Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 34: ------------ Mimi Endlich ist es soweit – Tanabata. Ich habe die letzten Tage damit verbracht, meinen Kimono richtig anzulegen und natürlich habe ich mir auch noch mal die Geschichte von Tanabata durchgelesen. In der hauseigenen Bibliothek habe ich ein Buch dazu gefunden. Und ich habe Frau Kido weiterhin bei ihrer täglichen Arbeit begleitet, die ich immer noch sterbenslangweilig finde. Tai habe ich immer nur zwischen Tür und Angel gesehen, weshalb ich mich umso mehr freue, dass er heute Abend dabei sein wird. Allerdings kam alles etwas anders als ich es erwartet hatte, denn traditionell findet Tanabata an zwei Tagen statt und der Erste davon wird jedes Jahr bei der Familie Minamoto zelebriert. Ich lerne also Kaori’s Familie kennen, das finde ich tatsächlich ein bisschen aufregend. Morgen Abend werden wir uns dann endlich unter die Leute mischen und können die festlich geschmückten Straßen von Tokyo bestaunen. Dr. Kido und Jim können leider nicht dabei sein, sie werden im Krankenhaus gebraucht – zu schade. Gestern Abend gab es bereits ein großes Feuerwerk in der Stadt, welches immer einen Tag vor dem eigentlich Tanabata stattfindet. Leider konnte ich es nur alleine von meinem Fenster aus beobachten, aber auch das war schon wunderschön. Joe hatte zwar gefragt, ob wir es uns zusammen von seiner Wohnung aus ansehen wollen, aber ich habe ihm eine Notlüge aufgetischt und gesagt, mir geht es nicht so gut. Joe und ich alleine in seiner Wohnung? Das ist wahrscheinlich keine gute Idee, jetzt, wo er immer rumknutschen will. Egal. Heute sehe ich Tai. Wir werden zwar die ganze Zeit unter Beobachtung stehen, aber immerhin sind wir zusammen. Natürlich fahren wir alle gemeinsam zum Anwesen der Minamoto’s, also lege ich meinen Kimono an und stecke mir die Haare hoch. Es ist wirklich ungewohnt, in einem Kimono zu gehen, fast ein wenig anstrengend. Aber ich habe die letzten Tage viel geübt und hoffe daher, dass ich mich vor den Minamoto’s nicht blamiere. Joe wartet bereits vor meiner Tür, als ich sie öffne. Er dreht sich zu mir um und mustert mich auffallend. „Du siehst wunderschön aus, Mimi“, sagt er und bestaunt meinen rosafarbenen Kimono mit dem Blumenmuster. Er selbst trägt einen dunkelgrauen Kimono mit hellgrauem Streifenmuster und einen rot-schwarzen Obi dazu. Die Kimonos der Männer sind meist eher schlicht gehalten, während die Damen so richtig auftragen dürfen. „Danke“, sage ich und verbeuge mich. „Du siehst auch sehr gut aus.“ Joe lächelt und hält mir seinen Arm hin. „Wollen wir? Die anderen warten bereits unten.“ Ich nicke und hake mich bei ihm unter. Die Limousine steht bereit und wir steigen alle ein. Auch Tai ist anwesend. Als ich ihn sehe, stockt mir kurz der Atem, denn ich habe ihn noch nie im Kimono gesehen. Er steht ihm so unfassbar gut – ein schwarzer Kimono, mit grauem Nadelmuster und grau-schwarzem Obi. Auf der linken Seite befindet sich zusätzlich ein silberfarbenes, geschwungenes Muster, was an der Schulter anfängt und bis ganz nach unten geht. Erst denke ich, es sieht wie eine Schlange aus, doch als Tai direkt mir gegenüber Platz nimmt, erkenne ich, dass es eher wie ein wellenförmiger Fluss ist, an dem hier und da ein paar lilafarbene Sterne aufgestickt sind. Es erinnert mich sofort an die Geschichte der beiden Liebenden. Es passt wirklich perfekt. Außerdem hat Tai seine wilden Haare zu einem kleinen Zopf zurück gebunden, so wie man es früher in Japan oft als Mann getragen hat – oder wie die Hipster es heute noch tragen. Aber ihm steht einfach alles. Er schenkt mir ein kurzes Lächeln und deutet mir mit seinen Augen an, dass ich ihn nicht so anstarren soll, also schaue ich schnell weg und widme meine Aufmerksamkeit wieder Joe, der neben mir sitzt. Frau Kido lobt mich, wie gut ich meinen Kimono gebunden habe und Haruiko würdigt mich keines Blickes – zum Glück. Jim und Kaori steigen als Letzte ein. Kaori sieht wunderschön aus, so wie immer, aber heute strahlt sie einfach so von innen heraus, dass sie selbst ihren wunderschönen, weißen Kimono, mit rotem Blumenmuster, in den Schatten stellt. Ich bin schon sehr gespannt auf ihre Eltern, ahne aber bereits, dass diese Familie noch eine Schippe härter als die Kido-Familie ist. Das Minamoto Anwesen liegt etwas außerhalb der Stadt. Es ist ein traditionell japanisches Haus, das sehe ich schon von weitem. „Sag nicht, dass du noch nie so ein Haus gesehen hast“, sagt Joe leicht amüsiert, als er meinen neugierigen Blick sieht. Wir stehen direkt vor der Eingangstür, wobei diese eher an ein Tor erinnert und ich mich in meinem Kimono in der Zeit zurückversetzt fühle. „Stell dir vor, in New York gibt es solche Häuser nicht“, antworte ich, woraufhin Joe schmunzelt. „Habe ich mir fast gedacht.“ „Blamier uns heute nicht“, richtet plötzlich Haruiko das Wort an mich. Er hat sich zu uns umgedreht und funkelt mich mit seinen eiskalten Augen an. Der hat vielleicht Nerven. Erst bedroht er mich auf meiner eigenen Verlobungsfeier, redet dann Ewigkeiten kein Wort mit mir und jetzt ist das Erste, was er seit Wochen zu mir sagt: blamier uns heute nicht? Ich presse die Zähne aufeinander. „Bestimmt nicht“, nuschle ich. Er betrachtet mich mit einem abschätzigen Blick, ehe er sich wieder umdreht. Augenblicklich spüre ich Tai’s Präsenz hinter mir. Wir berühren uns zwar nicht, aber ich nehme den Duft seines Parfums wahr und weiß, was er mir versucht, zu sagen. Er wird auf mich aufpassen. Sofort beruhigt sich mein Puls wieder und ich konzentriere mich auf das, was vor uns liegt. Die Tore werden geöffnet und Kaoris Eltern nehmen uns in Empfang. Ich falle fast um, als ich ihre Mutter sehe. Sie sieht noch sehr jung aus und Kaori ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Vermutlich hat sie selbst früh geheiratet. Oder sie hat sich verdammt gut gehalten. Ihre Haltung und ihre ganze Körpersprache sind tadellos und nun weiß ich, wer Kaori das alles beigebracht hat. Sie heißt Misaki Minamoto und ihr Vater heißt Kaito Minamoto. Er ist ein großer Mann, der bereits ergraut ist und in dessen Gesicht sich die ersten Falten abzeichnen. Er scheint einige Jahre älter zu sein, als Kaoris Mutter. „Seid gegrüßt“, begrüßt er uns und alle verbeugen sich gleichzeitig. „Ich freue mich, dass ihr die Einladung angenommen habt.“ „Wir kommen, wie jedes Jahr, gerne zu euch nach Hause“, sagt Haruiko und sofort frage ich mich, in welchem Verhältnis die beiden Männer zueinander stehen. Wir folgen ihnen ins Haus und ich staune nicht schlecht, als ich im Innenhof des Anwesens einen großen Teich inmitten eines japanischen Gartens sehe. Alles sieht einfach wunderschön, gepflegt und perfekt aus. Kaum vorstellbar, dass hier ein Kind ausgewachsen ist. Wobei Kaori sicher keine typische Kindheit hatte. Die Minamotos führen uns in ein Zimmer, das bereits mit den leckersten Speisen und Getränken bestückt ist. Wir nehmen an den niedrigen Tischen Platz und ich habe jetzt schon keine Ahnung, wie ich den ganzen Abend in diesem Kimono auf dem Boden sitzen soll. Ich habe nur das Laufen darin geübt, nicht das Sitzen. Es ist super unbequem. Aber wie war das? Ich soll hier keinen blamieren und ich will dem alten Sack auch keine weitere Gelegenheit geben, an mir rum zu nörgeln. Also werde ich mich anstrengen. Tai sitzt neben Joe und dieser zwischen uns, was ich sehr bedauerlich finde. Aber auch hier müssen wir unsere Rollen spielen. Schon interessant, dass am Anfang nur ich mich verstellt habe und Tai das nun auch tun muss. Wobei: um ehrlich zu sein, glaube ich inzwischen, dass hier ausnahmslos JEDER an diesem Tisch eine Rolle spielt. Selbst Kaori, die hier eigentlich zu Hause ist, ist stocksteif und verzieht keine Miene. Na, das wird ja ein lustiges Fest. Wir trinken Tee und Sake und essen gemeinsam, während wir den Gesprächen von Dr. Kido und Herrn Minamoto lauschen. Leider habe ich immer noch nicht heraushören können, woher sich die beiden eigentlich kennen. Gelegentlich ergreift Jim das Wort oder Joe, aber auch nur, wenn sie direkt angesprochen werden. Jeder spricht nur, wenn er gefragt wird. Leider bin nun ich an der Reihe. „Miss Tachikawa, richtig?“ Herr Minamoto sieht mich fragend an. „Ich habe gehört, dass Ihr Vater angeklagt ist, weil er Gelder veruntreut hat.“ Wunder Punkt. Super. „Davon hat jeder gehört“, fährt Haruiko dazwischen und lehrt seinen Becher Sake in einem Zug, ohne mich eines Blickes zu würdigen. „Wie stehen Sie zu den Anschuldigungen?“, fragt Kaito mich gerade heraus und ich spüre sofort, wie die Stimmung am ganzen Tisch kippt. Anspannung ergreift Besitz von meinem Körper und es fällt mir schwer, überhaupt den Mund zu öffnen und etwas zu antworten. „Ich stehe dazu, was mein Vater getan hat und weiß, dass das falsch war.“ „Ja, jetzt steht sie dazu. Ihr blieb ja auch nichts anderes übrig“, giftet Haruiko weiter und lässt sich fleißig nachschenken. Wahrscheinlich hat er schon einen sitzen. „Liebling, lass das“, flüstert seine Ehefrau, doch der alte Sack schnaubt nur. „Nun, ich muss gestehen“, meint Kaito daraufhin und fährt sich mit der Hand nachdenklich über den Bart. „Ich komme nicht umhin, diese Tat ein wenig beeindruckend zu finden.“ Ja, triff mich doch der Blitz. Was hat er gesagt? Dr. Kido starrt seinen alten Freund ungläubig an, so wie alle anderen. „Was, Kaito? Ist das dein Ernst?“ Herr Minamoto nickt. „Natürlich. Ich würde von meiner Tochter dasselbe verlangen. Und du Haruiko? Würdest du nicht wollen, dass deine Söhne dir ohne mit der Wimper zu zucken beistehen würden, egal, ob du ein Krimineller bist? Ich bin mir sicher, du hättest dasselbe von ihnen verlangt.“ „Niemand hat es von mir verlangt. Ich habe das alles freiwillig getan und es war auch nie meine Absicht irgendjemandem damit zu schaden.“ Nur, damit das noch mal klar ist. Joe drückt meine Hand als Zeichen des Beistandes, was mich tatsächlich ein wenig bestärkt. Haruiko fletscht die Zähne, während Kaito wissend grinst. „Es ist egal, wem oder was geschadet wird, wenn es um die Familie geht. Das spielt überhaupt keine Rolle.“ Wow, wie abgebrüht ist er eigentlich? Er nimmt seinen Sake und prostet mir zu. „Familie vor allem anderen, nicht wahr, Miss Tachikawa?“ Dann legt er den Kopf in den Nacken und trinkt. Wir alle tun es ihm nach, weil wir es müssen, alles andere wäre unhöflich. Allerdings bleibt ein bitterer Beigeschmack nicht aus. Dieser Mann ist mir unheimlich. Er wirkt ganz nett, aber ich bin mir grad ziemlich sicher, dass er aus demselben Holz geschnitzt ist wie Haruiko. Kaori, die als Einzige ihren Becher nicht angerührt hat, erhebt nun das Wort. „Ich denke, es ist Zeit für die Wünsche.“ Natürlich weiß ich inzwischen was damit gemeint ist und freue mich sogar ein wenig drauf. An der Wand sind kleine Tischchen aufgebaut, auf denen verschiedene Wunschzettel und Stifte liegen. Sie alle haben eine andere Farbe: rot, blau, gelb, weiß und lila. Etwas unsicher stehe ich davor, während alle anderen bereits eine oder zwei Farben gewählt haben. Frau Kido nimmt sogar von jeder eine und ich frage mich, warum sie das macht. Verdammt, das hat mir keiner gesagt und ich habe diesen Teil nicht genau recherchiert. Joe nimmt sich einen blauen und einen gelben Wunschzettel und sieht mich fragend an. „Ich überlege noch“, sage ich dann und tue ganz nachdenklich, woraufhin er nickt und sich wieder an seinen Platz setzt. Unschlüssig stehe ich da. Ich könnte auch einfach irgendwelche Farben nehmen, aber irgendwie glaube ich an diesen Hokuspokus und will nichts falsch machen. „Brauchst du Hilfe?“, höre ich Tai’s Stimme neben mir und atme erleichtert auf. „Du kommst wie gerufen“, flüstere ich. „Haben die Farben eine Bedeutung?“ Tai nickt und zeigt auf die Zettel. „Ursprünglich standen sie mal für das Ying und Yang und für die 5 Elemente des Unsiversums. Inzwischen ist es ein bisschen moderner und privater geworden. Weiß steht zum Beispiel für einen guten Vorsatz, gelb für Beziehungen, rot für die Eltern, lila für Erfolg und blau nimmst du, wenn du ein Ziel verfolgst oder eine deiner Schwächen ablegen willst.“ Aha, wahnsinnig interessant, vor allem, weil ich wissen möchte, für welche Farben Tai sich entscheidet. Er beugt sich nach vorne und greift ganz zielsicher nach den Farben gelb und blau, genau wie Joe. „Du möchtest also eine Schwäche ablegen? Ich dachte, du hast keine“, stichle ich leise, woraufhin Tai verwegen schmunzelt. „Ich habe nur eine Schwäche. Und die will ich nicht ablegen.“ Sein Blick ist auf mich gerichtet und wir verstehen uns ohne Worte. Ich grinse und nehme mir nun ebenfalls meine Wunschzettel – und zwar alle. „Alle? Hast du so viele Wünsche?“, fragt Tai belustigt und ich zucke mit den Schultern. „Ich will nur auf Nummer sicher gehen.“ „Ah ja.“ „Mimi?“ Ich drehe mich um. Kaori steht hinter mir und lächelt mich an. „Wollen wir unsere Wünsche zusammen aufschreiben?“ Ich nicke. „Gerne.“ Ich folge Kaori nach draußen, während alle anderen drinnen bleiben. Wir gehen in die Mitte des schönen Gartens, wo der Tanabata-Bambusbaum aufgestellt ist und setzen uns dort auf eine Bank. „Wollen wir?“, fragt Kaori und hält mir einen Stift hin. Wir beginnen, jeder für sich, unsere Wünsche aufzuschreiben. Natürlich habe ich mir die letzten Tage Gedanken darüber gemacht, aber jetzt wollen mir die Worte nicht so recht einfallen. Rot ist leicht, die Farbe steht für die Eltern und was ich mir für sie wünsche, liegt auf der Hand. Gelb steht für Beziehungen und es ist ganz klar, dass mein Wunsch mit Tai zu tun hat. Ich wünsche mir so sehr, mit ihm zusammen sein zu können. Blau, auch klar – mein Ziel ist es, dieser Familie zu entkommen, meinem Vater zu helfen und Haruiko Kido das Handwerk zu legen. Okay, vielleicht ein bisschen viel, aber diese drei Wünsche gehen ja irgendwie Hand in Hand. Lila – Erfolg – da nicht genau definiert ist, um welche Art des Erfolges es sich handelt, ob beruflich oder privat, wünsche ich mir, dass Tai mit seinen Recherchen Erfolg hat. Dass uns das Schicksal ein wenig in die Hände spielt. Und weiß, ein guter Vorsatz? Ich bin mir unsicher … ich schiele zu Kaori rüber, die sich die Farben weiß, gelb und rot ausgesucht hat. Sie ist ganz versunken in ihre Wunschzettel und lächelt dabei. Sie sieht heute so zufrieden aus. Mehr als das. „Irgendwie wirkst du heute sehr verändert“, stelle ich fest. Kaori dreht ihren Kopf in meine Richtung und sieht mich fragend an, obgleich ihr Lächeln nicht verschwindet. „Ähm, das war auf keinen Fall negativ gemeint“, schicke ich schnell hinterher. „Aber manchmal strahlst du übers ganze Gesicht. Liegt es daran, dass wir bei deinen Eltern zu Besuch sind? Siehst du sie nicht so häufig?“ Kaori schüttelt den Kopf. „Nein und nein. Wir sehen uns wirklich nicht sonderlich oft, aber daran liegt es nicht.“ Nun wird ihr Lächeln noch breiter und ein aufgeregter Ausdruck legt sich auf ihr Gesicht. Sie sieht sich kurz um, ehe sie sich zu mir beugt und mir etwas ins Ohr flüstert. „Ich denke, ich bin schwanger.“ Ich halte die Luft an. „Kaori“, hauche ich. „Das ist wundervoll.“ Sie grinst übers ganze Gesicht und greift nach meiner Hand. „Nicht wahr? Ich weiß es noch nicht sicher, aber es fühlt sich so an und ich bin ein paar Tage überfällig. Ich hoffe so sehr, dass mir Tanabata endlich diesen Wunsch erfüllt.“ Sehnsuchtsvoll blickt sie zu dem Bambusbaum und plötzlich wünsche ich mir, ich könnte alle meine Wünsche gegen diesen einen Wunsch eintauschen, damit er für sie in Erfüllung geht. „Ich würde mich wirklich für dich freuen.“ „Danke, Mimi“, sagt Kaori lächelnd. „Ich mag dich, du bist eine gute Freundin für mich geworden und das bedeutet mir viel. Ich hatte mein Leben lang nicht besonders viele Freunde.“ Sie steht auf und beginnt, ihre Wunschzettel an den Bambusbaum zu hängen. „Als Kind wurde ich privat von zu Hause aus unterrichtet und als ich dann an die Uni gegangen bin, habe ich zwar endlich Leute kennengelernt und war gelegentlich mit ihnen aus, aber es fiel mir schwer, wirkliche Freundschaften zu knüpfen. Das habe ich nie gelernt.“ Sie sagt es mit einem Lächeln auf dem Gesicht, aber es klingt trotzdem traurig. „Daher bin ich froh, dass ich dich kennengelernt habe und du bald Teil dieser Familie sein wirst.“ Ich schlucke. Fast schon schuldbewusst sehe ich hinab auf meine Wunschzettel. Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass ich am liebsten niemals ein Teil dieser Familie sein würde? Ich hebe den Kopf. „Sag mal, ist es üblich, dass jeder die Wünsche lesen kann?“, frage ich, denn Kaoris Zettel sind nicht gefaltet und ihre Wünsche hängen gut sichtbar an dem Baum. Sie zuckt mit den Schultern. „Eigentlich macht das niemand wirklich. Aber wenn es dir unangenehm ist, kann ich dir einen kleinen Trick zeigen.“ Sie nimmt wieder einen ihrer Zettel vom Baum und kommt zu mir. „Wir können ein Origami daraus falten.“ Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „So etwas kann ich nicht.“ „Es ist ganz leicht“, sagt sie und beginnt, mir die ersten Schritte zu zeigen. Ich mache es ihr nach und siehe da, es geht. „Das ist ein Stern“, sage ich und halte ihn in die Höhe. Kaori nickt. „Ja, morgen auf dem Fest wirst du viele davon sehen. Die Leute hängen oft Origami an die Bambusbäume, das sieht wirklich schön aus.“ Ich lächle zufrieden und hänge meinen ersten Wunsch auf. Danach mache ich dasselbe auch mit den anderen Wunschzetteln. Weiß lasse ich unbeschriftet, denn gute Vorsätze führen doch meist zu Enttäuschungen, weil man sie eh nicht einhält. Als wir fertig sind, gehen wir zurück ins Haus und ich stelle fest, dass inzwischen auch andere Gäste zu uns gestoßen sind. Sie müssen Freunde von Kaoris Eltern sein. Alle unterhalten sich angeregt, bis der Herr des Hauses uns nach einer Weile bittet, ihm in die angrenzende Halle zu folgen. Dort sind viele Stühle aufgebaut und unter anderem auch eine kleine Bühne. Diesmal fädle ich es so ein, dass ich neben Tai sitze. Er sitzt rechts von mir und Joe links. Neben Tai sitzt irgendein Fremder, den ich nicht kenne. Er wird uns keine Beachtung schenken. „Was passiert nun?“, flüstere ich Joe zu. „Eine Aufführung. Die Geschichte von Tanabata wird nachgespielt.“ Wow, eine private Aufführung, nur für uns. Das Licht geht aus und nur noch die Bühne wird schwach beleuchtet. Eine Frau, die einen wunderschönen Kimono trägt und langes Haar hat, welches ihr bis zu den Fußsohlen reicht, betritt die Bühne, gefolgt von einem Mann, der einen schlichten Kimono trägt. Ich schaue mir gespannt die Aufführung an, die von traditionell japanischer Musik begleitet wird und komplett ohne Worte vorgeführt wird. Stattdessen arbeiten die Schauspieler mit Ausdruck und Tanz. Es ist wirklich was ganz Besonderes. Ich frage mich, wie oft Joe diese Aufführung schon gesehen hat, ich jedenfalls bin ganz gebannt. Gerade, als ich völlig in dem Stück versunken bin, spüre ich, wie etwas leicht an meinem Kimono zieht. Es ist Tais Hand. Ich schiele zu ihm rüber und sehe, wie er mich schwach angrinst. Ich sagte ja, wir verstehen uns auch ohne Worte. Ich lasse meine Hand unauffällig zur Seite sinken und verschränke meine Finger mit seinen. Es ist so dunkel um uns herum, dass es niemand bemerkt. Mein Herz beginnt wie wild zu flattern, nur, weil er meine Hand hält. Weil er da ist, immer und überall. Ich spüre, dass wir zusammengehören, wie die beiden Liebenden auf der Bühne, die sich gerade sehnsuchtsvoll in die Arme fallen. Irgendwann. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem wir uns nicht mehr vor der Welt verstecken müssen, davon bin ich überzeugt. Plötzlich bemerke ich, wie sich jemand an uns vorbeidrücken will und lasse schnell Tais Hand los. Es ist Kaori, die ein paar Plätze weiter neben Jim gesessen hat, nun aufgestanden ist und offensichtlich den Ausgang sucht. Sie entschuldigt sich bei allen für die Störung und ich sehe, wie sie sich den Bauch hält. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als sie still den Saal verlässt. „Würdest du mich kurz entschuldigen? Ich muss zur Toilette“, flüstere ich Joe ins Ohr und er nickt. Tai sieht mich fragend an, aber ich kann es ihm jetzt nicht erklären. Leider habe ich keine Ahnung, wo die Toilette ist, daher dauerte es ein wenig, bis ich einen Bediensteten gefunden habe und fragen konnte. Als ich sie erreicht habe, kommt Kaori gerade wieder raus. „Kaori“, sage ich und gehe direkt auf sie zu. Sie sieht ganz blass aus. „Ist alles in Ordnung?“ Sie reibt sich mit dem Finger ein Auge, als hätte sie geweint. „Ja, ich musste mich nur übergeben.“ Über diese Aussage muss ich grinsen, auch wenn es für sie vermutlich weniger lustig ist. „Sieht so aus, als wärst du wirklich schwanger.“ „Psst!“, macht Kaori und hält mir einen Finger an die Lippen. „Das soll doch keiner hören.“ „Entschuldige“, flüstere ich. „Hast du es Jim noch nicht gesagt?“ „Nein, ich wollte erst sicher sein. Ich habe noch keinen Test gemacht. Die Angst vor der Enttäuschung ist zu groß. Das hatte ich zu oft in den letzten Monaten.“ Ich nicke verständnisvoll. Auch wenn ich es mir nicht wirklich vorstellen kann. Dieses Thema ist gefühlt Lichtjahre von mir entfernt. „Ich bin für dich da, Kaori. Du machst es einfach, wenn du dazu bereit bist.“ Dankbar lächelt sie mich an, sie sieht fast ein bisschen gerührt aus. „Danke, Mimi. Du bist die erste Person, bei der ich das Gefühl habe, mich nicht verstellen zu müssen.“ Komisch. So etwas in der Art hat Tai auch schon zu mir gesagt. Ich habe das Gefühl, dass ich, als ich hier in Japan aufgetaucht bin, in eine Parallelwelt reingeplatzt bin. Hier ist alles so verschoben und quer, dass das unmöglich echt sein kann. Wie können Menschen nur dauerhaft mit so vielen Lügen leben? Wir gehen wieder zurück in Richtung Halle, wo wahrscheinlich immer noch die Vorstellung läuft. „Und deine Mutter? Wie ist euer Verhältnis zueinander? Ich konnte meiner immer alles anvertrauen“, frage ich Kaori und hoffe, dass sie sich mir noch ein wenig mehr öffnet. Kaori verzieht das Gesicht, halb amüsiert, halb bedrückt. „Sie ist sehr speziell. Als ich ganz klein war, war sie sehr liebevoll. Sie war eine tolle Mutter. Aber irgendwann wurde sie abweisend und hat nur noch das Nötigste geredet. Sie war gar nicht richtig da. Ich vermute, das hing alles mit dem Tod meiner Schwester zusammen.“ Jetzt mache ich doch große Augen. „Was? Du hattest eine Schwester?“ „Ja, ich sollte eigentlich eine Schwester haben. Sie erblickte auch das Licht der Welt, ist aber schon wenige Tage nach der Geburt gestorben. Ich weiß bis heute nicht genau, warum. Meine Eltern sprechen nicht darüber. Und sie haben auch mir verboten, je wieder darüber zu sprechen. Ich durfte nicht mal mit zu ihrer Beerdigung. Danach war meine Mutter nicht mehr Dieselbe. Und mich hat sie offenbar ganz vergessen.“ Tja. So viel zum Thema: Familie über allem. „Es tut mir leid, dass du nicht diese liebevolle Kindheit erfahren hast, die ich erfahren durfte.“ Mir wird gerade bewusst, wie einsam Kaori gewesen sein muss. Keine Freunde und eine Mutter, die abwesend ist. Es grenzt an ein Wunder, dass sie selbst so eine einfühlsame Frau geworden ist. Kaori schüttelt den Kopf und lächelt, als wäre sie vollkommen im Reinen mit sich selbst. „Das ist schon okay. Ich werde es bei meinem Kind besser machen.“ Sie hat wieder dieses Strahlen im Gesicht, dass sie schon den ganzen Abend lang begleitet und gerade jetzt wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass ihr Wunsch in Erfüllung geht. Wenn es einen Tanabata-Gott oder was auch immer gibt, dann schenkt er dieser Frau endlich ein Kind. Sie hätte es so sehr verdient. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)