Widerklänge von Nesuki (Echos aus dem Wolfskloster) ================================================================================ Kapitel 1: Heile Welt auf Zeit ------------------------------ Der Flug von London nach Moskau dauerte 4 Stunden. Diese 4 Stunden schlossen weder die eineinhalb-stündige Zugfahrt von Brighton zum Heathrow Airport, noch die Warterei am Flughafen mit ein. Als sie, nach ihrem verspäteten Zug vollkommen abgehetzt, vor der Anschlagtafel standen, hatten sie beinahe ihre Contenance verloren. Ihr Flug war aufgrund eines Schadens ausgefallen und der Ersatzflug startete erst in drei Stunden. Yuriy überbrückte die Wartezeit mit dem Lesen eines Buches von Asimov, welches er in einem der Läden im Terminal aufgestöbert hatte. Da saß er, dieser schlaksige Rotschopf, einen Arm von der Lehne ihrer Bank abgestützt und seine Wange gegen die Handknöchel gestemmt. Seine Gesichtszüge waren entspannt und seine langen Wimpern zuckten jedes Mal leicht, wenn sein Blick zur nächsten Zeile sprang. Kai hätte sich die Zeit gerne mit dem Checken geschäftlicher E-Mails vertrieben und vielleicht noch ein paar letzte Instruktionen an seine Mitarbeiter dirigiert. Das hatte er allerdings schon während der Zugfahrt erledigt und so scrollte er nur halbherzig in der Übersicht seiner WhatsApp-Chats herunter. 36 ungelesene Nachrichten im Bladebreakers-Gruppenchat. Diesen hatte er seit Wochen sehr vernachlässigt und damit einhergehend auch nichts von sich hören lassen. Die Arbeit und sein Leben, das er sich mit Yuriy zusammen in Brighton aufbaute, beschäftigte ihn vollumfänglich und so blieb immer weniger Zeit für seine alten Freunde, die auf der anderen Seite der Welt lebten. Ohnehin war es ihm schon immer schwer gefallen, auf schriftlichem Wege private Kontakte zu pflegen und er hinkte mit dem Antworten immer ein wenig hinterher. Er seufzte, ließ sich etwas tiefer auf der unbequemen Flughafenbank sinken und lehnte den Kopf gegen Yuriys Schulter. Er schaute auf die Uhr seines Handydisplays - Es war 11:15 Uhr - und steckte es wieder weg. “Das fängt ja gut an…” murmelte er und verschränkte die Arme. Von seinem Freund kam ein leises, kurzes Summen als Antwort. Yuriy blieb in sein Buch vertieft, aber das hinderte ihn nicht daran, seine Hand in Kais Haar zu legen und mit seinen schlanken Fingern sanft durch die silbrig grauen Strähnen zu fahren, was Kai sich nur zu gern gefallen ließ. Er war anfangs nicht besonders heiß auf den Urlaubstrip nach Russland gewesen und hatte mehr Yuriy zu Liebe zugesagt als er wirklich für die Reise gebrannt hätte. Insgeheim war er sich aber durchaus bewusst, dass man ihn, wenn es um Urlaub ging, immer ein wenig zu seinem Glück zwingen musste. Also war es gut, dass er jetzt hier war. Der Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse und draußen am Flughafen in Moskau lehnte Boris mit verschränkten Armen an seinem betagten, blauen Kleinwagen. Als er sie sah, klemmte er seine Zigarette in den Mundwinkel und nahm sie mit ausgestreckten Armen in Empfang. “Yura, was ist das für eine Scheiße, Mann!? Ich stehe mir seit Stunden die Füße in den Bauch!” stieß er aus, während sein fester Griff Yuriy hörbar den Atem raubte. Etwas abgeschreckt von dieser überschwänglichen Begrüßung, wich Kai einen Schritt zurück. Doch auch das rettete ihn nicht davor, im nächsten Moment grob an seiner Jacke herangezogen und Teil dieser Umarmung zu werden. Ihm stieg der Geruch von Rauch und Benzin in die Nase. An Boris beiger, abgetragener Fliegerjacke erkannte er Schmier- und Ölflecken. Kai wusste, dass Boris in einer Werkstatt arbeitete. Vermutlich war er direkt nach der Arbeit hierher gekommen, um sie abzuholen. “Stell dich nicht so an, Hiwatari! Ich bin ja froh, dass du Yura endlich mal wieder von der Kette gelassen hast!” Kais Mundwinkel zuckten kurz. Yuriy, der sich mittlerweile soweit befreit hatte, dass er wieder Luft bekam, lachte. Bis vor einem halben Jahr hatte Boris noch, wie sie, in England gewohnt. Dann kam der Anruf von Sergej. Ivan war mental in ein tiefes Loch gefallen und für Sergej war es immer schwieriger geworden, ihn zu erreichen. Boris war dann kurzerhand zurück nach Russland gezogen, zumindest für eine Weile, und unterstützte wo er konnte. Ein Großteil seiner Habseligkeiten lagerte noch in Kais und Yuriys Keller. Nach einem anfänglichen Röcheln erwachte der Motor zum Leben. Kai hatte auf der Rückbank von Boris’ heiß geliebter Klapperkiste Platz genommen, während dieser und Yuriy sich vorne über den Horrortrip hierher unterhielten. Dabei fluchten sie so ungehemmt, dass es ihren toten Urgroßmüttern noch die Schuhe ausziehen musste, da war er sich sicher. Obwohl der Wagen alt war, tat Boris offensichtlich sein Bestes, um ihn in Schuss zu halten. Dass er in einer Werkstatt arbeitete, spielte ihm dabei sicherlich in die Karten. Außerdem schien er ihn offensichtlich gut zu pflegen. Die einst dunkelgrauen Sitzbezüge waren alt und ausgeblichen, aber sauber. Ein halb ausgepackter Duftbaum baumelte am Rückspiegel und scheiterte dabei, den Geruch nach kalter Asche zu übertünchen, den der überlaufende Aschenbecher ausströmte. Kai rieb sich mit der Hand durch sein müdes Gesicht und blickte durch das Fenster nach draußen. Es war Ende April und es war nicht zu übersehen, dass sich die Menschen auf Moskaus Straßen auf die anstehenden Festlichkeiten vorbereiteten. Kai schnaufte leise. Die russische Mentalität und all ihre eigentümlichen Brauchtümer - Dinge, die er in den letzten Jahren nicht einen Moment vermisst hatte. Aber Yuriys leuchtende Augen zu sehen, während er sich angeregt mit seinem besten Freund unterhielt, fluchte und lachte, war es allemal wert, hergekommen zu sein. Sie waren auf dem Weg nach Klin. Dort würden sie Sergej und Ivan abholen, um dann weiter südlich in einer Unterkunft an einem See einzukehren. Er sah zu, wie Moskau mit seinen Häusern und Sehenswürdigkeiten an ihnen vorbeizog und ließ seine Gedanken schweifen. Allmählich wurde es lichter - bald würden sie die Stadt mit ihren kalten Mauern hinter sich gelassen haben. Etwas abwesend streckte er die Hand aus und tastete am rauen Stoff des Beifahrersitzes entlang, bis seine Fingerspitzen den warmen Nacken seines Freundes erreichten. Er strich seinen Hals hinauf und über die weichen Stoppeln oberhalb Yuriys Ohrs. Dann spürte er, wie sich Yuriys Hand auf seine legte. Kühle, filigrane Finger streichelten sachte über seinen Handrücken, während Yuriy weiterhin dem hitzigen Monolog von Boris lauschte und ihm in angemessenen Abständen mit einem Nicken beipflichtete. Eine kleine Unebenheit unter seiner Berührung brachte Kai zurück ins Hier und Jetzt. Sanft fuhr er eine alte Narbe entlang, die sich hinter Yuriys Ohr befand und richtete seinen Blick darauf. Die Meisterschaft und der ganze Alptraum, der mit BEGA danach geschehen war, lag nun etwa 15 Jahre zurück. 15 Jahre mit Höhen und Tiefen und doch waren sie jetzt hier. Gemeinsam. “Wir sind da” verkündete Boris nach einer Weile und brachte das Fahrzeug mit einem Ruck zum Stehen. Sie stiegen aus und Kai ließ einen Blick umherschweifen, während er sich mit den anderen auf den Weg zu einer der schweren, dunklen Haustüren machte. Sie waren umgeben von nüchternen Arbeiterhäusern. Die Straße war ruhig gelegen und da der Abend dämmerte, trug dies sicherlich dazu bei, dass keine Sterbensseele unterwegs zu sein schien. Das Surren des Türöffners ertönte und die drei traten in ein Treppenhaus ein, in dem es nach altem Holz und Staub roch. Außerdem schienen die Bewohner die Flure hier zum Rauchen zu nutzen. Jede Stufe knarrte, als sie emporstiegen. Die erste Tür in der zweiten Etage stand offen. Sie betraten eine Zweizimmerwohnung, die dunkelgrünen Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen und die Deckenleuchte tauchte das Wohnzimmer in ein unnatürliches Licht. An der Wand zur Küchenzeile standen einige große, schwarze Plastiksäcke, deren Inhalt ordentlich nach Klamotten, Fastfood-Müll und leeren Flaschen sortiert worden war. Auf der Anrichte neben der Eingangstür bemerkte er einen beachtlichen Stapel ungeöffneter Post. Die untersten Umschläge waren schon vergilbt. Yuriy seufzte und Kai sah, wie er den Blick resigniert sinken ließ. “Vanya…” hauchte er kaum hörbar. Im selben Moment trat die hünenhafte Gestalt von Sergej aus der Küche. Ihn hatte Kai nun schon seit Jahren nicht mehr gesehen und so fiel ihm seine schiere Größe umso mehr auf. “Privet!” begrüßte er die drei mit einem breiten Lächeln und nahm sie nacheinander in eine unerwartet sanfte Umarmung “Wie war euer Flug?” Yuriy winkte ab. “Beschissen. Aber was soll’s. Wo ist Ivan?” Das unverwechselbare Plätschern der Toilettenspülung ertönte und gleich darauf gurgelte die alte Leitung des Wasserhahns. Aus der Tür kam Ivan ins Wohnzimmer, oberkörperfrei, und wischte sich die nassen Hände an seiner grauen Jogginghose ab. “Hey!” sagte er sie mit einem müden Lächeln und gab allen dreien die Faust zur Begrüßung. Dann wandte er sich Sergej zu: "Hmh, erinnerst du dich noch, als du gestern meintest ich solle nicht vergessen, die Waschmaschine anzuschmeißen?” Sergej antwortete mit einem langsamen Augenaufschlag und bis zum Anschlag angehobenen Augenbrauen. “Tja. Hab jedenfalls keine frischen Shirts mehr. Aber der Rest ist gepackt!” Mit beiden Händen deutete er auf einen grauen, halb gefüllten Seesack, der an einer in die Jahre gekommenen Couch mit hellem, floralen Muster lehnte. “Du kriegst ein Shirt von mir” schlug Yuriy vor und ließ seinen Blick noch einmal entlang der Zimmerdecke wandern “Aber lasst uns langsam los. Es ist schon spät.” Gesagt, getan. Es war Kai ein Rätsel wie es physikalisch möglich war aber irgendwie schafften sie es sich allesamt in das Fahrzeug hineinzuquetschen. Die Federung des kleinen, blauen Flitzers ächzte und so polterten sie über den niedrigen Bordstein und bogen auf die Straße ein. Kai machte drei Kreuze, dass sich das Fahrzeug dabei nicht direkt in seine Einzelteile zerlegte, sondern tapfer die unebene Straße entlang zuppelte. Er saß auf demselben Platz wie zuvor, jedoch war es diesmal nicht der Anschnallgurt, der ihn sicher hielt, sondern Ivan und Sergej, mit denen er sich formschlüssig auf der Rückbank einfügte. “Selbstsichernde Ladung…” gluckste Ivan, als sie alle mit ihrem Gepäck auf dem Schoß Platz genommen hatten. In dem kleinen Kofferraum des Wagens hätten auch dann nicht alle Taschen Platz gefunden, wenn Boris ihn vorher ausgeräumt hätte. Kai musterte Ivan in dem ausgewaschenen, grauen David Bowie Shirt, das Yuriy ihm geliehen hatte, und kräuselte die Lippen. Er mochte das Shirt. Es war bequem, innen und außen. Das wusste er aus erster Hand. Ob es wohl jemals seinen Weg zu Yuriy zurückfinden würde? Wahrscheinlich nicht. Dass es eng und unbequem in dem viel zu kleinen Auto war, schien die Anderen nicht zu stören. Sie plauderten ausgelassen miteinander und tauschten sich darüber aus, wie es ihnen in der letzten Zeit ergangen war: Über Yuriys Arbeit als Streetworker, über Boris’ unübliches Bewerbungsgespräch in der Autowerkstatt, welches in Streit und Drohungen übergegangen war und mit einem Jobangebot geendet hatte, darüber, wie sie angefangen haben Ivans Wohnung wieder auf Vordermann zu bringen und wie es nun an der Front weitergehen würde und sie witzelten über “Brötchentaxifahrer” Sergej, der in einer kleinen Bäckerei arbeitete und täglich die Waren auslieferte. Kai hörte eine Weile zu, jedoch spürte er deutlich, wie es ihm immer schwerer fiel, den Gesprächen Folge zu leisten. Die Reise lag ihm doch schwer in den Knochen und so übermannte ihn die Müdigkeit. Sein Blick wanderte wieder aus dem Fenster, seine Augenlider wurden schwer und er ließ seinen Kopf gegen die Scheibe sinken. Das Scheinwerferlicht gab immer mal wieder den Blick auf Zufahrten zu kleineren Dörfern preis. Danach kam lange nichts, abgesehen von Feldern und Wäldern. Dann erweckte ein Schild seine Aufmerksamkeit in seiner Schlaftrunkenheit. Es war nur für einen Moment zu sehen und halb zugewuchert, aber er hatte die Worte “Sankt Peters Kloster” darauf erkannt. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Yuriy vor ihm, wie er sich ebenfalls zum Fenster wandte. Hatte er das Schild auch gesehen? Wieso kam es ihm so bekannt vor? Dieser Gedankengang ging nicht weiter als das, denn Kai konnte sich nicht länger dagegen wehren wegzudämmern. Als er die Augen wieder aufschlug, war die Sonne vollends untergegangen und das Fahrzeug bewegte sich nicht mehr. Mehrere kleine Lichtquellen, unerträglich hell, tanzten draußen herum wie Irrlichter und blendeten ihn immer wieder. Er blinzelte ein paar Mal und wartete darauf, dass sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Dann bemerkte er eine Silhouette, die sich vor der Autotür aufbaute. Er verengte die Augen, um zu erkennen, wer es war, als sich die Person zu seinem Fenster herunter beugte. Dieses markante Gesicht, das violette, streng zurückgekämmte Haar… Vladimir Volkov? Nein, das konnte nicht sein… Ein energisches Hämmern gegen die Scheibe ließ Kai hochfahren. “Hiwatari! Willst du da drin Wurzeln schlagen!?” Kai blinzelte erneut. Es war Boris gewesen. Kein Volkov weit und breit. Nun trat auch Yuriy in sein Sichtfeld und schob Boris zur Seite, als er die Autotür öffnete und ihm mit seinem Handy den Weg erleuchtete. “Hey, Dornröschen! Genug Schönheitsschlaf. Da ist doch eh nichts mehr zu retten” er grinste und nahm Kai seinen Rucksack ab, den er noch immer auf seinem Schoß hielt. Kai stieg aus dem Auto, Kies knarrte unter den Sohlen seiner Sneakern. Die sanierungsbedürftige Straße endete hier. Als er sich umsah, fiel ihm kein anderes Gebäude auf, bis auf eine alte Datscha, die halb verdeckt zwischen Bäumen stand. “Die Straße durch den Wald war echt abenteuerlich” stellte Sergej fest und wandte sich an Boris, der mit Ivan vor dem offenen Kofferraum stand “Gut, dass du so gut Autofahren kannst!” “Ach, weißt du” begann Boris und ließ die Kofferraumklappe zuknallen, nachdem Ivan einen Benzinkanister herausgehoben hatte: "Im Reich der Blinden ist auch der einäugige König!” Daraufhin kassierte er einen Knuff von Ivan, der seinen Seesack schulterte und mit einem breiten Grinsen an ihm vorbei an die Tür der Datscha trat. Er tastete unter dem Sims des Fensters entlang und fischte einen einzelnen Schlüssel heraus. Er schloss die Tür auf, warf seine Tasche achtlos in den dunklen Raum und verließ das Gebäude direkt wieder. “Moment” murmelte er und verschwand hinter der Datscha. Die Anderen leuchteten sich ihren Weg mit den Taschenlampen ihrer Handys und traten ein. Die Möbel waren alt und die vorherigen Bewohner schienen keine Gelegenheit ausgelassen zu haben, sie mit gehäkelten Platzdeckchen zu dekorieren. Auf Holzregalen standen unzählige Matryoshka Figuren in verschiedenen Stilen und schauten auf sie hinab. Ein Rumpeln, dann noch eins. Nach dem dritten Mal grölte ein Motor von draußen. Mit einem Flackern erwachte die Deckenleuchte zum Leben und erhellte den Raum um sie herum. Es war ein klassisches, altes Sommerhäuschen mit einem großen Wohnzimmer mit Küchenzeile, einem kleinen Badezimmer und einem Schlafzimmer mit zwei Stockbetten. Ivan stieß wieder zu ihnen und grinste triumphierend. “Wer sagt’s denn. Das alte Schätzchen läuft noch! Neben dem Generator stand übrigens noch ein halb voller Kanister.” “Hugh” machte Sergej als er das Schlafzimmer wieder verließ und seinen großen Rucksack neben der Couch zu Boden sinken ließ “Ich schlaf’ auf dem Sofa. Ich sehe mich nicht in einem dieser winzigen Kinderbettchen.” Kai und Ivan bezogen die oberen Betten, Boris und Yuriy die Unteren. Aus Sicherheitsgründen. Um zusammen bequem in einem Bett zu schlafen, da waren sich Yuriy und Kai einig, waren diese einfach zu schmal. Es gab kein vernünftiges Abendessen, denn da sich zeitlich alles nach hinten verschoben hatte, hatten sie keine Gelegenheit mehr gehabt einzukaufen. Sie gaben sich mit einer Flasche Vodka von Boris, die sie in der Runde umher reichten, 1 ½ Tüten gesalzener Sonnenblumenkerne, die Ivan aus seiner Wohnung mitgebracht hatte und einem großen Glas mit eingelegten Gurken ohne Etikett, das sie in einem der Küchenschränke entdeckt hatten, zufrieden. Niemand beschwerte sich darüber. Stattdessen wurde die Stimmung sehr schnell sehr heiter. Grund dafür könnte gewesen sein, dass die Borg Jungen im Leben nie viel gehabt hatten und daher nicht viel brauchten, oder, dass ihre Freude, nach all der Zeit wieder einen Abend zusammen verbringen zu können, schlichtweg überwog. “Ich bin doch super charmant, oder nicht?!” gluckste Yuriy und schlang seinen Arm um Kais Schultern. Dieser ließ sich eine künstlerische Pause lang Zeit, bevor er antwortete und hob die Flasche an die Lippen “... wenn du's willst?" Er trank einen Schluck, während die anderen lachten. “Also wenn hier jemand Eindruck schinden kann, dann bin das ja wohl ich! Bei aller Bescheidenheit. Breit gebaut, braun gebrannt, 100 Kilo Hantelbank!” rief Boris aus, während er sich aufrichtete und die Muskeln spielen ließ. “Jo, wohl eher Hauttyp Milchbrötchen” schoss Ivan unter Tränen zurück, als er sich lachend den Bauch hielt. Kais Blick wanderte von Ivan, der wirklich glücklich aussah, weiter in die Runde und grinste. So einen Abend hatten sie alle dringend gebraucht. Hier und jetzt mitten im Nirgendwo war die Welt in Ordnung. Kapitel 2: Heimkehr ------------------- Es war mitten in der Nacht, als Kai von etwas geweckt wurde. Durch die halb zugezogenen Vorhänge vor dem Fenster drang fahles Licht in den Raum und ließ die Konturen der Betten und ihrer Taschen erkennen, deren Inhalt verstreut auf dem Boden lag. Er hörte Boris am anderen Ende des Raumes schnarchen, aber er war sich sicher, dass es nicht das war, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Da war es wieder. Das Bettgestell bebte für einen Moment, als wäre ihm ein Schauer überkommen. Und da war ein hartnäckiges Rascheln von Laken unter ihm, das ebenso lange anhielt. Dann war wieder alles still. Einen Moment lang kostete es ihn Überwindung, dann beugte er sich über das flache Geländer seines Bettes und versuchte etwas unter sich zu erkennen, jedoch war dort nichts zu sehen, außer tiefe Schwärze. Bloß Yuriys Handrücken und Finger konnte er im schwachen Schein des Lichts erkennen, welches der Mond auf den äußersten Rand der Matratze warf. Da war das Beben schon wieder, diesmal begleitet von einem leisen Wimmern, das bald wieder abebbte. Kai kletterte aus seinem Bett herunter, bedacht darauf, dies möglichst leise zu tun, und trat in gebückter Haltung an Yuriy heran. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er konnte erkennen, dass sein Freund halb zugedeckt auf dem Rücken lag. “Yuriy…” flüsterte Kai ihm zu, doch eine Antwort blieb aus. Stattdessen kam die nächste Welle und diesmal war das Zittern heftiger und das Wimmern deutlicher. Kai ging in die Hocke, stützte einen Arm vom Laken ab und streckte die andere Hand nach ihm aus. “Hey…” setzte er erneut an und in dem Moment, als seine Fingerspitzen die kühle Haut des Anderen berührten, schnappte dieser schlagartig nach Luft und schreckte hoch. Von der plötzlichen Reaktion selbst ein wenig erschrocken, wich Kai ein Stück zurück. Yuriy atmete heftig, sein Gesicht lag halb im Schatten, die Augen hatte er weit aufgerissen und seine Pupillen waren nichts als kleine Punkte, als er sich umsah. “Was-!? Kai…” Als Yuriy ihn erkannte, entspannten sich seine Gesichtszüge merklich “Scheiße…” Er ließ sich zurück auf das Kissen sinken und legte einen Arm über sein Gesicht. Kai legte seine Hände auf Yuriys, die noch auf dem Laken ruhte. Sie war klamm und kalt. “Was war los?” "Ich konnte mich nicht bewegen", hauchte er und war hörbar erschöpft. Situationen wie diese waren für Kai nicht neu, aber das letzte Mal war Jahre her. Er hob die Decke an und kroch in das für zwei Personen eigentlich viel zu schmale Bett. Yuriy machte ihm Platz, so gut er konnte, und Kai bedeutete ihm, sich ihm abgewandt auf die Seite zu legen. Kai fädelte den unteren Arm unter Yuriys Kissen entlang, den Oberen legte er über ihn. Schlanke Finger nestelten sich in Kais und drückten seine Hand. Kai zog ihn etwas fester an sich und schmiegte seine Wange an die des Anderen. Er lauschte, wie Yuriys Atem langsam wieder gleichmäßiger wurde. Er schien wieder einzuschlafen und Kai tat es ihm gleich. “Boris kriegt man echt nicht platt getrunken” bemerkte Kai, als er am nächsten Morgen zu Yuriy in die Küche trat und feststellte, dass der stärkste Trinker von ihnen schon längst wieder auf den Beinen war. Er stellte seine Bialetti auf den Küchentisch, die er in weiser Voraussicht mitgebracht hatte und lehnte sich gegen die Wand neben dem Fenster, steckte dabei die Hände in die Taschen seiner Jogginghose. Draußen regnete es Katzen und Hunde. Boris hatte sich bereits vor einiger Zeit zusammen mit Sergej auf den Weg in den nächsten Ort gemacht, um einzukaufen. Ivan schlief noch. Er wandte sich vom Fenster ab und schaute zu Yuriy, der ihm gegenüber mit verschränkten Armen gegen die Küchenzeile lehnte, seine Augen ins Nichts gerichtet. “Yuriy?” Ihre Blicke trafen sich “Was ist los?” hakte er nach. “Hmm” Yuriy nahm sich einen Moment lang Zeit, schaute zum Boden hinab und sortierte seine Beine, bevor er antwortete: “Die Nacht hat mich einfach enorm abgefuckt. Ich habe so eine weirde Scheiße gesehen, Kai.” Er rieb sich mit der Hand durchs Gesicht, so als wollte er die Bilder fortwischen, die sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. “Es war wieder dieses Ding… Ich war wach, aber konnte mich nicht bewegen und da war…” Er zögerte kurz und blickte durch seine Finger zu Kai auf “Ich habe Wolborg gesehen. Sie stand da, halb im Schatten. Ein riesiger Wolf und ihre Augen… brannten… aber waren gleichzeitig so kalt… und dann…” Yuriy hob die Schultern und senkte den Kopf, sodass sein Gesicht bis über die Nasenspitze in dem Stehkragen seines schwarzen Pullovers verschwand. Kai gab ihm geduldig die Zeit, die er brauchte, bis ihm die passenden Worte einfielen. “Damals, als ich während der Kämpfe ihren Novae Rog einsetzte, habe ich eine Frau gesehen. Das habe ich dir doch schon mal erzählt, oder?” Kai nickte. “Was ich dir nicht erzählt habe - Du hältst mich bestimmt für komplett bescheuert wenn ich dir das jetzt sage” er lachte ein leises, falsches Lachen, bevor er sich überwinden konnte weiterzusprechen “Manchmal hat sie mich angesehen, kurz bevor der Angriff los ging. Und das Gesicht… irgendwie undeutlich aber… Ich dachte immer wieder, sie sieht aus wie meine Mutter. Aber sobald ich genauer hinsah, war es wieder weg. Als wäre es nur so ein kurzes Flimmern gewesen. Das hat mich damals fast in den Wahnsinn getrieben.” Eine kurze Pause folgte und Yuriys Blick wanderte zum Fenster. Der Wind warf den Regen in Böen gegen die Scheibe “Und genau zu dieser Frau wurde der Wolf letzte Nacht.” “Shit…” war alles, was Kai in dem Moment hervorbringen konnte. “Scheiß drauf” Yuriy richtete sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch Gesicht und Haare. Oben auf seinem Kopf angekommen, hielt er für einen Moment inne und schien in Gedanken. Als er dann zu Kai herüber sah, legte sich ein müdes Lächeln auf seine Lippen. “Hey…” Er kam auf Kai zu, strich ihm die Haare aus dem Gesicht und legte seine Hände auf die Wangen seines Freundes, liebkoste sie dabei mit seinen Daumen. Seine Hände waren kühl, wie immer, aber sanft. Kai erwiderte Yuriys Blick und schaute in diese klaren, eisblauen Augen, die ihm gleichzeitig so viel Wärme gaben. “Mach dir keinen Kopf” sagte Yuriy und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn “Ich springe eben unter die Dusche.” Kai nahm das Prasseln aus dem Badezimmer nebenan kaum wahr. Er war in der Küche geblieben und dachte über das nach, was Yuriy ihm soeben offenbart hatte. So viele Jahre hatte er es für sich behalten, obwohl es ihn offensichtlich sehr belastete. Und jetzt schienen ihn die Bilder wieder heimzusuchen. Was war der Auslöser hierfür? Die Haustür wurde aufgeschlossen, doch das schnitt Kai nicht mit. Zu sehr war er darin vertieft zu versuchen, sich einen Reim auf das eben Gesagte zu machen. Ebenso wenig nahm er Notiz von Sergej und Boris, die voll gepackt und nass bis auf die Knochen die Datscha betraten. “Ich dachte immer, Wimpern und Brauen sind dafür da, damit einem die Suppe nicht in die Augen läuft", nölte Boris, während er sich freihändig seine nassen Stiefel abstreifte und anschließend über eben diese Richtung Küche stolperte. Wütend kickte er einen der Stiefel davon. “Nur bis zu einer gewissen Literzahl” entgegnete Sergej, der mit einem eleganten Hüftschwung die Tür ins Schloss stieß. “Die Wand steht auch von alleine, Hiwatari. Pack’ mal mit an” sagte Boris, als er die Küche betrat und sich unbeholfen zum Tisch manövrierte. “Heh, bist du taub? Zu viel Geld in den Ohren, oder was?” raunte er nun, als Kai sich nicht regte, und stellte die Einkäufe ab. In diesem Moment gab eine der durchweichten Papiertüten auf und ihr Inhalt platzte aus ihr heraus. Kai blinzelte. Ihm war, als wäre er gerade aus einer Trance erwacht. Gerade noch so gelang es ihm, zwei Konservendosen im Flug aufzufangen, die bereits über die Tischkante gerollt waren. “Sorry. Der Geruch nach nassem Hund hat mich gerade wohl einfach kurz überwältigt” entgegnete Kai und begann, die Einkäufe zu sortieren, während sich Boris mit beiden Zeigefingern durchs Gesicht wischte und dabei eine beachtliche Menge Wasser mit einem lauten Platschen zu Boden ging. “Du trägst heute die Haare offen. Steht dir.” Boris quittierte den Spruch mit einem finsteren Blick und hielt in seiner Bewegung inne, sich durch seine klatschnasse Kurzhaarfrisur zu fahren, die er seit jeher trug. “Witzig” murrte er und zog die nasse Jacke aus. Nun gesellte sich auch Yuriy zu ihnen, blieb im Türrahmen stehen und trocknete die roten, strähnigen Haare mit einem Handtuch. Sergej klimperte unterdessen im Hintergrund herum und räumte die Lebensmittel in die Schränke ein. “Was ist los, Yura? Du siehst aus wie ein Eimer Hundefutter" stellte Boris fest, nachdem er ihn einmal von oben bis unten gemustert hatte. “So fühle ich mich auch” kam als Antwort. Unter dem Deckmantel des Sortierens-und-Einräumens fand Kai zwischen den Einkäufen endlich das, was er gesucht hatte. Boris hatte also daran gedacht! Mit leuchtenden Augen zog er ein längliches Behältnis hervor und las die Aufschrift. Das Leuchten in seinen Augen verschwand. Instant-Kaffeepulver. Seine Reaktion blieb nicht unbemerkt. “Was ist? Kriegst du gleich wieder einen Blondie-Flipout? Kaffee ist Kaffee.” Kai ließ die Kaffeedose sinken und erwiderte Boris’ Blick. Seine Empörung über diese bäuerliche Äußerung schmeckte bitter, als er sie herunter schluckte. Immerhin waren Sergej und Boris heute Morgen früh aufgestanden und hatten für alle eingekauft - Trotz des Starkregens. Das rechnete er ihnen hoch an. “Alles klar, wenn OG Barista-Boris das sagt, wird es wohl stimmen.” Diese Worte lässig klingen zu lassen, kostete ihn all seine Selbstbeherrschung. Sergej unterbrach für einen Moment seine Einräumerei um ein schelmisches Grinsen in die Runde zu werfen und widmete sich dann wieder seiner selbst auferlegten Aufgabe. “Borya, kriege ich den Autoschlüssel? Ich will nochmal los.” Es war Yuriy, der das Wort ergriff. “Wieso das?” fragte Boris, fing aber gleichzeitig schon an, in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel zu fischen. “Du hast ja keine Ahnung, wie er drauf ist, wenn er nicht auf dem richtigen Stoff ist” sagte er und nickte zu Kai. Boris blickte von einem zum anderen und wieder zurück. Dann zuckte er die Achseln und warf Yuriy den Schlüssel zu. “Ich habe die Macken gezählt. Ich merke, wenn neue dazukommen!” “Okay, ich ziehe mich an” sagte Kai und Yuriy machte schon Anstalten zu intervenieren, darum fügte er noch rasch hinzu “Später kaufst du noch Koffeinfreien.” Er würde sich nicht abwimmeln lassen. Yuriy seufzte. “Ich warte im Auto.” Sie passierten den nächstgelegenen Ort und seinen kleinen Einkaufsladen, ohne dass Yuriy seinen Fuß auch nur einen Deut vom Gaspedal hob. Kai ließ sich keinen Bären aufbinden, also versuchte Yuiry auch gar nicht weiter, diesen Trip für etwas zu verkaufen, was er nicht war. Kai würde trotzdem auf dem Rückweg darauf bestehen, sich das Geschäft auch nochmal von innen anzuschauen, beschloss er. Fürs Erste gab er sich mit dem Schwarztee aus Yuriys Thermobecher zufrieden, den sie sich teilten, und mit den Broten, die sie sich als “Frühstück auf die Hand” mitgenommen hatten. Sie folgten der Landstraße für ca. eine Stunde immer weiter, bis Yuriy irgendwann langsamer fuhr. Das Wetter hatte sich kaum gebessert und die schlechten Sichtverhältnisse erschwerten es ihnen, die Stelle wiederzufinden, die sie suchten. “Hier muss es irgendwo gewesen sein…” sagte er und sie hielten die Augen offen. “Da!” bemerkte Kai und deutete auf ein Schild, das von dieser Seite so von Pflanzen verschlungen war, dass man es nicht mehr lesen konnte. Yuriy nickte daraufhin nur und bog in die Einfahrt ein. Die Straße war gerade so groß, dass ein Fahrzeug Platz hatte. “Das ist eine alte Versorgungszufahrt” erklärte Yuriy “Früher war hier eine Schranke. Ich hatte überhaupt nicht auf dem Schirm, dass wir ihr so nah sind. Ich meine… Ich wusste ja auch nicht wirklich, wo diese Datscha sein würde.” “Sankt Peters Kloster…”(1) wiederholte Kai den Namen der Einrichtung, doch der Groschen war schon längst gefallen. “So hieß der Laden früher, vor Volkov” erklärte Yuriy “Und danach auch wieder. Sie hatten ja versucht, diese Bruchbude wieder groß aufzuziehen, aber so zugewuchert wie das Schild vorne ist, hat das wohl nicht so geklappt.” “Ja, das hattest du damals schon mal erzählt” Kai pausierte kurz bevor er weitersprach “Yuriy? Warum sind wir hier?” Sie erreichten ein schweres, doppelflügiges Eisentor, flankiert von hohen Mauern, und das Fahrzeug kam zum Stehen. Jemand schien sich gewaltsam Zutritt verschafft zu haben, denn einer der Flügel hing nur noch halb in den Angeln. Yuriy ließ die Hände vom Lenkrad in den Schoß sinken und hielt den Blick geradeaus gerichtet. So verharrte er einige Augenblicke, bevor er sich zu Kai umwandte und ihm direkt in die Augen sah. “Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.” Mit diesen Worten zog er sich seine Jacke an, schnappte sich seinen Rucksack und stieg aus. Kai tat es ihm gleich. Regentropfen prasselten gegen ihre Kapuzen. Kai hob den Blick gen Himmel. Es machte nicht den Anschein, als ob es sich bald wieder aufklären würde. Sie stiegen über ein am Boden liegendes Schild mit der Aufschrift “Privatgelände”, welches wippte und Schlamm unter sich hervor presste, als sie ihren Fuß darauf setzten. Sie kletterten durch die Lücke im Tor und fanden sich im hinteren Teil des weitläufigen Klostergartens wieder. Die Natur hatte weitestgehend zurückerobert, was vor langer Zeit ihr gehört hatte und die einst penibel abgesteckten und gepflegten Beete waren nur noch vage vom Rest der Vegetation zu unterscheiden. Kai folgte seinem Freund, der zielstrebig den äußeren Rand der Beete entlang ging und dann auf den Kiesweg Richtung Hauptgebäude einbog. Auf Höhe einer Scheune hielt er inne und musterte sie. Das Dach war schon halb eingefallen und hie und da fehlten ein paar Bretter. Das kleine Holzgebäude diente seinerzeit als Stall, daran erinnerte er sich. Und er erinnerte sich an zwei schwere, schwarze Pferde, die für die Landwirtschaft eingesetzt worden waren. Wie waren ihre Namen noch gleich? Mit einem Knarzen der Scharniere schob Yuriy die Tür auf und sie traten ein. Ein Dachbalken war abgestürzt und hatte eine der Boxenwände zerschlagen. Durch den Regen, der durch das undichte Dach herein tropfte, hatten sich große Pfützen auf dem Boden gebildet. An der Wand gegenüber hingen Kummet und anderes landwirtschaftliches Gerät, von der Zeit gezeichnet und durchgerostet. Am Rahmen neben der Tür entdeckte Kai zwei Holzschilder, verschmutzt und aufgequollen. Die Aufschrift, ungleichmäßig und unbeholfen wie durch Kinderhände eingeritzt, war noch lesbar: “Artjom” und “Suchoi”. Obwohl das kleine Gebäude so heruntergekommen war, gab es dennoch ein Gefühl der Sicherheit und lud zum Verweilen ein. Kai konnte sich nicht recht erschließen, warum. Hier herrschte eine andere Energie, so war ihm fast. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Yuriy, der sich zielstrebig zur gegenüberliegenden Wand bewegte. Geschickt suchte er sich einen Weg, um möglichst trockenen Fußes auf die andere Seite zu gelangen. Auf einem hervorstehenden Balken lehnte ein großes, rostiges Hufeisen mit auffallend ausgeprägten Stollen. Yuriy griff danach, hielt es vor sich und betrachtete es von allen Seiten. Dann schien er Kais Blick auf sich zu bemerken und lächelte ihm zu. “Ein Andenken” sagte er und hob das Eisen an, um es zu präsentieren bevor es in seinem Rucksack verschwand “Wenn die Straßen im Winter so zugeschneit waren, dass die Fahrzeuge nicht mehr fahren konnten, haben wir mit den Pferden die Grenzen kontrolliert. Boris und ich haben das ein paar Mal gemacht.” Seine Augen suchten den Boden ab nach einem sicheren Weg zurück zu Kai “Die waren echt faul, aber es war wie ein Stückchen Freiheit nur für uns.” (2) Er setzte zum Sprung an und erreichte knapp trockenen Boden, verlor das Gleichgewicht und fing an, mit den Armen zu rudern. Kai packte ihn am Arm und zog ihn auf seine sichere Insel an sich ran. Sie standen nun dicht an dicht und Kai musste den Hals recken, um Yuriy ins Gesicht zu schauen. “Oha. Klingt ja nach richtiger Cowboy-Romantik” Kai grinste: "Seepferdchen wolltest du jetzt auch noch machen oder was war das gerade?” Auf Yuriys Gesicht machte sich dieses wölfische Grinsen breit, welches Kai so sehr liebte. “Na, na. Nicht so frech…” sagte er ruhig, aber bestimmt und fuhr mit den Fingerspitzen Kais Kieferpartie entlang, seine blauen Augen folgten seiner Bewegung dabei. “Sonst was?” forderte Kai ihn heraus und schenkte seinem Gegenüber ein schiefes Grinsen. Mit diesen Worten festigte sich plötzlich der Griff an seinem Unterkiefer und sein Kopf wurde angehoben, was ihn dazu zwang, sich aufzurichten. Nun kam er nicht mehr drum herum, tief in diese funkelnden Raubtieraugen zu blicken, die ihn fixierten, als wäre er ein Kaninchen. Er bemerkte einen goldenen Kranz um seine Pupillen. Das war vorhin doch noch nicht gewesen? Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch im nächsten Moment wurde er zurückgedrängt, bis er die Holzbalken der Wand durch den Stoff seiner Jacke deutlich spürte. Seine Nackenhaare stellten sich auf und in seiner Magengegend loderte es - Suzaku reagierte. Ein aufregendes Gefühl. Yuriys Blick wanderte zu seinen Lippen, über die er mit seinem Daumen strich und damit einen Deut öffnete. Als nächstes spürte er Yuriys Lippen auf seinen, fordernd und bestimmt ging er in einen innigen Kuss über, gierig, fast so, als wollte er ihn verschlingen. Kai hielt dem stand und erwiderte den Kuss, krallte sich in den feuchten Stoff an Yuriys Ärmeln. Mit seiner freien Hand griff Yuriy nach Kais Hüfte und zog ihn mit einem Ruck an seine während er den Kuss fortführte. Ein plötzlicher, ohrenbetäubender Knall ließ sie beide hochfahren. Eine starke Windböe hatte gegen die Tür geschlagen, welche mit einem lauten Scheppern gegen den Rahmen gekracht war. Der Wind pfiff durch die Scheune, rüttelte bedenklich an den Wänden und spie ihnen feine Regentropfen ins Gesicht. Sie lösten sich voneinander und verließen rasch die Hütte, an die so viele positive Erinnerungen geknüpft waren. Draußen wartete das Hauptgebäude auf sie, das bedrohlich zum mit dunklen Wolken bedeckten Himmel empor ragte, wie ein Mahnmal aus längst vergangener Zeit. Wie viele Kinder hatte dieses Monster wohl schon verschlungen? Unter dem unaufhörlichen Trommeln der Regentropfen auf ihren Jacken beschleunigten sie ihre Schritte, bis sie das schützende Vordach des Hintereingangs erreichten. Die Tür war verschlossen, wie zu erwarten war. Diese Tatsache schien Yuriy nicht sonderlich zu beeindrucken und so wandte er sich prompt wieder ab, während er wachen Blickes den Boden absuchte bis er schließlich fündig wurde: Ein Trampelpfad führte von der Hintertür aus um die Ecke und endete an einem eingeschlagenen, schmalen Fenster, das direkt über den Boden ragte. “Hm. Wir sind wohl nicht die Ersten hier” stellte Kai fest, als er sich nochmals umsah. Yuriy ging in die Hocke und leuchtete mit seinem Handy ins Dunkel des Kellers. Es war nicht das Geringste zu erkennen. “Vielleicht sind schon andere Ex-Abteikids vor uns auf die Idee gekommen. Oder-” setzte er an und drückte Kai grinsend seinen Rucksack in die Arme “Oder es haben sich hier ein paar Obdachlose gemütlich gemacht.” Kai sah zu, wie sich Yuriy Füße voran durch das schmale Fenster zwängte und nach einer nach seinem Geschmack viel zu langen Pause mit einem Platschen auf dem Boden aufkam. “Dein Ernst?” stöhnte Kai. “Willst du lieber draußen bleiben?” Ja, war die ehrliche Antwort. Er warf Yuriy den Rucksack entgegen, bevor er kurz entschlossen ebenfalls durch das Kellerfenster kletterte. Denn noch weniger als die Vorstellung, das Gemäuer selbst zu betreten, mochte er den Gedanken, Yuriy alleine dort unten zu wissen. Kapitel 3: Im Schlund des Monsters ---------------------------------- "Du musst echt nicht mitkommen, wenn du nicht willst." Kai hielt sich vorerst noch mit beiden Händen an der Kante des Kellerfensters fest und schaute über die Schulter nach unten. Yuriy hatte in der Zwischenzeit eine Taschenlampe aus seinem Rucksack gekramt und leuchtete ihm. Trotzdem fiel es ihm schwer, einzuschätzen, wie weit es bis zum Boden war. Zwei Meter Vielleicht? Zweieinhalb? “Ja, klar. Und am Ende brennst du mir noch mit einem Obdachlosen durch.” “Hmh. Du kennst einfach meinen Typ. Wenn du nicht langsam mal los lässt, wird das aber nichts.” Er gab sich einen Ruck und ließ los. Er landete in knöcheltiefem Wasser, das ihm sogleich kalt in die Sneaker lief. Es hatte sich durch das seit vermutlich Ewigkeiten kaputte Fenster hier in einer breiten Bodenvertiefung gesammelt. Er gestikulierte mit offenen Händen zu seinen nassen Füßen herunter und blickte dann, wie in Zeitlupe, auf zu Yuriy. Der zuckte nur die Achseln und gab ihm ein schiefes Lächeln. “Komm! Jetzt sind die Füße eh nass.” Er nickte Richtung Ausgang und setzte sich in Bewegung. Kai holte sein Handy aus seiner Hosentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Sie befanden sich in einem Raum, der vielleicht mal als Vorratslager genutzt worden war. Leere Holzregale an den Wänden, teils umgestoßen, und zerbrochene Glasbehälter auf den Pflastersteinen am Boden ließen darauf schließen. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Anschlag zu und stellte den Kragen auf. Hier unten war es kalt, viel kälter als draußen, und er merkte schnell, wie die Kälte in seine Finger biss, mit denen er sein Telefon vor sich hielt. Im Schein seiner Lampe konnte er sogar seinen Atem sehen. Sie traten in den Gang hinaus. Hier roch es genauso feucht und süßlich nach Moder wie in dem Raum zuvor und an den Wänden glitzerte ein Film aus kleinen Wassertropfen. Yuriy hielt inne, als würde er lauschen. Kai kam das Obdachlosen-Thema wieder in den Sinn, über das sie vorhin scherzhaft gesprochen hatten. Was, wenn sie hier wirklich jemanden stören würden? Was, wenn dieser dann nicht so friedlich reagieren würde? Er wurde plötzlich aus der Gedankenkette gerissen, als er ein regelmäßiges Platschen hinter sich hörte, wie watende Schritte durch Wasser, und rückte unbewusst näher an Yuriy. Der wandte sich zu ihm um und schaute ebenfalls in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Kai spürte ein Flackern in seinem Brustkorb. Das Platschen verstummte. “War nur ein Tier” sagte Yuriy trocken “Komm!” Widerwillig setzte sich Kai wieder in Bewegung, jedoch nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und nach hinten zu leuchten. Es war nichts zu sehen und auch nichts weiter zu hören. “Das muss eine echt große Ratte gewesen sein…” sagte er und als er schluckte, bemerkte er, wie trocken sein Hals war. Yuriy schnaufte. “Ja, genau.” Auf ihrem Weg passierten sie bald eine Treppe, von deren Schacht ein wenig Licht nach unten drang, aber Yuriy machte keinerlei Anstalten, diese emporzusteigen. Was auch immer er suchte, musste hier unten sein. Kai hätte nichts lieber getan, als diesen unterirdischen Irrgarten auf schnellstem Wege wieder zu verlassen. Er fühlte sich zunehmend unwohler, je länger sie den Gängen folgten. Tiefer und tiefer drangen sie zum Herz des Klosters vor und mit jedem Schritt drückte eine unbekannte Schwere mehr auf seine Schultern. Alles um ihn herum nahm er gedämpft war: Ihre Tritte, die von den Mauern widerhallten, der Lichtkegel, in dem sie sich bewegten, der immer wieder weitere Abzweigungen und schwere Türen preisgab. Er fühlte sich wie in Watte gepackt, so als seien sie gar nicht mehr wirklich Teil vom Hier und Jetzt, sondern irgendwo in einer surrealen Zwischenwelt. Er hatte es nie geschafft, die Lücken in seinen Erinnerungen vollständig zu füllen und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er es nie wirklich ernsthaft versucht. Wenn er an die Zeit in der Abtei zurück dachte, war ihm fast so, als würde er sich an eine fremde Geschichte zurückerinnern, ein Buch, in dem es um jemand anderen ging als um ihn. Es war wie eine Mauer in seinem Innersten, die er nicht durchdringen wollte. Er wusste, dass sich dahinter weit mehr verbarg als er sich aktuell bewusst war, aber dieses Kapitel wollte er einfach begraben lassen. Yuriy hatte ihm dagegen einiges voraus. Er war zwar deutlich länger in der Abtei gewesen und hatte quasi seine gesamte Kindheit hier verbracht, aber er hatte sich weitaus mehr mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt und viel aufgearbeitet. Bewundernswert, aber Kai selbst fühlte sich noch lange nicht so weit. Auch nach über 20 Jahren noch nicht. Als er so in Gedanken war, merkte er ein wenig zu spät, dass Yuriy angehalten hatte, und rempelte ihn an. “Uh, sorry” setzte er an, aber Yuriy reagierte nicht. Er starrte einfach nur regungslos in die Dunkelheit vor ihnen. Im bewegten Schein seiner Handy-Taschenlampe reflektierten Yuriys Augen kurz silbrig-gold wie die eines Wildtiers bei Nacht im Scheinwerferlicht. Unbehagen, mehr noch als zuvor, dehnte sich in Kais Magen aus. Darauf folgte im harten Kontrast dazu eine Wärme, die sich gut anfühlte und ihn sogleich merklich beruhigte. Suzaku regte sich wieder. So aktiv war sie seit langer Zeit nicht mehr gewesen. Er hielt sein Telefon am ausgestreckten Arm nach vorne, um zu sehen, was sich vor ihnen befand. Sein Lichtschein folgte einer Spur aus herausgebrochenen Steinen zu einer halb abgerissenen Mauer, die deutlich jünger zu sein schien als die Steine der Wand drum herum. Jemand hatte offensichtlich etwas zu verstecken versucht und jemand anderes hatte dieses Hindernis zertrümmert - vielleicht aus Wut, vielleicht aus Verzweiflung - und dabei ganze Arbeit geleistet. Dahinter erkannte Kai eine Flügeltür aus angelaufenem Stahl, darüber ein stark verschmutztes Schild: “Test- und Trainingscenter”. “Hörst du das?” fragte Yuriy, als er einige Schritte näher herantrat. Kai lauschte, aber er hörte nichts, abgesehen von einem unregelmäßigen Tropfen in der Ferne. “Nein” begann er “Was soll ich hören?” “Stimmen…” Yuriy kam der Tür näher und legte seine Hand auf das Metall “Sie sind da drin. Aber sie reden alle durcheinander… Ich kann nichts verstehen…” Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern. Stimmen? Dieser Ort machte etwas mit Yuriy und Kai war sich nicht sicher, ob er dem wirklich gewachsen war, was auch immer jetzt kommen würde. Er trat ebenfalls an die Tür heran und schaute zu Yuriy herüber, der seine Hand auf die Klinke legte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von vager Unsicherheit zu definierter Entschlossenheit. Mit einem metallischen Klicken drückte er die Klinke herunter und als die Tür klemmte, verpasste er ihr kurzerhand einen kräftigen Stoß mit der Schulter. Kirschend schob er sie über den steinigen Boden auf. Die beiden betraten einen riesigen Raum mit Gewölbe und Säulen. Überall standen und lagen alte, technische Geräte und zerschlagene Büromöbel. Der Boden war gesäumt von Papier, verfärbt und feucht, und bildete großflächig pappige Platten, die seltsam hohl klangen, als sie darüber liefen. Dem Grad der Verwüstung nach zu urteilen, hatte sich hier jemand aufs Äußerste verausgabt. Vielleicht waren sie wirklich nicht die ersten Ex-Abtei-Jungen, die auf die Idee gekommen waren, der Institution nach der Schließung noch einmal einen Besuch abzustatten. Kai trat näher an einen mannshohen Computer heran. Verglichen mit der heutigen Technologie, erschien er fast schon absurd groß. “Verbraucht. Weißt du noch?” Yuriys Stimme hallte von den Wänden wieder und Kai wandte sich zu ihm um. Er war am anderen Ende des Raumes im Lichtkegel seiner Taschenlampe in die Hocke gegangen und hielt ein braunes, durchnässtes Hängeregister in der Hand. Kai trat heran und versuchte, die Aufschrift der Akte zu entziffern. Er laß “Zangiev”. “Wenn Volkov über Jungen sprach, die nicht mehr weiter konnten, sagte er >sie sind verbraucht<. Wie kommt man darauf, sich so auszudrücken?” Mit einem Klatschen kam die Akte auf dem Boden auf, als er sie von sich warf. “Schon komisch, oder?” Kais Augen verharrten auf dem Register und sein Hals schnürte sich zu. Alexander Zangiev. Einer der Jungen, die sich seinerzeit nicht als würdig erwiesen hatten. Er hatte alles gegeben, aber das hat einfach nicht gereicht. Kai erinnerte sich, dass Alexander nach der Niederlage gegen Takao fortgebracht wurde. Als er selbst später in die Abtei eingebrochen und durch die Katakomben geirrt war, hatte er ihn in einer Art Verlies wiedergesehen. Zu dem Zeitpunkt hatte er ihm nicht helfen können, es sich aber fest vorgenommen, ihn später, wenn die Luft rein war, zu befreien. Als dieses “Später” dann endlich geschah, fand er nur eine leere Zelle vor. Und er hatte nie wieder irgendetwas von dem Jungen gehört oder gesehen. Seine Mundwinkel zuckten unkontrollierbar nach unten, während sich seine Kehle ausdehnte, bis es schmerzte. Hier unten war es kalt und dunkel, doch nichts übertraf die Kälte und Dunkelheit, die sich gerade in seinem Brustkorb ausbreitete. Wie Yuriy sich wohl fühlte? Er wollte nachfragen, aber sein Freund befand sich schon nicht mehr neben ihm. Sein Blick folgte der Lichtquelle, die in diesem Augenblick hinter einer Ecke verschwand und schwächer wurde. Zügigen Schrittes folgte er und blieb in dem Durchgang stehen, eine Hand am feuchten Stein des Gemäuers abgestützt. Die Erinnerung an diesen Raum kam wieder. Hier wurde an den Bitbeasts geforscht und experimentiert. Noch immer befanden sich riesige, zylinderförmige Tanks an einer langen Seite des Raumes. Jetzt waren sie leer und größtenteils zerbrochen, so wie Kai es erkennen konnte. Seinerzeit hatte jeder, der irgendwie die Gelegenheit hatte, einen Blick hier herein zu erhaschen versucht. War es doch vor allem die Aussicht darauf, irgendwann so ein starkes Bitbeast zu kontrollieren, die treibende Kraft für das harte Training und all die Entbehrungen gewesen. Die ultimative Power seinen Gegner zu vernichten. Auch ihm selbst war dieses Begehren nicht fremd und er war dabei weiter gegangen als die Meisten. Black Dranzer hatte ihn mehr als einmal verführt. Und mehr als einmal hatte er um ein Haar alles zerstört, was ihm lieb und teuer war und ihn zum Prinzen der Asche gemacht. Kai schaute zu seiner Hand, die noch auf den Wandsteinen des Durchgangs lag. Es war fast so, als spürte er eine Regung in ihnen. Als gäbe es ein Echo von all den schlimmen Dingen, die innerhalb dieser Mauern geschehen waren. Und er fragte sich, wie viele ahnungslose Kinderhände an dieser Stelle bereits auf dem Stein geruht hatten.(1) Er löste sich, als das Gefühl ihn zu überwältigen drohte, und sein Blick suchte nach Yuriy. Doch alles, was er sah, war perfekte Finsternis. “Yuriy?” rief Kai und seine Stimme, plötzlich und viel zu laut, durchbrach die Stille. Keine Antwort. Er suchte sich seinen Weg durch den Raum, leuchtete wechslseitig nach links und rechts, aber von seinem Freund weit und breit keine Spur. Am anderen Ende des Raumes fand er einen weiteren Durchgang. Hier war er nie zuvor gewesen. Er leuchtete in den Raum hinein, aber das Licht seines Telefons wurde von der tiefen Schwärze verschlungen, bevor es die Mitte des Raumes erreichen konnte. Dieser gespenstische Ort legte allmählich seine Nerven blank. “... Yuriy?” fragte er ungewohnt vorsichtig: "Bist du hier?” Plötzlich leuchtete ihm irgendwo aus dem Zentrum der Dunkelheit ein schimmernd goldenes Augenpaar entgegen. Es fixierte ihn und er war augenblicklich wie erstarrt. Es blinzelte und Kais Atem stockte, während sich die Gänsehaut auf seinen Armen breit machte. Auch Suzaku machte sich wieder bemerkbar, wie ein Kribbeln an seinem Zwerchfell. Warm, schützend, bereit. Als würde sie genauso beobachten was hier vonstattenging wie er. “Kai. Ich bin hier!” Yuriys Stimme riss Kai aus seiner Starre und er wandte ihr den Kopf zu. Sie erklang von ganz in der Nähe des Was-auch-immer-es-war, allerdings doch ein Stück entfernt. 1 oder 2 Meter vielleicht. Yuriy zog seine Taschenlampe hervor, welche bis gerade mit der Linse an seiner Hose geruht hatte und leuchtete Kai mit einem kurzen Schwenk seiner Hand entgegen. Kais Blick glitt wieder zu der Stelle, an der er gerade noch geglaubt hatte, die leuchtenden Augen gesehen zu haben, aber da war nichts als leerer Raum, der nun im Halbdunkel zu sehen war. Es war direkt hinter Yuriy gewesen, da war er sich sicher. Seine Beine weigerten sich im ersten Moment zu Yuriy aufzuschließen, war da doch noch etwas Anderes mit ihnen hier unten. Oder nicht? Hatte er sich das gerade nur eingebildet? Vielleicht war es einfach nur eine Reflektion des Lichts gewesen. An diesen Gedanken hielt er fest. Als er näher kam, offenbarte sich ihm, was Yuriy hier unten gesucht hatte. Um sie herum standen weitere, große Computer und Rollcontainer, der Boden war gesäumt von Kabelsalat - Vandalen mussten auch hier gewütet haben. Herzstück des Raumes war allerdings ein großer Tank, ähnlich wie die im Raum zuvor. Yuriy trat einen Schritt vor und legte seine Hand auf das gesprungene Glas, welches mit der Zeit schon grün angelaufen war. Kai sah ihn an, versuchte ihn zu lesen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Sein Gesicht war wie ein leeres Blatt Papier. “Das hier war mein Tank” sagte Yuriy “Ich war so stolz, dass ich - ICH - von all den Kindern auserwählt wurde, sogar noch besser zu werden, als ich ohnehin schon war. Ich habe keinen Mucks gesagt, als sie mich herbugsierten. Nicht, als sie mich auszogen und auch nicht als ich voll verkabelt in den Tank stieg. Dabei ging mir echt die Muffe.” Yuriy bedachte Kai mit einem müden Lächeln. “Wie dumm ich war.” Kai schüttelte den Kopf “Erzähl nicht so einen Müll. Du wusstest es nicht besser. Wir alle wussten es nicht besser.” Yuriys Lächeln wurde ehrlicher und er wandte sich wieder dem Tank zu. “Ich weiß gar nicht, ob man es sich vorstellen kann, wie es ist, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Ich war wach, aber irgendwie auch nicht. Ich war überwältigt von den Eindrücken und der Energie, die durch mich fuhr, aber gleichzeitig auch so… unerfüllt. Ich war hungrig nach mehr. Ich habe übrigens alles mitbekommen, was um mich herum geschah, aber irgendwie war ich auch nicht ganz da. So seltsam taub. Ein bisschen wie in dem Lied…” sein Blick suchte Kais. “Wie ein Astronaut im Meer.”(2) Yuriys Worte machten Kai betroffen. "Ich hatte immer so viel Wut im Bauch." Das Knarzen von springendem Glas ließ Kai aufhorchen. "Yuriy?" Setzte er an, als ihm auffiel, dass Yuriy mit seiner Hand immer mehr Druck gegen die Scheibe ausübte, von der er sich abstützte und sich die Risse immer weiter durch das kaputte Glases fraßen. "Hier hatte ich einen Ort gefunden, an dem ich dazugehörte. Einen, in dem ich eine Rolle spielte. Endlich hatte ich meinen Platz." "Yuriy! Stopp!!!" Rief Kai noch und griff nach Yuriys Arm, aber da zerbarst das Glas bereits in tausend Stücke. "Aber ich war immer so wütend…" Yuriys Stimme war tonlos und er rührte sich nicht, während er weitersprach, obwohl das zersplitterte Glas tiefe Furchen durch seine Haut gezogen hatte. "Was stimmt nicht mit dir?!" fuhr Kai ihn an, als er ihn am Handgelenk packte und seine Handfläche nach oben drehte, um die Verletzung zu sehen. "Du blutest!!!" Kai biss die Zähne aufeinander, sah im schwachen Licht seines Handys zu, wie aus den Schnitten dunkles Blut quoll, schaute zu Yuriys ausdruckslosem Gesicht auf und wieder zurück. “Ich war wütend auf meinen Schläger-Vater, auf meine Mutter, die mich sitzen ließ, auf mich selbst, weil ich einfach nicht gereicht habe und auf die Welt, weil sie mich nicht wollte” führte Yuriy in seinem Redeschwall fort. Dabei bemerkte Kai, dass der Klang seiner Stimme merkwürdig unterlegt war. Wie ein Echo, aber dumpfer. Die Härchen auf seinem Arm pulsierten in Wellen und es wurde mit jedem gesprochenen Wort deutlicher zu spüren. “Ich war es Leid, ewig der merkwürdige Außenseiter zu sein. Also wurde ich zu etwas, das sie fürchteten.” Eine Pause folgte, in der Yuriy sein Gewicht verlagerte und seinen Blick gen Kais wandte. Kai stockte der Atem, als er im Schatten Yuriys Gesichts ein paar stechend gelbe Augen sah, so fremd und doch irgendwie vertraut. Wie war das überhaupt möglich?! “Mach ich dir Angst?” Kai fuhr zusammen, als er die fremde Stimme aus dem Munde seines Freundes sprechen hörte, kehlig und tief. Befremdlich, wie der Versuch von Etwas, eine menschliche Stimme zu imitieren. "Lass die Scheiße sein!" Fluchte Kai, legte seine zitternden Hände auf die Wangen seines Freundes, um in etwas zu sich herunterzuziehen und legte seine Stirn an die des Anderen. Die blasse Haut war eiskalt. Er schloss die Augen und schluckte einmal, auch wenn ihm die Spucke fehlte. “Natürlich hab’ ich keine Angst vor dir, du Idiot! Warum sollte ich auch?!” Das entsprach sicherlich nicht ganz der Wahrheit, aber er wusste, dass er jetzt stark sein musste, damit sie es gemeinsam aus diesem Höllenloch heraus schafften. "Wir fixen deine Hand jetzt und dann hauen wir hier ab! Vorher wirst du mich nicht los!" Mit diesen Worten legte Kai eine Hand auf Yuriys Schulter und eilte um ihn herum zum Rucksack, den sein Freund noch immer auf dem Rücken trug. "Wenn du mir hier jetzt gleich umkippst, ich schwöre bei Gott… ich bring dich um!" Zitternd tasteten sich seine Finger durch den Inhalt der Tasche. Er konnte nicht verhindern, dass sich der Kloß in seinem Hals immer weiter ausbreitete und auch das Beben in seiner Stimme vermochte er kaum mehr zu unterdrücken. Eine Flasche Wasser, Batterien, Klopapier, eine Zange und Kleinkram. Kein Erste-Hilfe-Kit - nicht einmal ein Pflaster. Er nahm sich fest vor, all ihre Rucksäcken vernünftig auszustatten, sobald sie wieder zu Hause waren. Aber dafür mussten sie erstmal heil hier raus kommen. Er entschied sich für die Wasserflasche und die Rolle Toilettenpapier. Er wandte sich wieder der Wunde zu. “Leuchte mal!” sagte er und positionierte Yuriys andere Hand, in der sich noch immer die Taschenlampe befand, so dass er sehen konnte, was er tat. Das Wasser, das er behutsam über die Wunden laufen ließ, brachte ein paar glänzende Glasscherben zum Vorschein. Yuriy seufzte leise, als er sie vorsichtig entfernte. “Du bist so ein Idiot. So ein richtiger Vollidiot!” Kai fiel es schwer, ein Schluchzen zu unterdrücken, als er ansetzte, die Wunden zu verbinden. “Heulst du?” “... Meine Nase läuft. Es ist scheiße kalt hier unten, okay?!” “Hmhm, stimmt. Ist echt ganz schön frisch hier, huh?” Yuriys Stimme war kaum noch so fremdartig unterlegt wie zuvor. Das gab ihm Sicherheit und als Yuriy den Reißverschluss seiner Jacke öffnete und Kai mit dieser umschloss, als er ihn in eine Umarmung zog, ließ er es ohne Widerstand geschehen. Er genoss die Wärme, die Yuriys Brustkorb ausstrahlte. “Du blutest noch alles voll…” murmelte er, als er seine Hände auf Yuriys Rücken legte und ihn fest an sich drückte. Dabei vergrub er sein Gesicht in die Halsbeuge seines Freundes und nahm seinen Geruch gierig in sich auf. Er spürte den Herzschlag des Anderen durch die kühle Haut, die sich langsam erwärmte. War jetzt wieder alles normal? Konnten sie nun endlich gehen? "Kai…" Er spürte das Vibrieren Yuriys Stimme an seiner Stirn und sie lösten sich aus ihrer Umarmung. Kais Blick folgte dem Yuriys. Nach wie vor sickerte die rote Suppe langsam aus Yuriys Wunden und suchte sich seinen Weg durch seine Finger, während er die Hand immer noch offen vor sich hielt. Der Schein seiner Lampe folgte den dickflüssigen Tropfen, die bereits klebrige Fäden zogen. Am Fuße des Tanks lag ein Haufen großer, blanker Knochen, sauber und ordentlich, so als hätte sich das dazugehörige Tier dort einfach zum Schlafen hingelegt. Auf dem Raubtierschädel sammelte sich das Blut und lief in Rinnsalen gen Boden. Konnte es sein…? Nein, das war absurd. Er spürte sein Herz heftig gegen seinen Brustkorb hämmern und sein Blut rauschte in seinen Ohren. Yuriy klemmte seine Taschenlampe an ihrem Bügel außen an seiner Hosentasche fest, sodass sich der Schein der Lampe zu Boden richtete, bückte sich und hob den Schädel auf. Die restlichen Knochen klapperten hölzern, als er sie dabei in Bewegung setzte. Mit einer Seelenruhe betrachtete sich Yuriy den Schädel von allen Seiten und drehte ihn dabei im Licht von Kais Handy-Lampe, welches von dem blanken Knochen zurückgeworfen wurde. “Wolborg war auch wütend. Bei Gott und WIE wütend sie war” nahm Yuriy den Faden wieder auf “Ihre Power zu spüren war überwältigend, und auch für mich wurde das irgendwann gefährlich. Ihre Psychospielchen fingen an, mich mürbe zu machen. Ein paar Mal hätte ich beinahe die Kontrolle über sie verloren. Aber ich nehm’s ihr nicht übel. Sie hat sich nicht ausgesucht, wie es am Ende gekommen ist. Genauso wie alle Borg Beasts zu etwas gezwungen wurden, das sie nie wollten. Da waren wir uns wohl alle ziemlich ähnlich” Yuriys Stimme festigte sich und mit jedem gesprochenen Wort klang er wieder mehr nach ihm selbst “Sie wollten in mir ein Monster sehen, das ich gar nicht war. Ironischerweise bin ich genau das dann am Ende geworden. So war das auch mit Wolborg. Oh Mann” Yuriy schnaufte “Ich rede zu viel.” “Hm” Kai zuckte die Achseln und fing an, Yuriys verletze Hand großzügig mit dem Toilettenpapier zu umwickeln. “Ganz ehrlich? Ich ertrage lieber deinen Sentimentalen, als dass du mir ohne Vorwarnung zusammenklappst. Also mach’ nur weiter.” Yuriy grinste, das hörte Kai in seiner Stimme, ohne aufzuschauen. “Ich glaube, das macht einfach der Ort. Da kommt vieles wieder hoch. Hat dein Hirn immer noch Mottenfraß?” Kai sagte nichts und stopfte das lose Ende des provisorischen Verbands irgendwo in den wilden Wust hinein. “Hm. Ich glaub’ ich bin fertig mit meinem ‘Sentimentalen’” sagte Yuriy und betrachtete sich Kais Werk mit hochgezogenen Augenbrauen. Unter den kritischen Blicken seines Freundes fasste Kai den festen Entschluss, seine Kenntnisse mit einem Erste Hilfe Kurs wieder aufzufrischen, sobald sie wieder zu Hause waren. Kai schaute von Yuriys verbundener Hand hin zu seinen hellen Augen. Yuriy schenkte ihm ein warmes Lächeln, bevor er ihm einen Kuss auf die Stirn drückte. “Lass uns gehen.” Epilog: Der Schluss ------------------- Die Hintertür der großen Abteiküche war von innen mit drei schweren Metallriegeln verschlossen. Als sie nach draußen traten war es, als hätten sie die eine Welt verlassen und eine andere wieder betreten. Die Sonne brach das Licht durch die Wolken hindurch und Kai hielt die Hand schützend vor sein Gesicht, bis es ihn nicht mehr blendete. Die Luft war warm und diesig, aber frisch. Kai nahm sie gierig in sich auf, schloss die Augen und genoss die weite Freiheit nach der erdrückenden Düsternis, der sie soeben entkommen waren. Das Monster hatte sie wieder ausgespien. Sein Blick wanderte zu seinem Freund, traf auf die klaren, eisblauen Augen, die er so sehr liebte. Yuriy seufzte und schenkte ihm ein Lächeln. “Ich will sie draußen im Wald begraben. Nicht hier im Klostergarten. Sie war lang genug hinter Volkovs Mauern eingesperrt.” Als sie am Abend die Datcha betraten, fanden sie Ivan und Boris auf der Couch vor, Arme und Beine in alle Himmelsrichtungen ausgestreckt. Es roch nach irgendeinem Eintopf, der gerade auf dem Herd brodelte. Sergej stand daneben und war im Begriff, Brot zu schneiden. Ivan lugte über die Lehne der Couch zu ihnen herüber. “Scheiße, was ist denn mit euch passiert!?” sagte er und grinste amüsiert “Hing der Haussegen schief oder wer hat euch so zugerichtet?!” Kai blinzelte. Er schaute zu Yuriy und musterte ihn zum ersten Mal seit sie die Gemäuer verlassen hatten, bewusst von oben bis unten. Sein Gesicht war schmutzig, seine Haare fielen ihm in Strähnen ins Gesicht, seine Jacke war schlammig, seine Hose noch schlammiger, das helle Grau seiner Turnschuhe war nicht mehr zu erkennen. Außerdem waren überall an seiner Kleidung Blutspuren. Kai musste nicht erst an sich herunterschauen, um sicher zu wissen, dass er selbst kaum besser aussehen musste. Keiner sagte ein Wort. Aus Yuriys rechten Ärmel schaute seine verletzte Hand mit dem von Blut und Schmutzwasser durchtränkten, provisorischen Verband. Darum sollten sie sich als Nächstes kümmern. Boris hatte sich auf Ivans Bemerkung hin auch aufgesetzt und schaute zu ihnen herüber. “Was zum!?” Er verengte die Augen “Wo … ist der Kaffee?” ein kurzer Moment des Schweigens folgte, bevor Boris mit beunruhigender Ernsthaftigkeit fortfuhr: “Okay entweder, ihr rückt jetzt mit der Sprache raus oder ich schüttel euch kopfüber so lange, bis die Antworten aus euch rausfallen.” Das nächste Mal, als sie die Datcha verließen, taten sie es alle gemeinsam. Im Kofferraum: Ein Kanister Benzin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)