Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 50: ------------ Mimi „Was ist denn, Mama? Es ist doch noch viel zu früh für Abendessen“, hören wir Nanami aus dem Flur rufen. Beim Klang ihrer Stimme, drückt Kaori meine Hand und zieht scharf die Luft ein. Ihr Blick ist erwartungsvoll auf die geöffnete Tür gerichtet. „Es ist alles gut, Kaori. Du schaffst das“, flüstere ich und sie nickt schwach. „Das stimmt, aber wir haben Besuch“, erwidert Ayaka. „Besuch? Aber wir haben nie …“ Nanami betritt das Wohnzimmer und bleibt abrupt stehen, als sie uns sieht. Kurz wirkt sie etwas zerstreut und kann sich keinen Reim darauf machen, warum zwei Fremde bei ihr zu Hause sitzen. Doch dann erhellt sich ihr Gesicht. „Bist du nicht Mimi?“ „Ja“, sage ich lächelnd. „Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue mal nach, ob es Cupcake gut geht.“ Nanami kichert und freut sich offensichtlich mich zu sehen. „Ihm geht es gut, er schläft gerade.“ „Wunderbar. Ist er auch nicht noch mal weggelaufen?“ Nanami schüttelt den Kopf. „Nein, zum Glück nicht. Wer ist das?“ Ihre Augen wandern zu Kaori, die sich sofort anspannt. Wie gebannt fixiert ihr Blick das dunkelhaarige Mädchen, das vor uns steht. Nanami ist etwas kleiner als Kaori und natürlich deutlich jünger. Sie trägt ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz und hat eine Brille. Schon beim ersten Mal ist mir die Ähnlichkeit zu Joe direkt aufgefallen, aber heute sehe ich auch Kaori in ihr. Es ist verblüffend. Kaori, die Nanami immer noch wie einen Geist anstarrt, schluckt. „Ähm, hallo. Ich bin eine Freundin von Mimi.“ „Das ist Kaori. Ehrlichgesagt waren wir gerade in der Nähe. Und oh … wir haben Essen mitgebracht. Meine Mutter sagt immer: komm nie mit leeren Händen, wenn du irgendwo zu Besuch bist.“ Fröhlich deute ich auf die heißen Suppenschalen vor uns. Nanami sieht auf das Essen, welches noch eingepackt auf dem Tisch steht und dann wieder zu uns. Eine ihrer Augenbrauen wandert in die Höhe. „Arbeitet ihr etwa für einen Lieferdienst?“ Mit dem Finger deutet sie auf unsere T-Shirts. Gut kombiniert. Wahrscheinlich ist sie genauso schlau wie Joe. Ich winke lachend ab. „Nur etwas Werbung für einen Freund, der ein Restaurant betreibt.“ „Nanami, Liebes, biete unseren Gästen doch schon mal einen Sitzplatz am Esstisch an, solange ich Schüsseln und Stäbchen hole“, schlägt Ayaka vor und nimmt das eingepackte Essen vom Tisch, um damit in die Küche zu gehen. „Ja, natürlich.“ Nanami verbeugt sich leicht. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“ Sie ist wirklich sehr höflich, das muss man ihr lassen. Sie scheint eine ausgezeichnete Erziehung genossen zu haben, wie Kaori. Sie führt uns in einen angrenzenden Raum, mit einem großen, langen Tisch, an dem 12 Stühle stehen. Überall auf den Kommoden und Schränken stehen frische Blumen in edlen Vasen und hier und da auch ein Familienfoto von Ayaka und Nanami. Mir fällt auf, wie Kaori unbewusst stehen bleiben und sie sich ansehen will, aber ich schiebe sie schnell weiter, damit es nicht zu auffällig ist. Nanami weist uns einen Platz zu und setzt sich uns dann gegenüber. Ich schaue mir die restlichen neun Stühle an und finde es schon wieder traurig. Dieses Haus könnte gefüllt sein mit Leben. Vielen Menschen, die darin wohnen und gemeinsam lachen und zu Abend essen. Stattdessen ist es ein viel zu großes Gefängnis, welches einem immer wieder vor Augen führt, wie einsam und leer es doch hier ist. Eine unangenehme Stille tritt zwischen uns und keiner weiß so recht, was er sagen soll. Kaori schaut immer wieder zu Nanami, der der viele Blickkontakt offenbar schon etwas unangenehm ist, denn immer, wenn Kaori sie mustert, sieht sie in eine andere Richtung. Ayaka kommt in den Raum und stellt ein Tablett mit vier großen Schüsseln Nudelsuppe vor uns ab. Sie hat sie umgefüllt und reicht nun jeder von uns eine. Ein herrlicher Duft erfüllt den Raum und mein Magen beginnt zu knurren. „Ach herrje, ich habe das Wasser vergessen. Bin gleich wieder da“, sagt sie und eilt noch mal aus dem Raum. Nanami sieht ihrer Mutter zweifelnd hinterher. „Alles in Ordnung?“, erkundige ich mich und sie grinst unsicher. „Ich finde es nur etwas komisch. Mama lässt sonst nie Fremde ins Haus. Aber ich will mich nicht beschweren. Ich finde es toll, dass du … äh, dass ihr da seid.“ Sie schenkt uns ein schüchternes Lächeln. Sie wirkt gar nicht so recht wie eine 17-Jährige auf mich. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich war, als ich in ihrem Alter war – frech, laut, provokant. Nanami ist nichts von alledem. Sie ist ruhig, fast schon scheu. Als wäre sie immer noch ein kleines Mädchen und gar nicht eine fast erwachsene Frau. Ayaka kommt mit vier Gläsern und einem Wasserkrug zurück und schenkt allen von uns etwas ein. Danach setzt sie sich und wir beginnen gemeinsam zu essen. Ayaka sieht uns immer wieder fragend an, weil sie wohl erwartet hat, dass wir Nanami sofort überfallen und mit Fragen löchern, aber nichts davon passiert. Stattdessen sieht Kaori sie nur immer wieder an, betrachtet sie eingehend und studiert ihr Gesicht wie ein Kunstwerk. Ich lächle unauffällig und finde es irgendwie schön. Vermutlich ist das gerade alles, was sie braucht. Bis gestern wusste sie ja nicht mal, dass Nanami existiert und jetzt sitzt sie leibhaftig vor ihr. Das muss sie vermutlich erst mal sacken lassen. „Erzähl mal, Nanami“, beginne ich ein Gespräch. Fragend sieht Nanami zu mir auf. „Du gehst doch sicher noch zur Schule, oder?“ Es ist nur kurz, aber mir entgeht das traurige Lächeln, welches Nanami für den Bruchteil einer Sekunde übers Gesicht huscht, nicht. „Ich nehme Privatunterricht, aber nächstes Jahr schreibe ich meine Prüfungen an einer öffentlichen Schule im Ausland, um meinen Abschluss zu bekommen.“ „Warum im Ausland?“, will ich wissen und merke, wie Ayaka mir einen warnenden Blick zuwirft, nur nicht zu viele Fragen zu stellen. „Na ja, Mama hat es vorgeschlagen.“ Nanami zuckt mit den Schultern. „Ich muss die Prüfung sowieso an einer staatlichen Schule ablegen, sonst zählt der Abschluss nicht. Und da ich sehr bewandert in Französisch bin, dachte Mama, dass ich vielleicht mein letztes Schuljahr dort verbringen könnte und dann da meinen Abschluss mache.“ Meine Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Natürlich – die Zeit wird knapp, Haruiko. Nanami ist bald erwachsen und wird studieren wollen. Danach möchte sie arbeiten. Sie wird nicht ewig ein Kind bleiben und sich nicht für immer einsperren lassen. Deshalb muss sie weg, sobald sie erwachsen wird und zwar so weit weg, wie möglich. Du elender Teufel. Vermutlich würde Ayaka ihre Tochter dann dazu überreden, gleich in Frankreich zu bleiben und da zu studieren. Warum auch nicht? Ayaka hat selbst gesagt, dass sie keine Familie mehr hier hat, hier hält sie also nichts und Nanami auch nicht. Wow. Mir wird gerade bewusst, dass es in ein paar Monaten vermutlich unmöglich gewesen wäre, Nanami jemals zu finden. Sie wäre einfach weg gewesen und wir hätten keine Chance gehabt, sie je ausfindig zu machen. Was für ein grandioser Plan, Haruiko. Nur zu dumm, dass er nicht aufgehen wird. „Wow, das klingt fantastisch“, sagt Kaori und Nanami sieht gleich zu ihr. Das ist das erste Mal, dass sie ihre Stimme erhebt. „J’aime la France. Du musst dir unbedingt den Louvre anschauen, wenn du dort bist.“ Nanami nickt begeistert. „Ja, das habe ich vor. Ich interessiere mich sehr für Kunst und Geschichte.“ „So? Was möchtest du denn mal werden?“, frage ich neugierig und erwarte schon, dass sie „Ärztin“ sagt, weil das ja bei allen Kidos so ist. Aber stattdessen sagt sie: „Ich bin mir noch nicht sicher, aber Architektur finde ich interessant.“ Kaori verschluckt sich an ihrem Essen und klopft sich hustend auf die Brust. Sie greift nach ihrem Glas und trinkt schnell einen Schluck davon. „Architektur?“ Auch ich sehe Nanami erstaunt an. Wenn ich mich recht erinnere, hat Kaori das früher mal studiert, als sie noch mit Tai zusammen an einer Uni war. Nanami nickt wieder. „Ja, wie ich sagte, finde ich Kunst und Geschichte sehr interessant. Und ich dachte, dass sich das in der Architektur ganz gut miteinander vereinen lässt. Alte Gebäude aus der Renaissance finde ich besonders spannend. Für mich sind es künstlerische Meisterwerke. Denkt nur mal an die Kathedrale von Florenz. So etwas ist doch einmalig. Faszinierend.“ Sie gerät richtig ins Schwärmen und ich muss fast schon Schmunzeln, weil ich absolut Joe in ihr wiedererkenne. Ein klein wenig spießig, aber sehr gebildet. „Das sind tolle Pläne“, sagt Kaori, die offenbar ihre Stimme wiedergefunden hat. „Ich habe selbst mal Architektur studiert, später dann Innenarchitektur. Es ist sehr umfangreich und anspruchsvoll. Du musst viel lernen, damit du gute Noten schreibst.“ „Ich weiß, ich strenge mich an.“ „Das tut sie“, wirft Ayaka nun ein. „Nanami ist sehr zielstrebig und lernt schnell. Sie ist wirklich ein schlaues Mädchen.“ „Ja“, sage ich und schaue wieder zu Nanami. „Das merkt man.“ Sie schlürft genüsslich ihre Suppe und ihre Wangen werden dabei ganz rot von der Wärme der Brühe. „Hmm, einfach köstlich“, schwärmt sie, als sie fertig ist. „Kannst du das bitte auch mal kochen, Mama?“ Ayaka lacht. „Du weißt, ich kann gut kochen, mein Schatz. Aber ich denke, so gut kriege ich es nicht hin. Die Suppe war wirklich außerordentlich lecker.“ „Danke“, sage ich. „Davis, ein Freund von mir, hat sie gekocht. Wenn du möchtest, bringe ich dir bald mal wieder eine vorbei“, schlage ich vor und Nanami lächelt zufrieden. „Ja, das würde mir gefallen.“ „Hast du denn sonst irgendwelche Hobbys?“, fragt Kaori und lehnt sich ein Stückchen nach vorne. Offensichtlich ist sie nun doch etwas neugierig auf ihre Schwester geworden. „Ja, einige“, erwidert Nanami und da ist es wieder. Dieses traurige Lächeln. „Ich habe ja nicht so viele Freunde. Um genau zu sein, habe ich nur Cupcake. Daher vertreibe ich mir die Zeit mit malen oder singen oder Instagram. Oder ich lese oder spiele Piano.“ „Oh, Piano?“, hakt Kaori nach. „Meine Mutter hat früher häufiger etwas am Klavier für mich gespielt, als ich noch klein war. Sie ist sehr gut. Ich allerdings war nie sonderlich begabt darin. Irgendwie habe ich wohl zwei linke Hände.“ Wie zum Beweis hebt Kaori beide Hände in die Höhe, als wären sie irgendwie verquer, doch Nanami lacht trotzdem. Es ist ein aufrichtiges, wunderschönes, herzerwärmendes Lachen, was einem sofort unter die Haut geht. Es ist traurig, dass nie jemand dieses Lachen zu hören kriegt. „Könntest du mir etwas vorspielen?“ Nanami nickt und steht auf. „Klar, wir können zurück ins Wohnzimmer gehen, da steht mein Piano.“ „Macht nur, ich räume solange ab“, meint Ayaka und steht ebenfalls auf. „Darf ich Ihnen helfen?“, frage ich höflich, doch Ayaka winkt ab. „Nicht nötig, Sie können sich gerne noch mit ins Wohnzimmer gesellen.“ „Das mache ich, aber würden Sie mir noch sagen, wo ich das Badezimmer finde?“ „Natürlich. Sie gehen zurück in den Flur und dann die Treppe hoch, den Gang entlang und dann die letzte Tür auf der rechten Seite.“ Wow, okay, ob ich mir das merken kann? Während Kaori ihrer Schwester ins Wohnzimmer folgt, gehe ich nach oben ins Badezimmer und checke kurz mein Handy. Sally schreibt, dass alles okay ist. Sie sitzt in sicherer Entfernung mit Davis im Auto und beobachtet das Haus. Sobald irgendetwas auffällig wäre, würde sie mir sofort Bescheid geben. Aber momentan ist wohl alles ruhig. Sehr gut. Ich benutze kurz die Toilette und wasche mir dann die Hände. Kurz überlege ich, ob es nicht unklug war, sich zu trennen. Ayaka könnte mir hinter der Tür auflauern und mich um die Ecke bringen. Ich kenne diese Frau schließlich nicht und weiß nicht, wozu sie fähig ist oder wie weit sie tatsächlich gehen würde, um das Geheimnis zu bewahren. Wir haben sie vorhin schließlich ganz schön unter Druck gesetzt. Oder sie hat uns jetzt Gift in die Suppe gemischt und in ein paar Minuten fallen wir beide tot um. Oh man, Mimi. Deine Fantasie geht mit dir durch. Wahrscheinlich werde ich einfach schon paranoid, weil in letzter Zeit so viele schreckliche Dinge passiert sind und ich niemanden mehr vertrauen möchte. Doch als ich die Badezimmertür wieder öffne, ist da niemand. Erleichtert atme ich aus und schüttle den Kopf. Es sind nicht alle Menschen so schlecht wie Haruiko Kido. Ich gehe den Gang entlang zurück und komme dabei an einem Zimmer vorbei, was mir eben noch nicht aufgefallen ist. Die Tür steht einen Spalt breit offen und ich kann lilafarbene Tapete erkennen. Ich schiebe die Tür noch ein Stück weiter auf und stelle fest, dass das Nanamis Zimmer sein muss. Ich muss schmunzeln. Irgendwie ist es genau so, wie ich es mir vorgestellt habe. Viele Bücher, CD’s, Malutensilien, wie Pinsel und eine Leinwand. Sogar eine Geige liegt auf dem Bett. Und dann … Poster von koreanischen Pop-Sängern an den Wänden. Und nicht wenige. Meine Lippen verziehen sich zu einem echten Grinsen. Egal, wie sie hier aufwächst und wie viel Bildung sie erhält – im Grunde ist sie doch auch nur ein ganz normaler Teenie. Ich schließe die Tür wieder und gehe nach unten. Aus dem Wohnzimmer höre ich schiefe Töne und lautes Gekicher. Ich betrete den Raum und sehe sofort, wie Kaori und Nanami am Piano sitzen und Nanami verzweifelt versucht, Kaori ein paar einfache Töne beizubringen. Kaori bekommt es aber nicht hin und drückt immer wieder die falschen Tasten. Dann kichern die beiden wieder und machen Witze darüber. Ich erlaube es mir für einen Moment inne zu halten und die beiden zu beobachten. Mit verschränkten Armen stehe ich im Türrahmen und alles, was ich sehe, sind zwei Schwestern, die sofort eine Verbindung zueinander haben. Sie selbst bemerken es gar nicht, aber es ist wie verhext. „Komisch, nicht?“ Ich zucke leicht zusammen, als Ayaka neben mir auftaucht. Auch ihr Blick ist auf die beiden Schwestern gerichtet. „Sie sitzen seit gerade mal zehn Minuten da und es kommt mir so vor, als würden sie sich schon ewig kennen.“ Ich muss lächeln, als Nanami Kaori endlich erlöst und zu spielen beginnt – Clair de lune von Debussy. Romantisch, traurig, melancholisch. Ich lausche den Klängen und genieße den Anblick der beiden. Kaori sitzt ganz still da und schaut Nanami dabei zu, wie ihre Finger jede einzelne Taste berühren. „Ich kann nicht fassen, dass ich das noch erleben darf“, sagt Ayaka. „Was meinen Sie?“ Sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich weiß nicht, weswegen sie weint. Weil das Stück so schön ist, oder weil Nanami endlich nicht mehr einsam ist. „Ich dachte, sie würde niemals jemanden aus ihrer Familie kennenlernen. So lieb ich sie auch habe, ich finde, man sollte immer wissen, wo seine Wurzeln sind. Man kann nicht wissen, wer man ist, wenn man nicht weiß, wo man herkommt.“ Ich nicke und frage mich gleichzeitig, ob es insgeheim das ist, worauf Ayaka die ganze Zeit gehofft hat. Hat sie nur darauf gewartet, dass irgendjemand dem Geheimnis auf die Schliche kommt und Nanami erlöst? Sie liebt ihre Tochter und ich bin mir sicher, dass sie immer nur ihr Bestes wollte. Nur leider waren ihr bis jetzt die Hände gebunden. „Bitte erzählen sie Nanami alles“, sage ich mit Nachdruck. „Sie haben drei Tage Zeit dafür, sich zu überlegen, wie Sie es ihr am besten beibringen. Vermutlich wird sie Sie hassen. Sie wird Zeit für sich brauchen, um das alles zu verarbeiten und zu verstehen. Aber es ist sowieso bald alles vorbei. Haruiko wird dafür büßen, was er getan hat. Was er allen angetan hat. Ich hoffe für Sie, dass sie nicht angeklagt werden, aber falls es so weit kommt, würde sich ein Geständnis sicher strafmildernd für Sie auswirken. Immerhin hatten Sie keine andere Wahl und wollten stets nur das Beste für Nanami.“ Sie hält den Blick auf den Boden gerichtet und nickt. „Ich weiß nicht, was besser für Nanami gewesen wäre. In ein paar Monaten wären wir in Frankreich gewesen und sie hätte dort ein normales Leben führen können. Jetzt wird ihr Leben alles andere als normal verlaufen und doch wünsche ich es mir für sie. Was bringt ihr die Freiheit, wenn sie weiterhin allein bleibt, ohne Familie?“ Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Sie war nie ohne Familie. Nanami hatte Sie.“ Nun hebt Ayaka den Kopf und sieht mich dankend an, bevor sie ihren Blick wieder auf ihre Tochter richtet und voller Demut den letzten Tönen ihres Stückes lauscht. Eine halbe Stunde später verlassen wir das Anwesen und ich spüre förmlich, wie schwer es Kaori fällt, sich loszureißen. Ich glaube, sie wäre am liebsten noch geblieben und hätte Nanami alle möglichen Fragen gestellt oder sie einfach nur angesehen. „Es ist nicht leicht, sie zurückzulassen“, sagt sie und an ihrer Stimme höre ich schon, dass es ihr das Herz bricht. „Nicht mehr lange, Kaori. Nanami wird bald frei sein und du kannst sie besser kennenlernen.“ Kaori nickt und seufzt dann schwerfällig. „Ja, am besten so schnell wie möglich.“ Was das angeht, da hat sie meine vollste Unterstützung. Wir gehen ein Stück die Straße nach unten und achten dabei darauf, dass uns niemand folgt. Alles wirkt unauffällig, bis auf … „Das darf doch nicht wahr sein!“ Abrupt bleibe ich stehen und stemme die Hände in die Hüfte, während ich auf das Auto starre, das vor uns steht. Und auf die zwei Personen, die drin sitzen – und wild rum knutschen. „Na, warte“, hauche ich verheißungsvoll und stampfe auf den Wagen zu. Ich klopfe laut an die Scheibe. Sally erschrickt so heftig, dass sie Davis sofort von sich stößt und entsetzt herumwirbelt. „Was zum Teufel glaubt ihr, was ihr da macht?“ Sally kurbelt das Fenster runter und sieht mich entschuldigend an. „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“ „Ach, was?“ Sally grinst und faltet die Hände. „Okay, ist es doch. Sorry?“ „Ihr solltet hier Schmiere stehen, verdammt!“, fauche ich sie wütend an, während Kaori hinter mir kichert. „War auf jeden Fall eine gute Tarnung.“ „Sehe ich auch so“, wirft Davis ein. „Du, halt die Klappe!“ Ich funkle ihn an und steige dann mit Kaori auf die Rückbank. „Ich habe dir meine beste Freundin anvertraut und du hast nichts Besseres zu tun als über sie herzufallen. Schäm dich, Davis. Schäm dich.“ „Also, um ehrlich zu sein …“, meint Sally ganz kleinlaut, dreht ihren Kopf nach hinten und grinst mich schon wieder entschuldigend an. Ich reiße meine Augen auf. „DU hast angefangen?“ „Noch mal sorry?“ „Ich fasse es nicht“, seufze ich und drücke mir mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. „Was soll ich machen?“, sagt Sally jedoch nur schulterzuckend. „Er ist eben heiß.“ „Danke, Babe.“ „Ich kotze gleich.“ Ich mache ein Würggeräusch, während Kaori wieder lacht. Doch Sally grinst mich einfach nur vielsagend an. Dann muss auch ich lächeln. Was soll ich da tun? Wenn Sally sich was in den Kopf gesetzt hat, kann man sie ohnehin nicht davon abbringen. Und diesmal scheint sie sich Davis in den Kopf gesetzt zu haben. Sie scheint eine echte Schwäche für ihn zu haben, wenn sie schon beim zweiten Treffen mit ihm rumknutscht. Ich beuge mich nach vorne und schlage ihm hart gegen die Schulter. „Aua!“ „Tu ihr ja nicht weh, du Arsch“, drohe ich ihm und Sally lacht laut auf. „Das Arsch hättest du dir sparen können. Ist ja nicht so, dass wir gleich heiraten wollen“, entgegnet Davis beleidigt und reibt sich die Schulter. Sally nickt eifrig. „Genau, wir stehen nämlich nicht auf arrangierte Ehen und das ganze Zeug.“ Ich strecke ihr die Zunge raus und dann lachen wir beide. „Außerdem sind wir ja gar nicht zusammen.“ „Noch nicht, Babe.“, sagt Davis und wackelt mit den Augenbrauen. Dieser Kerl … unverbesserlich. An Sally haben sich schon so manch andere Männer die Zähne ausgebissen. Aber hey, soll er sein Glück ruhig versuchen. „Wie war es bei deiner Schwester?“, will Sally nun wissen und sieht Kaori an. Diese schmunzelt verlegen. „Es war nicht lange und sie weiß auch noch nicht, dass ich ihre Schwester bin, aber es gibt kein Wort dafür, das dieses Gefühl beschreiben könnte.“ Niemand von uns kann sich vorstellen, was gerade in Kaori vorgeht. Sie dachte, ihre Schwester wäre tot. Und nun stand sie ihr heute gegenüber, hat mit ihr gesprochen. Ich kann es kaum erwarten, Tai davon zu erzählen. Auch wenn es uns immer in erster Linie darum ging, meine Freiheit zurückzuerlangen, so bin ich doch froh über das, was wir für Kaori erreicht haben. Plötzlich legt sich ein Schatten über Kaoris Gesicht und sie senkt den Blick. „Ich bin traurig über die vielen Jahre, die uns genommen wurden. Wir haben so viel verpasst, so viel versäumt, so viel nachzuholen. Deshalb …“ Sie holt ihr Handy hervor. „… werde ich keine einzige Minute mehr verschwenden.“ Ich kann es nicht fassen. Es fühlt sich wie ein Traum an. Wie eine nicht reale Wunschvorstellung. Wäre Tai jetzt hier, würde ich ihn bitten, mich mal zu kneifen. Ich stehe vor dem Anwesen der Minamotos – nicht einmal 24 Stunden später, nachdem Kaori und ich Nanami besucht haben. Direkt nach dem Treffen hat sie ihren Vater angerufen. Kaori war drauf und dran, das Büro ihres Vaters zu stürmen und ihm alles zu erzählen, aber dieser war beruflich sehr eingespannt, so dass wir es auf den nächsten Tag verschieben mussten. Was gut war. So hatten wir wenigstens eine ganze Nacht lang Zeit, uns zu überlegen, wie wir die Sache angehen sollen. Letztendlich sind wir zu keinem Ergebnis gekommen. Wie bringt man Bitteschön einem Mann bei, dass seine Frau ihn betrogen und ein uneheliches Kind hat, welches angeblich tot ist, aber nun doch nicht? Nein. Für so etwas gibt es nicht die richtigen Worte. Niemand würde uns das glauben. Zum Glück habe ich die Beweise alle in der Tasche, Kaori meinte, dass diese besonders wichtig wären. Immerhin ist ihr Vater Staatsanwalt und ohne Beweise würde er uns zum Teufel jagen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich vor den Toren des Minamoto Anwesens stehe und unruhig von einem Bein aufs andere trete. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. 10.30 Uhr. Kaori müsste jeden Moment auftauchen. Gerade, als ich daran denke, dass dieser ganze Spuk in weniger als einer Stunde vorbei sein könnte und wie unfassbar das einfach alles ist, fährt ein schwarzer Mercedes vor. Er hält direkt vor den Toren und Kaori steigt aus. „Kaori“, sage ich und eile zu ihr. Wir umarmen uns zur Begrüßung. Es tut so gut, sie zu sehen. Ich hoffe, sie hat noch etwas von ihrer Kraft von gestern übrig, denn die wird sie gleich brauchen. Das wird definitiv nicht einfach werden. „Mimi“, sagt sie und löst sich aus der Umarmung, um mich prüfend anzusehen. „Hast du geschlafen?“ Ich schüttle den Kopf. „Nicht wirklich. Du?“ „Nein“, sagt sie und sieht zum Anwesen ihrer Eltern. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal tun muss.“ „Das hätte niemand von uns je gedacht.“ Kein Wunder. Diese ganze Sache ist ja auch mehr als abgedreht. Kaori atmet tief ein und aus und strafft dann ihre Schultern, ehe sie mich eindringlich ansieht. „Bist du bereit?“ Ich nicke, auch wenn ich am liebsten kotzen würde. Heute Morgen habe ich keinen Bissen runter gekriegt, auch nicht, als Sally mir mein Lieblingsfrühstück gemacht hat. „Bereit, wenn du es bist“, sage ich und Kaori schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „Gut. Lass uns gehen.“ Wir gehen auf das Tor zu, doch gerade, als wir klingeln wollen, hören wir Reifen hinter uns, die die Einfahrt hochfahren. Wir drehen uns zeitgleich um, als noch ein schwarzer Mercedes vor uns hält. Kurz halte ich die Luft an und erwarte schon Haruiko Kido, der von all dem hier Wind gekriegt hat und uns nun … erschießen will? Vor dem Anwesen der Minamotos? Oh Gott, das würde ich ihm zutrauen. Aber meine Angst ist unbegründet. Ich entspanne mich wieder, als Joe aus dem Wagen steigt. „Kaori“, ruft er und läuft schnellen Schrittes auf uns zu. Mich beachtet er gar nicht, stattdessen bleibt er direkt vor Kaori stehen und packt sie an den Schultern. „Wieso bist du einfach aufgebrochen? Ich habe gesagt, ich lasse dich das nicht alleine machen!“ Woah. Okay. Der Ritter in glänzender Rüstung? Was ist denn nun los? „Und ich habe gesagt, dass ich nicht alleine bin. Ich habe Mimi.“ Sie sieht zu mir und auch Joe schenkt mir einen flüchtigen Blick, widmet sich dann jedoch wieder Kaori. „Du kannst doch nicht erwarten, dass ich einfach hier stehe und darauf warte, dass du …“ „Joe“, sagt Kaori sanft und wischt seine Hände von ihren Schultern. „Doch, genau das erwarte ich von dir.“ „Aber die Sache geht mich auch etwas an. Sie ist immerhin auch meine …“ Er spricht das Wort nicht aus. Aber er hat Recht. Nanami ist auch seine Schwester. Und ich kann verstehen, dass er besorgt ist. „Es würde nichts daran ändern, ob du mitkommst, oder nicht. Glaub mir, es ist besser, wenn Mimi und ich alleine gehen. Mein Vater sieht es nicht gerne, wenn Kinder sich gegen die eigene Familie wenden. Es ist schlimm genug, dass ich das tue. Im Moment muss er nicht wissen, dass auch du deine Familie verrätst.“ „Sie haben mich verraten, nicht ich sie“, zischt Joe und Kaori nickt, während sie ihm beide Hände an die Wangen legt. „Und ich weiß das, hörst du. Aber bitte, vertrau mir einfach. Ich weiß, was ich tue.“ Okay. Warum fühle ich mich gerade so, als dürfte ich diesen intimen Moment gar nicht mitkriegen? Wieso kommt er mir überhaupt so intim vor? Ist es die Art und Weise, wie er sie ansieht? Wie er sich Sorgen um sie macht? Joe seufzt und lässt schließlich den Kopf sinken. „Na, schön. Ich vertraue dir. Du wirst das Richtige tun.“ Kaori schenkt ihm ein Lächeln. „Danke.“ „Aber ich warte hier draußen.“ „Tu das.“ „Passt auf euch auf“, sagt er nun und sieht tatsächlich auch mich an, als hätte er eben erst so richtig Notiz von mir genommen. „Keine Sorge“, erwidere ich. „Alles wird gut.“ Warum komme ich mir dann gerade vor, als würden wir in die Höhle des Löwen gehen, als wir endlich klingeln und das Tor sich öffnet? Eine Bedienstete bringt uns in das Teezimmer, in dem wir Platz nehmen. Sie reicht uns einen Tee, aber keiner von uns rührt ihn an. Das Herz schlägt mir bis zum Hals und mein ganzer Körper spannt sich an, als endlich Kaito Minamoto, der Herr des Hauses, das Zimmer betritt. „Nanu?“, sagt er überrascht. „Kaori, du hast mir gestern am Telefon gar nicht erzählt, dass du eine Freundin mitbringst. Mimi, richtig? Die Verlobte von Joe Kido? Wir sahen uns zum Tanabata Fest.“ Ich nicke, als wir kurz aufstehen, um uns zu verbeugen. Dann setzt er sich uns gegenüber und sieht uns erwartungsvoll an. „Nun, was verschafft mir die Ehre? Wie geht es meiner einzigen Tochter? Verläuft die Schwangerschaft gut?“ „Es ist alles bestens, Vater. Danke der Nachfrage“, erwidert Kaori. Ich muss schon sagen, ihr Umgang miteinander ist wirklich recht distanziert. „Ich hoffe, Ihnen geht es auch gut, Miss Tachikawa“, richtet Kaito nun das Wort an mich. „Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Gut“, krächze ich und nehme gleich darauf doch einen Schluck von meinem Tee. Meine Kehle ist staubtrocken. Gott, was tun wir hier bloß? Ich war so versessen darauf, endlich etwas gegen Haruiko zu finden, das ihn zerstören wird, dass ich keinen Gedanken daran verschwendet habe, dass es zeitgleich auch das Leben anderer zerstören könnte. Wir werden Kaitos Welt in Grund und Boden erschüttern und auch, wenn ich diesen Mann kaum kenne, so schmerzt es mich, zu wissen, dass sein Leben sich gleich für immer verändern wird – und, dass ich dafür verantwortlich bin. Es wird nie wieder so sein, wie es war. Und trotzdem muss es geschehen. Er hat ein Recht auf die Wahrheit. „Vater, um ehrlich zu sein“, beginnt Kaori und klingt entschlossen. Aber ich höre auch das Unbehagen raus, was ihr diese Situation bereitet. „Wir sind nicht gekommen, um einfach nur einen Tee mit dir zu trinken. Wir …“ Sie sieht kurz zu mir. „Wir müssen dir unbedingt etwas zeigen.“ Sie nickt mir zu, was wohl mein Stichwort ist. Ich öffne meine Tasche und hole alles hervor. Alle Beweise, die wir gesammelt haben. Einfach alles, was seine gesamte Vergangenheit in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen wird. Ich reiche sie Kaori und sie übergibt sie ihrem Vater. Dieser sieht verwirrt aus. „Was ist das?“, fragt er, doch Kaori deutet nur auf die Zettel. „Sieh es dir bitte an.“ Er blättert in den Unterlagen, überfliegt Seite für Seite. Wir warten geduldig. Mit jedem Wort, mit jedem Satz, der zu ihm durchdringt, verfinstert sich seine Miene mehr und mehr, bis sich auf seiner Stirn tiefe Zornesfalten gebildet haben. „Was soll das sein?“ Er sieht zu uns auf, als er alles durchgegangen ist. „Ist das ein Witz?“ „Keineswegs, Vater“, erwidert Kaori mit fester Stimme. „Wir wussten nicht, wie wir es dir sonst …“ „Was soll das, Kaori?“, wütet er nun drauf los und wir zucken beide zusammen. „Das sind äußerst schwere Anschuldigungen, die du da erhebst. Ist dir das bewusst? Nicht nur Haruiko Kido gegenüber, sondern auch deiner Mutter gegenüber. Hast du dir das gut überlegt?“ Kaori faltet die Hände im Schoß und sieht so aus, als bräuchte sie irgendetwas, um sich daran festzuhalten. „Ich habe mir das nicht überlegt, wie du es so schön sagst. Und es sind auch keine Anschuldigungen. Es sind Tatsachen!“ „Du … du …“ Kaito steht auf, geht ein paar Schritte, setzt sich dann jedoch wieder hin und haut mit der Faust auf den Tisch. Noch mal zucken wir zusammen und jetzt spüre ich, wie meine Venen pulsieren. Das Herz springt mir gleich aus der Brust. Was, wenn er uns nicht glaubt? Was, wenn wir nichts bezweckt haben? Wenn wir bald noch einen Feind mehr haben, der uns vernichten will? Kaito öffnet den Mund und sieht uns erzürnt an. Doch gerade, als ich denke, dass er uns gleich seine gesamte Wut entgegenschleudert, ruft er: „Misaki! MISAKI!“ Oh mein Gott. Wenn sie jetzt alles abstreitet … dann war’s das doch, oder? Wieso sollte er seiner eigenen Frau nicht glauben? „Ich warne dich, Kaori“, flüstert Kaito bedrohlich und zeigt mit dem Finger auf seine Tochter, dann auf mich. „Das gilt auch für dich, Miss Tachikawa. Wenn ihr mir hier eine Lüge auftischt, dann gnade euch Gott.“ Ich schlucke. Ja, mit diesen Beweisen zu Kaito zu gehen, war ein Risiko, das war uns bewusst. Aber ich will mir ehrlichgesagt nicht vorstellen, was passiert, wenn er uns wirklich der Lüge bezichtigt. „Misaki, verdammt, wo bleibst du?“, brüllt er. Sein Gesicht ist rot angelaufen und er kocht förmlich über vor Wut, als seine Frau endlich den Raum betritt. „Kaito, warum schreist du so?“ Ihr Blick geht zu Kaori. „Oh, hallo, Kaori. Was machst du hier? Und Miss Tachikawa …“ Sie kommt gar nicht dazu, ihren Gedanken zu Ende zu sprechen, denn Kaito geht direkt verbal auf sie los. „Komm her. Setz dich.“ Irritiert sieht sie ihren Mann an, tut dann jedoch, was er von ihr verlangt. Er schiebt ihr die aneinandergehefteten Blätter rüber. „Lies!“ Misaki hebt misstrauisch eine Augenbraue, nimmt die Schriftstücke an sich und beginnt zu lesen – Seite für Seite. Ihre Augen werden immer größer. Ihre Hände beginnen zu zittern. Meine Handinnenflächen schwitzen und ich wische sie an meiner Jeans ab, während mein Herz unruhig flattert. Die Luft im Raum ist zum Zerschneiden dünn. Eine angespannte Stille legt sich über uns alle. Ein dicker Knoten hat sich in meinem Bauch gebildet und ich erwarte jeden Moment, dass Misaki aufspringt. Dass sie uns anschreit, wie wir nur solche Lügen verbreiten können. Dass diese Beweise alle gefälscht sind. Dass … „Ich kann das nicht fassen“, flüstert sie schließlich und lässt die Unterlagen vor sich auf den Tisch sinken. Ihr Blick geht ins Leere. Kaito haut wieder auf den Tisch. „Ich wusste es. Alles erstunken und erlogen! Wer von euch ist dafür verantwortlich? Wer steckt dahinter?“ Sein zorniger Blick trifft mich mit voller Wucht. „Bist du es? Hast du unsere Tochter dazu angestiftet, diese schrecklichen Lügen zu verbreiten?“ „Ich …“ „Nein, Vater, Mimi hat …“ „Wie kannst du es wagen, dich gegen unsere Familie zu stellen?“, brüllt er Kaori an. „Haben wir dich so schlecht erzogen? Familie über allem, hast du das vergessen? Was sagt Jim dazu? Weiß er, dass du dabei bist, mit deiner Familie zu brechen?“ Kaori öffnet den Mund, doch nicht ein einziges Wort verlässt ihre Lippen. Ich sehe, wie sie errötet. Vermutlich fragt sie sich gerade selbst, was sie sich dabei gedacht hat? Wie konnte sie mir nur glauben? Wie konnte sie das nur alles mitmachen? Kaori, bleib stark! Du weißt, dass es die Wahrheit ist! „Miss Tachikawa“, richtet Kaito nun wieder das Wort an mich, während seine Frau neben ihm immer noch voller Entsetzen auf die Beweise starrt, als wären sie gar nicht wirklich da. Sie wirkt ganz und gar abwesend. „Vater, bitte, hör uns doch zu“, fleht Kaori, doch dieser will nicht auf sie hören. Stattdessen schreit er weiter mich an. „Wissen Sie, was auf Verleumdung steht? Ich könnte Sie anklagen und ihr Ruf wäre ruiniert, ehe Sie auch nur das nächste Mal Luft holen könnten. Ich werde mit Haruiko darüber sprechen, welche Betrügerin er sich da ins Haus geholt hat. Das ist ein Skandal. Ich werde Sie verklagen und alle, die mit an diesen gefälschten Beweisen beteiligt waren. Und dich, Kaori, werde ich verstoßen, wenn du auch nur eine Sekunde länger glaubst, dass das, was da steht …“ „Nicht, Kaito.“ Kaito verstummt. Ich ziehe scharf die Luft ein und halte sie an, während unser aller Blicke gebannt auf Misaki ruhen. Was hat sie da eben gesagt? „Mutter“, sagt nun Kaori bittend. „Ich flehe dich an.“ Erst jetzt bemerke ich, dass auch sie am ganzen Leib zittert. Eine einzelne Träne rollt über ihre Wange. „Wenn ich dir irgendetwas bedeute … wenn du auch nur den Funken Liebe für mich empfindest … dann sag die Wahrheit. Bitte. Sag Vater, was passiert ist.“ Kaito wirkt wie benebelt, während er seine Frau einfach nur anstarrt. „Mi-Misaki?“ Diese jedoch sagt nichts, kein einziges Wort. Bis sie schließlich völlig unerwartet in Tränen ausbricht. „Misaki.“ „Es stimmt.“ „Was?“ „Es ist wahr, Kaito. Alles.“ Misaki zerknüllt die Beweise in ihrer Hand und drückt sie sich an die Stirn, während sie unter Tränen „Verdammt“ wimmert. Immer und immer wieder. „Was soll das heißen?“ Kaito ist wie vor den Kopf gestoßen. Er starrt seine Frau an, wie ein fremdes Wesen, aus einer anderen Welt. Ich kann verstehen, wie er sich jetzt fühlt. Er fragt sich, wie das sein kann? Wie er sie kennen und doch nicht kennen kann? Wie ihm all die Jahre offenbar etwas entgangen ist? „Ich bin nicht stolz darauf, das musst du mir glauben“, sagt sie unter Tränen. „Aber es ist alles wahr, was hier steht.“ Kaito trifft der Schlag. Seine Augen weiten sich schockiert. „Nanami ist das Kind von Haruiko und mir.“ Kaito steht wieder auf, beginnt wieder wie verrückt hin und her zu laufen und sich dabei übers Gesicht zu reiben. Er sieht aus als hätte man ihn geschlagen. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. „Ich … ich kann das nicht fassen. Ihr hattet wirklich eine …?“ Misaki weint bitterlich, presst sich eine Hand auf den Mund, bringt jedoch nichts weiter hervor, außer ein schwaches Nicken. Das war’s. Kaito stürmt raus. Ich springe auf, weil ich nicht fassen kann, dass er einfach so verschwindet. Das kann es nicht gewesen sein. Ich bin nicht so weit gegangen, um ihn jetzt einfach mit der Erkenntnis ziehen zu lassen. Kaori springt ebenfalls von ihrem Platz, um mich am Arm zu packen. „Nicht. Ich rede mit ihm. Gib mir ein paar Minuten.“ Ich halte inne, nicke dann, als Kaori sich auch schon in Bewegung setzt und ihrem Vater hinterhereilt. Auch Misaki steht nun auf und geht Kaori nach, während sie immer wieder unter Tränen verzweifelt den Namen ihres Mannes ruft. Ich bleibe zurück, zitternd, bebend vor Schreck. Ich wusste, es würde übel werden. Aber mitzuerleben, was Haruikos Abgründe gerade angerichtet haben, wie sie Kaito und Misaki ein für alle Mal zerstört haben, ist auch für mich zu viel. Es dauert eine geschlagene Stunde, bis es im Haus wieder ruhiger wird. Ich bin raus in den Garten gegangen und seitdem sitze ich hier und warte. Die ganze Zeit habe ich sie von drinnen schreien gehört. Misaki. Kaori. Aber vor allem Kaito. Er muss unfassbar wütend gewesen sein. Ich habe nicht jedes Wort verstanden, aber das Wort Scheidung fiel definitiv – mehrmals. Nun sitze ich hier, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und frage mich, was ich da nur angerichtet habe. Immer wieder muss ich mir ins Gedächtnis rufen, dass nicht ich diese schlimmen Taten begangen habe. Dass ich nicht daran schuld bin. Dass ich nur der Überbringer schlechter Neuigkeiten bin – diesen Job will absolut niemand. Ich komme mir so mies vor. Kaori … ihre ganze Familie bricht gerade auseinander. Ich hoffe, sie verkraftet es. „Miss Tachikawa.“ Ich zucke heftig zusammen. Kaitos dunkle Stimme geht mir durch Mark und Bein. Ich sitze auf der Bank im Garten und drehe mich zu ihm um. Er kommt direkt auf mich zu, seine Miene ist ausdruckslos. Sie verrät mir nicht, ob er mich gleich wieder anschreien, mir einen Orden verleihen oder mich erwürgen will. „Herr Minamoto.“ Ich stehe auf und verbeuge mich. „Schon gut“, sagt er und bleibt vor mir stehen. Ich traue mich kaum, ihn anzusehen. „Kaori, meine Tochter“, sagt er schließlich. „Sie hat mir berichtet, dass Sie es waren, die die Beweise ausfindig gemacht hat. Sie haben auch Nanami aufgespürt.“ Mit Tais Hilfe. Aber das sage ich nicht. Soll er ruhig denken, ich sei alleine für all das verantwortlich. Wenn er einen Schuldigen sucht, dann bin ich es eben allein gewesen. „Das habe ich.“ „Hmm“, macht er nur und sieht für einen Moment in den Himmel. „Darf ich fragen, was Ihre Intention war? Warum wollten sie meiner Familie etwas anhängen?“ Ich schüttle schnell den Kopf. „Das wollte ich nie. Die Wahrheit ist, dass Haruiko mich bedroht hat. Mich und meine Familie. Er wollte ihnen etwas antun, wenn ich es wagen würde, Joe zu verlassen und die Verlobung aufzulösen. Denn genau das wollte ich. Aber er hat mich unter Druck gesetzt. Mir blieb keine andere Wahl, als im Dreck zu wühlen, um etwas gegen ihn zu finden.“ Ich schlucke schwer. „Ich hatte es nie auf Ihre Familie abgesehen.“ Das muss er mir einfach glauben. Zu meiner Überraschung nickt er. „Es ging Ihnen also um Ihre Familie.“ Täusche ich mich, oder beeindruckt ihn das ein bisschen? Hat er vielleicht sogar Verständnis für meine Situation? „Und das ist alles, was Sie wollten? Haruiko zu Fall bringen?“ Mit zusammengekniffenen Augen sieht er mich an. Sein Blick durchbohrt mich, auf der Suche nach der Wahrheit. Ich nicke entschlossen. „Ja, so ist es.“ „Nun, wenn es weiter nichts ist. Diesen Wunsch kann ich Ihnen gerne erfüllen.“ Wie jetzt? Perplex starre ich ihn an. „Haruiko Kido ist nicht nur ein Krimineller, er hat mich auch verraten und hintergangen. Damit werde ich ihn nicht davonkommen lassen. Niemand fällt mir in den Rücken. Niemand.“ Seine Worte klingen wie eine Drohung und sind getränkt in purem Hass. „Diese Freundschaft ist beendet. Ich will nur noch eins: ihn hinter Gittern sehen. Und was meine Frau anbelangt …“ Er sieht wieder gedankenversunken in den Himmel. „Jetzt wird mir auch klar, warum sie den Tod von Nanami nie verarbeitet hat. Nach Trauer kommt normalerweise Akzeptanz, aber ihre Trauer nahm einfach kein Ende.“ Ich habe keine Ahnung, warum er ausgerechnet mir das erzählt. Aber ich vermute, dass auch er sich gerade einfach nur Luft verschaffen möchte. „Ich kenne Haruiko schon seit der Uni. Wir haben zusammen studiert und seitdem sind unsere Familien miteinander befreundet. Dass er ein Auge auf meine Misaki geworfen hatte, wusste ich nicht, da er selbst sehr früh verheiratet wurde. Aber Misaki war schon immer eine Augenweide. Vermutlich gönnte er sie mir nicht, dieser hinterhältige Bastard. Wenn ich daran denke, was sie alles hinter meinem Rücken getrieben haben …“ Er wendet sich ab, kehrt mir den Rücken zu. Sein Gesicht ist zornig, aber auch schmerzverzerrt. Natürlich. Selbst einem Kaito Minamoto tut es weh, wenn seine Frau ihn betrügt. Da kann er noch so hart sein. „Wie auch immer“, sagt er schließlich, sieht mich jedoch nicht mehr an. „Ich bin Ihnen trotz allem zu Dank verpflichtet. Wären Sie nicht gewesen, hätten mich die beiden noch jahrelang für dumm verkauft. Und niemand hält einen Minamoto zum Narren. Sie können mit der Gewissheit nach Hause fahren, dass Haruiko Kido noch heute von der Polizei abgeholt wird. Ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass dieser Mann nie wieder so etwas wie Glück empfindet. Ich werde ihm das Leben zur Hölle machen. Sie sind also frei, Miss Tachikawa.“ Er geht und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Was hat er da gesagt? Ich bin … frei? Ich kann es nicht glauben. Das ist das Ende? Hier und jetzt? Aber eine Sache wäre da noch. „Was ist mit Misaki?“, rufe ich ihm nach. Kaito dreht sich zu mir um und mustert mich mit einem abschätzigen Blick. „Ich wüsste zwar nicht, was Sie das angeht, aber sie wird noch heute das Anwesen verlassen. Sie geht vorübergehend zu Kaori, oder besser gesagt, zu Joe. Was sie danach macht, ist mir egal. Sie soll mir nie wieder unter die Augen kommen.“ Eine Gänsehaut erfasst mich. Sein Blick ist starr, kalt und erbarmungslos. Kaito Minamoto will man nicht zum Feind haben. Viel Spaß, Haruiko. Du hast es verdient. Ich gehe zurück ins Haus und treffe Kaori an, die mir auf dem Flur entgegen kommt. „Oh, Mimi“, sagt sie und wirft sich in meine Arme. „Kaori, wie geht es dir?“ Sie schnieft und wischt sich die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Es war schrecklich, aber … meine Mutter und ich, wir haben uns ausgesprochen. Zumindest erst mal. Es gibt noch viel zu bereden, aber ich hatte Mitleid mit ihr und habe ihr angeboten, dass sie erst mal mit zu uns kommen kann. Mein Vater will sie hier nicht mehr haben.“ Ich nicke verständnisvoll. „Ich bin froh, dass wir es hinter uns haben. Es musste sein, Kaori.“ „Ich weiß“, sagt sie, auch wenn sie noch nicht erleichtert wirkt. „Ich muss dringend zu Joe. Er hat mich schon mindestens zehn Mal angerufen.“ Wir verlassen das Anwesen der Minamotos und lassen nichts als Schrecken zurück. Es war klar, dass das so endet. Trotzdem fühlt es sich noch total surreal an. Auf dem Weg nach draußen klingelt mein Handy. „Oh, geh ruhig schon vor“, sage ich zu Kaori, die mich fragend ansieht, doch ich sehe, wie Joe ungeduldig vor dem Tor steht und wartet. Kaori nickt und geht voraus, während ich stehenbleibe und abhebe. „Hallo?“ „Mimi?“ Das ist die Stimme von Kari. Sofort durchfährt ein Schreck meine Glieder und lässt mich erstarren. „Kari, was ist? Ist etwas mit Tai? Geht es ihm gut?“ Oh Gott, bitte nicht. Bitte lass es nicht zu, dass Haruiko nun doch zu Ende gebracht hat, was er begonnen hat. Es vergehen ein paar quälende Sekunden, in denen ich Kari weinen höre, was meine Angst nur weiter schürt. Bis sie endlich mit der Sprache rausrückt und sagt: „Er ist aufgewacht, Mimi.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)