Bis dass der Tod uns findet von Maginisha ================================================================================ Kapitel 14: La vie en rose -------------------------- Die Liste, die Ezra ihnen gab, war lang. Unendlich lang. So lang, dass Nathan ernsthaft zweifelte, dass sie auch nur zwei Schritte weit kommen würden. Und das war noch lange nicht alles. „Der Club, in den wir uns begeben werden, liegt unterirdisch. Man gelangt nur durch einen Fahrstuhl hin. Es gibt keine Fenster, keine anderen Ausgänge.“   Marvin krauste die Nase. „Ist das überhaupt erlaubt? Was, wenn ein Feuer ausbricht?“   Ezra hob eine Augenbraue. „Ich mein ja nur“, brummelte Marvin und wandte sich wieder seinen Notizen zu. Ezra seufzte lautlos und fuhr fort. „Ich werde euch an der Türkontrolle vorbeibringen, danach sollten sich unsere Wege trennen. Als Gruppe fallen wir eher auf.“   Wieder unterbrach Marvin ihn. „Aber ich bleibe doch bei dir, oder?“   Ein stummer Blickwechsel folgte. Nathan konnte nur ahnen, was in den beiden vorging. Schließlich nickte Ezra leicht. „Ja, du bleibst bei mir. Aber wir sollten uns dafür noch ein wenig näher kennenlernen. Es wird Gerede geben, wenn du jedes Mal zusammenzuckst, sobald ich dich auch nur ansehe.“   „Solange es beim Ansehen bleibt, habe ich nichts dagegen.“   Ezra wandte den Kopf ab und seufzte. Dieses Mal hörbar. Den Blick und die Gedanken in die Ferne gerichtet saß er einfach nur da. Wie eine Statue. Eine nachdenkliche Statue. Nathan wagte kaum zu atmen. „Kannst du tanzen?“, fragte Ezra unvermittelt. Marvin, der einen Augenblick brauchte um zu begreifen, dass er gemeint war, machte ein empörtes Gesicht. „Natürlich kann ich tanzen. Aber hallo!“ „Auch mit jemandem zusammen?“   Marvins Grinsen wurde zuerst breiter, bevor es schrittweise erstarb. „Äh … ja, aber … wie genau meinst du das?“ „So, wie ich es gesagt habe.“   Ezra erhob sich. Seine Bewegungen glichen einem Raubtier auf der Pirsch. Kurz vor Marvins Sitzplatz blieb er stehen und streckte die Hand aus. „Darf ich bitten?“   Marvin riss die Augen auf. Nathan musste zugeben, dass es ihm genauso ging. „Ja, wie jetzt?“, stammelte sein Freund. „Ich soll mit dir tanzen? Hier? Jetzt? Ohne Musik?“   Anhand seiner Stimmlage war nicht zuerkennen, welches dieser Dinge Marvin am meisten Unbehagen verschaffte. Allerdings konnte man wenigstens gegen eines davon etwas tun. „Ich mach euch Musik“, meinte Nathan und griff nach Marvins Handy. Mit einem Wisch entsperrte er es und startete die Musik-App. Im nächsten Moment drangen elektronische Drums und eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher. Marvin zuckte zusammen. „Ähm, das ist vielleicht nicht so ganz …“   Die Stimme begann zu rappen. Ezras Hand war immer noch ausgestreckt. Süßer Gesang und ein starker Beat begleiteten die Geste. Marvin rang mit sich, bis er schließlich aufgab.   „Oh, na schön. Meinetwegen.“   Er legte seine Hand in Ezras. Der zog ihn hoch. In seinen Arm. Vereinnahmte ihn vollkommen. Und dann begannen sie zu tanzen. Nathan stockte der Atem.   Scheiße, ist das sexy. Ezras Hüfte schwang genau im Takt. Er war nicht aufdringlich, aber die Bewegung war definitiv suggestiv genug, um eine Wirkung zu erzielen. Er war immerzu um Marvin herum. Dabei unterbrach er nie den Augenkontakt. Seine Hände auf Marvins Arm, seinem Rücken, seiner Taille. Kleine, unauffällige Berührungen, die mehr Kontakt herstellten, als sie sollten. Zumindest in Nathans Augen. Und doch kam er nicht umhin, das Schauspiel zu genießen. Selbst als Ezra sich zu Marvin herabbeugte. Als seine Lippen sich dessen Hals näherten. Sie fast berührten. Fast. Zwischen Nathans Beinen pulsierte es.   „Okay, fuck! Das reicht!“   Marvin schubste Ezra energisch von sich. Seine Augen funkelten, die Wangen glühten. „Das war … scheiße! Das war …“   Er brach ab, offenbar unfähig in Worte zu fassen, wie es gewesen war, mit Ezra zu tanzen. Der hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. Sein Blick ruhte jedoch immer noch auf Marvin. „Und?“, fragte er mit dunkler, samtiger Stimme. „Glaubst du mir jetzt, dass ich dir nichts tue.“   Marvin schnappte nach Luft. „Du wolltest mich beißen!“ „Du bist ja auch sehr appetitlich.“ „Aber ich …“   Marvin wollte noch mehr sagen, als Ezra plötzlich vor ihm stand. Seine Augen bohrten sich in Marvins.   „Hör zu und hör mir gut zu. Wenn wir tatsächlich durchziehen wollen, was Nathan vorgeschlagen hat, musst du dich sicher in einem Raum voller Vampire bewegen können. Die meisten von ihnen sind Menschen, aber es werden mit Sicherheit welche wie ich darunter sein. Echte Vampire. Vampire, die deinen Herzschlag hören können und deine Angst riechen. Und wenn du vor denen herumzitterst wie ein kleines Häschen, dann werden sie dich fressen. Mit Haut und Haaren. Habe ich mich da klar ausgedrückt?“   Marvin starrte Ezra an. Er hatte die Hände an den Körper gezogen und war offenbar vollkommen erstarrt. Trotzdem brachte er es fertig zu nicken. Ezra bleckte die Zähne. „Gut“, knurrte er. „Denn wenn Nathan etwas passiert, weil du uns verraten hast …“ Er führte nicht aus, was genau er dann mit Marvin zu tun gedachte, aber das musste er auch nicht. Sein Blick sprach mehr als Bände. Nathan räusperte sich. „Also ich will ja nichts sagen, aber … bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?“   Ezras Kopf ruckte zu ihm herum. Sein Blick brannte auf Nathans Haut.   „Wie meinst du das?“, zischte er. Nathan versuchte ein Lächeln.   „Du drohst ihm. Denkst du wirklich, dass das dazu führt, dass er weniger Angst vor dir hat?“   Das Lodern in Ezras Blick erstarb. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Natürlich nicht. Es ist nur … ich sollte vielleicht gehen. Wir machen an einem anderen Tag weiter.“   Mit einem Schritt war er von Marvin zurückgetreten, mit einem weiteren bei seinem Mantel angelangt, den er achtlos auf die Sofalehne geworfen hatte. Kaum, dass Nathan zweimal geblinzelt hatte, war er schon an der Tür.   „Ezra! Warte!“   Nathan sprang auf und eilte in den Flur. Ezra war schon an der Treppe. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend floh er regelrecht nach unten. Aber Nathan gab nicht auf. In Windeseile folgte er ihm, bis Ezra schließlich stehen blieb. Seinen Blick immer noch abwärts gerichtet, stand er. Der Mond schien durch ein kleines Fenster und beleuchtete die ausgetretenen Stufen nur teilweise. Der Rest lag im Schatten ebenso wie Ezras Gesicht. Vorsichtig machte Nathan einen Schritt auf ihn zu. „Ezra?“   Er sprach leise, um die Nachbarn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Trotzdem hatte er das Gefühl, immer noch viel zu laut zu sein. Also stieg er noch eine der Stufen hinab. Und noch eine und eine weitere, bis er nur noch ein Stück weit von Ezra entfernt stand. „Was ist los?“   Wieder hatte er nur geflüstert. Ezras Antwort bestand aus einem tiefen Atemzug. „Nichts. Ich habe nur … Hunger. Das ist alles.“   Nathan runzelte leicht die Stirn. Er war sich sicher, dass das nicht alles war, aber er beschloss, nicht weiter nachzufragen. Wenn Ezra nicht bereit war, sich ihm zu öffnen, dann sollte es so sein. Trotzdem war die Vorstellung, dass er jetzt dort rausgehen und sich irgendein anonymes Opfer suchen würde oder – noch schlimmer – zu jemandem gehen, den er kannte und mehr vertraute als ihm, unerträglich. Nathan wollte nicht, dass Ezra ging.   „Also was das angeht …“, begann er zögernd. „Mein Angebot steht noch.“   Eine sachte Neigung seines Kopfes unterstrich, was er meinte. Ezra reagierte nicht, zumindest nicht äußerlich. Nur ein Schlucken verriet, dass er Nathan gehört und verstanden hatte. Nathans Puls stieg.   „Was ist?“, fragte er noch einmal. „Warum kommst du nicht her und holst dir, was du brauchst? Habe ich die falsche Blutgruppe. Das falsche Deodorant? Oder liegt es am Knoblauch? Wenn ich gewusst hätte, dass du …“ „Nein, das ist es nicht“, unterbrach Ezra ihn heftig. „Aber ich … ich will dir nicht wehtun.“   Nathans Lippen wurden schmal.   „Irgendjemandem wirst du wehtun“. „Das ist nicht dasselbe.“   Ezra bewegte sich. Wie in Zeitlupe löste sich seine Hand vom Geländer. Er drehte sich zu Nathan herum, sah ihn an. Nathan spürte die Blicke wie einen Gluthauch über seinen Körper gleiten. Ezra wollte ihn und nicht nur sein Blut, dessen war er sich sicher. Ihn nicht aus den Augen lassend überwand Ezra die letzten Stufen, die zwischen ihnen lagen, und war plötzlich ganz nahe. So nah, dass sie sich fast berührten. Ein trauriges Lächeln zierte Ezras Gesicht. „Glaube mir. Wenn die Umstände anders wären, würde ich vielleicht tatsächlich … würde ich das Angebot annehmen. Aber das hier ist der falsche Zeitpunkt und der falsche Ort. Du wirst deine Kräfte in den nächsten Tagen brauchen und ich … ich benötige heute etwas mehr, als du mir gefahrlos geben könntest. Deswegen glaube mir, wenn ich dir sage, dass es besser ist, wenn ich ablehne.“   Nathan wusste, dass Ezra die Wahrheit sagte. Und das er recht hatte. Trotzdem versetzten ihm die Worte einen Stich. „Dann gehst du lieber zu jemand anderem?“ „Nur, um dir nicht zu schaden.“ „Und dem anderen?“   Ihm war klar, dass er sich närrisch aufführte, aber er musste es einfach wissen. Ezra lächelte. „Ich werde dafür sorgen, dass auch ihm nichts geschieht. Bist du damit zufrieden?“   Nathan blieb die Antwort schuldig. Er senkte den Blick und richtete ihn auf Ezras Brust. Wenigstens solange, bis Ezra die Hand unter sein Kinn schob und es wieder anhob. „Nathan“, sagte er leise. Seine seltsam leuchtenden Augen fingen Nathans Blick ein und hielten ihn fest. „Du musst dir keine Gedanken machen. Ich werde mich zurückhalten. Ich verspreche es.“   Da war ein Kratzen in Nathans Hals, das einfach nicht weggehen wollte. Er schluckte erneut. „Was versprichst du mir?“   Ezra lächelte leicht. „Dass ich ihn nicht töten werde. Oder sie. Obwohl ich denke, dass ich einen Mann wählen werde. Aber ich werde nur sein Blut trinken und ich werde aufpassen, dass es nicht lebensbedrohlich wird. Sollte ich mehr brauche, nehme ich einfach noch einen anderen Donor dazu. In Darnelles Clubs gibt es genug Freiwillige, die dieses Privileg genießen würden.“   Nathan nickte. Zu dem Kratzen war ein Stechen hinter seinen Augenlidern gekommen. Er blinzelte, um es zurückzuhalten. „Und was ist mit dem, der ins Krankenhaus musste?“   Ezras Lächeln verschwand und wich einem Ausdruck, den Nathan nicht recht zu deuten wusste. Ezra räusperte sich.   „Das war … nicht geplant. Er hat mich überrascht und ich wollte ihn eigentlich töten, aber dann … dann musste ich an dich denken. An das, was du gesagt hast. Über Mitgefühl. Und ich dachte: Gut. Diesen einen. Diesen einen schenke ich Nathan. Wegen seiner Überzeugung. Weil er ist, was er ist. Weil …“   Ezra unterbrach sich. Er sah Nathan an, aber die Worte, die er gerade noch hatte sagen wollen, kamen nicht mehr aus seinem Mund. Nathan hob fragend die Brauen. „Weil?“   Ezra antwortete nicht. Er stand nur da und wich plötzlich Nathans Blick aus, als könnte er nicht mehr ertragen, von ihm angesehen zu werden. Dabei murmelte er irgendetwas Unverständliches. Unbewusst lehnte sich Nathan noch ein Stück vor.   „Was hast du gesagt?“   Ezra atmete angespannt. „Ich sagte, dass … dass ich wohl wollte, dass du einen guten Eindruck von mir hast. Deswegen war ich am Abend des Angriffs auch bei dir. Ich wollte dir davon erzählen. Wollte sehen, wie du reagierst. Und ich wollte … mich verabschieden. Eigentlich. Weil ich wusste, dass ich deinem Anspruch niemals gerecht werden könnte. Aber dann …“   Er führte nicht weiter aus, was dann geschehen war. Sie waren beide dort gewesen und hatten es gesehen. Er hatte gegen seinen Plan und vielleicht sogar gegen seine Überzeugung gehandelt. Wegen Nathan.   Bin ich gerade dabei, dasselbe zu tun? Wie weit würde ich gehen?   Nathan lächelte schmal. „Tja, manchmal tut man wohl dumme Dinge, um … um jemanden zu beeindrucken. Womit ich jetzt nicht sagen will, dass es dumm war, diesen Mann am Leben zu lassen. Ganz im Gegenteil, aber … du weißt, was ich meine, oder?“   Ezra hob den Kopf. Da war plötzlich Verstehen in seinem Blick. Seine Fingerspitzen berührten Nathans Wange. „Du musst mich nicht beeindrucken“, sagte er leise. „Das hast du nämlich längst.“   Nathan wollte noch etwas darauf erwidern, doch, was immer er hatte sagen wollen, verschwand auf magische Weise aus seinem Gehirn und wurde nur noch durch einen Gedanken ersetzt.   Küss mich!   Ohne es wirklich wahrzunehmen, streckte er sich Ezra noch weiter entgegen, während der sich vorbeugte. Nathans Lider schlossen sich und dann endlich versiegelte Ezras Mund den seinen mit einem Kuss.   Nathan schwebte. Mit einem Bein stand er immer noch in diesem dunklen Treppenhaus und kam Ezras sanfter Berührung entgegen, mit dem anderen stand er irgendwo auf Wolke 37 und hörte die Englein singen. Aber nicht lange, denn die Realität war so viel besser als irgendwelche Traumbilder. Die Realität war echt und in ihr war Ezra, der ihn küsste.   Ihre Lippen streichelten und neckten sich. Fingen einander ein, nur um sich wieder zu entlassen und erneut zu haschen. Dabei kamen sie sich immer näher. Schon merkte Nathan, wie er rückwärts gegen die Wand gedrückt wurde. Das Treppengeländer war auf der Höhe seiner Nieren, aber es störte ihn nicht. Viel mehr verstärkte es noch den Druck, den Ezras Körper auf seinen ausübte. Aber es hielt auch die Hand auf, die an seinem Rücken abwärts fuhr. Mit einem entschiedenen Ruck machte Nathan sich von der Begrenzung frei und presste sich umso stärker an Ezra. Ein Keuchen antwortete ihm. Er nutzte die Gelegenheit, um mit seiner Zunge den Eingang zu Ezras Mund zu erforschen. Sofort wurde er in Empfang genommen, nur um gleich darauf wieder an der Wand zu landen. Dieses Mal mit einer Hand an seinem Hintern. Er stöhnte. Hob den Kopf und ließ Ezras Lippen an seinem Hals herabgleiten. Wieder wurde er gehalten, bedrängt, begehrt. Ezra wollte ihn und er wollte ihn ganz. Plötzlich jedoch riss Ezra den Kopf zurück. Er keuchte.   „Verdammt, Nathan!“ Der Griff um Nathan wurde lockerer. Die Hand, die sich in seinen Haaren vergraben und seinen Kopf zurückgebogen hatte, löste sich von ihm. Wie in einem Nebel, einem Rausch nahm er wahr, dass Ezra sich von ihm zurückzog. Nicht vollkommen, aber so weit, dass das gierige Zupacken eines beuteschlagenden Raubtiers wieder zu einer Umarmung wurde. Aus einem wurden wieder zwei. Zwei heftig atmende Individuen, die einander stützten, sich Halt gaben. Ezra lehnte sich an ihn. Er schluckte. „Das wäre beinahe schief gegangen“ flüsterte er und lachte leise. „Du bist wirklich unmöglich.“   Nathan lächelte und schloss die Augen. Ezras Gewicht fühlte sich gut auf ihm an. „Sorry. Ich hab mich da wohl ein bisschen hinreißen lassen.“ Er zuckte, als Ezras Lippen über seinen Hals streichelten. Ganz sacht, nur ein flüchtiger Kuss. „Du kannst nichts dafür“, murmelte Ezra gegen seine Haut. Seine Lippen verteilten weiter feine Küsse. „Vampire haben diese Wirkung auf ihre Opfer.“ „Aber du wolltest mich doch gar nicht beißen.“ „Doch wollte ich.“   Ezra richtete sich auf. Seine Lippen steiften noch einmal Nathans Mund, während seine Finger sanft über seine Kehle glitten. „Ich will dich beißen. Unbedingt. Am liebsten gleich jetzt und hier. Aber ich sagte dir bereits, dass das nicht geht. Der Blutverlust würde dich zu sehr schwächen und du wirst alle deine Kräfte brauchen. Deswegen muss ich mich zurückhalten, so leid es mir tut. Und glaube mir, wenn ich dir sage, dass es mir sehr leid tut. So sehr.“   Nathan stockte der Atem. Da war so viel Bedauern in Ezras Stimme und gleichzeitig so viel Begehren, das es ihn zu überwältigen drohte. Sie wollten es, sie wollten es beide. Und doch … „Und wenn du … nur ein bisschen?“ Ezra lachte leise. „Du überschätzt meine Fähigkeiten zur Zurückhaltung. Wenn ich einmal angefangen hätte, würde ich es auch zu Ende bringen. Das Eine und das andere.“   Noch einmal beugte er sich zu Nathan und küsste ihn. Seine Finger glitten an Nathans Seite entlang, seine Zunge spielte mit ihm. Wieder wollte Nathan den Kopf zurücklegen, doch Ezra hielt ihn auf, hielt ihn fest und küsste ihn stattdessen tief und leidenschaftlich. Dabei streichelte, koste und umgarnte er ihn so, wie er es mit Marvin getan hatte. Nur noch viel enger und intimer. Nathans Erregung stieg und mit ihm der Wunsch, auch Ezras Körper zu erkunden. Ihn anzufassen. Seine Finger auf harte Muskeln und nackte Haut zu legen. In der Hand zu halten, was sich mehr als deutlich gegen seinen Schritt drückte. Er wollte wissen, wie er sich anfühlte. Wollte ihn spüren. Ganz und gar. An sich. In sich. Sofort. „Wir könnten warten, bis Marvin schläft“, murmelte er. „Oder du schickst ihn ins Schlafzimmer und befiehlst ihm, nicht wieder rauszukommen, bis wir fertig sind.“   Erneut antwortete ihm ein Lachen. „Du weißt, dass das nicht geht.“   Nathan seufzte. „Jaa, ich weiß. Aber die Vorstellung hat trotzdem was.“   Er löste den Kuss und sah Ezra in die Augen.   „Werden wir uns wiedersehen?“ Die Frage mochte albern sein, aber Nathan wollte es trotzdem hören. Wollte sichergehen, dass Ezra nicht wieder einfach verschwand.   Ezra lächelte, auch wenn eine Spur von Trauer darin war. „Ja, werden wir. Ich verspreche es.“ „Wann?“ „Morgen. Wenn ich es schaffe. Ich muss noch … etwas erledigen.“ „Und was?“ Der Schatten auf Ezras Gesicht vergrößerte sich. Zuerst dachte Nathan, dass sich eine Wolke vor den Mond geschoben hätte, aber dann wurde ihm bewusst, dass es Ezra war, der diesen Effekt auslöste. Er hüllte sich in Dunkelheit und Schweigen, aber nur für einen Moment. Dann seufzte er.   „Ich wurde bestohlen. Ein Erinnerungsstück, das mir sehr wichtig war. Es mag Zufall sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass es irgendetwas mit der ganzen Sache zu tun hat.“ „Und was?“   Ezra seufzte erneut. „Wenn ich das wüsste, wäre ich schon einen Schritt weiter. Aber vielleicht ist auch gar nichts dran und es war einfach nur ein dummer Zufall, dass das … dass der Gegenstand ausgerechnet jetzt entwendet wurde. Auch wenn ich mir nicht recht vorstellen kann, wie es dazu kam. Er war zu gut versteckt.“   Nathan ahnte, dass Ezra ihm nicht sagen wollte, worum es sich bei dem Ding handelte, dass ihm abhandengekommen war. Den Grund dafür konnte er nur raten, aber es hatte mit Sicherheit etwas mit Ezras Vergangenheit zu tun. Eine Vergangenheit, die mehr Jahre umfassen mochte, als Nathan sich überhaupt vorzustellen vermochte. Er atmete tief ein. „Dann … hoffe ich einfach mal, dass wir uns bald wiedersehen.“   Ein vages Lächeln antwortete ihm. „Ja, das hoffe ich auch.“   Noch einmal strichen Ezras Lippen sanft über seine. Im nächsten Moment war er fort und Nathan hörte nur noch seine Schritte, die im Dunkeln nach unten eilten. Er war sich sicher, dass Ezra auch das hätte vermeiden können, wenn er gewollt hätte. Immerhin ist er ein Vampir, versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, aber je mehr er es versuchte, desto harmloser wurde Ezra in seiner Vorstellung.   „Ich muss vorsichtig sein“, murmelte er vor sich hin, während er sich wieder den Stufen zuwandte, die ihn nach oben zu Marvins Wohnung führen würden. Dort wartete sein Freund sicherlich immer noch ziemlich aufgebracht auf ihn. Er würde ihn beruhigen müssen. Die Wogen glätten. Schlafen gehen. Seinen Job machen.   „Es hilft ja nichts“, seufzte er schließlich und machte sich mit Schwere im Herzen an den Aufstieg.       Die fünfte Stunde war bereits verstrichen, als Ezra in das Penthouse hoch über der Stadt zurückkehrte. Die Lichter waren allesamt gelöscht, trotzdem bewegte sich Ezra so sicher durch die Räume, als wäre es helllichter Tag. An dem Korridor, der zu Aemilius’ Arbeitszimmer führte, blieb er stehen. Leise Musik war zu hören. Eine Frauenstimme. Sie sang. Französisch. Langsam ging Ezra weiter. Von drinnen kamen leise Laute und ein blasser Schein, der unter der Tür durchschien. Kurzentschlossen griff Ezra nach der Klinke und öffnete.   Aemilius saß an seinem Schreibtisch. Ein riesiges, antikes Stück aus dunklem Holz mit Messingbeschlägen und abschließbaren Schubladen. Ihm allein war es zu verdanken, dass die an jeder freien Wand aufgestellten und bis zum letzten Winkel vollgestopften Bücherregal den Raum nicht komplett erdrückten. Die Präsenz des wuchtigen Stücks reichte aus, um sie im Schach zu halten und auf ihren Platz zu verweisen.   Auf dem Tisch lagen Stapel von ledergebundenen Büchern. Eines davon hatte Aemilius vor sich liegen und studierte akribisch die Zahlenkolonnen, die es beinhaltete. Als Ezra eintrat, blickte er auf. Kein Wort der Begrüßung kam über seine Lippen. Nur ein stummer, anklagender Blick, der Ezra traf wie eine Ohrfeige. Sicher war sein Fortbleiben bemerkt worden. Er hatte vor seiner Abreise nicht einmal Rapport abgelegt. Jetzt, so wusste er, würde er die Quittung dafür bekommen.   Mit hocherhobenem Kopf trat er vor. „Vater“, sagte er mit einem flüchtigen Nicken. Dabei versuchte er zu erkennen, was Aemilius las, aber es ergab für ihn keinen Sinn. Aemilius bedachte ihn mit einem abschätzigen Lächeln. „Davon verstehst du nichts“, sagte er und schloss das Buch. „Es sind nur alte Geschäftsaufzeichnungen, die ich gerade durchgehe und auf Unregelmäßigkeiten prüfe.“   Ezras Augenbraue zuckte. „Und?“, fragte er in möglichst neutralem Ton. „Hast du etwas gefunden?“   „Nur Kleinigkeiten. Nichts, was von Belang wäre.“   Aemilius musterte ihn weiter. Ezra wartete darauf, dass er eine Frage stellte. Nach den Ghulen, wo er in den letzten Tagen gewesen war, aber nichts dergleichen kam. Nur dieser Blick. Und die Musik. Ezra hörte jetzt genauer hin. Es war ein bekanntes Stück. Uralt für die heutigen Begriffe, und doch unvergessen. Es versetzte ihn zurück in die Zeit, als Elisabeth noch bei ihnen gewesen war. Tag und Nacht. Wie lange war das her? „Es erinnert mich an sie“, sagte Aemilius plötzlich. „Als hätte man es für sie geschrieben. Denkst du nicht auch?“   Ezra nickte leise. Er wusste nicht, wo all das hier hinführen sollte, aber sein Unbehagen wuchs. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum fragte sein Vater ihn nicht nach seinen Nachforschungen? Stattdessen sprachen sie über … Musik?   „Ich habe Neuigkeiten“, sagte er und beschloss, sich genau an seinen Plan zu halten. Er würde Aemilius nur so viel wie unbedingt notwendig offenbaren. Den Rest würde er sich für später aufheben. Oder für nie.   „Ich war in der Lage, einige der Ghule zu stellen. Zwei von ihnen wurden im Kampf getötet. Ein dritter, eine Ghula, entkam. Zweifelsohne wird sie ihrem Meister davon berichten. Er wird jetzt wissen, dass wir ihm auf den Fersen sind.“   Aemilius Miene zeigte keinerlei Regung. Er fixierte Ezra nur weiter ohne Unterlass. Wie einen Käfer auf einer Nadel. „Und der Mensch?“, fragte er schließlich. Ezra wäre beinahe zusammengezuckt. „Er starb bei dem Angriff“, gab er so gelassen wie möglich zurück. „Die Ghule haben sich seiner bemächtigt, ganz wie erwartet.“   „Und du konntest ihnen nicht einfach folgen, nachdem sie ihn beseitigt hatten?“   Ezra bemühte sich, nicht zu blinzeln. Dieser Punkt war die Schwachstelle in seiner Version des fraglichen Abends. „Ich habe es versucht“, sagte er so ruhig wie möglich. „Aber sie haben mich bemerkt. Es kam zu einem Kampf, dabei konnte die Ghula entkommen.“   Aemilius lehnte sich ein Stück vor. Er faltete die Hände auf der Tischplatte und fasste Ezra scharf ins Auge. „Das heißt, du hast deine Zeit damit verplempert, dich wie ein Trottel aufzuführen, und obendrein unserem Gegner noch wertvolle Karten in die Hand zu spielen. Ist das so?“ Ezra nickte leicht. „Hast du denn überhaupt etwas vorzuweisen?“   Ezra straffte die Schultern. „Immerhin wissen wir jetzt, dass es sich tatsächlich um Ghule handelt. Es muss also einen Vampir geben, der sie erschafft.“ „Oder mehrere.“ „Oder mehrere.“   Aemilius’ Mundwinkel zuckten.   „Und wie hast du vor, ihm oder ihnen auf die Schliche zu kommen? Indem du dich weiter auf Friedhöfen herumtreibst und hoffst, dass dir dein Glück in den Schoß fällt?“   Ezra hob an zu antworten, doch Aemilius schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. „Genug von deinem Gebrabbel. Ich denke, es ist an der Zeit, unsere Taktik zu ändern. Diese Ghula, die dir entkommen ist. Was weißt du über sie?“   Ezra zögerte. Nathan aus dem Spiel zu nehmen, war einfach gewesen. Darnelle erst gar nicht aufs Tapet zu bringen, ungleich schwieriger. „Ich habe sie gesehen“, gab er ausweichend zurück. „Flüchtig. Die beiden anderen Ghule haben mich ziemlich auf Trab gehalten.“   Aemilius Augen wurden schmaler. „Das ist unglücklich, denn wie es aussieht, ist sie unsere einzige Spur. Und du bist dir ganz sicher, dass du sie nicht wiedererkennen würdest? Hatte sie vielleicht etwas an sich? An ihrem Aussehen, ihrer Kleidung? Irgendein Erkennungsmerkmal, das uns einen Hinweis geben würde, wo wir nach ihr suchen müssen?“   Ezra biss sich innerlich auf die Lippen. Er durfte Aemilius auf keinen Fall von der Tätowierung erzählen. Der ältere Vampir würde nicht zögern, Darnelle zur Rede zu stellen und wenn das passierte …   Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein, da war nichts.“ „Bist du dir sicher?“   Aemilius hatte den Kopf vorgestreckt und musterte ihn so intensiv, dass Ezra beinahe einen Schritt zurückgetreten wäre. Er wusste, dass Vampire gegen die Kräfte eines anderen immun waren. Trotzdem fühlte er sich unter Aemilius’ Blick unwohl. Nur mit Mühe war er in der Lage, ihn ruhig zu erwidern. „Absolut sicher. Da war nichts.“   Aemilius lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Nun gut. Wenn du sagst, dass es so war, muss ich es wohl glauben. Schließlich würdest du mich niemals anlügen. Nicht wahr, mein Sohn?“ Der Spott, der sich nur mühsam hinter den Worten verbarg, biss und stach. Er täuschte Ezra jedoch nicht über die Klinge des Misstrauens hinweg, die nur wenig besser darunter versteckt lag. Ezra reckte das Kinn vor.   „Natürlich nicht, Vater.“   Ein Lächeln, dünn wie eine Messerschneide, antwortete ihm.   „Schön. Dann lass dir gefälligst etwas einfallen, wie wir den Verräter in die Finger bekommen. Je schneller, desto besser. Andernfalls …“   Aemilius sprach den Satz nicht zu Ende. Ezra senkte den Kopf.   „Ja, Vater. Ich werde dich nicht enttäuschen.“   Er deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und verließ den Raum, ohne abzuwarten, ob er entlassen war. Auf seinem Weg nach draußen folgten ihm die Worte der Sängerin.     Wenn er mich in den Arm nimmt Ganz leise mit mir spricht Seh ich das Leben rosa   Er sagt mir Liebesworte Ganz alltägliche Worte Das macht etwas mit mir   Er ist in mein Herz getreten Ein Stück vom großen Glück Von dem ich den Grund kenne   Er ist derjenige für mich Ich die für ihn im Leben Er hat es mir gesagt Auf Lebenszeit geschworen   (Frei übersetzt nach: Edith Piaf - La vie en rose)   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)