Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 53: ------------ Mimi Ein neuer Tag bricht an und zufrieden blicke ich auf den roten Briefkasten. Ich habe einige Bewerbungen als Stylisten verschickt. Auch in normalen Beauty Instituten. Ich muss Geld verdienen, so schnell wie möglich und je eher ich anfangen kann, desto besser. Ich hoffe, dass sich etwas ergibt. Es ist furchtbar, so ganz ohne Geld auskommen zu müssen. Ich bin auf dem Weg zu Kaori. Ich bin noch nie in ihrer Wohnung gewesen und frage mich, wie sie und Jim wohl leben. Mein Handy vibriert und ich ziehe es heraus. Tai hat mir geschrieben. Sofort erhellt sich mein Gesicht. Es ist mir so schwer gefallen, ihm nicht zu schreiben, aber ich wollte ihm das Tempo bestimmen lassen, sehen ob ich ihm fehle, wenn ich mal nicht auftauche. Gestern war ich nicht bei ihm im Krankenhaus. Ich habe den ganzen Tag nach Stellenangeboten gesucht, meinen Lebenslauf aufgefrischt, mir meine Zeugnisse und Zertifikate von meiner Mutter per E-Mail schicken lassen und meine Bewerbungen geschrieben. Davis hatte mir dafür seinen Laptop geliehen. Insgesamt zehn vielversprechende Stellenanzeigen habe ich ausfindig gemacht, die auf mich und meine Qualifikationen passen und da ich wirklich Geld brauche, musste ich den Tag gestern dafür opfern. Auch wenn ich natürlich gerne bei Tai gewesen wäre. Ich öffne die Nachricht und muss Grinsen. Tai: >Wie soll ich mich wieder in dich verlieben, wenn du mich nicht mehr besuchen kommst?< Schnell tippe ich meine Antwort. Mimi: >In dem du mich vermisst.< Er tippft und gebannt starre ich auf mein Handy. Tai: >Hmm … ich würde dich gerne wieder sehen. Würdest du mich heute besuchen kommen?< Ich grinse noch breiter. Er will mich wiedersehen. Keine Ahnung, ob er sich an die alte Mimi erinnert, aber die neue Mimi scheint er nicht aus dem Kopf zu bekommen. Mimi: >Sehr gerne. Mit oder ohne Suppe?< Tai: >Mit, bitte.< Entweder will er mir zeigen, dass er jetzt alleine essen kann oder er ist bereit, Hilfe von mir anzunehmen. So oder so, es ist ein Erfolg. Mimi: >Ich bin jetzt noch anderweitig verabredet. Am frühen Nachmittag komme ich gerne vorbei.< Er antwortet mir nicht mehr, aber das ist auch nicht notwendig. Wenn er sich unsere alten Chatverläufe durchgelesen hat und das hat er ganz sicher, dann weiß er jetzt auch, wie leicht es immer zwischen uns war. Selbst zwischen unseren Zeilen steht so viel geschrieben, dass selbst einer, der Amnesie hat, weiß, dass das was zu bedeuten hat. Ich möchte gerade mein Handy wieder in meiner Tasche verstauen, als es erneut vibriert, hat Tai mir doch noch geantwortet? Instagram. Meistens ignoriere ich diese Nachrichten, aber ich erkenne den Namen Nanami und das macht mich natürlich stutzig. Tatsächlich Nanami hat mir geschrieben. Mimi, ich weiß alles. Hast du Zeit? Ich halte es hier nicht mehr aus. Oh weia, ich kann mir vorstellen, was in ihr vorgehen muss. Ihr ganzes Leben beruht auf einer riesengroßen Lüge und jetzt ist alles rausgekommen und sie hat niemanden, mit dem sie reden kann, weil sie keine Freunde hat. Nur ihre Mutter und die hat sie ihr Leben lang belogen. Natürlich. Ich schreibe dir, wenn ich da bin. Ich überlege, Kaori wegen Nanami zu schreiben, aber ich bin sicher, es gibt einen Grund, warum sie zuerst mir geschrieben hat und ich weiß ja nicht genau, was Nanami weiß, daher schreibe ich Kaori nur, dass es später wird. Es dauert dreißig Minuten, bis ich die Straße von der Villa einbiege. Nanami wartet bereits draußen vor dem Tor. Oh, es zerreißt mir das Herz. Sie wirkt so verloren. Nicht wissen, wohin. Sie kennt sich hier in der Stadt nicht aus und war noch nie wirklich draußen. Sie blickt auf, sieht mich, läuft auf mich zu und umarmt mich. Ich halte sie fest, während sie anfängt zu weinen. Ich kenne das Gefühl so gut, sich nicht mehr halten zu können. Kurz vor einer Panikattacke zu stehen oder sogar davon überrannt zu werden. Ich versuche sie gerade einfach nur zu halten, in einer Welt, in der nichts mehr für sie sicher scheint. “Alles wird wieder gut”, sage ich leise. “Aber wie denn? Wie soll je alles wieder gut werden? Mein ganzes Leben ist eine reine Lüge. Es gibt mich gar nicht.” Ich schüttel den Kopf und zwinge sie, mich anzusehen. “Es gibt dich. Ich sehe dich. Ich weiß, es ist schrecklich, was dir angetan wurde und das ist nicht zu entschuldigen, aber wir holen dich zurück. Du bekommst deine Identität wieder. Ich verspreche es dir.” Nanami nickt zaghaft und ich weiß gar nicht so Recht, was ich jetzt mit ihr machen soll. “Was hat deine Mutter dir erzählt? Hast du noch irgendwelche Fragen? Ich weiß nicht, ob ich sie dir alle beantworten kann, aber ich bemühe mich.” Ich führe sie ein wenig mit mir. Hier in diesem Viertel sind viele teure Geschäfte und Cafés. Ich kann Nanami leider nicht auf ein Getränk einladen, obwohl ich es echt gerne machen würde. Stattdessen setzen wir uns auf eine Bank, die vor einem Brunnen steht und sehen uns eine Zeitlang das Wasser an. Es wirkt irgendwie beruhigend. “Dass sie mich immer lieb haben wird und ich immer ihre Tochter sein werde, dass sie mich aufgezogen hat, weil ich wohl nur das Ergebnis einer schrecklichen Affäre war und ein Unfall der vertuscht werden musste.” “Ich bin überzeugt, dass Ayaka dich immer lieben wird. Sie ist auch nur ein Opfer von Haruiko. Wie jeder hier.” “Warum konnte er mich nicht lieben?” Darüber muss ich nicht lange nachdenken. Haruiko und Gefühle? Gibt es überhaupt jemanden, den er liebt, außer sich selbst? “Weil er ein Monster ist. Er kennt keine Liebe. Er weiß nicht, was das ist und ich glaube, er hat sie auch selbst nie erfahren.” “Und meine leibliche Mutter?” Über Misaki kann ich überhaupt nichts sagen. Ich kenne sie zu wenig und ich weiß nicht genau, was damals passiert ist. Wäre es sehr übergriffig, sie jetzt einfach mit zu Kaori zu nehmen? Misaki ist bei ihr und vielleicht tut das allen gut, sich wieder kennen zu lernen, aber vielleicht bekommen sie auch alle eine Panikattacke und schreien sich an. “Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie damals sehr darunter gelitten hat und in eine schwere Depression gefallen ist. Ich glaube nicht, dass sie irgendwas dazu beigetragen hat, aber wenn du es genau wissen willst, musst du sie selbst fragen. Ich weiß, wo sie aktuell ist, wenn du bereit bist.” Nanami schweigt eine Weile und ich frage mich wirklich, was sie gerade denkt. Mensch, wenn ich mir eine übersinnliche Fähigkeit aussuchen könnte, wäre es auf jeden Fall Gedanken Lesen, dann wüsste ich auch immer, was Tai gerade denkt. Nanami legt ihren Kopf in den Nacken und sieht sich die weißen Wolken an. “Die eine Wolke sieht aus ein Hund, der den Kopf einzieht …” sagt sie auf einmal. Ich folge ihrem Blick in den Himmel und ja, ich weiß welche Wolke sie meint. “Ja.” “Ich glaube, ich habe lange genug hinter den Wolken gelebt. Es wird Zeit, die Sonne in mein Leben zu holen und dafür muss ich den Regen hinter mir lassen.” Sie ist ein ganz tolles Mädchen. Ich lächle und reiche ihr meine Hand. “Na komm, ich bringe dich zu Kaori. Sie wird dich danach wahrscheinlich eh nicht mehr gehen lassen, aber tue mir einen Gefallen und schreibe Ayaka. Sie wird vor Sorge durchdrehen.” Nanami, kämpft mit sich, aber nickt schließlich mit dem Kopf. Tai Mittlerweile habe ich mit meiner Physiotherapeutin einen Therapieplan erstellt und wir arbeiten sowohl im Vormittags- wie auch im Nachmittagsbereich intensiv miteinander. Bewegungstherapie Manuelle Therapie Lymphdrainage Faszien und Bewegungstechniken. All das soll mir helfen, möglichst schnell wieder auf die Beine zu kommen. Auch wenn man mir schon mitgeteilt hat, dass ich nach dem Krankenhausaufenthalt, direkt in eine Reha kommen werde. Wenn mir das aber hilft, wieder der alte zu werden, ist mir das nur Recht. Mimi hat mich gestern nicht besucht und irgendwie fand ich das sehr schade. Jedesmal wenn die Türe sich geöffnet hatte, habe ich die Hoffnung gehabt, dass Mimi es ist, aber sie kam nicht. Ich hätte ihr schreiben können, aber nachdem ich mein Handy entsperrt habe und ich erstmal alle alten Chats gelesen habe - besonders die mit Mimi - ist mir klar geworden, dass ich sie wirklich sehr gemocht habe und dennoch ist auch ein anderer Name oft in den Chats vorgekommen. Joe. Ich will endlich wissen, was das alles zu bedeuten hat und ich bin sicher, dass Mimi es mir erzählen wird, wenn ich sie drauf anspreche. Neben den Nachrichten ist mein Handy auch so voll mit Mimi. Fotos, unzählige Fotos. Nur sie, wir zusammen. Meine Güte, wie wir uns anlächeln. Selbst in meiner Notizapp gibt es eine Rubrik mit ihr. Alles unter dem Namen: ‘Prinzessin’. Wie konnte ich sie nur vergessen? Ich habe letzte Nacht wieder von Mimi geträumt. Von Tanabata und wie ich ihr die Sterne zeige. Vom Fußballcamp und wie sie mit den Kindern spielt. Waren das Träume oder Erinnerungen? Das Gefühl, welches ich dabei empfand, war anders - neu. Es war intensiv. Ich fühlte mich zu ihr verbunden. Kari erzählte mir wenigstens mal etwas und zwar dass sie mit Mimi hier im Krankenhaus ein Fest für die Kinderstation organisiert haben und sie in einem Elsa Kleid am Klavier saß und das Stück ‘Let it go’ zum Besten gab. Es wurde bei YouTube hochgeladen und ich habe es mir gestern etliche Male angesehen. Ihre Stimme ist atemberaubend und wie sie das Lied sang - als würde ihr Leben davon abhängen, als würde sie ihre Geschichte herausschreien und dann ganz plötzlich hatte ich eine Frequenz: wie ich selbst in diesem Publikum stehe, ihr die Noten organisiert habe und sie begeistert anfeuere. War das real? Ich muss sie einfach heute sehen. Ich spüre, dass irgendetwas in mir anfängt, sich wieder zu erinnern und ich weiß, dass ich diese ganzen wirren Puzzleteile mit Mimis Hilfe zusammensetzen kann. Mimi Wir stehen vor Kaoris Wohnung. Nanami hält meine Hand fest. Richtig fest. Sie ist unfassbar nervös und ich kann sie so gut verstehen. Ich hoffe, sie bricht hier nicht noch zusammen. Wie muss es wohl sein, jetzt das erste Mal vor der leiblichen Mutter zu stehen, von der man vor ein paar Tagen noch gar nichts wusste? Selbst ich bin nervös. Kaori öffnet ihre Türe und schenkt beiden von uns ein Lächeln. “Kommt doch bitte rein.” Nanami zögert noch ein wenig, ich gehe einen Schritt voraus und halte ihr meine Hand hin. “Du musst keine Angst haben, Nanami.” Sie sieht mich mit großen Augen an, aber sie scheint mir zu vertrauen. Sie nickt und ergreift meine Hand, wie einen Rettungsanker. Sie ist wirklich sehr tapfer. Wir ziehen unsere Schuhe aus und folgen Kaori durch einen schmalen Flur ins Wohnzimmer. Beige. Die Farbe dominiert hier. Die Wände, der Boden. Wow. Die Shoja, die als japanische Türen bekannt sind passen farblich perfekt hier rein. An den Seiten hängen lange Stoffbilder herunter, vor den jeweils eine dunkle Kommode steht. Hier ist wirklich nichts dem Zufall überlassen. Man merkt, dass Kaori sehr traditionell aufgewachsen ist, denn hier ist keine klassiche Couch, sondern ein Bodensofa und ein niedriger Tisch. Dennoch steht auch hier eine modernes Sideboard in dunkelbraun mit einem großen Flatscreen. Misaki, entdecke ich hier nicht. Kaori bittet uns Platz zu nehmen und so setzen wir uns auf das Bodensofa. Man, ist das gemütlich, da versinkt man ja drin. Ich frage mich, wie Kaori hier hoch kommen will, wenn der Bauch was größer wird. Das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit. “Schön, dass ihr hier seid.” Kaori stellt Tassen auf den Tisch und hat grünen Tee vorbereitet. Nanami sitzt angespannt neben mir. “Wie geht es dir, Nanami?”, erkundigt sich Kaori bei ihr. Sie zuckt mit den Achseln und ihr Blick bleibt starr auf den Boden gesenkt. “Sie ist noch sehr aufgewühlt.” Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass es okay ist, wenn ich für sie spreche. “Verständlich, es ging mir schließlich nicht anders. Ich versuche das Ganze immer noch zu verarbeiten, aber es wird Zeit brauchen. Viel Zeit.” Ich nicke und drücke Nanamis Hand. Sie atmet sehr flach und ich mache mir wirklich ein wenig Sorgen. Ist das vielleicht nicht doch alles ein bisschen zuviel? Zu schnell? “Möchtest du bleiben oder gehen?”, frage ich sie daher sicherheitshalber nochmal. Nanami sieht mich wieder an und ich bin froh, dass sie nicht irgendwelche Kinderlieder singt oder sich sonst irgendwie neben der Rolle verhält. “Nein, ist, ist Misaki hier? Ich will wissen, was damals passiert ist, wie es soweit kommen konnte.” Wow. Respekt. Sie will es wirklich wissen und ist bereit, sich mit Misaki auseinanderzusetzen. Beachtlich. Kaori nickt. “Ja, sie wartet im Schlafzimmer. Sie wusste nicht, ob du sie sehen willst, ob du dafür schon bereit bist.” “Das werde ich nie sein. Daher versuche ich die Pflastermethode: Kurz und Schmerzlos.” Ich bin jedoch nicht sicher, ob das Schmerzlos von statten gehen wird. “Dann hole ich sie. Du kannst aber jederzeit abbrechen, wenn es dir zuviel wird, ja?” Kaori legt ihr auch eine Hand auf ihre Hand und lächelt sie an. Nanami scheint ihr auch zu vertrauen. Sie nickt ihr zu und erwidert ihr Lächeln halb. Kaori steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Ich spüre förmlich, wie Nanami die Luft anhält. “Atme, immer gleichmäßig, durch die Nase ein, durch den Mund aus. Wir machen es zusammen, okay?” Ich mache es ihr vor und Nanami macht es nach. Wir atmen zusammen und sie macht das wirklich toll. Wir hören Schritte und Nanami packt meine Hand und drückt diese wieder kräftig zu. “Es wird alles gut”, sage ich nochmal und ich glaube an meine Worte: Jetzt wird endlich alles gut. Kaori kommt herein, dicht gefolgt von Misaki. Sie sieht sehr verheult aus. Sie blickt direkt zu Nanami und sie hebt ihren Kopf. Ihre Blicke treffen sich. Ich bekomme Gänsehaut. Überall. Ich weiß gar nicht, ob ich befugt bin, bei diesem Intimen Moment dabei zu sein, aber vielleicht ist es auch gut, dass ich als neutrale Person dazwischen gehen kann und als Mediator fungieren kann. “Na-Nanami”, haucht Misaki und beginnt zu weinen. Auch Nanami weint und ich lege meinen Arm um sie, um ihr zu zeigen, dass ich immer noch da bin. Ich bin sowas von Team Nanami. “Du … du siehst so wunderschön aus”, schluchzt sie. Auch Kaori beginnt zu weinen. Oh man, ihre Schwangerschaftshormone machen sie eh total sentimental. Ich stehe auf und versuche, das Gespräch irgendwie ans Laufen zu bringen. “Ich würde mal vorschlagen, wir setzen uns erstmal alle hin.” Kaori und Misaki nicken und sitzen uns gegenüber auf zwei Sitzkissen. “Okay, gut. Nanami hat heute erst erfahren, was überhaupt passiert ist. Auf der einen Seite steht sie noch unter Schock, auf der anderen Seite hat sie Fragen und ich finde, es ist ihr gutes Recht, diese zu stellen.” Misaki nickt und sieht zu ihrer jüngsten Tochter, die gegenüber von ihr sitzt. Sie mustert sie, als würde sie sich jeden Millimeter genau einprägen. “Ich will wissen, wie es dazu kommen konnte. Warum, warum man mich einfach weggebracht hat, wie ein Tier mit welchem man schlussendlich überfordert war und einfach im Wald ausgesetzt hat. Noch dazu wurde ich für tot erklärt. Für tot.” Die letzten Worte schreit Nanami raus. So viel Kummer in ihren Worten. So viel Schmerz. Ich reiße mich zusammen, denn hier weinen sowieso schon alle und irgendwer muss hier die Fassung bewahren, sonst läuft das alles hier aus dem Ruder. Misakis Stimme zittert, weil sie selbst versucht nach den richtigen Worten zu suchen, falls es diese überhaupt gibt. “Ich hatte ungefähr zwei Jahre lang was mit Haruiko und ich weiß heute selbst nicht mehr wieso.” Misaki schafft es nicht länger Nanami anzusehen. So viel Schuld in ihren Augen. So viel Wehmut. “Er machte mir ständig Komplimente, Geschenke. Seine Blicke und irgendwie auch das Verbotene. Ich war noch so jung, als ich verheiratet wurde. Gerade 19 Jahre und ein paar Jahre später war ich auch schon schwanger mit Kaori. Kaito war zwar immer gut zu mir, aber ich hatte nie diese Anziehung zu ihm verspürt und irgendwie war es bei Haruiko anders.” Ihre Hände umschließen ihren langen Faltenrock. Sie sucht Halt, um nicht von ihrer Vergangenheit verschluckt zu werden. “Ich war schwach und habe mich auf ihn eingelassen. Es war so dumm, denn das er auch ganz anders sein konnte, hab ich dann schnell am eigenen Leib erfahren.” Bei der Erinnerung daran, verzieht sich ihr Gesicht qualvoll. “Als ich herausfand, dass ich schwanger war, wollte Haruiko das ich abtreibe. Er hat mich immer wieder dazu gedrängt, aber ich habe mich gewehrt. Es bestand immerhin die Chance, dass Kaito der Vater sein könnte und selbst wenn nicht, ich hätte das niemals übers Herz gebracht.” Nanami verkrampft und zischt. Ich weiß nicht, ob sie Misaki glauben schenkt, aber auf mich wirkt es nicht so, als würde sie lügen. “Aber ein Kind sich selbst überlassen und für Tot erklären lassen, das ging.” Misaki fängt wieder an zu weinen und schüttelt verzweifelt ihren Kopf. “Nein, so war das nicht. Nanami, du kamst viel früher als geplant. Ich bin gerade so in die 37. Schwangerschaftswoche gekommen, als plötzlich heftige Wehen anfingen. Kaito war nicht in der Stadt, weil er einen wichtigen Prozess in Kyoto hatte. Ich habe dann Frau Kido angerufen, die sich während der Geburt um Kaori gekümmert hat und ich habe den Krankenwagen gerufen. Im Kreißsaal ist dann direkt die Fruchtblase geplatzt und grünes Fruchtwasser trat heraus. Nanami kam so schnell, die Schmerzen waren so schlimm und ich war ganz allein.” Man spürt, wie sehr die Geschichte Misaki auch heute noch aufwühlt. Es ist schrecklich, wenn man in so einer Situation komplett auf sich alleine gestellt ist. Ich halte weiterhin die Hand von Nanami und Kaori, da beide wirklich am Ende sind. “Nanami wurde direkt nach der Geburt weggebracht. Sie hatte eine Neugeboreneninfektion. Ich habe sie aber weinen gehört und durfte sie am ersten Tag noch besuchen. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Es hieß ihr Gesundheitszustand hätte sich drastisch verschlimmert und in der dritten Nacht sei sie dann verstorben. Gesehen habe ich sie nicht mehr. Bis heute nicht. Bis jetzt.” Wir alle drei sitzen geschockt da und können kaum glauben, was wir da hören. Kaori hält sich den Bauch vor Schmerzen und verlässt das Wohnzimmer, ob sie Angst hat, dass man ihr das auch antun könnte? Nanami scheint die Welt noch weniger zu verstehen, als vorher und ich … ich wusste ja schon, dass Haruiko ein Monster ist, aber das … Einfach das Kind wegnehmen und es der Mutter komplett vorzuenthalten. Nicht mal die Möglichkeit bekommen, sich zu verabschieden? Er hatte damals schon das sagen in den Krankenhäusern und viel Macht. Wer hätte sich im Krankenhaus ihm schon widersetzen sollen? “Als ich entlassen wurde, habe ich mehrmals versucht Haruiko anzurufen. Er hat mich immer wieder weggedrückt. Ich habe ihn gefragt, wo Nanami ist, was ist mit ihr passiert ist? Warum ich mich nicht verabschieden darf. Er meinte nur, so etwas würde eben passieren und das wars. Ich wusste nicht, dass du hier in Tokyo bei anderen Frau aufgewachsen bist. Wenn ich das gewusst hätte, du kannst mir glauben, dann hätte ich dich daraus geholt.” Schock lass nach. Wie grausam. Wie konnte Haruiko nur so weit gehen? Auch Nanami steht der Schock ins Gesicht geschrieben. “Ich dachte du wolltest mich nicht, weil ich nur ein Unfall bin.” Misaki schüttelt ihren Kopf. “Du und Kaori war das was ich mir gewünscht habe. Ich war bereit, alles zu verlieren. Kaito, meinen Wohlstand, aber euch beide wollte ich nicht zurücklassen. Ich weiß es wäre schwer geworden und vielleicht hätte Kaito mir das Leben auch zur Hölle gemacht und mir Kaori vorenthalten, aber ich hätte immer um euch gekämpft.” Dass Haruiko soweit geht. Nur um zu verbergen, was wir damals hatten, ist einfach nur abscheulich.” Nanami bricht neben mir zusammen. Sie weint und ich halte sie fest. Auch ich kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Wie, wie konnte dieser Mann nur so weit gehen? So vielen Menschen so viel Leid zufügen? Ich halte Nanami weiter und deute Misaki an, zu mir rüber zu kommen. Es ist wichtig, diesen Schmerz zuzulassen, aber eines steht fest: Sie alle brauchen eine Therapie. “Darf ich?”, richtet Misaki die Frage an Nanami. Sie lässt von meinem Oberkörper ab, aber schüttelt den Kopf. Sie ist noch nicht so weit. Die Wunden sind einfach noch zu frisch. Sie bluten und brennen. Ich warte noch eine Zeit bis ich Nanami loslasse und auf die Suche nach Kaori gehe. Im Schlafzimmer finde ich sie. “Hey.” “Hey”, murmelt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. “Jetzt weiß ich auch, warum meine Mutter all die Jahre so war. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich niemals in diese Familie eingeheiratet. Ich meine, ich habe diesen Mann mal verehrt und weißt du, was das Schlimmste ist?” Ich schüttle den Kopf, während ich mich neben sie setze. “Ich glaube, Jim weiß das.” “Wie kommst du darauf?” “Als ich ihn das alles erzählt habe, war er nicht überrascht oder schockiert.” “Tzz. Wo ist Jim?” Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen und finde das schon seltsam und bereitet mir ein ungutes Gefühl. “Offiziell ist er die letzten drei Wochen in China gewesen, aber irgendwie glaube ich das nicht. Er kommt in den nächsten Tagen zurück. Dass er eine Schwester hat, hat ihn nicht weiter interessiert. Ich weiß nicht, irgendwie will ich nicht das er zurückkommt. Der Gedanke mit ihm alleine zu sein macht mir ehrlich gesagt Angst. Ich will mein Kind nicht in einem Krankenhaus zur Welt bringen, wo die Kidos ihre Finger im Spiel haben. Ich will es nicht mal hier auf die Welt bringen. Lieber in Kyoto oder Osaka. Irgendwo anders, aber nicht Tokyo.” “Ich kann dich so gut verstehen. Ich werde dich auf jeden Fall unterstützen.” “Danke Mimi, für alles. Was du für meine Familie getan ist, ist unbezahlbar.” “Glaube mir, diese Geschichte werde ich auch niemals vergessen. Ich wollte Haruiko nur aufhalten, aber das … ich bin fassungslos. Glaub mir, wir müssen beide aus dieser Familie raus. Du auch.” Kaori beißt sich auf die Unterlippe. Sie starrt auf den Ring an ihrem Finger. Fühlt es sich für sie auch an, wie eine persönliche Fessel? “Ist nicht so einfach für mich”, nuschelt Kaori. “Dein Vater ist ein hochrangiger Anwalt. Es gibt eine Möglichkeit, glaub mir.” “Vielleicht.” Ich nehme sie noch einmal in meine Arme. “Ist es okay, wenn ich euch jetzt alleine lasse?” “Du willst sicher zu Tai, oder?” Ich seufze. “Ja, er hat mir sogar heute geschrieben, dass ich ihn besuchen soll.” “Wow. Vielleicht erinnert er sich?” “Mal sehen. Es wäre schön. Ich vermisse meinen Tai, aber ich würde mich immer wieder in ihn verlieben, weil ich einfach weiß, was für ein Mann in ihm steckt.” “Das hast du schön gesagt und ich finde, ihr passt auch sehr gut zusammen.” “Danke.” Ich stehe auf und schaue auch nochmal kurz zu Nanami. “Nanami, ich würde jetzt gehen, ist das okay?” Sie nickt. “Ich würde gerne noch bleiben, wenn das in Ordnung ist?” “Natürlich, du gehörst doch zu uns”, antwortet Kaori ihr und ich freue mich, diese drei starken Frauen zurück zu lassen, mit dem Gefühl, dass sie zum Glück noch eine zweite Chance bekommen haben. Tai Wo bleibt sie? Es ist bereits halb fünf und ich kann nur noch an Mimi denken. Sie wollte doch am frühen Nachmittag kommen, aber sie ist nicht da. Kommt sie noch? Soll ich ihr nochmal schreiben? Ne, das ist ja lächerlich. Vielleicht hat sie aber auch kein Interesse mehr? Ich meine ein Krüppel wie ich, der sie auch noch vergessen hat, dazu war ich die ganze Zeit extrem unfreundlich zu ihr. Es wäre nur zu verständlich, wenn sie keine Lust mehr auf mich hat. Doch warum schmerzt das so? Der Gedanke, ich könnte sie verlieren, obwohl ich doch aktuell gar nicht so genau weiß, wie wir zueinander stehen. Das macht mich kirre. Ich will nochmal in diese Augen blicken. In diese Honiggoldenen Augen. Man, wieso bin ich nur immer so blöd zu ihr gewesen? Dabei hat sie mir sogar das Leben gerettet. Ich bin frustriert. Ich nehme mir mein Handy und tippe den Code ein: 1505. Der Tag, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind, aber wie sind wir uns begegnet? Leider weiß ich das nicht mehr. Hätte ich sie auch einfach mal fragen können. Ich doof. Ob ich sie doch anrufen soll? Es klopft an meiner Zimmertüre. Schon wieder geht mein Blick Hoffnungsvoll zur Türe und tatsächlich Mimi steckt ihren Kopf durch. Sofort fängt mein Herz an wie wild zu schlagen. Sie ist gekommen. “Hey, entschuldige die Verspätung.” “Kein Ding.” Ich starre sie an. Ich starre wirklich. “Wie geht es dir?” Ihre obligatorische Frage, aber irgendwas ist anders. Ihre Augen? Sie sehen traurig aus. Hat sie geweint? “Besser. Wie geht es dir?” Ich habe nie gefragt, wie es ihr geht. Als ob andere Menschen keinen Kummer hätten. Wie töricht. Sie schaut mich an und kommt näher an mich ran. “Darf ich?” Sie möchte sich zu mir ans Bettende setzen. Ich schüttle den Kopf und sie steuert geknickt auf den Stuhl zu. “Nein, ich meine …” Oh man, ich glaube ich werde rot. “Komm näher.” Ich sehe sie an und Mimi schaut mich mit großen Augen an. Ich möchte, dass sie sich direkt vor mich setzt. Ganz nah. “Sicher?” Ich nicke und lächle sie an. Sie erwidert es und bereitet mir damit eine Gänsehaut. “Also nochmal: wie geht es dir?” Noch immer wirken ihre Augen traurig. Wegen mir? “Ich würde gerne wissen, was in deinem hübschen Köpfchen so vor sich geht.” Ja, ich habe die Worte bewusst gewählt und es zeigt seine Wirkung. Mimis Lächeln wird breiter und es erreicht fast, aber auch nur fast ihre Augen. “Darf ich dich umarmen? Ich glaube, das würde gerade helfen.” Ich setze mich mit großer Anstrengung auf, aber es gelingt mir jeden Tag besser. Ich sitze aufrecht. Ich breite meine Arme aus und Mimi lässt sich fallen. Sie weint. Ich streichle über ihren Rücken, so gut ich kann und irgendwie fühlt sich diese Geste wahnsinnig vertraut an. “Was ist los?” “Ich würde es dir gerne erzählen, aber du würdest kein Wort verstehen”, schluchzt Mimi und reibt sich über die Augen. Es nervt mich so. Wieso erinnere ich mich nur nicht, an die letzten Monate meines Lebens? “Erzähl es mir trotzdem.” Mimi schüttelt ihren Kopf, während sie sich langsam aus der Umarmung löst. “Das ist leider nichts, was man mal einfach so erzählen kann. Sonst würde ich es tun.” Ich nicke verstehend. Ich habe schon mitbekommen, dass hier komische Dinge passiert sind. Haruiko ist verhaftet worden, die Presse schweigt noch darüber, was genau passiert ist und leider weiß ich nicht, ob ich es mal wusste. “Okay, wo ist meine Suppe?” “Oh, entschuldige, die habe ich ganz vergessen.” Mimi schaut runter auf den Boden. Es scheint ihr unangenehm zu sein. “Ach was, schon gut. Ich wollte dir auch eigentlich nur was zeigen.” Sie sieht wieder zu mir auf und sieht mich interessiert an. “Und was?” Ich greife nach meinem Wasserglas und trinke selbständig daraus. Es klappt, ich zittere sogar immer weniger dabei und merke, dass ich wieder ein besseres Gefühl in meinen Fingern und Händen habe. Ja, schon klar ist nichts Großartiges, aber das kann ich seit der Bewegungstherapie heute morgen und das wollte ich Mimi gerne zeigen. “Wow, Tai, das ist unglaublich.” “Na ja, ich kann noch keine Flasche aufdrehen und mir selbst einschenken, aber das Trinken geht seit heute wieder.” Mimi strahlt übers ganze Gesicht und diesmal erreicht es auch ihre Augen. “Doch, das ist eine ganze Menge. Ich bin stolz auf dich, wirklich.” Sie umarmt mich wieder und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen. Das ist echt harte Arbeit und es ist ein schönes Gefühl, dass auch Mimi davon berührt ist. “Erzähl mir alles über uns.” Mimi sieht mir in die Augen, ihre Arme sind aber noch immer um meinen Hals gelegt. “Bist du sicher?” Unsere Gesichter sind sich so nah und ja, es erweckt ein Gefühl in mir, dass ich sie küssen möchte. “Und wie.” Ich will mich erinnern. Ich will wissen, ob meine Träume Erinnerungen sind oder ich es schaffe, mich dadurch wieder zu erinnern. Aber Mimi hat Recht so oder so, ich verliebe mich auch so wieder in sie. Sie ist immerhin die Frau meiner Träume. “Okay.” Sie löst ihre Arme um meinen Hals. Ich gebe mir große Mühe, ein wenig zu rutschen und möchte Mimi Platz machen. “Setz dich neben mich.” Mimi grinst wieder unsicher. “Kannst du dich an mich erinnern?” “Hmm … ich glaube schon. Noch sind es Bruchstücke und vieles ist noch sehr wirr und deswegen möchte ich, dass du mir unsere Geschichte erzählst und bitte alles.” Mimis Lächeln ist so schön, dass ich überzeugt davon bin, dass ich niemals etwas Schöneres gesehen habe. Sie zieht ihre Schuhe aus, legt ihre Beine hoch und setzt sich direkt neben mich. Ein schönes Gefühl. “Ich hoffe, du hast Zeit.” “Ach weißt du, ich habe gerade eh nichts anderes vor.” Sie lacht und legt sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Etwas, was ich auch gerne wieder können möchte. Bei ihr. Wieso kommt es mir gerade so vor, als würde ich mich bereits erinnern? An sie. An uns. Nur ohne den ganzen gewaltigen Inhalt. “Okay, am 15.05 bin ich nach Tokyo geflogen. Ich bin zwar in Tokyo geboren, aber seit meinem zehnten Lebensjahr lebe ich in New York. Im letzten Jahr sogar in L.A.” “Oh wow, okay und hast du hier Urlaub gemacht?” Sie schüttelt ihren Kopf und seufzt. “Ich sagte ja, du brauchst Zeit.” “Die habe ich.” “Du hast mich am Flughafen abgeholt.” Ich sehe sie irritiert an. Warum habe ich sie abgeholt? Mimi überlegt, wie sie ihre nächsten Worte sagen soll. “Ich bin als potenzielle Verlobte von Joe Kido nach Tokyo geflogen.” “Was?” Mimi vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen. “Ja, ich versuche einfach ein bisschen was zu erzählen. Ich komme eigentlich aus einer wohlhabenden Familie, aber mein Vater hat Gelder veruntreut und ich wollte meinem Vater helfen, aus dieser Situation rauszukommen und ich dachte und ich weiß, wie dumm das war, einen reichen Mann heiraten das könnte die Lösung sein. Mein Vater kennt Haruiko von früher und wusste, dass er einen ledigen Sohn hat, der im heiratsfähigen Alter war und ich dachte, cool, ein Arzt gibt schlimmeres. Zu dem Zeitpunkt in meinem Leben bin ich absolut orientierungslos gewesen und hielt dies für meine beste Option und ich dachte, komm Mimi, was ist schon dabei? Na ja, es war der Anfang vom Ende und obwohl ich zu Beginn sämtliche Knigge Regeln gebrochen habe, so hat Haruiko mich trotzdem abgesegnet. Das war wahrscheinlich der größte Fehler seines Lebens.” “Okay, klingt spannend. Erfahre ich am Ende der Geschichte, warum er verhaftet wurde?” “Oh ja.” “Okay, krass.” “Du wirst dich wundern, Yagami. Du wirst dich wundern. Du fandest mich übrigens total doof. Ich weiß natürlich, warum du arrangierte Ehen hasst und warst überzeugt, dass ich nur hinter Joes Geld her bin. Du hast dich mir gegenüber wirklich von deiner schlimmsten Seite gezeigt und ich war überzeugt davon, dass du ein Arsch bist.” Darüber muss ich nachdenken. Mimi kam als Verlobte von Joe ins Land. Sie sollte ihn heiraten? Joe, aber wieso ist sie dann bei mir und nicht bei ihm? Ist Joe deswegen mir gegenüber so distanziert? “Das erklärt, warum unsere Nachrichten am Anfang so abgehakt und kurz angebunden waren.” “Ja, deine Aufgabe war es, mich in japanischen Traditionen zu unterrichten. Mir die Familie Kido und deren Bräuche näher zu bringen. Du hast auch gerne dafür gesorgt, dass ich ins Fettnäpfchen trete.” Ja, sowas sieht mir ähnlich. “Eigentlich hast du mich aber auch die ganze Zeit gewarnt, dass ich für sowas nicht gemacht bin und warum ich alles aufgebe? Du konntest es nicht verstehen und du hattest Recht. Immer und mit allem: Ich bin sowas von nicht dafür geschaffen. Der Presserummel, ein Leben mit so vielen Regeln zu führen, nicht arbeiten zu dürfen, was ich möchte. Dieser goldene Käfig und die Kontrolle über mich.” Ich schließe meine Augen, während ich Mimi weiter zuhöre. Meine Gedanken versuche, zu sortieren. Kommt mir irgendwas davon bekannt vor? Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. “Wie genau habe ich dich unterrichtet?” “Wie man isst …” “Moment, wie man isst?” Ich öffne meine Augen wieder und blicke zu Mimi. Sie schaut mich ebenfalls an und schmunzelt. “Na ja, scheinbar war meine Ausführung mit den Stäbchen nicht so korrekt. Dann noch mein Umstyling. Ich bin wohl etwas zu freizügig gewesen.” Ich habe schon gemerkt, dass Mimi hier gerne in interessanten Klamotten zu mir kam. Dagegen hatte ich nichts, aber für die Kidos. Ja, für die ganz sicher. Irgendwas schleicht sich an die Oberfläche, aber was? “Erzähl weiter.” “Ich musste langweilige Ärzte und Politiker kennenlernen und den gesamten Stammbaum der Kidos. Würg. Ehrlich. Dann haben wir zusammen getanzt.” “Stop.” Wieder schaue ich zu Mimi. Wir haben zusammen getanzt? Das kommt mir bekannt vor. “Einen Walzer?” “Ja, woher weißt du das?” “Ich habe davon geträumt.” “Ehrlich?” Ich nicke. Wovon habe ich noch geträumt? Es waren so viele. Ich wollte sie aufschreiben, aber das konnte ich nicht. “Du solltest mir den Walzer beibringen, wegen den ganzen Wohltätigkeitsveranstaltungen und weil ich eine sehr talentierte Tänzerin bin, habe ich dir Salsa beigebracht. Irgendwie waren unsere Berührungen wie Stromschläge. Wir sind uns das erste Mal näher gekommen. Sehr nah. Ich meine tanzen halt und ich glaube, wir haben da beide zum ersten Mal gemerkt, dass wir uns anziehend finden. Aber zugegeben haben wir es natürlich nicht. Immerhin fanden wir uns ja doof.” Ich erinnere mich wieder an den Traum, wie wir zusammen tanzen. An das Gefühl und wie gut wir harmoniert haben. “Weiter.” “Na ja, dann kam jedoch alles raus. Also die Geschichte mit meinem Vater.” “Die Kidos wussten davon nichts?” Mimi schüttelt ihren Kopf. Es scheint ihr sehr unangenehm zu sein, darüber zu reden, aber ich spüre, dass es anfängt in mir zu brodeln, auch wenn ich die Erinnerungen noch nicht alle zu fassen bekomme. “Nein, ich dachte irgendwie nicht, dass das rauskommt.” “Das war dumm.” “Das weiß ich heute auch. Wie gesagt, den Presserummel habe ich deutlich unterschätzt und das Interesse an meiner Person erst recht. Als alles rauskam, dachte ich, das war's. Super, Mimi, du hast auf ganzer Linie versagt. Du, na ja, du hast dich für mich eingesetzt, die Kidos davon überzeugt, dass sie all das wussten und mich und meine Familie unterstützen würden. Nach außen haben wir geschlossen zusammengehalten.” “Aber hinter den Kulissen?” Mimi seufzt erneut. Dabei kann ich mir die Antwort selbst ausmalen. Die Kidos, besonders der Senior sind nicht gerade zimperlich. “Absolute Kontrolle, Ausgangssperren und irgendwie entmündigt worden. Es war der Horror, aber irgendwie dachte ich da noch, ich könnte jederzeit gehen, wenn ich es nur sage. Ich weiß, dass der Professor mich niemals hätte gehen lassen. Der gute Ruf und so. Wie wichtig ihm dieser ist, oh ja, wichtiger als jede Ethik dieser Welt, habe ich da noch nicht kommen sehen.” “Okay, ich brauche eine Pause.” Ich muss tief ein und ausatmen. Denn irgendwie glaube ich, dass alles, was jetzt kommt noch schlimmer sein wird. “Sollen wir morgen weitermachen?” “Nein, es ist nur … ich habe so viele Bilder in meinem Kopf und überlege, wie das alles zusammen passt.” Ich trinke nochmal einen Schluck. “Magst du bitte, da unten die Schranktür von dem Beistelltisch öffnen?” Mimi nickt, steht auf und eine ganze Menge Süßkram fällt ihr entgegen. “Kari hat mich eingedeckt. Snack gefällig?” “Oh ja und wie.” Chips, Salzstangen und Schokolade. Mimi macht auf dem Beistelltisch Platz und dreht diesen dann wieder zu uns um. “Gar nicht mal so unpraktisch”, lacht Mimi. Sie hält mir eine Salzstange entgegen und ich beiße mit meinem Mund rein. Sie kichert, als ich einen weiteren verlange. “Okay, ich denke, es kann weitergehen.” “Joe, war zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht gut auf mich zu sprechen. Er hat mich die meiste Zeit ignoriert und eigentlich warst du nur noch nett zu mir. Ach, jetzt fanden wir uns übrigens nichts mehr so doof.” Ich blicke zu ihr herüber. In den paar Monaten scheint Mimi bei den Kidos eine ganze Menge erlebt zu haben. “Wegen der offiziellen Verlobungsfeier sind wir nach New York geflogen, damit meine Eltern dabei sein können und beim Hinflug hätten wir uns dann beinahe das erste Mal geküsst.” Ich halte meine Augen wieder fest geschlossen, höre Mimis Worten genau zu und es lichtet sich etwas bei mir. Ich sehe was: Eine Kabine, Bodenlichter, Mimis Lippen und Turbulenzen und wie wir auf den Boden fallen. “Haben wir aber nicht, wegen Turbulenzen?” “Ja, woher weißt du das jetzt wieder?” “Ich habe gerade Bilder im Kopf.” Mimi scheint es die Sprache verschlagen zu haben, denn ich sie bleibt stumm und atmet so gut wie gar nicht. Hat sie Angst, sie könnte mich stören? Sie ist doch der Grund, warum ich überhaupt Bilder im Kopf habe. “Was passierte dann?” Ich will mehr Bilder, mehr Erinnerungen. “Frau Kido hat uns dabei gesehen und dich nach dem Flug zur Rede gestellt. Du solltest dich von mir fernhalten und daran hast du dich zunächst auch gehalten.” “Die ganze Familie scheint involviert zu sein?” “Ja, mehr oder weniger. Wobei Frau Kido keine bösen Absichten hatte.” Ne, sie ist ein guter Mensch, das war auch immer mein Eindruck. “Und dann?” Mimi steckt mir noch eine Salzstange in den Mund und ich höre ihr wieder gebannt zu. “Wir waren dann bei meinen Eltern, Auftritt: Sally.” “Sally?” Sie nickt wie wild mit dem Kopf und ich erkenne, wie Mimis Augen anfangen zu strahlen. “Sally ist meine beste Freundin und da sie dachte, ich heirate Joe, hat sie dich angemacht und ich schwöre, ich war so eifersüchtig.” Mimi kramt aus ihrer Handtasche ihr Handy heraus und zeigt mir ein Foto von Sally. “Das ist sie. Kommt sie dir irgendwie bekannt vor?” Ich schaue mir das Foto an, auf dem Mimi zusammen mit einem blonden Mädchen zu sehen ist, aber nein, noch nie gesehen. Zumindest erinnere ich mich nicht an sie. Ich schüttel den Kopf. “Auf der Verlobungsfeier selbst hat Sally dann versucht, uns zu helfen, zueinander zu finden. Wir waren auf der Damentoilette und da haben wir uns dann Schlussendlich auch richtig geküsst. Wir haben uns ausgesprochen und wollten zusammen sein. Ich wollte die Verlobung mit Joe lösen und in New York bleiben. Du auch.” Wow, ich bin bereit gewesen, in den USA zu bleiben, wegen einer Frau. Okay, ich muss absolut verrückt nach ihr gewesen sein. Wobei je länger Mimi hier sitzt und mir unsere Geschichte erzählt, desto leichter fällt mir das zu glauben. “Aber wir sind in Tokyo. Also was ist dann passiert?” Mimi schweigt. Sie nimmt sich mehrere Chips in ihre Hand und stopft sich alle gleichzeitig in den Mund. Respekt. Ich gebe ihr den Moment, denn ich spüre, jetzt braucht Mimi eine Pause. Oh man, ich muss mich endlich erinnern. Dann könnte ich ihr all das ersparen. “Ich wollte die frohe Botschaft meinen Eltern übermitteln. Sie haben sich gefreut und waren mir auch nicht böse, dass ich Joe doch nicht heiraten kann. Doch Haruiko hat diese Unterhaltung leider mitbekommen und ehe ich Joe was sagen konnte, hat Haruiko mich in einen Abstellraum geschleift. Er hat mich gewürgt und mir gedroht, jeden Menschen umbringen zu lassen, der mir etwas bedeutet, wenn ich Joe nicht doch heiraten sollte.” In mir brodelt es gewaltig und keine Ahnung, was in dem Moment mit mir passiert, aber ich balle eine Faust mit meiner linken Hand und boxe mit aller Kraft gegen die Matratze unter mir. Über diesen Ausbruch erschrecke ich mich, denn eigentlich kann ich das gar nicht mehr. Überrascht sieht Mimi mich an und ich starre auf meine Faust. “Tai …” “Ich …” “Du hast …” “Ich weiß …” Diese Wut in mir gegen Haruiko und da ist wieder dieses Gefühl, dass ich Mimi beschützen möchte. War es vor ihm? Wie konnte er Mimi gegenüber nur handgreiflich werden? Ich bin immer noch so wütend und beginne zu zittern, während ich noch immer eine Faust bilde. Mimi legt ihre Hände um meine zitternde Faust. “Es ist alles gut, Tai, aber ich denke für heute ist es genug.” “Nein, erzähl mir mehr.” “Tai, du zitterst am ganzen Körper. Ich will auf keinen Fall, deinem Behandlungserfolg im Weg stehen.” “Nein, ich erinnere mich wieder schemenhaft und ich kann Dinge, die ich vorher noch nicht konnte. Du hilfst mir.” Mimi lächelt mich sanft an und sorgt dafür, dass ich meine Finger aus der Faustposition wieder löse. “Es ist für heute gut. Wir machen morgen weiter versprochen. Vielleicht verarbeitest du das bis hier erstmal.” “Du hattest ein pinkes Kleid an, oder?” “Ja, das stimmt.” In meinem Traum habe ich sie so gesehen, aber es war kein Traum, sondern eine Erinnerung. Ich weiß noch, wie ich das Gefühl hatte, jemand drückt meinen Hals zu. Es war eine Metapher, weil es Mimi passiert ist. Sie trug ein wunderschönes Ballkleid in Pink. Ihr Gesicht tränenüberströmt und sie in Joes Armen. Es zerriss mir das Herz. “Dann habe ich von diesem Abend geträumt. Wahrscheinlich hast du Recht und wir machen für heute eine Pause.” Mimi nickt mit dem Kopf und legt ihren Kopf auf meine Schulter. “Tai, eines sollst du wissen. Du und ich, wir beide, das ist was gutes. Etwas wertvolles und egal was ich bei den Kidos erlebt habe, ich bin dankbar, denn es brachte mich zu dir.” Ich lege meinen Kopf auf ihren ab und lasse ihre Worte nachspüren. Wir schweigen, aber es ist keine unangenehme Stille. Es ist ein gemeinsames Schwelgen in Erinnerungen, während meine noch undeutlich sind. So bleiben wir eine ganze Zeit liegen, bis die Nachtschwester Mimi bittet für heute das Zimmer zu verlassen. Noch lange hänge ich meinen Gedanken nach, meinen Träumen, meinen Erinnerungen. Schaffe ich es aus diesem Labyrinth endlich raus? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)