst nichts zu hören, es folgten Schritte, die Tür wurde aufgerissen und dann stand Marvin in der Türöffnung. Im Bademantel. Kimono. Irgendetwas in grellem Türkis mit zu vielen Vögeln darauf. Als er Nathan erblickte, wurden seine Augen kugelrund und er sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. „Nathan?“, rief er vollkommen entgeistert. „Was zur Hölle tust du hier?“   Dann jedoch entdeckte er Ezra und verwandelte sich binnen Sekunden von einem verblüfften Chihuahua in einen knurrenden Dobermann.   „Was macht der hier?“ Es bestand kein Zweifel daran, dass er wusste, wer da hinter Nathan im Flur stand. Ezra reagierte gelassen. „Ich habe ihn lediglich hergebracht. Ich gehe jetzt.“ „Warte!“   Nathan war sich bewusst, dass Marvin innerhalb der nächsten 20 Sekunden die Polizei rufen würde, wenn er nicht sofort eine Erklärung erhielt. Und doch musste Nathan noch etwas wissen. „Werden wir uns wiedersehen?“   Ezra zögerte sichtbar zu antworten. Das hielt jedoch Marvin nicht davon ab, sich neben Nathan aufzubauen und ihn vorwurfsvoll anzufunkeln. „Wiedersehen?“ fauchte er. „Sag mal hast du sie noch alle? Sieh dich doch mal an. Der Typ ist ein gemeingefährlicher Stalker. Und statt dich von ihm fernzuhalten, triffst du dich auch noch mit ihm und fragst, auch noch, ob ihr euch wiederseht? Ich glaube, mein Schwein pfeift.“   Nathan hätte gerne etwas erwidert, aber er kam nicht dazu. Marvin stapfte nebst Vögeln und allem gerechten Zorn, den er aufbringen konnte, zurück in seine Wohnung. Als er wiederkam, hatte er sein Handy in der Hand. „So, der Unsinn hört jetzt auf“, verkündete er und hob das Gerät hoch. „Bitte recht freundlich.“ „Lass es.“   Ezra hatte nicht besonders laut gesprochen, aber selbst Nathan spürte noch den Zwang, der hinter seinen Worten lag. Marvin hingegen, der die volle Wirkung abbekommen hatte, blieb stocksteif stehen, das Handy mit der Kamera weiterhin erhoben und auf Ezra gerichtet. Allerdings war er anscheinend nicht in der Lage, den Daumen auf den Auslöseknopf zu senken. Er stand einfach nur da und blinzelte. Sein Mund zuckten nervös. „Was … was passiert hier gerade?“   Nathan sah hinüber zu Ezra. „Lass ihn los.“   Ezra knurrte. „Ich halte ihn nicht fest. Er muss lediglich die Kamera senken, dann passiert ihm nichts.“   Nathan wirbelte zu Marvin herum. „Marvin, tu was er sagt“, beschwor er seinen Freund. „Niemals“, zwängte Marvin zwischen den Lippen hervor. „Ich brauche ein Beweisfoto. Damit wir ihn anzeigen können.“   „Aber er hat doch gar nichts gemacht.“ Nathan raufte sich die Haare. Das hier war alles so irre. Hoffentlich kam nicht auch noch Felipe … „Was ist hier los?“   Oh Scheiße!   Felipes massige Silhouette schob sich durch die Tür. Er trug ein Paar weite Shorts, aber selbst die enthüllten mehr, als Nathan eigentlich hatte wissen wollen. Immerhin war jetzt die Sache mit der Größe geklärt. „Wer ist das?“, wollte Felipe wissen. Offenbar hatte er die Situation mit einem Blick erfasst. Seine Oberarmmuskeln spannten sich. „Er ist ein Freund! Ich wurde überfallen. In meiner Wohnung. Er hat mir geholfen und mich hergebracht. Um mir zu helfen. Ganz ehrlich, ich schwöre es.“   Felipe sah zwischen Nathan, Ezra und Marvin hin und her. Er schien zu ahnen, dass da irgendwas nicht so ganz stimmte, wusste sich aber offenbar keinen Reim auf die merkwürdige Konstellation zu machen. Schließlich entschloss er sich, sich dem naheliegendsten Problem zuzuwenden. Er deutete auf Nathans Hand.   „Wurdest du verletzt? Brauchst du einen Arzt?“   Nathan schüttelte sofort den Kopf. „Nein, alles bestens. Es ist nur ein Kratzer. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.“ Die Spannung brachte die Luft um ihn herum zum Vibrieren. Wie ein Gewitter, das kurz davor war, sich zu entladen. Marvin versuchte immer noch, ein Foto von Ezra zu machen. Felipe versuchte zu entscheiden, ob er den Fremden umarmen oder ihm eine reinhauen sollte, und Ezra …   „Ich sollte gehen. Ich muss mich noch um einige Dinge kümmern. Ich gebe dir Bescheid, wenn alles erledigt ist.“   Damit war er verschwunden. Von einem Augenblick auf den anderen stand er nicht mehr im Flur. Nathan starrte, aber der Platz, an dem Ezra gerade noch gestanden hatte, war und blieb leer. Auch die anderen schienen mit dem plötzlichen Abgang nicht gerechnet zu haben. Marvin war der Erste, der reagierte.   „Wo ist er hin? Er war doch gerade noch da und jetzt ist er weg? Wie geht das?“   Auch Felipe schien seinen Augen nicht so ganz zu trauen. Im Gegensatz zu Marvin fokussierte sich seine Aufmerksamkeit jedoch schnell wieder auf Nathan. „Du solltest reinkommen. Es ist kalt hier draußen.“ Wie selbstverständlich griff er nach Nathans Reisetasche und marschierte damit in die Wohnung. Nathan und Marvin blieben allein vor der Tür zurück. Marvins Gesichtsausdruck schwankte immer noch zwischen Unglaube, Misstrauen und Wut.   „Was ist passiert?“, zischte er. „Du hast doch gesagt, du willst ihn loswerden. Ist er deswegen durchgedreht? War er das?“   Marvin zeigte auf Nathans Verband. Nathan schüttelte den Kopf. „Ich sagte doch schon, ich bin in meiner Wohnung überfallen worden. Ezra hat … er hat zwei der Angreifer getötet. Der dritte konnte entkommen.“ „WAS?“ Dieses Mal hatte Nathan wirklich Angst, dass Marvin die Augen aus dem Kopf fielen. „Er hat sie umgebracht?“   Nathan versuchte, seinen Freund zu beruhigen.   „Ja, aber es waren keine Menschen. Ich wurde von Untoten angegriffen.“ „Von Untoten?“   Marvins Stimme wurde immer lauter und schriller. Ängstlich bedeutete Nathan ihm still zu sein.   „Ja, Untote. Ghule um genau zu sein. Ihre Leichen … Körper liegen immer noch in meiner Wohnung.“   Marvin schlug sich die Hand vor den Mund „Ach du scheiße“, keuchte er. „Und jetzt?“   „Ezra kümmert sich darum.“   Nathan wusste, wie das klang. Und er wusste, was Marvin sagen würde, wenn er erst wieder zu Atem gekommen war. Mit ziemlicher Sicherheit würde es eine lange, lange Liste von Vorwürfen werden, von denen mindestens die Hälfte wenn nicht mehr gerechtfertigt sein würden. Also ging er in die Offensive und schnitt seinem Freund das Wort ab.   „Ich weiß, ich weiß. Es war von Anfang an eine Schnapsidee, mich auf Ezra einzulassen. Er ist gefährlich, er ist irre, ich sollte ihn am besten anzeigen und du hast es ja gleich gesagt. Und du hattest recht. Ezra ist gefährlich. Aber er ist nicht irre. Er ist ein Vampir. Ein echter Vampir.“   Er beobachtete, wie seine Worte auf Marvin wirkten. Sein Freund sah ihn an, als versuchte er wirklich zu begreifen, was Nathan gerade gesagt hatte. Aber wie konnte er das? Es widersprach allem, was sie bisher als Realität angesehen hatten. Und doch wusste Marvin genau, dass Nathan ihn diesbezüglich niemals anlügen würde. Sie mochten nicht immer einer Meinung sein – egal ob es um Pizzabelag oder um Männer ging – aber auf eines hatte Nathan sich in ihrer Freundschaft immer verlassen können. Dass sie ehrlich zueinander waren. Auch wenn es manchmal wehtat. Schließlich atmete Marvin langsam aus.   „Du glaubst das wirklich, oder?“, murmelte er. Nathan lächelte halb. „Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Ich habe es gesehen. Marvin, einer dieser Ghule hat mich mit einer Hand hochgehoben“ „Das würde Felipe auch schaffen. „Aber nicht so. Das war übermenschlich. Und sie haben schwarzes Blut. Sie fressen Leichen.“   Nathan sah, wie Marvin mit sich kämpfte. Die Emotionen krochen unter seine Haut entlang und schlugen unsanfte Wellen.   „Hey, Marv.“ Er legte Marvin die Hand auf den Arm. „Du warst doch derjenige, der mir gesagt hat, dass Ezra ein Vampir ist. Du hast doch gesagt, dass …“   „Aber das war doch nur ein Witz“, unterbrach Marvin ihn halb panisch. „Ich hab doch nicht wirklich gedacht, dass …“   Marvin schnaufte. Er warf Nathan einen scheelen Blick zu, als wolle er prüfen, ob das nicht doch alles nur ein Riesen-Missverständnis war. Als die Bestätigung dafür ausfiel, schnaufte er noch einmal.   „Er ist echt ein Vampir, oder? Der hat dieses Gedankenkontrolldings mit mir abgezogen. Deswegen konnte ich ihn nicht fotografieren.“   Nathans zuckte leicht mit den Schultern. „Das könnte sein.“   Marvin runzelte die Stirn. Er musterte Nathan von oben bis unten. „Hat er dir sonst noch irgendwas getan? Hat er dich gebissen?“ „Nein, keine Sorge. Er war … nett. Also für einen Vampir.“ „Und er hat diese Ghule erledigt?“ „Er hat ihnen mit Christians Kaffeemaschine den Schädel eingeschlagen.“   Marvin sah Nathan an, als wäre der nicht ganz bei Trost. Dann begann er zu grinsen.   „Ich glaube, ich fange so langsam an, diesen Ezra zu mögen.“   Im nächsten Moment wurde er wieder ernst.   „Das ist auf jeden Fall ein riesiger Schlamassel.“ „Jepp.“ „Und was machen wir jetzt?“   Nathan seufzte.   „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“   Marvin runzelte die Stirn und schien einen Entschluss zu fällen. „Zuerst einmal kommst du rein, ich koche dir einen Tee und dann schicke ich Felipe nach Hause. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass du mir da gerade eine wirklich, wirklich heiße Nummer vermasselt hast. Ich meine, wir waren gerade fertig mit den Vorbereitungen und wollten so richtig loslegen, als es plötzlich klopfte. Weißt du, wie ich mich erschrocken habe?“   Nathan grinste schief. „Tut mir leid, Kumpel.“ Marvin wedelte abwehrend mit der Hand. „Ach, halb so wild. Ich bedaure zwar meinen Hintern, wenn Felipe sich nächstes Mal daran austoben darf, aber das hier ist jetzt wichtiger. Du bist wichtiger. Das weißt du doch, oder?“   Nathan sah Marvin an. Plötzlich war da ein Kloß in seinem Hals. All die Anspannung, die Angst, ballte sich dort zusammen und wartete darauf, dass er sie losließ. Er schluckte. „Danke, Marv.“ „Keine Ursache. Na los, komm rein. Ich mache dir ein Bett auf der Couch und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir weiter verfahren. Für heute Nacht hatten wir genug Aufregung.“   Nathan rang sich zu einem Lächeln durch. Er folgte Marvin in die Wohnung, die von oben bis unten vollgestopft war mit Dingen von bunt bis kitschig. Eines dieser Dinge war eine Stehlampe, die er selbst als Geschenk für seinen Freund auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Der Fuß bestand aus einer dicken Dame in einem roten Badeanzug mit weißen Punkten und der Lampenschirm war ein rot-weiß gestreifter Sonnenschirm. Ihr warmer Schein spiegelte sich in dem dunklen Fenster dahinter. Nathan trat an die Scheibe, schob den Vorhang zur Seite und blickte nach unten. Dort stand immer noch Ezras Wagen.   Er ist noch da.   In diesem Moment wurde der Motor gestartet. Die Scheinwerfer blendeten auf, die Bremslichter erloschen. Der Wagen fuhr an und rollte die Straße entlang. An ihrem Ende blinkte er, bog ab und war einen Wimpernschlag später endgültig verschwunden. Langsam ließ Nathan die Hand, die den Vorhang gehalten hatte, wieder sinken.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)