Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 36: Kapitel 36 ---------------------- Mimi Alle sind ganz aus dem Häuschen. Seit Tanabata vorbei ist, dreht sich alles um Kaori, Jim und das Baby. Sie konnte es natürlich nicht vor Frau Kido geheim halten, die schnell eins und eins zusammengezählt hat. Aber ich finde es gar nicht schlimm, wenn die ganze Aufmerksamkeit mal nicht mir gilt. Ich rücke gerne aus dem Fokus und überlasse Kaori den Platz. Jim freut sich wohl sehr, wie Kaori mir bereits erzählt hat, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie dieser Mann aussieht, wenn er sich freut. Nur Tai weiß es noch nicht und ich fühle mich nicht befugt, es ihm zu sagen. Ich weiß nicht, ob diese Information schon nach außen dringen soll und irgendwie … vielleicht möchte ich Kaori die Chance geben, es ihm selbst zu sagen. Es sollte ihre Entscheidung sein, wer davon erfährt. Aber anscheinend ist das nur meine Meinung, denn, wie ich gerade feststellen muss, darf Kaori nun gar nichts mehr selbst entscheiden. Wir sitzen gerade alle beim Nachmittagstee, um zu besprechen, was die nächsten Schritte sind. Wieso wird hier aus allem so ein Tamtam gemacht? „Ich habe für nächste Woche einen Termin bei unserem Gynäkologen für dich gemacht, Kaori“, sagt Frau Kido und schlürft ihren Tee. Kaori nickt. „Und ich habe deine Blutwerte heute Morgen ins Labor geschickt“, sagt Jim und wälzt einige aneinander geheftete Blätter durch. „Du könntest etwas mehr Eisen vertragen. Kein Wunder, dass du immer so blass bist. Da müssen wir dran arbeiten.“ Kaori nickt. „Ich habe bereits einen geeigneten Ernährungsplan für dich zusammengestellt“, sagt der Prof. und zieht prüfend eine Augenbraue in die Höhe, als Kaori sich einen Keks vom Tisch nehmen will. „Zucker ist gar nicht gut in der Schwangerschaft.“ Kaori legt den Keks zurück und nickt. Fassungslos sitze ich da und frage mich, ob die Kidos alle den Verstand verloren haben. Sie reden mit Kaori, als wäre sie ihre Marionette. Wieso lassen sie sie diese Schwangerschaft nicht einfach genießen und essen, was sie will? Arme Kaori, jetzt tut es mir doch leid, dass sie so im Mittelpunkt steht. „Kaori?“, versuche ich das Thema auf etwas Schöneres zu lenken. „Hast du dir denn schon eine Hebamme ausgesucht?“ Kaoris Gesicht erhellt sich. „Ja, ich habe mir bereits eine …“ „Die wirst du nicht brauchen. Jim ist Arzt, er wird bei der Geburt dabei sein“, fällt Haruiko ihr ins Wort und zerschlägt mit einem Satz all ihre Pläne. Dieser Arsch. „Aber er ist kein Gynäkologe. Was war noch mal deine Fachrichtung?“, hake ich freundlich nach und sehe Jim an, der gemütlich seinen Tee schlürft, als wäre das hier ein ganz gemütliches Teekränzchen. „Chirurgie“, sagt er und nimmt sich doch allen ernstes den Keks, den Kaori eben nicht essen durfte. Wie gemein. „Meine Fachrichtung wird Kaori noch entgegen kommen, wenn wir das Kind per Kaiserschnitt holen.“ Nun reißen Kaori und ich fast zeitgleich die Augen auf. „Ein Kaiserschnitt? Aber ich dachte, ich …“, beginnt Kaori empört, aber auch diesmal darf sie ihren Gedanken nicht weiter aussprechen. Sprich nur, wenn du gefragt wirst und tu nur, was dir gesagt wird – das Motto der Familie. Frau Kido legt Kaori eine Hand auf die Schulter. „Kindchen, glaub mir, so ist es besser. Wir haben bereits unseren Astrologen und unsere Priesterin befragt, und die Sterne stehen am 3. März nächsten Jahres besonders günstig. Sie sagen Glück, ein langes Leben und Erfolg für alle voraus, die an diesem Tag geboren werden.“ Ich sehe, wie Kaori schluckt. Bei der Vorstellung wird sie kreidebleich und das liegt diesmal wohl nicht an der Schwangerschaftsübelkeit. „Oh. Okay.“ Wow, selbst mir wird schlecht dabei. „Um dein Wochenbett werde ich mich persönlich kümmern, es soll dir an nichts fehlen“, fügt Frau Kido ganz zuversichtlich hinzu, als würde es das Ganze besser machen. Ich glaube, ich bin im falschen Film. „Das hört sich gut an. Ich freue mich auf die Zeit mit unserem Baby.“ Kaori lächelt und wagt es tatsächlich für einen kurzen Moment glücklich darüber zu sein, dass sie Mutter wird. Doch dann … „Um das Baby kümmert sich die Nanny. Du musst dich von der Geburt erholen“, sagt Haruiko so kalt, als würde er über das Wetter sprechen. „Ich … Ich werde nicht mit meinem Kind zusammen sein?“ „Nicht in den ersten vier Wochen. Du musst dich erholen, darfst nicht duschen, nicht spazieren, nur liegen. Das sind altbewährte Traditionen. Um das Stillen musst du dich auch nicht kümmern, die Nanny übernimmt das.“ „Wie das denn?“, lache ich. „Sie ist doch nicht die Mutter. Das ist Kaori.“ „Ach Liebes, dafür gibt es doch Fläschchen und Säuglingsnahrung“, meint Frau Kido kichernd. Mich kotzt diese selbstgefällige Art an diesem Tisch hier so was von an. Gott, am liebsten würde ich Kaoris Hand nehmen und mit ihr davonlaufen. Wie können sie nur glauben, einfach alles bestimmen zu dürfen? Sie haben doch keinen Anspruch auf dieses Baby. Oder verstehe ich hier was falsch? „Außerdem wirst du Vitamine zu dir nehmen und jeden Tag drei Tassen von einem speziell gebrauten Tee trinken“, macht Haruiko mit seiner Ansprache weiter. „Ich habe aber gelesen, dass es nicht nötig ist, so viel …“ „Darüber gibt es keine Diskussion. Du hast es alles unterschrieben, bevor du Jim geheiratet hast.“ „Mach dir keine Sorgen, Kaori, meine Liebe. Bei Jim und Joe haben wir das auch alles so gemacht und aus den beiden ist schließlich auch was geworden“, wirft Frau Kido ein. Beinahe hätte ich gelacht. „Deinem Kind wird es in unserer Familie an nichts fehlen. Es wird eine hervorragende Erziehung, den besten Privatlehrer und den schönsten Namen bekommen.“ „Den Namen? Kaori darf ihn nicht mit aussuchen?“ Ich sehe fragend in die Runde und alle Anwesenden schauen mich an, als wäre ich nicht ganz bei Sinnen. „Wo kämen wir da hin? Er muss schließlich zu unserer Familie passen. Da darf man nichts dem Zufall überlassen“, antwortet Haruiko und wirft mir einen giftigen Blick zu. So viel Feindseligkeit. Aber er macht mir keine Angst mehr. „Und so viel Intelligenz traut ihr Kaori nicht zu?“, steige ich für Kaori in den Ring, doch da schlägt mir bereits blanke Wut entgegen. „Halt dich da raus, du freche Göre!“ „Vater!“, mischt sich nun endlich auch Joe ein, der bis jetzt noch keinen Ton dazu gesagt hat. Für ihn ist das wahrscheinlich alles völlig normal. „Mimi ist immer noch meine Verlobte. Bitte sprich nicht so mit ihr.“ Ich sehe ihn an. Joe? Du weist deinen Vater zurecht? Oh man, nicht, dass er gleich enterbt wird. Trotzdem mutig von ihm, mich so zu verteidigen, auch wenn ich das allein geschafft hätte. Der Prof. räuspert sich. „Du hast recht, Joe. Bitte verzeih. Aber sie hat sich da nicht einzumischen. Kaori wird einen Kido zur Welt bringen und in der Hoffnung, dass es ein männlicher Erbe sein wird, werden wir alles tun, damit er gesund ist. Die Fruchtwasseruntersuchung wird uns in ein paar Wochen Aufschluss darüber geben.“ „Fruchtwasseruntersuchung?“ Nun ist Kaori nicht mehr nur blass, sie sieht direkt panisch aus. Hilfesuchend sieht sie zu Jim. „Das will ich nicht.“ „Wie bitte?“ „Ich will so eine Untersuchung nicht.“ „Schatz, das ist enorm wichtig.“ „Für wen denn?“ Sie greift nach seiner Hand wie nach dem letzten Strohhalm und sieht ihn eindringlich an. „Jim, ich will das nicht!“ Doch ihr Ehemann seufzt nur, als wäre ihm die Antwort zu anstrengend. „Darüber sprechen wir noch mal. Lassen wir das Thema für heute. Wir müssen jetzt ohnehin los.“ Kaori nickt zaghaft und erhebt sich dann von ihrem Stuhl, ohne auch nur ein Stück Gebäck gegessen oder den Tee auch nur angerührt zu haben. Ich sehe ihr hinterher, wie sie sich pflichtbewusst zum Abschied verbeugt und sich für den Tee bedankt und dabei so unendlich traurig aussieht, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr sie mir leid tut. Ich habe ihr dieses Kind so gewünscht, sie hat es sich so gewünscht. Und jetzt soll das alles so laufen? Ich kann verstehen, dass sie das nicht hat kommen sehen, egal, was vorher unterschrieben wurde. Wenn Tai es wirklich mit seinen Recherchen erfolgreich ist … wenn er wirklich etwas findet, womit wir Haruiko zu Fall bringen könnten … wenn er mich wirklich hier raus holen könnte … Wie soll ich es schaffen, Kaori zurückzulassen? Zum Glück musste ich es nicht mehr lange mit Haruiko aushalten, denn er hat sich kurz nach Jim und Kaori verabschiedet. Heute ist zwar Samstag, aber anscheinend hat man als Chefarzt nie Feierabend. Auch Joe muss gleich ins Krankenhaus, da er Spätdienst hat, aber vorher wollte er mir noch was geben. Ich folge ihm in sein Büro und er reicht mir eine Liste. „Was ist das?“, frage ich. Es sind mehrere Blätter, mit unzähligen Namen darauf. „Das ist die Gästeliste für unsere Hochzeit.“ Ich staune und blättere. So viele Leute werden kommen? „Haben die schon alle Einladungen bekommen?“ Joe nickt. „Die hat meine Mutter direkt nach der Verlobungsfeier rausschicken lassen.“ Aha. Gut, zu wissen. Wäre ja schön gewesen, wenn ich die Einladungen vorher mal gesehen hätte. „Warum zeigst du mir das? Ich habe sowieso keine Ahnung, wer diese Leute sind“, frage ich. Joe grinst verlegen. „Das wird dir jetzt nicht gefallen. Wir feiern zwar keine rein traditionell japanische Hochzeit, aber eine dieser Traditionen, die wir trotzdem übernommen haben, ist es, jedem Gast einen persönlichen Brief zu schreiben.“ Unsicher ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. „Und … du willst, dass ich die Liste an Ansgar weitergebe, oder …?“ Joe sieht mich entschuldigend an. „Ansgar wird die Briefe nicht schreiben. Das müssen wir machen, Mimi.“ „Was?“, entfährt es mir und ich wage noch einen Blick auf die Liste. „Aber … das sind locker 300 Gäste.“ „358, um genau zu sein.“ Er rückt seine Brille zurecht und räuspert sich kurz. „Du musst das ja nicht alleine machen, ich helfe dir dabei und es müssen auch keine langen Briefe werden. Aber ich dachte mir, vielleicht könntest du heute schon mal damit beginnen.“ Das soll doch ein Scherz sein, oder? Klar, ich darf mir weder die Location, noch die Musik, noch die Torte oder die Dekoration selbst aussuchen, aber diese blöden Briefe, dafür bin ich gut genug. Was rege ich mich eigentlich so auf? Wenn alles gut geht, wird diese Hochzeit ohnehin nicht stattfinden. Also, spiel einfach mit, Mimi. „Klar“, sage ich daher zuversichtlich. „Mir wird schon was einfallen. Wenn du sagst, sie müssen nicht so lang werden. Ich werde Ihnen einfach danken, dass sie uns die Ehre erwiesen haben, unsere Gäste zu sein und dass wir uns darauf freuen, sie auch zukünftig als Freunde unserer Familie und Geschäftspartner begrüßen zu dürfen.“ Offensichtlich war das genau das, was Joe hören wollte, denn er lächelt begeistert. „Ich wusste, du schaffst das. Du bist einfach perfekt für unsere Familie.“ Er beugt sich nach vorne und ich drehe gerade noch so den Kopf leicht zur Seite, damit mich seine Lippen nur auf der Wange treffen. „Was hältst du davon, wenn du heute Abend nach meinem Spätdienst zu mir in die Wohnung kommst?“ Au Backe. Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Joes Augen strahlen förmlich und er sieht mich ganz verliebt an. „Du bist jetzt schon so lange bei uns und manchmal vergesse selbst ich, dass ich ja eigentlich gar nicht hier wohne.“ Er lacht über diese Tatsache und nimmt meine Hand. „Wir werden bald heiraten und ich finde, meine zukünftige Ehefrau soll sehen, wo wir dann wohnen werden. Natürlich nur, bis wir eine Familie gründen. Dann müssen wir uns räumlich vergrößern.“ Woah, halt. Heiraten ist schon schlimm genug, aber wenn ich seinen Gedanken folgen kann, denkt er bereits an zusammenwohnen und Kinder kriegen. Vermutlich hat ihn Jim und Kaoris neues Glück dazu beflügelt. Meine Kehle ist staubtrocken bei diesem Thema und ich kriege so schnell nicht mal eine Antwort heraus, deshalb grinse ich einfach nur dämlich, was Joe offensichtlich als Zustimmung deutet. „Sehr schön“, sagt er zufrieden und gibt mir noch einen Kuss, diesmal auf den Mund. Ganz flüchtig. Ich bin wie erstarrt, während er wie ein Honigkuchenpferd grinst. „Dann sehen wir uns heute Abend.“ Verdammt, wie komme ich aus dieser Nummer nur wieder raus? Ich habe neulich schon vorgeschoben, dass es mir nicht gut geht, das kauft er mir doch nicht noch mal ab. „Ach so, und wenn du möchtest, kannst du gerne in die Stadt fahren und dir schönes Briefpapier aussuchen. Es ist wichtig, dass alles perfekt ist.“ Klar. Perfekt. Ich schlucke trocken. „Aber ich darf doch nicht ohne Begleitung in die Stadt.“ Joe legt den Kopf schief und denkt nach. „Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Über diese Regel sollte ich mit meinem Vater unbedingt noch mal sprechen. Er hat dich lang genug an der kurzen Leine gehalten. Ich könnte Tai fragen, ob er dich begleitet. Er hat zwar schon Feierabend, aber er weiß, dass ich Überstunden gut bezahle.“ Er will schon sein Handy aus der Hosentasche kramen, als ich ihn davon abhalte. „Ist nicht nötig, ich kann ihn auch anrufen und ihn fragen. Du musst jetzt los, sonst kommst du noch zu spät.“ Prüfend sieht Joe auf seine Uhr und reißt dann die Augen auf. „Mist, du hast recht. Ich bin schon zehn Minuten zu spät dran. Wir sehen uns heute Abend, Mimi. Ich freue mich auf dich.“ Wieder drückt er mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet dann endlich. Halleluja, drei Küsse an einem Nachmittag – das ist neuer Rekord. Joe will es anscheinend wissen und dass er mir unbedingt seine Wohnung „zeigen“ will, deute ich so, dass er einen Schritt weiter gehen möchte. Oh nein, das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Tai Ich vermisse Tanabata. Ich vermisse mein Mädchen. Ich vermisse ihren Duft, ihre Küsse, ihre Hände in meinen. Wie gerne würde ich die Zeit zurückdrehen und dann anhalten, damit ich einfach noch etwas länger mit ihr auf dieser Wiese sitzen und sie im Arm halten kann. Ich habe es die letzten Tage nicht geschafft, sie zu sehen, weil Joes Terminkalender mich zu sehr eingenommen hat. Außerdem steht bald das Fußballcamp an, das ich unbedingt planen musste. Danach bin ich wieder mal als Stuntman für einen Film gebucht. Ich werde also bald schon viel um die Ohren haben. Umso wichtiger ist es, dass ich endlich etwas finde. Mir läuft die Zeit davon. Und die einzige Spur, die ich habe, ist ein Taschentuch. Von einer Oberschülerin, die ich vorher noch nie gesehen habe. Ganz toll. Ich weiß immer noch nicht, ob es eine gute Idee ist, all meine Zeit in diese Vermutung zu stecken und ob sich der Aufwand lohnt. Aber ich hatte nur zwei Optionen: entweder ich tappe weiter im Dunkeln und versuche mehr Leute ausfindig zu machen, oder ich vertraue auf mein Bauchgefühl. Und da mich das noch nie im Stich gelassen hat, setze ich auch hier auf meine Intuition. Aus diesem Grund bin ich gerade auf dem Weg zu Frau Yanos Anwesen, als mein Handy klingelt. Ich schalte auf die Freisprechfunktion um und hebe ab. Es ist Mimi. „Hey, Prinzessin. Du fehlst mir“, sage ich sofort, woraufhin sie kichert. „Du mir auch. Was machst du gerade?“ „Ich bin auf geheimer Mission, wenn du verstehst, was ich meine. Ich habe da eine Spur und der würde ich gerne nachgehen. Warum fragst du?“ „Könntest du mich abholen?“ Ich stutze. „Dich abholen? Haben wir ein Date?“ Mimi kichert wieder. „So ungefähr. Ich soll Briefpapier besorgen und ich darf das Anwesen leider nicht alleine verlassen. Joe meinte, du hättest schon Feierabend, aber ich soll dich ruhig …“ „Natürlich hole ich dich ab“, sage ich schnell. Als ob ich mir auch nur eine einzige Chance entgehen lassen würde, mit Mimi allein zu sein. Allerdings … „Ist Frau Kido zu Hause? Du weißt, dass sie mir gegenüber sehr misstrauisch ist, was dich betrifft.“ „Nein, sie ist eben gegangen“, antwortet Mimi. „Sie muss irgendwas erledigen.“ „Sehr gut. Wozu brauchst du Briefpapier?“ Mimi schnaubt ins Telefon. „Erkläre ich dir später. Wann kannst du hier sein?“ Ich werfe einen Blick auf die Uhr, während ich bereits an der nächsten Kreuzung wende und die entgegengesetzte Richtung einschlage. „Ungefähr fünfzehn Minuten.“ „Sehr schön, dann bis gleich.“ „Bis gleich, Prinzessin.“ Ich grinse übers ganze Gesicht. Mimi und ich allein in meinem Auto. Na, wenn das mal nicht spaßig werden könnte. Als aller erstes fahren wir schnell dieses dämliche Briefpapier kaufen. Ich weiß immer noch nicht, wozu sie das eigentlich braucht. Aber inzwischen sitzen wir in meinem Auto vor Frau Yanos Haus und warten darauf, dass irgendwas passiert, während Mimi die Beine angewinkelt hat und schreibt, nachdem ich sie in meine Theorie eingeweiht habe. Wenn man das überhaupt Theorie nennen kann. Die einzige Vermutung, die ich aktuell habe, ist, dass Frau Ayaka Yano mehr weiß, als sie zugibt und dass dieses Mädchen – sehr wahrscheinlich ihre Tochter – irgendetwas damit zu tun haben könnte. Zwischendurch sieht Mimi immer mal von ihren Zeilen auf, um zu sehen, ob sich schon was tut, aber bis jetzt regt sich nichts. Ich habe den Ellenbogen auf die Seitentür gestützt und mein Kopf ruht in meiner Hand, während ich mit müden Augen in Richtung Haus starre. „Was hat sie eigentlich genau gesagt, als ihr euch getroffen habt?“, fragt Mimi plötzlich. „Frau Yano, meine ich.“ Ich muss gähnen. „Sie hat gesagt, ich soll nicht weiter bohren und dass sie jemanden beschützen muss.“ „Meinst du, sie meinte das Mädchen damit? Ihre Tochter? Die, von der du das Taschentuch hast?““ „Vielleicht.“ „Aber wie sollte ausgerechnet eine Oberschülerin mit den Kidos in Verbindung stehen?“ „Das weiß ich auch noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir einfach, dass da etwas ist, was ich momentan noch übersehe.“ Mimi greift nach dem seidenen Taschentuch, was in der Mitte liegt und sieht es sich an. „Nanami. Ein schöner Name. Hast du gesehen, dass ein kleiner Fleck darauf ist. Das könnte Lippenstift sein.“ Ich werfe einen Blick zu ihr rüber. „Ist mir nicht entgangen. Super, wenn man die besten DNA-Spuren hat und nicht weiß, wie man sie für sich nutzen soll.“ Mimi grinst und legt das Tuch wieder weg. „Ich komme mir vor wie eine Detektivin.“ Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln und ich beuge mich zu ihr rüber. „Was schreibst du da eigentlich die ganze Zeit?“ Verwirrt ziehe ich eine Augenbraue nach oben. „Das sind Briefe an unsere Hochzeitsgäste. Joe hat mich gebeten, schon mal ein paar zu schreiben. Und … er hat mich um noch etwas gebeten …“ Fragend sehe ich sie an, während Mimi sich auf die Unterlippe beißt. Sie weicht meinem Blick aus. „Er will, dass ich ihn heute Abend in seiner Wohnung besuchen komme.“ Ich lehne mich wieder in meinen Sitz zurück und verschränke die Arme vor der Brust. „Er will dich verführen.“ „Oh Gott“, bricht es verzweifelt aus Mimi heraus und sie schlägt sich beide Hände vors Gesicht. „Betone es nicht auch noch. Ich weiß selbst, was das bedeutet.“ „Wirst du hingehen?“ Alles in mir sträubt sich dagegen, mir auch nur ansatzweise vorzustellen, was Joe gerne mit meinem Mädchen machen würde. Ich habe mir schon oft Gedanken darüber gemacht, wie ich damit umgehen soll, wenn diese Hochzeit wirklich stattfindet. Um ehrlich zu sein, schnürt es mir die Kehle zu. Ich will nicht, dass er sie küsst, ich will nicht, dass er sie anfasst und ich will schon gar nicht, dass er sie begehrt. Mimi gehört zu mir und nicht zu ihm. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe ihm neulich schon eine Lüge aufgetischt, als er sich mit mir das Feuerwerk anschauen wollte. Ich muss da irgendwie durch.“ Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung. „Was soll das heißen?“ Okay, ich platze gleich vor Eifersucht. „Das heißt auf keinen Fall, dass ich ihn an mich ran lasse, Tai. Niemals. Du bist der Einzige, der mich haben darf. Aber ich muss mir was einfallen lassen.“ Verdammt, und ich muss etwas finden. Irgendetwas, das mir hilft, Mimi aus dieser arrangierten Ehe zu kriegen. Und zwar so schnell wie möglich, am besten bevor Joe auf dumme Gedanken kommt. Mimi rutscht zu mir rüber und legt eine Hand an meine Wange, während sie mir tief in die Augen sieht. „Ich will nur dich.“ Dann berühren ihre weichen Lippen meine und ich erwidere den Kuss. Ich lege eine Hand in ihren Nacken und ziehe sie näher zu mir. Ihr Duft hüllt mich ein, wie in eine weiche Wolke und sofort entspannt sich mein Körper. Ein tiefer Seufzer dringt aus meiner Kehle, als ich von Mimis Lippen ablasse und beginne ihren Hals zu küssen. Ihre Finger vergraben sich in meinem Haar. Sie stöhnt lustvoll auf und ich spüre, wie heiß mich das macht. Für einen Moment vergesse ich völlig, wo wir sind und bin drauf und dran, sie auf die Rückbank zu zerren, als sie mir gleich mehrmals gegen den Oberarm schlägt. „Tai! Tai!“ Widerwillig lasse ich von ihr ab und hebe den Kopf. Ich folge ihrem Blick nach draußen. „Siehst du, was ich sehe?“ „Allerdings“, entgegne ich ein wenig erstaunt. „Das ist eine Minderjährige, die aus ihrem Fenster klettert.“ Das holt mich definitiv in die Realität zurück. Ich erkenne das Mädchen sofort, das gerade aus ihrem Fenster steigt, von dort aus auf das Dach der angrenzenden Garage springt und sich dann an die Regenrinne hängt, um sich den letzten Meter fallen zu lassen. Meine Augenbrauen wandern beeindruckt in die Höhe. So geschickt wie sie das macht, tut sie das nicht zum ersten Mal. „Ist das Nanami?“, fragt Mimi. Ich nicke. „Aber was macht sie da? Wo will sie hin?“ „Das finde ich gleich heraus. Am besten, du wartest hier.“ Ich öffne die Fahrzeugtür und steige aus, während Nanami das Grundstück verlässt und sich dabei immer wieder prüfend umsieht. Sie ist so mit ihrer Flucht beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerkt, auch nicht, als ich ihr die Straße runter folge. „Cupcake? Cupcake, wo bist du?“, beginnt sie zu rufen und sieht sich suchend nach allen Seiten um. Vermutlich ist Cupcake ihr Haustier. Ob es weggelaufen ist? Mit einem größeren Abstand gehe ich weiter hinter ihr her und siehe da – auf dem Kirschbaum eines benachbarten Hauses miaut etwas. „Oh, Cupcake“, meint Nanami erzürnt und stemmt die Hände in die Hüfte, als sie die Katze entdeckt. „Wieso machst du das ständig? Wie soll ich dich denn da wieder runter kriegen?“ Das ist offenbar mein Stichwort. „Hey“, rufe ich und tue so, als wäre ich einfach irgendein Spaziergänger. „Brauchst du Hilfe mit deiner Katze?“ Nanami dreht den Kopf in meine Richtung und sieht mich erschrocken an. Schon wieder habe ich das Gefühl, sie schon ein mal gesehen zu haben. „Ähm“, macht sie leicht verwirrt. Sie wirkt fast ein bisschen ängstlich. „Ich darf eigentlich nicht mit Fremden sprechen.“ Was? Sie ist doch keine Grundschülerin mehr und wirklich angsteinflößend sehe ich ja nicht gerade aus. Ich bleibe neben ihr stehen und sehe nach oben ins Geäst, wo mich eine kleine, weiße Katze an miaut. „Okay, ich wollte dir nur helfen“, sage ich freundlich. Aber du hast sicher einen Vater, der dir dabei helfen kann, sie wieder runter zu holen.“ Sie presst die Lippen aufeinander und sieht beschämt zur Seite. Oh, wunder Punkt? „Habe ich nicht. Und er ist keine ‚sie’, er ist ein Kater. Und ehrlich gesagt weiß ich auch gerade nicht, wie ich ihn da runter kriegen soll.“ Verzweifelt sieht sie nach oben in den Baum. „Wie gesagt, wenn du willst, mach ich das für dich.“ Nach kurzem Zögern nickt sie schließlich. Viele Optionen hat sie ja anscheinend auch nicht. Ich kremple die Ärmel hoch und gehe zu dem Baum. Ich mache einen weiten Sprung nach oben, damit ich den ersten Ast zu fassen bekomme. Von dort aus schwinge ich mich weiter zum Nächsten, bis ich mit den Füßen Halt am Baumstamm finde und weiter nach oben klettern kann. Ich muss tatsächlich bis ganz nach oben. Der Kater ist zum Glück sehr zutraulich und lässt sich von mir helfen. Als ich ihn sicher habe, klettere ich wieder nach unten und springe das letzte Stück. „Wow“, sagt Nanami und sieht mich fasziniert an. „Beeindruckend.“ „Danke, ich mache so was in der Art beruflich, ist also ein Kinderspiel.“ „Danke, für Ihre Hilfe“, sagt Nanami mit einer tiefen Verbeugung und irgendwie erinnert sie mich dabei an Kaori. Sie scheint eine sehr gute Erziehung genossen zu haben. Ich übergebe ihr den Kater und sie drückt ihn fest an sich. „Vielen, vielen Dank. Sie haben ja keine Ahnung, was er mir bedeutet. Leider läuft er ständig weg und dann muss ich mich nach draußen schleichen, um ihn zu suchen. Er klettert gern auf Bäume, aber er ist ein kleiner Feigling und traut sich nicht runter zu springen. Gut, dass du wieder da bist, Cupcake.“ Sie drückt dem Tier einen Kuss aufs Fell, während ich mich frage, warum sie sich überhaupt rausschleichen muss. „Wie alt ist er?“ „2 Jahre. Ich habe ihn von meiner Mutter zum 15. Geburtstag bekommen.“ „Dann musst du eine sehr nette Mutter haben.“ „Ja, schon“, sagt Nanami zwar, aber sieht auch ein wenig traurig aus. „Ich wünschte nur, sie hätte ihn mir nicht aus Mitleid geschenkt. Egal.“ Ich stutze kurz und überlege, warum jemand einem anderen ein Tier aus Mitleid schenkt. Nanami sieht leicht verlegen aus und möchte sich nun doch schleunigst verabschieden. „Ich muss dringend zurück, vielen …“ „Tai?“ Ich schaue nach hinten. Da kommt Mimi gelaufen. „Wo bleibst du denn so lange?“ Nanami reißt die Augen auf und sieht Mimi an, als wäre sie ein Geist. „Ich kenne Sie“, sagt sie fast schon ehrfürchtig. „Ich habe Sie in der Zeitung gesehen.“ Nun erhellt sich ihr Gesicht als Mimi neben mir stehen bleibt. Ich schaue zu ihr rüber und sehe die Verwirrung in ihrem Blick, als sie Nanami das erste mal gegenübertritt und sie aus nächster Nähe betrachten kann. Was denkt sie wohl gerade? Ich sehe wieder zu Nanami. Kann das sein …? „Ähm, ja, hi. Ich bin Mimi.“ Mimi verzichtet auf eine Verbeugung, während Nanami sich gleich doppelt so tief verbeugt. „Ich kann nicht fassen, dass ich Ihnen tatsächlich begegne. Ich habe Ihre Verlobung in der Presse verfolgt und folge Ihnen auch auf Instagram. Was sie für die Kinder im Krankenhaus gemacht haben, war wirklich cool. Und Ihr Piano Solo war sogar auf YouTube.“ Sie folgt Mimi auf Instagram? Bingo! „Danke, ich freue mich, dass es dir gefallen hat“, antwortet Mimi selbstbewusst. „Würden Sie ein Foto mit mir machen?“ Mimi zuckt mit den Schultern. „Aber klar doch!“ Sie positioniert sich neben Nanami, die mir ihr Handy gibt und mich bittet, ein Foto zu schießen. Nanami lächelt in die Kamera und wieder kommt mir etwas sehr merkwürdig vor, aber ich kann es nicht genau benennen. Als das erledigt ist, gebe ich ihr das Handy zurück. „Es war wirklich schön, Sie zu treffen.“ Nanami strahlt übers ganze Gesicht, als wäre das gerade das absolute Highlight ihres Tages. „Und danke noch mal, dass Sie meinen Cupcake gerettet haben“, sagt sie an mich gewandt. „Ich muss jetzt dringend nach Hause. Tschüss.“ „Tschüss“, ruft Mimi ihr hinterher, während ich nachdenklich die Arme vor der Brust verschränke. „Tai …“, haucht Mimi geheimnisvoll, als Nanami außer Sichtweite ist. „Ist es dir aufgefallen?“ „Ja. Ich weiß nur nicht, was es ist. Aber schon beim ersten Mal, hatte ich das Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben.“ „Was? Siehst du es denn nicht?“ Mimi sieht mich fassungslos an, als könnte sie es selbst nicht ganz glauben. „Die schwarzen Haare, die dunklen Augen, die Brille, ihr Lächeln …“ Plötzlich schaue ich sie entgeistert an, als es mir wie Schuppen von den Augen fällt und Mimi den einzigen Gedanken ausspricht, auf den ich nicht gekommen bin, der jedoch so nahe liegt. „Sie sieht aus wie Joe.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)