Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 56: Kapitel 56 ---------------------- Mimi Es ist alles noch so unwirklich, obwohl schon über eine Woche vergangen ist, seit Tai sich wieder an alles erinnert. Seit er mich wieder mit diesem Blick ansieht – nicht mit dem: ich-kenne-dich-nicht-Blick – sondern mit dem: Du-bist-die-Frau-meines-Herzens-Blick, ist alles anders. Er ist wieder er und wir sind wieder wir. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich noch mehr in ihn verlieben kann, als in dem Moment, wo er mir gesagt hat, dass er sich wieder an mich erinnert. Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir das alles überstanden haben. Dass Tai es überlebt hat und wieder ganz der Alte ist, zumindest fast. Wenn er sich heute bei der Therapie gut anstellt, darf er schon in drei Tagen das Krankenhaus verlassen und zur Reha gehen. Die ist glücklicherweise in Tokyo. Aber selbst, wenn sie am anderen Ende der Welt wäre, ich würde mit ihm gehen, denn ich habe mir geschworen, ihn nie mehr allein zu lassen. Ich bin endlich frei und kann tun, was ich will. Und alles, was ich will, ist bei Tai zu sein. Gestern habe ich mit meinen Eltern telefoniert. Sie haben viel Verständnis gezeigt und auch wenn es mir unendlich leid tut, dass ich das Geld nicht auftreiben konnte, um meinen Vater zu entlasten, so sind sie doch nicht sauer auf mich. Mama hat geweint und sich so gefreut, dass ich Tai endlich wieder habe. Und Papa hat gesagt, dass nächsten Monat der Prozess gegen ihn startet, er aber bereits alles zugegeben und sich reumütig gezeigt hat und dass ihm das vor Gericht strafmildernd ausgelegt werden könnte. Gut so. Er steht zu seinen Fehlern. So wie Ayaka es gerade tut. Ich weiß von Kaori, dass Misaki morgen aus der Untersuchungshaft entlassen wird, weil die Beweise gegen sie nicht ausreichen. Außerdem hatte sie nichts mit der ganzen Sache zu tun, sie wird also morgen zu Kaori nach Hause zurückkehren. Nanami wurde inzwischen ebenfalls von der Polizei vernommen und hat natürlich zu Gunsten von Ayaka ausgesagt. Trotzdem ist die Beweislast erdrückend. Ayaka sitzt mindestens genauso tief in der Tinte wie Haruiko. Sollte es wirklich zur Anklage kommen, wovon Tai, ich und auch Ken und Yolei ausgehen, wird das alles auch für Ayaka Konsequenzen haben. Allerdings hat sie inzwischen alles gestanden und zeigt sich gegenüber der Polizei und Staatsanwaltschaft kooperativ, was man von Haruiko nicht behaupten kann. Er weist weiterhin jegliche Vorwürfe von sich. Es ist ein Trauerspiel. Ein schlauer Mann wie er sollte wissen, wann er verloren hat. Und sobald Ken denjenigen ausfindig gemacht hat, der für Tais Unfall verantwortlich ist, gehts ihm ohnehin an den Kragen. Ich persönlich hoffe ja, dass dieser Mistkerl die Gefängnismauern nie wieder von außen sieht. Heute bin ich mit Kaori verabredet. Sie hat eine Untersuchung im Krankenhaus – zum Glück nicht in dem, in dem Jim arbeitet. Dieser lässt sich ja nicht mehr Zuhause blicken und Nanami, die inzwischen auf eine öffentliche Schule geht, hat keine Zeit dafür. Misaki kommt erst morgen zurück, also habe ich mich angeboten, Kaori bei der Untersuchung zu begleiten, da sie nicht alleine gehen wollte. Wenn alles gut geht, erfährt sie heute das Geschlecht des Kindes – auch ohne Fruchtwasseruntersuchung. Sie ist sichtlich aufgeregt, denn sie wippt die ganze Zeit unruhig mit ihrem Bein, während wir im Wartebereich sitzen. Eine Hand ruht auf ihrem Bauch und ihr Gesichtsausdruck ist irgendwie gequält. „Mach dir nicht so viele Sorgen“, sage ich. Kaoris Kopf schnellt in meine Richtung, als hätte ich sie eben aus einem Tagtraum gerissen. „Es ist sicher alles gut mit dem Baby.“ „Das hoffe ich auch“, sagt sie, wirkt jedoch ein wenig zweifelnd. „Aber ich hatte in letzter Zeit so viel Stress. Ich hoffe wirklich, dass es dem Baby nicht geschadet hat.“ Ich lege eine Hand auf ihre und sehe sie mitfühlend an. „Bestimmt nicht. Hast du was von Jim gehört?“ Dieser Mistkerl geht mir zwar am Arsch vorbei, aber er ist immerhin der Vater ihres Kindes. Und ihr Ehemann. Ich denke, Kaori schmerzt es immer noch, dass er nicht hinter ihr steht, sondern hinter seinem Vater. Wie ich erwartet habe, schüttelt sie den Kopf. „Nicht wirklich. Zwischen uns herrscht Eiszeit. Aber er will heute Abend ein paar Sachen aus der Wohnung holen. Ich dachte, ich zeige ihm dann das Ultraschallbild. Vielleicht überdenkt er ja dann alles noch mal, wenn er sieht, um was es hier wirklich geht.“ Wenn er sieht, was er verliert? Oh, Kaori. Sie hat immer noch Hoffnung. Hoffnung, dass er sich ändern könnte. „Ja, vielleicht“, entgegne ich nur, weil ich Kaori diese Illusion nicht nehmen will. Sie hat so viel durchgemacht, die letzten Wochen waren wirklich hart. Wenn sie diesen Strohhalm braucht, lasse ich sie. Es ist nicht meine Aufgabe, sie auf den Boden der Tatsachen zu holen – das wird Jim schon selbst erledigen. Jede Mutter wünscht sich einen liebevollen Vater für ihr Kind. Daher kann ich Kaori durchaus verstehen. „Aber du solltest nicht alleine mit ihm sein. Nanami ist auch da und ich traue ihm nicht über den Weg.“ Vor allem nicht, nachdem er die Hand gegen mich erhoben hat. Wäre Kaori nicht dazwischen gegangen, hätte er, in seinem blinden Hass auf mich, zugeschlagen. Da bin ich ganz sicher. Zu meiner Überraschung nickt Kaori. „Nein, ich möchte auch gar nicht allein mit ihm sein.“ „Wenn du willst, komme ich heute Abend vorbei“, biete ich an, aber Kaori runzelt die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Er könnte es als Provokation auslegen, wenn er dich dort antrifft.“ „Vermutlich hat du recht, aber ich könnte mich auch im Hintergrund halten. Nur für den Fall der Fälle.“ Auf keinen Fall will ich, dass er Kaori gegenüber handgreiflich wird. Oder Nanami das Opfer seiner Wut wird. Diesem Mann ist nicht zu trauen. „Ja, das wäre eine Möglichkeit.“ Kaori sieht unruhig auf die Uhr. Ihr Termin war schon vor einer halben Stunde, aber wir warten immer noch. Ich schreibe schnell eine Nachricht an Tai, dass es später wird, denn ich wollte ihn gleich im Anschluss besuchen. >Mach dir keinen Stress, Prinzessin. Ich warte auf dich, egal, wie lang es dauert. Außerdem kann ich ja eh nirgendwo hin :P< Ich grinse. Blödmann. Trotzdem ist es schön, dass er wieder fast der Alte ist. Zumindest seinen frechen Humor hat er zurück. Ist doch ein gutes Zeichen. Endlich wird Kaori aufgerufen und ich begleite sie in das Untersuchungszimmer. Die Ärztin erkundigt sich erst mal nach ihrem Zustand, aber Kaori berichtet, dass alles in bester Ordnung sei und sie sich sehr wohl mit der Schwangerschaft fühle. Sogar die Übelkeit hat aufgehört. Dann legt sie sich auf eine Liege und während die Ärztin das Ultraschallgerät startet, macht Kaori ihren Bauch frei. Ich setze mich auf einen Stuhl neben sie. Kaori sieht mich aufgeregt an. „Kannst du bitte meine Hand halten?“ Ich nicke und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Na, klar. Deshalb bin ich doch hier.“ Kaori erwidert das Lächeln, wenn auch etwas verkrampft und versucht sich dann ganz auf die Untersuchung zu konzentrieren. Ich schaue mir das Bild genau an und ich muss ehrlich sagen: würde die Ärztin nicht die ganze Zeit erklären, was da zu sehen ist, würde ich denken, das alles ist Wackelpudding. Wobei: die kleine Hand mit den fünf Fingern daran kann ich sehr gut erkennen, denn sie winkt uns zu. „Oh, da möchte jemand hallo sagen“, meint die Ärztin, während Kaori auflacht. Allmählich scheint sie sich zu entspannen, vor allem, weil bis jetzt alles super aussieht. „Das sieht nach einem kerngesunden Baby aus“, verkündet die Ärztin zufrieden und ich höre Kaori leise seufzen. „Möchten Sie das Geschlecht erfahren? Es liegt gerade sehr günstig.“ Kaori und ich tauschen einen kurzen Blick, dann nickt sie auch schon. Ihre Finger schließen sich fest um meine, als die Ärztin das Ultraschallgerät noch mal weiter nach unten bewegt. „Ist ziemlich eindeutig. Es ist ein Mädchen.“ „JA!“, ruft Kaori wie vom Teufel aufgeschreckt oder als hätte sie gerade einen Preis gewonnen. Ich zucke zusammen. Beinahe habe ich Angst, dass sie von der Liege springt. Die Ärztin lacht laut auf. „Okay, ich nehme an, das war ein Freudenschrei.“ „Und ob das einer war“, lache ich ebenfalls und endlich tritt ein unfassbares Funkeln in Kaoris Augen, das ich die ganze Zeit vermisst habe. Sie hatte es so schwer und irgendwie ist das für die Kidos definitiv ein Schlag ins Gesicht, denn die wollten ja unbedingt einen männlichen Erben. Gedanklich zeige ich ihnen den Mittelfinger. Fickt euch doch ins Knie, ihr frauenverachtenden Bastarde! Kaori dreht den Kopf und grinst mich breit an. „Frauenpower, was?“ „Das kannst du laut sagen!“, grinse ich zurück und stelle mir bereits vor, wie diese drei starken Frauen bald schon eine weitere Verbündete in ihrer Mitte begrüßen können. „Du wirst eine ganz tolle Mutter, Kaori“, bestärke ich sie und diesmal nickt sie mir zu. „Danke, Mimi.“ Die Ärztin beendet ihre Untersuchung und gibt Kaori noch ein paar Flyer mit, mit der Aussage, dass sie sich bis zum nächsten Termin schon mal einige Krankenhäuser oder Geburtshäuser anschauen soll, damit sie dann alle offenen Fragen beantworten kann, falls welche auftauchen. Wir verlassen das Untersuchungszimmer und gehen zurück zum Eingangsbereich. Ich steuere noch mal die Toilette an und als ich wieder raus komme, sehe ich wie Kaori im Gang wartet und etwas auf ihrem Handy eintippt. Ein fettes Grinsen ist in ihr Gesicht eingebrannt, während sie ein Foto von dem Ultraschallbild macht und dann weiter schreibt. „Schickst du das Foto an Jim?“, frage ich sie, als ich mich ihr nähere. „Nein, an Joe“, rutscht es ihr heraus. Für einen Moment starren wir uns an. „Äh, an Joe?“ „Ja.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Er wird Onkel und freut sich immer über Neuigkeiten rund um das Baby.“ „Ja. Ach so“, sage ich jedoch nur und lasse es auf sich beruhen. Was das angeht, stelle ich besser keine Fragen. Wir gehen zum Ausgang. „Zwischen Tai und ihm herrscht dicke Luft, so wie ich mitbekommen habe“, sagt sie. „Aber das ist auch kein Wunder.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wieso hat das immer so einen negativen Beigeschmack, wenn jemand von Joe spricht? Der arme Joe, der betrogen wurde. Der böse Tai, der die Freundschaft einfach so weggeworfen hat. Der ihn hintergangen hat. Man muss nicht lange überlegen, wer von den beiden in der Geschichte das Opfer darstellt. „Ich meinte damit nicht, dass ich Tai und dich verurteile“, fügt Kaori schnell noch hinzu, weil sie meinen Gesichtsausdruck offenbar registriert hat. „Im Gegenteil, ich bewundere euch sogar ein bisschen.“ Wir gehen zur Limousine, die auf dem Parkplatz auf uns wartet. Der Tag ist so wunderschön und das Wetter herrlich. Die Sonne scheint auf uns herab und es weht ein lauer Wind. Ich glaube, ich werde nachher mit Tai eine Runde im Park drehen. „Ach ja?“, entgegne ich ungläubig. „Ja, weil ihr euch einfach allen Widrigkeiten widersetzt habt, um zusammen sein zu können. Ihr habt für eure Liebe gekämpft und standet immer füreinander ein. Auch wenn es im Geheimen war. Ihr habt euch nie aufgegeben, auch nicht, als es hart auf hart kam. Das kann nur wahre Liebe sein.“ Ein trauriges Lächeln umspielt ihre Lippen. „Trotzdem kann ich auch Joe verstehen. Er kannte Tai lange, bevor du ihn kanntest. Er hat das einfach nicht kommen sehen. Es ist absolut verständlich, dass er sauer ist und sich verraten fühlt.“ „Ja, ich weiß.“ Ich nicke schwach, als wir bei der Limousine ankommen und der Chauffeur uns die Tür aufhält. Wir steigen ein, während meine Gedanken abgeschweift sind. Es ist nicht so, dass ich kein Mitleid mit Joe habe. Wir hätten ihm direkt nach der Verlobungsfeier die Wahrheit gesagt, wenn Haruiko nicht gewesen wäre. Alles hätte anders kommen können. Vermutlich wäre er auch dann verletzt gewesen, aber sicher nicht so wie er es jetzt ist. „Soll ich dich noch bei Tai im Krankenhaus absetzen?“, schlägt Kaori vor, als ich nichts mehr auf ihre Worte erwidere. „Danke, das wäre nett. Hast du was von deinem Vater gehört?“, wechsle ich schnell das Thema, während die Limousine vom Parkplatz rollt. In den Nachrichten haben sie nichts darüber gebracht, ob Kaito Minamoto in dem Fall involviert ist, aber ich denke nicht, dass er Haruiko einfach so davonkommen lässt. „Allerdings“, sagt Kaori und wieder tritt ein verheißungsvolles Funkeln in ihre Augen. „Er ruft regelmäßig an und fragt, wie es mir geht. Ich denke nicht, dass er in irgendeiner Form einen Groll gegen mich hegt. Der richtet sich allein gegen meine Mutter, was es nicht einfacher macht. Aber er hat mir versprochen, sich aus ihren Angelegenheiten rauszuhalten und ihr nichts nachzutragen. Ich weiß, er kann sehr kalt und herzlos wirken und oft ist er das auch. Aber ich war ihm schon immer wichtig. Vermutlich ist sein Kind das Einzige, was ihm wirklich am Herzen liegt. Alles andere, na ja …“ „Und was macht er mit Haruiko?“, hake ich interessiert nach, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Kaito sich so einfach zurücklehnt und abwartet, bis die Show vorbei ist. Nein, er will mitmischen und zwar an vorderster Front. „Er tritt als Staatsanwalt gegen Haruiko im Prozess an, das war ihm ein persönliches Anliegen. Niemand schlägt meinem Vater etwas aus“, bestätigt Kaori meinen Verdacht. Innerlich lache ich laut auf. Kaito gegen Haruiko im Prozess? Das wird dein Untergang sein, Dr. Kido. „Außerdem hat er noch andere Dinge ans Tageslicht gebracht, die Haruiko belasten. Es gab wohl vor etwa zehn Jahren mal eine Anklage gegen Haruiko, die aber wieder fallengelassen wurde. Angeblich habe er bei einer OP gepfuscht. Es sollen Schweigegelder geflossen sein.“ Warum wundert mich das jetzt nicht? Diese Familie regelt einfach alles mit Geld. Kein Wunder, dass sich dieser Mann wie ein unbesiegbarer Gott vorkommt. „Die Liste der Anklagepunkte ist lang, sagt mein Vater.“ Ich nicke. Es war so eine gute Entscheidung erst Kaori und dann Kaito in alles einzuweihen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn Haruiko sich jetzt noch rausreden könnte. Allerdings hat Tai immer noch keine Nachricht erhalten, dass sie denjenigen geschnappt hätten, der für seinen Unfall verantwortlich ist. „Das sind spannende Neuigkeiten“, sage ich und werfe einen Blick aus dem Fenster. Wir müssten gleich schon bei Tais Krankenhaus sein. „Wann soll ich heute Abend bei dir sein?“ Ich kann Kaori unmöglich allein lassen, wenn Jim nach Hause kommt. Obwohl … vielleicht überrascht er uns ja alle und bittet sie um ein klärendes Gespräch. Ganz vernünftig. Ich lege den Kopf schief. Na ja, wohl eher doch nicht. „Jim wollte gegen 20 Uhr kommen“, meint Kaori. „Nanami schicke ich auf ihr Zimmer, wenn er da ist. Ich will nicht, dass sie noch mal in sein Visier gerät. Außerdem hat er so gemeine Sachen über sie gesagt, das muss sie sich wirklich nicht antun.“ Ich finde es schön, wie Kaori ihre Schwester beschützt und verteidigt. Blut ist manchmal doch dicker als Wasser. Aber manchmal eben auch nicht … „Ich verstehe nicht, wie er so zu ihr stehen kann“, sage ich. „Sie ist doch auch seine Schwester. Und sie kann nichts dafür, dass es sie gibt oder dass Haruiko sie nicht als seine Tochter anerkennen wollte.“ „Tja“, meint Kaori seufzend und lehnt sich zurück. „Nanami passt eben nicht in diese perfekte Familie, in diesen perfekten Plan hinein.“ Genauso wenig wie ich – denke ich. Deshalb wollte er auch mich loswerden. Ich war ein Störfaktor für Joes Vater, genauso wie Nanami. Und Störfaktoren müssen beseitigt werden. Tai Als Mimi bei mir im Krankenhaus ankommt, macht sie gleich den Vorschlag raus in den Park zu gehen, was ich super finde. Die frische Luft tut mir verdammt gut und ich habe nicht mehr so das Gefühl, eingesperrt zu sein. So ein Krankenhaus kann einen echt depressiv machen. Aber Mimi bringt jeden Tag Licht in diese trostlosen Tage. „Hast du etwas von Ken gehört?“, erkundigt sie sich, während sie mich im Rollstuhl durch den Park schiebt. „Nein“, sage ich. „Das heißt, ja, schon. Aber einen Durchsuchungsbefehl beim Richter zu bekommen gestaltet sich schwieriger als gedacht. Ken sagt, normalerweise dauert das einen Tag, aber hier dauert es schon über eine Woche. Er denkt, dass Haruikos Anwälte da die Finger im Spiel haben. Er konnte bis jetzt nur einen Durchsuchungsbefehl für sein Büro hier im Krankenhaus bewirken. Es wurde alles einkassiert. Aber ich denke nicht, dass Haruiko Beweise mit zur Arbeit genommen hat. Vermutlich liegen die eher irgendwo in der Villa oder in einem Safe.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist so lästig. Wir sind so weit gekommen und selbst aus dem Knast heraus macht dieser Mann uns noch das Leben schwer. „Wenn du willst, gehe ich noch mal in die Villa und schnüffle da rum. Ich kann mir eine Ausrede einfallen lassen, meine Klamotten holen oder so. Es ist schließlich alles noch da und vielleicht lassen sie mich rein“, schlägt Mimi vor, aber ich schüttle sofort entschieden den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich will, dass du nie wieder einen Fuß über diese Schwelle setzt, hörst du?“ Sie seufzt zwar, aber sagt dann: „Verstanden.“ „Braves Mädchen.“ „Ich bin kein Hund.“ Ich grinse. „Nein, bist du nicht.“ Ich stoppe den Rollstuhl mit meinen Händen, sodass auch Mimi stehen bleiben muss. Dann greife ich nach hinten an ihr Handgelenk und ziehe sie zu mir rum. Sie landet auf meinem Schoß und ich lege beide Hände um ihre Taille, während ich ihr in die Augen schaue. Diese wundervollen Augen, die ich so sehr vermisst habe. „Du bist meine Prinzessin, das weißt du doch.“ „Und du weißt, dass ich diesen Namen nicht mag“, lacht sie. Ich lege den Kopf schief und schmunzle. „Wie wäre es dann mit Frau Yagami?“ Mimi schürzt die Lippen und mustert mich. Natürlich war das nur ein Witz, aber irgendwie möchte ich doch ganz gerne abchecken, wie sie zu diesem Thema steht. „Klingt verlockend“, sagt sie schließlich. „Aber von Hochzeiten habe ich erst mal die Nase voll.“ Sie lehnt sich nach vorne und küsst mich. Ich erwidere den Kuss und ziehe sie näher an mich. Es tut so gut, ihre Nähe zu spüren. Aber vor allem tut es gut, unsere Liebe inzwischen offen zeigen zu können. Sie nicht mehr verstecken zu müssen. Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten, auch wenn andere das anders sehen. Aber wir lieben uns und das ist unumstößlich. Als wir uns voneinander lösen, grinst sie mich an. „Ich habe mir schon gedacht, dass du so etwas sagen wirst“, gestehe ich ihr. „Und das ist völlig in Ordnung für mich.“ „Danke“, kichert sie und gibt mir einen Stups gegen die Nase. „Außerdem müssen wir uns erst mal richtig kennenlernen, bevor wir vom Heiraten sprechen. Als du im Koma lagst und ich deine Eltern das erste mal gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass ich so gut wie nichts über dich weiß. Ich meine, klar, ich kenne deinen Namen und deinen Beruf und ich kenne sogar deine Ex-Freundin.“ Ich lache auf. Ich kann mir schon denken, worauf sie hinaus will. „Aber irgendwie fehlt mir da noch so einiges. Was ist dein Lieblingsessen? Was findest du eklig? Wer sind deine Freunde? Hast du überhaupt welche?“ „Willst du mich beleidigen?“ „Ich meine ja nur“, zuckt sie unschuldig mit den Schultern. Ich schüttle grinsend den Kopf. „Wenns weiter nichts ist. Lieblingsessen: Ramen. Eklig: Vanilleeis, würg. Freunde: sind vorhanden. Wer? Also da wären Yolei, Ken, Davis, Izzy, Matt …“ Joe lasse ich aus. Der ist ja nach wie vor nicht gut auf mich zu sprechen. Keine Ahnung, ob wir das je wieder hinkriegen, nach allem, was passiert ist. Mimi schlägt mich unerwartet gegen den Oberarm. „Siehst du? Wer ist dieser Izzy? Wer ist Matt? Ich kenne sie alle gar nicht.“ „Die wirst du schon noch kennenlernen.“ „Na gut“, gibt sie sich vorerst geschlagen. „Was wolltest du werden, als du klein warst?“ Da muss ich nicht lange überlegen. „Polizist.“ „Echt jetzt?“ „Jep.“ „Ken ist Polizist.“ „Ja, er lebt meinen Traum“, sage ich und lege theatralisch den Handrücken an meine Stirn. Mimi lacht herzhaft auf und wie immer, wenn sie das tut, geht es mir direkt unter die Haut. Ich lächle, wobei mir auffällt, dass ich genauso wenig von ihr weiß, wie sie von mir. „Was wolltest du denn werden, als du klein warst?“, frage ich sie. „Prinzessin“, platzt es aus ihr heraus. Sofort schlägt sie sich die Hand vor den Mund. „Dann ist der Name ja doch sehr passend für dich.“ „Oh man, jetzt hab ich mir wohl ein Eigentor geschossen“, grinst sie verlegen, was ich unfassbar süß finde. „Allerdings war ich da fünf. Mit neun wollte ich dann Astronautin werden, mit zehn Volleyball-Star und mit zwölf Supermodel.“ „Wow“, sage ich. „Das ist ne‘ lange Liste.“ „Wann war dein erster Kuss?“, fragt sie mich weiter aus und so langsam beschleicht mich das Gefühl, dass wir das hier noch den ganzen Tag tun könnten. „Hmm“, mache ich und lege nachdenklich den Kopf in den Nacken. Der Himmel ist heute sonnenklar und ein lauer Wind weht durch unsere Haare. „Den hatte ich, als ich vierzehn war. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft fand mich wohl süß und hat mir zum Valentinstag Schokolade geschenkt. Dann hat sie mich einfach so geküsst. Ich kannte sie gar nicht wirklich, aber es war trotzdem ganz gut. Sie war schon zwei Jahre älter und hatte schon Erfahrung beim Küssen.“ Mimi gibt ein anerkennendes Pfeifen von sich. „Nicht schlecht, Yagami.“ „Wann war denn dein erster Kuss?“, gebe ich die Frage zurück und wieder kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen, als wäre sie ein offenes Buch. „Fünfte Klasse, Halloween Party, Jess Brody.“ „Warte“, sage ich und ziehe eine Augenbraue hoch. „Ist Jess ein Junge oder ein Mädchen?“ Sie schlägt mich wieder. „Ein Junge natürlich.“ „Schade“, grinse ich ein bisschen zu breit, woraufhin Mimi eine Augenbraue nach oben zieht. „Ähm, wo wir grad beim Thema ‚versaute Vorstellungen‘ sind“, sagt sie und sieht mich ausdruckslos an. „Als wir deine Wohnung nach Beweisen durchfühlt haben, haben wir deine Pornos gefunden.“ Au Backe. Ja, das ist es, was ein Mann von seiner Freundin hören möchte. Wie unangenehm. Doch Mimi hebt nur den Kopf und schürzt die Lippen. „Ich habe Sally gesagt, sie kann sie alle wegschmeißen, weil du ja jetzt mich hast.“ Okay. Ich pruste los. Mimi plustert sich auf wie ein Vogel. „Hey, warum lachst du?“ „Ich habe irgendwie nichts anderes von dir erwartet, Prinzessin. Und ganz nebenbei erwähnt, sind das Überreste aus der Uni-Zeit gewesen. Als ob ich so etwas noch brauche.“ Ich schenke ihr ein anzügliches Lächeln und sofort schleicht sich dieses leichte Rosa auf ihre Wangen, was ich so süß finde. „Okay“, wispert sie und ich grinse. „Würdest du jetzt bitte von mir runter gehen? Ich würde dir nämlich gerne was zeigen.“ „Oh, was denn?“ Neugierig sieht Mimi mich an und rutscht von meinem Schoße runter. Ich habe extra die Krücken mitgenommen. Mimi soll die Erste sein, die es sieht. „Reichst du mir die mal?“, frage ich und deute nach hinten, wo Mimi sie vorhin an der Rückseite des Rollstuhls befestigt hat. Sie runzelt die Stirn. „Bist du sicher, dass du das schon kannst?“ Ich erwidere ihre Skepsis mit einem vielsagendem Blick und strecke weiter die Hand aus. „Jetzt gib schon her.“ „Na schön“, sagt sie und holt sie endlich nach vorne. „Aber wenn du auf die Nase fällst, stehst du selbst wieder auf.“ Wenn sie wüsste, wie oft ich mit den Dingern beinahe auf die Nase gefallen wäre, weil ich so versessen war, damit zu üben. Ich meine, wer will sich schon gerne von seiner super attraktiven Freundin im Rollstuhl rumfahren lassen? Wie so ein alter Tattergreis. Ich ramme die Krücken in den Boden und stütze mich nach oben. Es kostet mich einige Anstrengung. Das Aufstehen ist immer das Schwierigste, danach geht es. Mein Bein ist immer noch gebrochen, aber das macht mit den Krücken nur wenig aus. Ich setze sie nach vorne und hüpfe hinterher und so mache ich einen Meter nach dem anderen, bis ich mich wieder zu Mimi umdrehe. Sie steht mit offenem Mund da und sieht mich mit großen Augen an. „Tai, du …“ „Ja. Überrascht?“ Während ich breit grinse, sehe ich, wie in Mimis Augen Tränen funkeln. Sie kommt auf mich zugestürmt und fällt mir um den Hals, woraufhin ich fast das Gleichgewicht verliere und nach hinten kippe. Aber ich kann mich noch halten. Ich lasse eine Krücke zu Boden fallen und lege den freien Arm um ihre Taille, ziehe sie an mich, spüre, wie ihre Brust bebt. Sie weint. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, schluchzt sie. „Es macht mich so glücklich zu sehen, dass du so gute Fortschritte machst. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, nicht so schnell.“ „Tja“, sage ich und streiche über ihren Rücken. „Die Therapeuten auch nicht. Wenn es nach denen gehen würde, würde ich immer noch im Bett liegen und könnte mich mit Suppe von dir füttern lassen. Aber du bist mein Ansporn, das alles wieder hinzukriegen. Es ist so hart und kostet mich viel Kraft, aber je mehr ich trainiere, umso fitter werde ich. Das habe ich alles dir zu verdanken, Mimi. Du motivierst mich.“ Ich drücke sie fester an mich, vergrabe mein Gesicht in ihrer Halsbeuge und atme ihren Duft ein. Allein, dass wir gerade so hier stehen, ich sie in meinen Armen halte … das wäre noch vor ein paar Tagen undenkbar gewesen und doch ist es möglich. Mit Mimi an meiner Seite ist einfach alles möglich. „Oh, Tai“, flüstert sie. „Ich liebe dich.“ Wie vom Blitz getroffen reiße ich die Augen auf, lasse von ihr ab und erhebe mich ein Stück, um sie anzusehen. Ihre Wangen sind nun mehr als gerötet und in ihren Augenwinkeln glitzern Tränen. Sie wischt sie sich schnell mit dem Finger weg. „Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen. Ich hatte es mir fest vorgenommen, bevor du den Unfall hattest. Ich wollte unbedingt, dass du weißt, was ich für dich empfinde. Und dann ging es nicht mehr.“ Ein trauriger Schleier legt sich über ihre Augen und es zerreißt mir das Herz. Was muss sie die letzten Wochen über gelitten haben. „Ich …“, setzt sie erneut an, doch ich komme ihr zuvor. „Ich liebe dich auch.“ Überrascht hebt sie den Kopf und sieht mich an. „Du glaubst gar nicht, wie sehr“, füge ich noch hinzu, beuge mich zu ihr nach unten und küsse sie. Sie legt ihre Hände an meine Brust und kommt mir entgegen, während unsere Lippen dieses Geständnis besiegeln. Als wir wieder voneinander ablassen, lächelt sie mich glücklich an. „Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du das sagst.“ Ich grinse schief. „Ich habe es dir schon lange gesagt. Du hast nur nicht richtig zugehört.“ Jetzt zieht sie fragend eine Augenbraue in die Höhe. „Was meinst du damit? Hättest du ‚ich liebe dich‘ zu mir gesagt, hätte ich das ja wohl mitbekommen.“ Empört sieht sie mich an, als wolle ich einen Scherz machen. „Hast du aber nicht“, lache ich und beschließe, sie diesmal nicht länger auf die Folter zu spannen, obwohl es echt verlockend wäre, sie noch ein wenig in ihrer Ungewissheit schmoren zu lassen. „Tanabata. Ich sagte zu dir, der Mond ist schön. Das sagen wir Japaner, wenn wir ‚Ich liebe dich‘ sagen wollen.“ Ihr Mund öffnet sich und in ihrem Gesicht zeichnet sich Verwunderung ab. Danach Verärgerung. „Man!“, schimpft sie und schlägt mir gegen die Brust, woraufhin ich lachend etwas taumle. „Warum könnt ihr nicht einfach ‚ich liebe dich‘ sagen? Warum muss es schon wieder so kompliziert sein? Der Mond ist schön? Ernsthaft? Das hast du dir doch eben ausgedacht.“ „Nein“, erwidere ich lachend. „Es ist so, wie ich sage: ich habe dir zuerst gesagt, dass ich dich liebe. Zwar nicht direkt, aber es zählt trotzdem.“ Mimi zieht einen Schmollmund und sieht dabei unfassbar süß aus. „Na toll“, meint sie leicht geknickt. „Und ich habe mir voll die Gedanken gemacht, ob du es auch sagen würdest, wenn ich es dir sage. Dabei hast du das schon längst … unfair.“ Ich lache und lege eine Hand an ihr Gesicht. Ich beuge mich zu ihr runter und will sie gerade küssen, als plötzlich mein Handy klingelt. Wir zucken beide zusammen. „Ausgerechnet jetzt“, brumme ich und bin verärgert über die Unterbrechung. „Vielleicht ist es Kari.“ „Es ist sicher nichts Wichtiges“, sage ich, nehme das aber sofort zurück, als ich das Handy aus meiner Hosentasche ziehe und Kens Namen lese. Sofort hebe ich ab. „Ken? Was gibt’s?“ Ich nicke ein paar mal, höre ihm aufmerksam zu und sage dann: „Um 18 Uhr? Geht klar. Ja, das ist kein Problem. Bis später.“ Dann lege ich auf. Mein ganzer Körper ist angespannt. Mimi sieht mich so erwartungsvoll an, als würde sie jeden Moment vor Aufregung platzen. „Was hat er gesagt?“ „Sie haben ihn“, sage ich und stecke das Handy zurück in die Hosentasche. „Den Mann, der für meinen Unfall verantwortlich ist. Genau genommen haben sie drei Personen festgenommen. Ken hat den Namen über die Produktionsfirma herausgefunden und nun soll ich heute Abend zu einer Gegenüberstellung aufs Polizeirevier kommen. Er holt mich nachher ab.“ Mimis Augen weiten sich ungläubig. „Wow, soll das etwa heißen, dass wir Haruiko endlich für den Mordversuch dran kriegen?“ „Das hoffe ich“, sage ich und möchte mich lieber nicht zu früh freuen. „Vorausgesetzt, der Typ legt ein Geständnis ab.“ Mimi Abends gegen 19 Uhr komme ich bei Kaori an, aber ich kann mich kaum konzentrieren, weil ich die ganze Zeit auf einen Anruf von Tai warte. Er soll mir endlich sagen, dass wir ihn haben, es muss so sein! Seit Ken vorhin angerufen hat, kribbeln meine Fingerspitzen vor Aufregung. Dieser Haruto ist der Nagel zu deinem Sarg, Dr. Kido. Von mir aus kannst du im Knast verrotten. Ich gebe den Türcode für Kaoris Wohnung ein und wundere mich darüber, dass sie ihn noch nicht geändert hat. Wahrscheinlich weiß sie aber auch, dass es nur noch mehr Stress mit Jim geben würde, wenn er nicht mehr uneingeschränkten Zugang zu seiner eigenen Wohnung hat. Ich bin mehr als überrascht, als ich den Flur betrete und ein männliches Paar Schuhe im Flur entdecke. Ich frage mich, ob Jim doch schon früher gekommen ist, aber dann höre ich Lachen aus dem Wohnzimmer zu mir dringen und bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht sein kann. Ich ziehe meine Schuhe aus, verstaue sie aber gleich in einen der Schränke, damit Jim gar nicht erst mitbekommt, dass ich auch da bin. Dann gehe ich ins Wohnzimmer und bleibe im Türrahmen stehen, um das Bild, was sich vor meinen Augen abspielt, für einen Moment wirken zu lassen. Kaori und Joe sitzen jeweils links und rechts neben Nanami auf der Couch. Auf Nanamis Schoß liegt ein dickes Fotoalbum und alle sind ganz vertieft in die Bilder darin. Joe hat sich leicht zu Nanami rüber gebeugt und zeigt mit dem Finger auf etwas, während sich Kaori den Bauch vor lachen hält und sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt. Aber auch Nanami hat ein fettes Grinsen im Gesicht. „Und hier ist Kaori in den Pool gefallen, als sie 12 war und Jim Geburtstag hatte“, erzählt Joe sichtlich amüsiert. Nanami kichert. „Sie sieht aus wie ein Panda.“ „Hey“, beschwert sich Kaori lachend und hebt einen Arm hinweg über Nanamis Schulter, um Joe einen Klaps zu geben. „In diesem Sommer habe ich mich das erste Mal an Make Up versucht. Und es hat mir keiner gesagt, dass wasserfestes Make Up besser geeignet ist. Außerdem bist du dran schuld gewesen, dass ich in den Pool gefallen bin.“ „Ach was“, entgegnet Joe und ein belustigtes, aber auch verschmitztes Grinsen legt sich auf sein Gesicht. „Ich hab dich nur ein ganz kleines bisschen geschubst.“ Ich muss ein paar mal blinzeln. Es ist schon erstaunlich die drei so zu sehen, zu wissen, dass sie Geschwister sind und gerade dabei sind, sich richtig kennenzulernen. Und offenbar hat Joe deutlich mehr Interesse an Nanami als Jim. Aber ich habe auch nichts anderes von ihm erwartet. Anscheinend haben sie sogar zusammen gegessen, denn drei leere Pappkartons eines Lieferdienstes stehen auf dem Tisch und der Raum riecht noch nach gebratenen Nudeln. Ich komme mir direkt völlig Fehl am Platz vor. Nanami ist die Erste, die ihren Kopf hebt und mich erblickt. „Oh, hallo Mimi.“ Ich hebe die Hand zur Begrüßung. „Hey.“ Joe und Kaori blicken gleichzeitig zu mir auf und während Kaori mich freudig anlächelt, erstirbt Joes Lachen, als er mich sieht. Ein Schatten legt sich über seine Augen. Verdammt. Hätte ich gewusst, dass er auch hier ist, wäre ich gar nicht gekommen. „Hallo, Mimi“, begrüßt mich auch Kaori, Joe sagt nichts. „Tut mir leid, dass ich einfach reingekommen bin. Ich dachte, das wäre in Ordnung.“ „Das ist es auch, das sagte ich dir ja schon“, meint Kaori und steht auf, um in die offene Küche zu gehen. „Möchtest du etwas trinken?“ „Nein, Danke.“ Sie geht trotzdem weiter zum Kühlschrank und schenkt stattdessen sich selbst ein Glas Orangensaft ein, während ich einfach nur dumm da stehe und gar nicht so recht weiß, wohin mit mir. „Schaut ihr euch alte Fotos an?“, frage ich Nanami, was eigentlich völlig bescheuert ist, denn es ist ja ganz offensichtlich, dass sie das tun. Aber irgendetwas muss ich ja sagen. „Ja, Joe und Kaori wollten mir zeigen, wie sie so aufgewachsen sind.“ „Na, das war sicher lustig“, rutscht es mir heraus. Erst, als die Worte meinen Mund verlassen haben, merke ich, wie sarkastisch das geklungen haben muss. Dabei war es gar nicht so gemeint. Aber Joe fasst es offensichtlich als Provokation auf, denn er funkelt mich verächtlich an. „Sicher nicht so lustig wie deine Kindheit. So als Mädchen reicher Eltern hattest du sicher eine Menge Spaß und hast dir immer genommen, was du wolltest.“ Mir klappt der Mund auf. Spielt er damit auf Tai an? „Ich habe mir nichts einfach so genommen. Manchmal passieren Dinge einfach im Leben, komm damit klar.“ Ups. Auch das ist mir so rausgerutscht. Aber er hat doch mit der Stichelei angefangen. Nanami, die nun sichtlich verwirrt ist, weil sie gar nicht weiß, worum es hier eigentlich geht, sieht fragend abwechselnd von Joe zu mir. „Äh, na ja, wie gesagt, es waren schöne Fotos.“ „Könntet ihr bitte für eine Minute das Kriegsbeil begraben?“, seufzt Kaori, die diese feindselige Stimmung im Raum ebenfalls wahrgenommen hat. War ja auch nicht zu übersehen. Joe sieht sie an und zuckt dann mit den Schultern. „Klar, ich wollte sowieso gerade gehen.“ Er steht auf, doch plötzlich schrecken wir alle zusammen, weil jemand den Türcode eingibt und sich eine Sekunde später die Tür zur Wohnung öffnet. Ich sehe zu Kaori. Ihr Blick verrät mir, dass das nur Jim sein kann. Verdammt, der Kerl ist eine Stunde zu früh dran. Ich überlege nicht lange und verdünnisiere mich. „Nanami, geh in dein Zimmer“, sagt Kaori leise und auch sie steht auf, um zur Treppe zu gehen. Ich gehe in einen der angrenzenden Räume, das Badezimmer, und lasse die Tür einen Spalt breit offen. Gerade so weit, dass ich alles gut sehen kann, man mich aber nicht sofort entdeckt. Joe steht wie vom Donner gerührt da, als auch schon Jim hereinkommt. Seine Schritte sind tollpatschig und unkoordiniert. Ich sehe ihn wanken. Scheiße, ist er betrunken? „Na, wen haben wir denn da?“ Die Überraschung in seinem Blick, als er seinen kleinen Bruder erkennt, verflüchtigt sich schnell und weicht einem diabolischen Grinsen. Er lallt. Fuck, das ist doch echt ein Worst Case. Schlimmer hätte es nicht kommen können. Ich kann mir schon denken, dass er nicht sonderlich gut auf Joe zu sprechen ist und habe keine Ahnung, ob die beiden sich seit der Verhaftung ihres Vaters überhaupt schon gegenüberstanden. „Noch ein Familienverräter. Dich hätte ich hier nicht erwartet“, höhnt Jim und augenblicklich checkt sein verklärter Blick den Raum ab. Er sieht das Essen. Er sieht das Fotoalbum. Er sieht Joe und Kaori an. „Schwelgt ihr in Erinnerungen, oder was? Was läuft hier, hah?“ Er wankt auf Joe zu. „Hier läuft gar nichts.“ „Wieso kommst du betrunken hierher, Jim? Was soll das?“, fragt Kaori und tritt an Joes Seite. Ihr Ehemann sieht beide hasserfüllt an. „Ich dachte mir schon lange, dass ihr zwei was am Laufen habt.“ „Red keinen Unsinn.“ Joe klingt äußerst gefasst und bestimmt. Er will sich von seinem Bruder nicht einschüchtern lassen. Da packt Jim ihn auch schon am Kragen. „Du Verräter.“ „Lass das!“, ruft Joe und schubst ihn von sich. „Du bist total betrunken. Komm am besten ein andermal wieder.“ „Pah“, gurgelt Jim und aus seiner Kehle dringt ein höhnendes Lachen. „Als ob ich mich von dir aus meiner eigenen Wohnung schmeißen lasse.“ Er torkelt rüber zum Weinregal, was reichlich bestückt ist und greift nach einer Flasche Rotwein. „Jim, muss das sein?“, bittet Kaori ihn, doch er sieht sie nur verächtlich an. Er dreht den Verschluss der Weinflasche auf und setzt sie an seine Lippen. Joe und Kaori lässt er keine Sekunde aus den Augen, während er sich ein paar hastige Schlucke genehmigt. Dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Anzugs über den Mund. Ich verziehe das Gesicht. Gott, er sieht fix und fertig aus. Zerzauste Haare, zerknittertes Hemd, was ihm halb aus der Hose hängt, schmutzige Hosenbeine. Himmel, wo hat der sich rum getrieben? Er zeigt mit der Flasche in Richtung Joe und funkelt ihn wütend an. „Du bist das Allerletzte, kleiner Bruder“, lallt er. „Wie kannst du Vater nur so in den Rücken fallen und eine Aussage gegen ihn machen? Hast du völlig den Verstand verloren?“ Ich horche auf. Joe hat eine Aussage bei der Polizei gemacht? Gegen Haruiko? „Nein, ich sehe ganz klar“, erwidert Joe gelassen. Er steckt die Hände in die Hosentaschen. „Ich habe nur das Richtige getan.“ „Das Richtige“, lacht Jim plötzlich völlig hysterisch auf. Wie ein Verrückter. „Du Moralapostel. Spiel dich nicht so auf. Das Richtige … das ist doch lächerlich. Das Richtige wäre gewesen, dich nicht von deiner Familie abzuwenden und diese Schlampe loszuwerden, als du noch die Chance dazu hattest. Das Richtige wäre gewesen, zu deinem Vater zu halten. Alles, was du bist, hast du ihm zu verdanken. Und das Richtige wäre gewesen, nicht mit meiner Frau zu vögeln.“ Die letzten Worte schreit er heraus und ich sehe, wie Kaori zusammenzuckt. „Oh mein Gott“, entgegnet Joe jedoch nur ruhig. Er wirkt ein wenig genervt von diesem Schauspiel. „Hörst du dir eigentlich selbst zu? Das ist absolut beschämend, selbst für dich.“ Jims Kopf wird knallrot und seine Augen treten vor Wut hervor. Ich glaube, er platzt gleich. „Wieso? Wer weiß, ob das Kind überhaupt von mir ist. Wie lang geht das schon bei euch beiden?“ Anklagend zeigt er auf seine Frau und dann auf seinen Bruder. Ich halte die Luft an. Er ist komplett wahnsinnig. „Das ist Schwachsinn, Jim, und das weißt du“, sagt Kaori, aber ihre Stimme zittert. So klingt sie nicht sehr glaubhaft. Vermutlich ist sie den Tränen nahe. Ich weiß nicht, wie lange ich mir das noch angucken kann. Jim zischt verächtlich, wie eine Schlange, stellt die Flasche auf den Tisch und fängt an unruhig auf und ab zu gehen. Fahrig fährt er sich durch das strähnige Haar. Ein Knurren dringt aus seiner Kehle. „Willst du dich nicht lieber erst mal beruhigen?“, schlägt Kaori sanft vor und macht einige Schritte auf ihn zu. „Von mir aus leg dich hin, schlaf deinen Rausch aus und morgen früh reden wir in Ruhe über alles.“ Sie will ihn am Arm berühren, ihn irgendwie beruhigen, doch er schlägt sie zurück. „Fass mich nicht an!“ Sofort ist Joe zur Stelle, packt Kaori an den Schultern und schiebt sie zur Seite. „Was soll das?“, faucht Jim und stolpert einen Schritt nach vorn. Voller Wut hebt er die Faust und will Joe ins Gesicht schlagen, aber der weicht aus. Jims Faust schlägt in die Luft, er taumelt nach vorne. „Jim, jetzt lass doch endlich gut sein“, sagt Joe. Offenbar merkt er, dass das alles keinen Sinn macht. „Klar“, meint Jim daraufhin. Seine Stimme klingt zuckersüß. Er richtet sich auf und lächelt Joe an. „Lasst uns alle einfach eine große, glückliche Familie sein.“ Theatralisch breitet er die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. Aber sein Lächeln ist so falsch wie sein Charakter. Seine Augen blitzen auf. Er dreht sich weg, oder deutet es zumindest an, nur, um im nächsten Moment völlig unerwartet herumzuwirbeln und auszuholen. Ich japse, schlage mir die Hand vor den Mund, als Jim seinen Bruder mitten ins Gesicht trifft. Joes Brille fliegt in hohem Bogen durch die Luft und Kaori stößt einen lauten Schrei aus. Okay. Das reicht mir, mehr muss ich nicht sehen. Kaori ist sofort an Joes Seite und stützt ihn. „Jim, bist du verrückt?“, ruft sie völlig entgeistert, während ich aus dem Bad stürme. „Verschwinde“, rufe ich durch den Raum. Jims Kopf schnellt in meine Richtung und als er bemerkt, dass ich auch anwesend bin, verhärten sich seine Gesichtszüge. „Verschwinde von hier, auf der Stelle! Oder ich rufe die Polizei“, drohe ich ihm und halte mein Handy in die Höhe, um ihm zu zeigen, dass ich keine Scherze mache. „Dann kannst du deinem Vater im Knast Gesellschaft leisten.“ Jim verzieht die Lippen zu einem ekligen Grinsen, welches sein Gesicht wie eine unheimliche Fratze wirken lässt. Er setzt sich in Bewegung und kommt auf mich zu, aber ich weiche keinen Schritt zur Seite. „Jim, nicht.“ Kaori will ihn aufhalten, aber er schüttelt sie ab. Direkt vor mir bleibt er stehen. Seine Alkoholfahne schlägt mir ins Gesicht und ich muss fast würgen. Er sieht auf mich herab, so wie er es schon immer getan hat, die ganze Zeit über. Nur mit noch mehr Hass. Diesmal ist es Joe, der Jim von hinten packt und von mir weg zieht. Dieser stolpert rückwärts und landet beinahe auf dem Fußboden. „Lass sie einfach in Ruhe und geh endlich“, sagt Joe bedrohlich. Über seinem Auge ist eine kleine Platzwunde, aus der Blut quillt. Nicht viel, aber es reicht, um Kaoris Teppich zu ruinieren. „Das ist mein Ernst“, sagt er noch mal mit Nachdruck. „Oder ich verliere den letzten Funken Respekt, den ich vor dir als älteren Bruder noch habe.“ Kurz sieht Jim uns der Reihe nach an. Der blanke Hass spiegelt sich in seinem Gesicht wieder. Diesen Ausdruck kenne ich – von seinem Vater. Die beiden könnten sich ähnlicher nicht sein. Doch trotz, dass er so betrunken ist, scheint er noch einen Rest an Vernunft zu haben, denn er richtet sich auf und wankt in den Flur. „Fahrt zur Hölle. Ihr alle.“ Dann ist er weg und Kaori bricht weinend zusammen. Tai Ken hat mich aus dem Krankenhaus abgeholt und wir fahren zum Polizeirevier, für die Gegenüberstellung. „Wie gesagt“, sagt Ken, als wir reingehen. Ich versuche mich wieder an den Krücken, kann aber kaum mit ihm Schritt halten. „Wir haben drei Personen mit dem Namen Haruto Tsunoda ausfindig machen können. Sie müssen dich nicht direkt sehen und du musst nicht mit ihnen reden. Es reicht uns völlig, wenn du uns sagst, welcher von den Typen der Haruto ist, den wir suchen.“ Ich nicke verstehend, kann aber nichts darauf erwidern, weil ich damit beschäftigt bin zu keuchen. Das mit den Krücken ist anstrengender als es aussieht und meine Kondition ist nach der OP auch nicht mehr die Beste. Ken führt mich in einen Raum, der etwas abgedunkelt ist. Vor uns ist ein großes Fenster, durch das wir in einen weiteren, hell beleuchteten Raum blicken können. Kenne ich alles vom Filmset. Gleich führen sie die Verdächtigen rein, stellen sie in einer Reihe auf. „Bist du soweit? Und keine Sorge, sie sehen uns nicht“, erklärt Ken mir noch mal. „Kann losgehen.“ Gespannt warte ich auf die drei Männer, die gleich darauf den Raum betreten. Meine Augen suchen bereits fieberhaft nach dem Gesicht, was ich zuletzt gesehen habe, bevor ich in die Tiefe gestürzt bin. Sie kommen herein, einer nach dem anderen, stellen sich der Reihe nach auf und blicken in den Spiegel. Ich trete näher an die Scheibe heran, runzle die Stirn. Der erste Kerl ist klein und etwas dicklich, trägt eine Halbglatze und ist sicher bereits Mitte 50. Er hat absolut nichts mit dem Haruto gemeinsam, den ich kenne. Und ganz nebenbei sieht er auch nicht wie ein Stuntman aus. Der zweite trägt einen Vollbart, ist groß und muskulös und guckt grimmig. Von der Figur her wäre er als Stuntman auf jeden Fall durchgegangen, aber nein, er ist es auch nicht. Der Dritte ist der typische Japaner, ungefähr mein Alter, allerdings … „Ken?“ „Ja?“ „Bist du dir sicher, dass das alle mit dem Namen Haruto Tsunoda sind?“, frage ich. „Ja, alle, die wir finden konnten.“ Tatsächlich? Das sind alle? Wut kocht in mir hoch und am liebsten hätte ich gegen die Wand geschlagen. „Was ist, Tai? Welcher ist es?“ „Keiner von ihnen“, knurre ich und drehe mich um. „Bist du dir sicher?“, hakt Ken nach und blättert noch mal in einer Akte, die auf dem Schreibtisch liegt. „Das sind doch aber alle mit diesem Namen.“ „Das ist nicht sein Name.“ „Was?“ „Er hat einen falschen Namen benutzt, dieser Drecksack!“ Ich fluche so laut, dass ich denke, die Männer hinter der Scheibe müssen mich gehört haben. Aber sie stehen immer noch reglos da. Falsche Verdächtige und in keinem Fall ist einer von ihnen mein potenzieller Mörder. Verdammte Scheiße, Haruiko! Natürlich ist er mir auch diesmal einen Schritt voraus. Es wäre zu leicht gewesen … „Wir gehen noch mal alles durch“, sagt Ken und gibt seinen Kollegen ein Zeichen, dass sie die Verdächtigen abführen können. „Wir haben alle Unterlagen aus Dr. Haruikos Büro beschlagnahmt, inklusive aller Laptops. Irgendwo muss ein Hinweis darauf sein, wer dieser Haruto wirklich ist. Und vielleicht sollten wir versuchen ein Phantombild zu erstellen und zur Fahndung rauszugeben. Vielleicht finden wir ihn auch so.“ Ich nicke schwach, glaube aber selbst nicht wirklich an den Erfolg dieser Mission. Wie soll das gehen? Wie soll man die Stecknadel im Heuhaufen finden? Er könnte überall sein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)