Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 42: Kapitel 42 ---------------------- Mimi Es geht mir nicht gut. Seit Tai vor zwei Tagen abgereist ist, schaffe ich es einfach nicht, dieses ungute Gefühl abzuschütteln. Ich schlafe schlecht und warte ständig auf ein Lebenszeichen von ihm. Wir telefonieren, er schickt mir zwischen den Drehpausen Nachrichten und trotzdem … Es ist wie eine böse Vorahnung. Vermutlich liegt es daran, dass mir sehr wohl bewusst ist, wie weit wir bereits gegangen sind. Wie brenzlich die Lage ist. Und, dass es kein Zurück gibt. Tai war äußerst mutig, ausgerechnet in der Besprechung mit Haruiko und den anderen den Namen Nanami fallen zu lassen. Es ist mir nicht entgangen, wie Joes Vater darauf reagiert hat. Ich weiß nicht genau, was Tai damit bezwecken wollte, denn wir konnten noch nicht in einem geschützten Rahmen darüber sprechen. Außerdem haben wir doch schon den Vaterschaftstest, der alles beweist. Worauf wartet er also noch? Und warum reizt er Haruiko damit? Wenn ich doch nur in seinen Kopf sehen könnte … Ich schüttle diese Gedanken ab, als ich von meinem Spaziergang zurückkomme und die Villa betrete. Heute ist sie zum Glück menschenleer, na ja, bis auf die Bediensteten. Alle sind arbeiten oder gehen irgendeiner anderen Tätigkeit nach. Viel Zeit für mich, um über unsere nächsten Schritte nachzudenken. Inzwischen ist mir der Gedanke Joe zu heiraten völlig fremd geworden. Seit Tai’s Freundin Yolei uns anrief und sagte, sie hätte einen Beweis gefunden, kann ich nur noch daran denken, bald von hier weg zu kommen. Ich möchte Joe endlich die Wahrheit sagen. Dass ich ihn mag, ihn aber niemals heiraten kann. Dass ich mich in Tai verliebt habe. Wie wird er wohl reagieren? Wird er mich wieder hassen, so, wie er es getan hat, als der Skandal mit meinem Vater rauskam? Wie wird er es finden, dass er eine Halbschwester hat, die er nicht kennt? Und was wird er von seinem Vater halten, wenn er erfährt, zu was dieser fähig ist? All diese Gedanken lassen mir einfach keine Ruhe. Ich gehe geradewegs auf mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Im selben Moment klingelt mein Handy und ich hoffe schon, dass es Tai ist. Ich kann es kaum erwarten, dass er zurück kommt und wir die nächsten Schritte besprechen können. Als ich allerdings auf das Display schaue, sehe ich, dass es Kari ist, die anruft. Überrascht hebe ich ab. „Kari? Hey, was gibt’s?“ „Mimi“, lacht sie ins Telefon und ich muss kurz das Handy etwas von meinem Ohr weghalten, weil sie so laut ist. „Mimi, du kannst dir nicht vorstellen, was passiert ist!“ Okay, sie ist ziemlich aufgekratzt, im positiven Sinne. Ich gehe rüber zu meiner Nische am Fenster und setze mich. „Noch nicht, aber du wirst es mir sicher gleich verraten.“ Was kann schon aufregendes auf Hokkaido passiert sein? Sie ist ja gerade bei ihrer Kur, ist das nicht eher sterbenslangweilig? „Ich bin verlobt.“ „WAS?“, platzt es aus mir heraus. Das ist tatsächlich aufregend! Im Hintergrund räuspert sich jemand. „Oh, entschuldige. Ich meine, wir. Wir sind verlobt.“ „Oh mein Gott“, ist alles, was ich rausbekomme. „Er hat dich endlich gefragt? Aber … wann? Wie? Warte. Du bist schon noch auf der Insel, oder? Wie kann er …“ „T.K. ist hergekommen, um mich zu besuchen“, erklärt Kari mir. „Na ja, zumindest dachte ich das. Aber dann hat er mir plötzlich einen Antrag gemacht. Mitten am Strand, während die Sonne untergegangen ist. Oh Gott, es war so romantisch.“ Kari gerät richtig ins Schwärmen und auch ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. „Ich freue mich so wahnsinnig für euch. Ihr habt es verdient glücklich zu sein. Weiß es Tai schon?“ „Leider nicht, ich erreiche ihn gerade nicht. Wahrscheinlich dreht er und kann nicht ans Handy gehen. Du bist die Erste, die es erfährt. Oh Gott, meine Mutter wird ausflippen, wenn ich es ihr erzähle.“ Kari lacht vor Freude und es tut so gut, sie so glücklich zu hören. Sie und Takeru sind so ein schönes Paar. Es wäre eine Schande gewesen, wenn er sie nicht gefragt hätte. „Das glaube ich. Wisst ihr schon, wann ihr heiraten wollt?“ „Vielleicht nächstes Jahr im Sommer. Vielleicht sogar hier auf Hokkaido. Es ist so wunderschön hier.“ „Ich kann es mir schon bildlich vorstellen“, sage ich verträumt. Kari in einem Hochzeitskleid am Strand, traumhaft. „Was ist eigentlich mit deiner Hochzeit, Mimi? Findet die noch statt?“ „Ähm …“, mache ich und denke kurz nach, was ich ihr anvertrauen kann. „Tai hat mir gesagt, dass er und du … na ja …“, stammelt sie und wirkt leicht verlegen. Ich seufze. „Es ist kompliziert. Ich kann dir aktuell nicht mehr dazu sagen. Nicht am Telefon.“ Ich kann ihr noch nicht mal sagen, dass ich Tai liebe. Ich habe es ihm selbst noch nicht mal gesagt, jedenfalls nicht mit diesen Worten. Ich kann es Kari gegenüber momentan noch nicht aussprechen. Nicht am Telefon und schon gar nicht, wenn alles noch so unsicher ist. „Tut mir leid, Kari.“ „Ist schon gut. Ich möchte nur nicht, dass einem von euch etwas passiert. Verrennt euch bitte nicht.“ „Tun wir nicht.“ Haben wir schon lange. Aber diese Büchse der Pandora kann ich jetzt nicht öffnen. Kari ist bei einer Kur, die sehr wichtig für sie ist. Sie braucht Erholung. Sie hat sich gerade erst verlobt und ist überglücklich. Das will ich ihr nicht kaputt machen. „Ruf mich wieder an, wenn es etwas Neues gibt. Oder wenn du einfach nur quatschen willst. Und danke, dass du mir die Neuigkeit erzählt hast. Ich freue mich wirklich wahnsinnig für euch beide“, sage ich versöhnlich und würde das Gespräch jetzt gerne beenden. Tai ist zwar nicht in Tokyo, aber ich kann unmöglich einfach rumsitzen und Däumchen drehen. Vielleicht kann ich schon mal einen Plan machen, wie wir weiter vorgehen können. Tai hat das Geheimnis um Nanami und Haruiko aufgedeckt, aber er hat es noch nicht öffentlich gemacht. Das heißt, es muss etwas geben, was ihn noch davon abhält. Etwas, dass er mir noch nicht sagen konnte. „Ist gut“, sagt Kari und klingt erst einmal beschwichtigt. „Du kannst dich natürlich auch … Oh, warte. Moment.“ Ihre Stimme ist plötzlich so abgehackt, als wäre sie von etwas anderem abgelenkt. Es raschelt und ich runzle die Stirn. „Kari? Hallo?“ „Tut mir leid, Mimi, ich muss da eben rangehen. Ich bekomme gerade einen Anruf aus Tokyo, vielleicht ist es wichtig.“ „Oh, okay. Kein Problem. Bis später.“ „Bis später, Mimi.“ Sie legt auf und ich lege das Handy auf meinen Nachttisch. Ich gehe kurz ins Bad, um zu duschen und überlege mir dabei, was ich als Nächstes tun kann. Joe ist momentan sehr eingespannt im Krankenhaus. Ob ich ihn überredet bekomme, selbst noch mal einen Tag nach Shizuoka ans Filmset zu fahren? Offiziell natürlich als Visagistin, aber inoffiziell, um mit Tai zu reden. Wir müssen uns endlich unter vier Augen sprechen. Ich vermisse ihn jetzt schon. Er fehlt mir so sehr, dass es weh tut. Vor diesen zwei Wochen im Camp, war ich mir ziemlich sicher, dass es verdammt weh tun würde, wenn ich Joe heiraten müsste und nicht mit Tai zusammen sein könnte. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es mich umbringen würde. Tai hat mir gezeigt, dass es sich zu kämpfen lohnt, vor allem um die Liebe. Wenn er wieder da ist, muss ich ihm unbedingt sagen, was ich für ihn empfinde. Ich muss ihm sagen, dass ich ihn liebe. Er soll wissen, wie sehr er mein Herz zum Schlagen bringt und dass es nur ihm gehört – egal, was passiert. Ich ziehe mir etwas Frisches an, nachdem ich aus der Dusche gestiegen bin und föhne meine Haare. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht glätte ich sie mir anschließend noch und kann gar nicht aufhören daran zu denken, wie er wohl reagieren wird. Allein bei dem Gedanken daran schlägt mir das Herz bis zum Hals. Ich habe noch nie zu einem Mann „ich liebe dich“ gesagt. Und für eine gewisse Zeit in meinem Leben dachte ich auch, es niemals zu sagen. Denn ich glaubte nicht an die Liebe. Bis ich Tai begegnete und das einfach alles veränderte. Er hat mich verändert und ich will, dass er das weiß. Dass er der Grund ist, warum ich wieder an die Liebe glaube. Freudestrahlend verlasse ich das Bad und beschließe, Tai eine Nachricht zu schreiben, dass er mir unglaublich fehlt und ich ihn sehen möchte. Doch dann halte ich in meiner Bewegung inne und stutze ein wenig. Sieben Anrufe in Abwesenheit? Alle von Kari. Was… aber warum? Mein Herz beginnt unruhig zu schlagen. Das Gefühl, welches mich schon seit zwei Tagen begleitet, kehrt zurück und ich blinzle nervös. Gerade, als ich Kari zurückrufen will, ruft sie erneut an. Ich hebe sofort ab. „Kari? Ist alles …“ „Tai …“ Sie weint. „Er … er hatte einen Unfall.“ Zunächst realisiere ich gar nicht, was sie zu mir sagt, ich höre einfach nur ihr Schluchzen. Doch dann sickern ihre Worte zu mir durch und ich muss mich setzen. „Er hatte am Set einen Unfall und … ein Seil ist wohl gerissen. Er ist mehrere Meter in die Tiefe gestürzt und …“ Ihre Stimme bricht. Ich schlage eine Hand vor den Mund. Ehe ich mich versehe, laufen mir unaufhaltsam Tränen über die Wange. Meine Sicht verschwimmt und ich bringe die Worte kaum hervor. „Wie … wie schwer ist er verletzt? Lebt er noch?“ Oh Gott. Nein. Bitte nicht. Das darf nicht passiert sein. Tai darf nicht … „Er lebt. Aber es sieht schlecht aus. Ich weiß nur, dass er in Shizuoka notoperiert wurde und er einen Herzstillstand hatte. Sie … sie mussten ihn wiederbeleben. Er wird nach Tokyo verlegt. Ich bin gerade am Packen.“ Im Hintergrund höre ich Schranktüren auf und zu fliegen. „Ich weiß nicht, wie schnell wir da sein können, aber wir geben unser Bestes.“ Wie erstarrt sitze ich auf der Kante meines Bettes und blicke ins Leere. Die Bilder in meinem Kopf fahren Achterbahn. Vor meinem inneren Auge sehe ich Tai, wie er in die Tiefe stürzt. Wie er verletzt auf dem Boden liegt. Wie er im OP-Saal operiert wird. Wie sein Herz kurz stillsteht. Er Tod ist. Mein Gott … „Mimi, bist du noch dran?“ Ich glaube, ich kriege keine Luft mehr. Es schnürt mir die Kehle zu und ich fasse mir an die Brust. Verdammt, nicht schon wieder eine Panikattacke. Nicht jetzt. „Ja“, kriege ich gerade noch so krächzend heraus. „Mimi“, sagt Kari eindringlich, ihre Stimme ist nur noch ein bitterliches Wimmern. „Du musst zu ihm. Bitte. Er braucht dich jetzt. Ich weiß, dass du ihm viel bedeutest und … ich …“ Sie ist so aufgelöst, während ich still weine. Ich verstehe nur zu gut, was gerade in ihr vorgeht. „Keine Sorge, Kari. Ich fahre zu ihm. Es wird alles gut“, sage ich, glaube aber meinen eigenen Worten kaum. „Okay, ich melde mich wieder bei dir.“ Kari legt auf und ich renne ins Bad, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich stütze mich auf die Armatur und atme schwer. Du musst dich jetzt zusammenreißen, Mimi! Meine Liebe, mein Herz, mein ein und alles liegt gerade im Krankenhaus und kämpft um sein Leben. Kari hat recht, er braucht mich jetzt. Ich muss sofort zu ihm. Nachdem Kari mir mitgeteilt hat, in welchem Krankenhaus Tai liegt, habe ich mich sofort von Ansgar hinfahren lassen. Es ist das Krankenhaus, in dem Joe arbeitet. Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist oder nicht, aber das ist mir auch gerade total egal. Weil ich nicht weiß, wo genau Tai sich befindet, renne ich zur Anmeldung. „Tai, äh, ich meine, Taichi Yagami. Wo finde ich ihn?“ „Sind Sie eine Angehörige?“ Die Dame hinter dem Tresen sieht mich teilnahmslos an. „Was? Nein, aber ich …“ „Dann kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben“, sagt sie eiskalt und widmet sich wieder ihren Akten. „Was? Ist das Ihr verdammter Ernst?“, fahre ich sie an. „Ich bin die Verlobte von Dr. Joe Kido, also sagen Sie mir jetzt gefälligst, wo ich Taichi Yagami finde und wie es ihm geht.“ Sie schielt mich über ihrer Brille hinweg an. „Keine Angehörige.“ Diese Kuh! Dann eben nicht. Ich stoße mich vom Tresen ab und stürze zum Fahrstuhl. Ich drücke wie wild auf den Knopf, bis die Türen sich endlich öffnen. Im vierten Stock angekommen, laufe ich zu Joes Büro. „Joe? Joe!“ Ohne anzuklopfen, reiße ich die Tür auf, aber er ist nicht da. Verflucht, wo ist er? Ich laufe den Gang entlang, frage jede Schwester, der ich begegne, ob sie Joe gesehen haben, aber keiner weiß, wo er sich gerade aufhält. Nach mehreren Minuten des Herumirrens lasse ich mich auf einen der Stühle im Wartebereich fallen und fange an zu weinen. Ich stütze die Unterarme auf meinen Knien ab und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Verdammt, warum will mir denn niemand helfen? Ich muss doch zu ihm. Ich muss doch … „Taichi Yagami, wir suchen Taichi Yagami.“ Ich hebe den Kopf und blicke nach vorne. Eine Frau und ein Mann mittleren Alters irren genauso umher wie ich und sind sichtlich aufgewühlt. Die Frau hat braune Haare und seine Augen. Oh Gott. Seine Mutter. Und der Mann muss sein Vater sein. Die Frau, von der ich nicht einmal weiß, wie sie heißt, weint bitterlich. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, während ihr Mann sie bei der Hand nimmt und versucht, zu beruhigen. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie es ihnen gerade geht. Sie müssen verzweifelt sein, ihr Sohn liegt im Krankenhaus und ist schwer verletzt. Plötzlich kommt ein Arzt auf sie zu und spricht sie an. „Herr und Frau Yagami?“ „Ja, ja, das sind wir. Wie geht es unserem Sohn? Wird er wieder gesund?“ An dem Gesicht des Arztes kann ich rein gar nichts schlussfolgern, wie es Tai gerade geht, er blickt die beiden völlig neutral an. Nun rede doch endlich! „Wie Sie sicher wissen, hatte Ihr Sohn einen schweren Unfall und wurde in Shizuoka, wo er sich zum Zeitpunkt des Unfalls aufhielt, notoperiert. Da das Krankenhaus dort weniger gut ausgestattet ist, wurde er danach schnellstmöglich hierher verlegt.“ „Das habe ich angeordnet“, höre ich plötzlich Joe sagen, den ich gar nicht bemerkt hatte, der nun aber an die Seite seines Kollegen tritt. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich kenne die Familie, ich übernehme ab hier.“ Sein Kollege nickt und verbeugt sich vor den Yagamis, ehe er sich entfernt. „Joe, wie geht es Tai?“, will Frau Yagami sofort wissen und sieht ihn flehend an. Allerdings glaube ich, dass egal, was aus Joes Mund kommen wird, ihr ab jetzt nur noch mehr Kummer und Leid verursachen wird. „Ich will ehrlich sein“, meint Joe betroffen. „Sein Zustand ist kritisch. Die ersten 24 Stunden sind entscheidend, erst dann können wir sagen, ob er durchkommen wird. Und selbst dann hängt seine Genesung von seinem eigenen Überlebenswillen ab.“ Tai’s Mutter schlägt sich eine Hand vor den Mund, kann jedoch ein lautes Schluchzen nicht verhindern. Die ersten 24 Stunden … Mir gefriert das Blut in den Adern beim Gedanken daran. „Er hat ein Polytrauma, das heißt, mehrere Verletzungen waren bei ihm lebensbedrohlich. Thorax und Kopf haben sind durch die Wucht des Aufpralles ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Wirbelsäule ist unversehrt. Das war großes Glück. Tai muss sich gut geschützt haben, als er fiel, so viel steht fest. Dennoch kam es zu einem Schädel-Hirn-Trauma, das ist bei einem Sturz aus fast 7 Metern Höhe nicht zu vermeiden.“ 7 Meter? Tai ist aus 7 Metern gestürzt?“Hauptsächlich hat er schwere Frakturen an Schultern, Knien, Armen und Sprunggelenken. Ein Bein ist gebrochen, eine zweiseitige Milzruptur wurde operativ behandelt, ein subkapsuläres Hämatom, welches wir allerdings konservativ behandeln können. Was uns große Sorgen bereitet hat, ist ein Hämoperitoneum.“ Was, was, was? Sprich langsamer, Joe. Ich verstehe absolut kein Wort. Es hört sich alles schrecklich an. „Das ist ein unkontrolliertes Bluten im Bauchraum. Es hat einige Zeit gedauert, die Blutung zu stoppen und für ein paar Minuten hatten die Ärzte ihn verloren.“ Das ist der Satz, bei dem Frau Yagami endgültig zusammenbricht. Sie krallt sich an ihrem Mann fest, der sie in die Arme nimmt und stützt, sonst könnte sie wohl kaum noch auf den Beinen stehen. Sie weint unaufhörlich und auch mir fließen erneut Tränen über die Wangen. Sie tut mir so leid. „Bitte, sprich weiter, Joe“, bittet Tai’s Vater. Joe nickt. „Wir konnten ihn zum Glück wiederbeleben und die Blutung stoppen. Allerdings hat er wirklich sehr viel Blut verloren und bekommt Bluttransfusionen. Aktuell liegt er hier auf der Intensivstation und er …“ Joe stockt. Ich hebe meinen Kopf. Warum hört er auf zu reden? „Joe? Was ist?“, fragt Herr Yagami und vermutlich weiß auch er, dass das noch nicht alles war, denn es kommt noch schlimmer. Joe sieht betreten zu Boden. „Er liegt im Koma. Und wir wissen nicht, ob und wann er aufwachen wird.“ Mein Herz setzt für einen Moment aus. Zumindest fühlt es sich so an. Mir wird schwarz vor Augen und ich lasse mich in meinem Sitz zurückfallen. Meine ganze Welt bricht gerade zusammen. Die Tränen fließen und ich kann es nicht verhindern. Vor mir tut sich ein riesiger Abgrund auf. Was, wenn Tai nicht mehr aufwacht? Was, wenn er es nicht schafft? Dann ist meine Sorge um diese verdammte Hochzeit und Haruiko mein geringstes Problem. Dann verliere ich das Schönste, das Wichtigste, was ich in meinem Leben habe – Tai. Mein leises Schluchzen geht hinter Frau Yagamis Weinen unter. Ich bin verzweifelt, aber sie … sie muss gerade tausend Tode sterben, aus Angst um ihren Sohn. „Wenn Sie möchten, bringe ich Sie kurz zu ihm“, schlägt Joe vor. „Es tut ihm sicher gut, Ihre Stimmen zu hören und zu wissen, dass Sie beide da sind. Danach braucht er dringend wieder Ruhe.“ „Ja, bitte“, fleht Tais Mutter. „Bring uns zu ihm.“ Joe nickt. „Hier entlang, bitte“, sagt er und weist vor sich. Die beiden treten durch eine Tür und Joe will ihnen folgen, doch ehe ich auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen kann, springe ich von meinem Stuhl im Wartebereich auf und renne auf ihn zu. „Joe!“ Verwundert dreht er sich zu mir um. „Mimi? Was machst du denn …“ Ich packe ihn an den Armen. „Joe, kann ich mitkommen?“ „Was? Aber wie …?“ Er sieht verwundert zu mir hinab, dann zu der Tür, durch die eben Tais Eltern verschwunden sind, dann wieder zu mir. „Du willst zu Tai?“ Ich nicke. „Kari hat mich angerufen und gesagt, dass er einen Unfall hatte und dass er hier ist. Bitte, Joe. Bring mich zu ihm.“ „Mimi, du bist ja völlig aufgelöst“, erwidert Joe jedoch nur und legt beide Hände auf meinen Schultern ab. „Ich wusste nicht, dass du bereits davon weißt. Aber du kannst jetzt nicht zu ihm.“ „Joe, bitte“, flehe ich und die pure Verzweiflung spiegelt sich in meiner Stimme wider, aber das ist mir egal. Ich weiß, dass ich total verheult aussehe, was Joe vermutlich komisch findet, aber auch das spielt gerade keine Rolle. Nicht für mich. Tai ist alles, was zählt. „Es geht nicht.“ Joe sieht mich eindringlich an. „Geh nach Hause, Mimi. Warte da auf mich. Ich rufe dich an, sobald ich etwas weiß.“ Ich schüttle energisch meinen Kopf. „Nein, ich bleibe hier.“ „Hier? Aber, worauf willst du warten, Mimi?“, fragt Joe verständnislos. „Ich weiß, ihr beide seid inzwischen vermutlich auch so was wie Freunde geworden. Du hast mehr Zeit mit Tai, als mit mir verbracht. Kein Wunder, dass dir sein Unfall so nahe geht.“ Weinend schüttle ich den Kopf. Nein, Joe. Nein! Er ist so viel mehr als das. So viel mehr. „Ich … nein, er ist …“ „Geh nach Hause, Mimi“, wiederholt Joe mit Nachdruck und sieht mich bittend an. „Du hast hier nichts verloren. Tai braucht jetzt seine Familie.“ Nein, du irrst dich. Ja, er braucht seine Eltern, seine Schwester. Aber er braucht auch mich. Da bin ich mir ganz sicher. Ich kann ihn jetzt nicht alleine lassen. Da ich nichts mehr antworte, geht Joe wahrscheinlich davon aus, dass ich ihn verstanden habe, denn er gibt mir einen flüchtigen Kuss zum Abschied, den ich nicht mal spüre. Ich kann gar nichts mehr spüren. „Bis später.“ Er geht ebenfalls durch die Tür und ich bleibe zurück. Mehrere Minuten stehe ich wie unter Trance einfach nur da und starre diese Tür an, hinter der sich meine große Liebe befindet. Und ich darf nicht zu ihm. Trotzdem kann ich nicht einfach so gehen. Das bringe ich nicht übers Herz. Ich stehe immer noch unter Schock, als ich mich zurück in den Wartebereich setze. Eine Stunde vergeht. Zwei Stunden vergehen. Drei Stunden vergehen. Tais Eltern kommen zurück und seine Mutter setzt sich auf einen der Stühle neben mir. Ich sehe sie nicht an, sie kennt mich ja kaum. Der Vater fährt los, um ein paar Sachen von zu Hause zu holen. Vier Stunden vergehen. Ich tue nichts, außer da zu sitzen und ins Leere zu starren und pausenlos Stoßgebete gen Himmel zu schicken, damit Tai nicht stirbt. Damit er zurückkehrt, zu mir, zu allen, die er liebt und die ihn lieben. Hätte ich ihm doch nur schon viel eher gesagt, was ich für ihn empfinde. Dass ich ihn liebe. Fünf Stunden vergehen. Joe kommt von der Intensivstation und sucht nach Tais Eltern. Er sieht nicht nur sie, sondern auch mich, was ihn stutzen lässt, denn er hatte mich ja nach Hause geschickt. Aber er spricht mich nicht an. Er benötigt noch einige Unterschriften von seinen Eltern, Einwilligungen in gewisse Maßnahmen, die eventuell nötig sein könnten. „Da ist noch etwas“, sagt er, als sie ihm die unterschriebenen Unterlagen zurückgeben. Tais Mutter sieht völlig fertig aus und macht sich wahrscheinlich schon auf die nächste Hiobsbotschaft gefasst. „Unsere Blutkonserven neigen sich dem Ende. Zumindest die mit der Blutgruppe, die für Tai in Frage kommen. Das sind leider nicht viele. Tai hat die Blutgruppe B negativ, die recht selten ist. Hat einer von Ihnen diese Blutgruppe und könnte ihm Blut spenden?“ Erwartungsvoll blickt Joe zu den beiden hinab, die sich jedoch nur fragende Blicke zuwerfen. Dann schüttelt Herr Yagami traurig seinen Kopf. „Tut mir leid, aber ich habe die Blutgruppe B positiv und meine Frau AB negativ, aber keiner von uns hat B negativ.“ Joe legt einen Finger ans Kinn und denkt nach. „Und Kari? Welche Blutgruppe hat sie, wissen Sie das?“ „Sie hat auch AB negativ, wie ich“, antwortet Frau Yagami. „Das ist schlecht“, entgegnet Joe. „Also kommt keiner von Ihnen als Spender in Frage.“ „Können Sie nicht Blut aus einem anderen Krankenhaus kommen lassen? Die haben doch sicher auch Vorräte“, wirft Herr Yagami hoffend ein. Doch Joe schüttelt den Kopf. „Vorräte, die ebenfalls zur Neige gehen. Ich habe mich bereits informiert. B negativ ist generell immer knapp, aber momentan sieht es besonders schlecht aus.“ Frau Yagami bricht erneut in Tränen aus. Ich habe die ganze Zeit über zugehört, obwohl ich vier Plätze weiter sitze und nichts gesagt habe und mich eigentlich auch nicht einmischen wollte, aber jetzt hebe ich den Kopf. „Teste mich.“ Alle sehen verwundert zu mir rüber. Ich schaue direkt zu Joe. „Teste mein Blut. Vielleicht komme ich ja als Spenderin in Frage.“ „Wer sind Sie?“, fragt Frau Yagami verwirrt. Joe schüttelt bereits den Kopf. „Das ist sehr unwahrscheinlich, Mimi.“ „Ist mir egal. Teste mich einfach“, fordere ich trotzdem und stehe nun von meinem Stuhl auf. „Es ist immerhin eine Chance, oder?“ Ehrlichgesagt habe ich keine Ahnung, welche Blutgruppe ich habe, weil ich es nie gebraucht habe, aber hier geht es um Tais Leben. Wenn das alles ist, was ich für ihn tun kann, dann tue ich es. Joe sieht fragend zu Tais Eltern, um sich ihre Einwilligung zu holen. „Das ist Mimi, sie ist meine Verlobte und … eine Freundin von Tai.“ Bei den Worten sieht er kurz zu mir, weicht dann meinem Blick jedoch wieder aus. „Es wäre einen Versuch wert“, fügt er schulterzuckend hinzu. Herr und Frau Yagami werfen sich einen kurzen Blick zu, dann nicken sie einstimmig. „Versuchen wir es.“ „Wunderbar. Komm mit, Mimi“, sagt Joe und ich folge ihm den Gang entlang. Wir gehen in eine Art Labor und Joe bittet mich, auf einem Hocker Platz zu nehmen, während er alles für die Blutabnahme vorbereitet. Da ich ein Kleid trage, muss ich nicht mal einen Ärmel hochschieben. Joe zieht sich sterile Handschuhe über und sucht nach einer geeigneten Vene, bevor er die passende Stelle desinfiziert. Er setzt die Kanüle an. „Warum tust du das?“ Ein kleiner Schmerz durchfährt mich, als er zusticht und die ersten Tropfen Blut fließen. Ich zucke mit den Schultern. „Was soll ich denn sonst tun?“ Ein Lächeln huscht über Joes Gesicht, aber es sieht traurig aus. Er sieht mich nicht an, sondern wechselt stattdessen die Röhrchen, damit noch mehr Blut aufgefangen werden kann. „Du bist wirklich ein guter Mensch, Mimi“, sagt er und ist auch schon fertig. „Oder ist es mehr als das?“ Er klebt mir ein Pflaster auf die Einstichstelle und ich drücke mit meinem Finger drauf, um die Blutung zu stoppen. Fragend hebe ich den Kopf. „Was meinst du?“ Er weicht meinem Blick immer noch aus. „Bitte warte draußen. In einer halben Stunde haben wir das Ergebnis.“ Ich nicke und verlasse das Labor, ohne ihm noch irgendeine Frage zu stellen. Ich kann an nichts denken, außer an Tai. Mein Kopf ist wie benebelt, als ich mich zurück in den Wartebereich setze und einfach warte. Jede Minute fühlt sich wie eine Ewigkeit an, als Joe endlich mit den Ergebnissen kommt. Schweigend sieht er auf seinen Block, während wir drei ihn erwartungsvoll ansehen. „Interessant“, sagt er. „Mimi, du hast die Blutgruppe 0 negativ.“ Ich lasse den Kopf sinken und all meine Hoffnung schwindet dahin. „Oh … also komme ich nicht als Spenderin in Frage.“ Wäre ja auch zu schön gewesen. Joe sagte ja, dass die Chance äußerst gering ist. Zu meiner Überraschung hebt Joe lächelnd den Kopf. „Doch, tust du. Du hast die Blutgruppe 0 negativ und bist somit quasi eine Universalspenderin. Das heißt, du kannst für jede andere Blutgruppe spenden.“ Das erste Mal seit Stunden, dass ich wieder lächle und auch Frau Yagami vor Freude strahlt und sogleich meine Hand ergreift und sie fest drückt. „Oh Gott, Mimi, wir danken dir ja so sehr. Du rettest unserem Sohn das Leben.“ Ich kann nur noch stumm nicken, weil ich am liebsten weinen könnte, aber diesmal reiße ich mich zusammen. „Komm mit, Mimi, ich bringe dich zu Tai und eine Schwester wird alles für die Bluttransfusion vorbereiten. Ich hoffe, du hast heute gut gegessen. Es könnte etwas dauern und dir könnte schwindlig werden.“ „Das ist egal. Hauptsache Tai geht es besser“, erwidere ich und folge Joe auf die Intensivstation. Wir gehen einen langen Gang entlang, bis wir an einer Tür halt machen und ich noch mal tief durch atme. Hinter dieser Tür liegt Tai. Ich habe keine Ahnung, was mich gleich erwartet, aber ich spüre, wie ich zu zittern beginne. Mein ganzer Körper bebt, als Joe die Tür öffnet und wir eintreten. Ich halte die Luft an und schlage mir die Hand vor den Mund, als ich Tai da liegen sehe. Es übertrifft meine schlimmsten Vorstellungen. Er trägt eine Halskrause, sein Kopf ist verbunden, überall sind Schläuche. Seine Arme, sein Gesicht, übersäht mit blauen Flecken und tiefen Schürfwunden. Oh mein Gott. Meine Knie werden weich und bevor ich zusammenbreche, weil ich diesen Anblick kaum ertrage, setze ich mich schnell auf einen Stuhl, der neben seinem Bett steht. „Es ist schlimm, ich weiß“, sagt Joe mitfühlend, steht neben mir und sieht ebenfalls auf seinen Freund hinab. Auch ich kann den Blick nicht von ihm wenden. Mein Herz bricht ein zweites Mal an diesem Tag und erst jetzt wird mir das volle Ausmaß dieses Unfalls so richtig bewusst. „Was denkst du, wann er wieder aufwacht?“, frage ich vorsichtig, auch wenn ich die Antwort wahrscheinlich gar nicht wissen will, weil sie mich umbringen könnte. Joe seufzt schwer. „Das kann niemand so genau sagen. Es kann Stunden, Tage, Wochen oder auch Monate dauern, bis er wieder aufwacht“, sagt er leise. „Im schlimmsten Fall Jahre. Das hängt stark von ihm selbst ab. Da haben wir keinen Einfluss drauf.“ Die Tränen steigen mir erneut in die Augen und ich drehe mich schnell weg, damit Joe es nicht sieht. „Ich lasse dich kurz allein. Gleich kommt eine Schwester und bereitet alles vor. Du musst keine Angst haben, es tut nicht weh.“ Ich nicke. Und selbst wenn, es wäre mir egal. Ich würde sofort alles hergeben, alles opfern, wenn Tai nur wieder aufwachen würde. „Ich habe in zwei Stunden Feierabend. Dann fahren wir zusammen nach Hause, in Ordnung?“ Ich nicke. „Okay.“ Joe verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich. Kaum ist er draußen, greife ich nach Tais Hand und fahre mit dem Finger über seine Wunden. „Tai …“, flüstere ich und hauche einen sanften Kuss darauf. „Es tut mir so leid.“ Ich kann die Tränen nicht aufhalten, die nun über meine Wange fließen. Mein Innerstes ist zerrissen. Warum ist das nur passiert? Warum er? „Ich bin bei dir, Tai“, sage ich unter Tränen und führe seine Hand an meine Wange. Sie ist warm und trotzdem steckt gerade kein Leben in ihr. Dabei höre ich immer noch seine Stimme in meinem Ohr, spüre seine Lippen auf meinen. Ich habe immer noch seinen Duft in meiner Nase und ich habe Angst, dass ich das alles nie wieder spüren kann, ihn nie wieder küssen oder riechen kann. Für mich fühlt es sich wie sterben an. Und mein Herz wird erst wieder schlagen, wenn er aufgewacht ist, wenn er wieder bei mir ist. „Ich bin hier“, sage ich noch einmal, in der Hoffnung, dass er mich hört. „Ich hätte dir so gerne gesagt, dass ich dich liebe. Es tut mir leid, dass ich es nie wirklich getan habe. Bitte wach wieder auf, Tai. Bitte.“ Meine bebende Stimme und mein Schluchzen erfüllen den Raum. Da ist das Piepen der Geräte, die dabei helfen, ihn am Leben zu erhalten. Sonst ist da nichts. Nur Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)