Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 58: Kapitel 58 ---------------------- Mimi Ich stolpere eine große Treppe hinunter. Überall auf den weißen Marmorstufen hinterlasse ich Blutflecke. Es rinnt über meinen Arm und tropft lautlos zu Boden, während lediglich mein hektischer Atem die Stille durchbricht – und die Stimme hinter mir. „Weglaufen ist zwecklos“, sagt sie in diesem selbstgefälligen Ton, bei dem Übelkeit in mir aufsteigt. Trotzdem haste ich weiter die Treppenstufen hinab und renne zur Tür. Eine Hand presse ich auf die Wunde an meinem Arm, mit der anderen drücke ich die Türklinke runter, immer und immer wieder. Ich ziehe wie verrückt daran, doch nichts tut sich. Panik ergreift von mir Besitz. Wieso komme ich hier nicht raus? Ich lasse von der Tür ab und wirble herum, nur, um im nächsten Moment eine kalte, scharfe Klinge an meinem Hals zu spüren. Ich schreie auf … … und starre mit weit aufgerissenen Augen an eine weiße Wand, die von einem gedämmten Nachtlicht angestrahlt wird. Mein Puls geht viel zu schnell, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen – oder um mein Leben gerannt. „Hey Prinzessin, ich bin hier.“ Das ist Tais Stimme. Ich blicke zur Seite und sehe in seine warmen, braunen Augen. „Ich bin hier“, wiederholt er noch einmal ruhig und legt eine Hand an meine Wange. „Alles ist gut. Du hast nur geträumt. Du bist in Sicherheit.“ Meine Muskeln entspannen sich, meine Atmung wird flacher. Nur ein Traum? Aber als ich auf meine Arme hinab blicke und mit den Fingern über meinen Hals fahre und den Verband ertaste, wird mir klar, dass das nicht so ganz stimmt. Dieser Traum ist die Nachwirkung dessen, was ich heute erlebt habe. Es hat mich noch nicht losgelassen und ist definitiv nicht spurlos an mir vorbeigegangen – wie man an meinen verwundeten Armen erkennen kann. Ich sehe wieder Tai an. „Du bist geblieben“, stelle ich fest und frage mich, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, seit sie mich ins Krankenhaus gefahren haben. Es müssen mehrere Stunden sein, denn draußen ist es finstere Nacht. Aber Tai ist immer noch hier. Er sitzt an meinem Bett, hellwach und hält meine Hand. Seine Krücken sind an der Wand neben seinem Stuhl angelehnt. „Natürlich.“ Er streicht mir liebevoll eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr. „Meinst du, ich lasse dich alleine, nachdem, was passiert ist?“ Ich schüttle den Kopf, auch wenn das etwas schmerzt. „Aber du musst dir keine Sorgen mehr machen. Haruiko wurde doch wieder verhaftet, oder? Er kann mir nichts mehr antun.“ „Stimmt schon“, sagt Tai, doch sein Blick ist ernst. „Aber trotzdem. Haruiko hat zu viele Kontakte und es kann uns niemand garantieren, dass er nicht jemand anderen schickt, um seinen Anschlag auf dich zu Ende zu bringen. Außerdem läuft Jim hier auch noch irgendwo im Krankenhaus herum. Ich traue hier keinem Kido mehr über den Weg. Na ja, bis auf Joe vielleicht.“ Tai deutet mit den Augen auf meine verbundenen Arme und erst jetzt fällt mir auf, dass es gar nicht mehr weh tut, obwohl die Wunden so tief waren und furchtbar gebrannt haben. „Er hat deine Schnitte genäht und dir ein starkes Schmerzmittel verabreicht. Erinnerst du dich noch daran?“ Ich nicke zaghaft. So langsam kommt die Erinnerung zurück. Nachdem dieser ganze Horror vorbei war, haben mich die Sanitäter ins Krankenhaus gebracht. Joe hatte gerade Dienst in der Notaufnahme und durfte seine Künste als Chirurg unter Beweis stellen. Er wollte mich für eine Nacht hierbehalten, nur, um sicherzustellen, dass mit mir auch wirklich alles in Ordnung ist. Ich werde seinen Blick nicht vergessen, als er erfahren hat, was geschehen ist. Wer würde schon gern hören wollen, dass sein Vater so ein Monster ist? Auf jeden Fall hat er gar nicht weiter mit uns gesprochen, sondern einfach meine Wunden versorgt und weg war er. Das musste er wohl alles erst mal verarbeiten. „Es ist lieb, dass du geblieben bist. Auch wenn du es nicht hättest tun müssen. Ich bin schon ein großes Mädchen.“ Ein Lächeln umspielt Tais Lippen. Sofort wird mir warm ums Herz. „Ich weiß. Trotzdem. Du bist eben mein Mädchen und ich habe mir Sorgen gemacht. Ehrlich gesagt kann ich nun ansatzweise nachempfinden, wie du dich in den letzten Wochen gefühlt haben musst, als du jeden Tag um mein Leben bangen musstest.“ Diese Erinnerung versetzt mir einen Stich, aber ich versuche sie schnell wieder abzuschütteln. Vor allem, weil Tai gerade aussieht, als hätte man ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Sein Lächeln ist verblasst und einer tief traurigen Miene gewichen. „Hey“, sage ich und versuche aufmunternd zu klingen. „Es geht mir gut. Hör bitte auf, dir Sorgen zu machen.“ Zaghaft kehrt das Lächeln auf seine Lippen zurück und er sieht mich an, während er meine Hand hält. „Wenn du das sagst, Prinzessin.“ „Was ist mit Haruiko passiert?“, wechsle ich schnell das Thema, um seine schlechten Gedanken zu vertreiben. Außerdem hatten wir noch keine Gelegenheit, uns über ihn zu unterhalten. „Was wohl?“, zischt Tai verächtlich. „Er ist wieder dort, wo er hingehört und ein weiterer Anklagepunkt ist hinzugekommen. Diesmal wird er das Gefängnis nicht mehr auf Kaution verlassen. Bei versuchtem Mord verstehen die keinen Spaß. Ken will, dass du so schnell wie möglich eine Aussage machst, sobald du fit genug dafür bist. Vorausgesetzt du erinnerst dich noch an alles.“ Soll das ein Scherz sein? Natürlich erinnere ich mich noch. An jedes grauenvolle Detail. An seine Worte, an sein verheißungsvolles Grinsen. An den Ausdruck in seinem Gesicht, als er entschlossen war, mich zu töten. Oh ja, ich erinnere mich noch lebhaft daran, so lebhaft, dass meine Hände zu zittern beginnen. Tai bemerkt dies natürlich sofort und drückt sie ganz fest, damit sie sich beruhigen. Ich entspanne mich wieder. „Möchtest du mir erzählen, was genau geschehen ist?“ Ich nicke und sehe ihn schuldbewusst an. „Ja, aber bitte sei nicht sauer. Ich weiß, du hast gesagt, ich soll nie wieder einen Fuß in diese Villa setzen und ich habe es doch gemacht.“ „Seit wann hörst du auch auf das, was ich dir sage? Das wundert mich gar nicht.“ Ich schmunzle peinlich berührt, wohingegen Tai schon ein kleines bisschen sauer aussieht – was ich ihm nicht verübeln kann. „Trotzdem tut es mir leid. Das war dumm von mir. Aber ich wusste ja nicht, dass er auch da sein würde. Ich wollte nur schnell alle meine Sachen holen und dann wieder verschwinden. Und plötzlich stand er da, direkt vor mir. Er hat mich sofort bedroht und erst dachte ich, wenn ich ihm zeige, dass ich keine Angst vor ihm habe, dann lässt er mich in Ruhe.“ Meine Stimme beginnt zu brechen, während Tai mich mitfühlend betrachtet. „Ich wusste, ich kann mich nicht wehren, also wollte ich ihm ausweichen, als er mich zurückgedrängt und dann ein Messer gezogen hat.“ „Dieser feige Bastard“, presst Tai hervor. „Er hat mir keine Chance gelassen. Ich bin weggelaufen, aber alle Fenster und Türen waren verriegelt. Es gab kein Entkommen. Wäre Frau Kido nicht gewesen …“ „Ich habe mitbekommen, dass sie dich gerettet hat.“ „Das hat sie“, sage ich und wundere mich selbst darüber. „Ich denke, sie weiß immer noch, was richtig und falsch ist. Hätte sie ihm nicht eins übergezogen, wäre ich jetzt tot.“ Tai nickt, während er mit den Fingern sanft über meinen Handrücken streicht. „Ich denke, dieser Feigling hat gedacht, er hat nun nichts mehr zu verlieren, deshalb wollte er dich ein für alle mal zum Schweigen bringen. Sein Hass und seine Wut haben ihn blind gemacht.“ Ganz sicher ist es so wie Tai sagt. Haruiko ist von Hass zerfressen. Wir haben all seine Gräueltaten ans Licht gebracht. Bis ich aufgetaucht bin, dachte er, er würde sein Leben lang damit davonkommen. „Ich bin trotzdem froh, dass alles so gekommen ist“, sage ich schließlich und spüre eine tiefe, innere Befreiung in mir. Wie ein seidenes Tuch, dass sich langsam aber sicher auf alles legt, was geschehen ist. Als wäre nun endlich alles gut. „Ich bin froh, dass wir Nanami gerettet haben. Das war’s wert, das alles, meine ich. Sie hat ein normales Leben verdient. Und auch alle anderen können endlich ihren Frieden damit machen.“ Ich muss an Kaori und Misaki denken, sogar an Joe und Kaito. Jeder hat etwas verloren und doch etwas viel wertvolleres gewonnen. Alle, bis auf einer – und der kann von mir aus in der Hölle schmoren. „Ja, du hast recht“, pflichtet Tai mir lächelnd bei. „Und ich bin froh, dass wir nun endlich zusammensein können. Selbst, wenn wir meinen potentiellen Mörder niemals finden sollten, so kann ich doch meinen Frieden mit all dem machen. Haruiko hat sich sein eigenes Grab geschaufelt und wird seine gerechte Strafe bekommen. Das Wichtigste ist, dass du bei mir bist. Das ist alles, was zählt.“ Er beugt sich nach vorn und küsst mich, erst auf den Mund und dann auf die Stirn. Sofort breitet sich ein wohliges, warmes Gefühl in mir aus. Es flutet meinen ganzen Körper und fühlt sich wie flüssiges Glück an, das mir bis in die Fingerspitzen fließt und dort ein angenehmes, aber auch aufgeregtes Kribbeln hinterlässt. Ich freue mich auf das Leben mit Tai. Von nun an – gemeinsam! Am nächsten Morgen, als ich aufwache, ist Tai immer noch da. Wer hätte das gedacht? Er hat tatsächlich im Sitzen geschlafen und über mich gewacht. Es ist seltsam, aufzuwachen, und zu wissen, dass alles vorbei ist. Dass wir es überstanden haben und immer noch hier sind. Tai weicht nicht von meiner Seite. Auch nicht, als die Schwester kommt, um die Verbände zu wechseln. Ich möchte am liebsten nicht hinschauen, denn Haruiko hat mich schwer verletzt. Die Stellen, die er getroffen hat, wurden zwar genäht, aber es werden vermutlich Narben bleiben. Lediglich die Wunde am Hals ist nicht sonderlich tief, sodass sie vermutlich einfach verblassen wird, sobald sie verheilt ist. Trotzdem bin ich nicht traurig deswegen, denn ich weiß, es hätte alles viel schlimmer ausgehen können. Nach dem Frühstück kommen Kari, Takeru und Yuuko vorbei und bringen mir Blumen. Inzwischen ist es kein Geheimnis mehr, dass Tai und ich zusammen sind, daher kann Yuuko es sich nicht verkneifen, ständig schmunzelnd zwischen ihrem Sohn und mir hin und herzusehen. Ich glaube, sie freut sich für uns. Am Ende ihres Besuches lädt sie uns noch zum Essen ein, sobald Tai und ich bereit dafür sind. Sie möchte mich näher kennenlernen und auch ich bin super gespannt darauf, zu erfahren, wie seine Eltern so privat sind. Wo er wohl aufgewachsen ist? Ob viele Fotos von ihm als kleines Kind an den Wänden hängen? Wie sieht wohl sein altes Zimmer aus? Kari und Takeru wollen auch kommen und während Tais Schwester noch von ihren Hochzeitsplänen erzählt, sitze ich einfach nur da, höre zu und lächle beseelt vor mich hin. Es ist unfassbar, wie normal sich so etwas anfühlen kann. Seit ich in Japan gelandet bin, war rein gar nichts normal. Es war eine andere Welt, in der ich mich zurechtfinden musste. Eine Welt, in die ich nicht reinpasste. Aber in diese hier passe ich. Und zwar so perfekt, dass es schon fast erschreckend ist. „Alles in Ordnung?“ Tai greift nach meiner Hand und sieht mich fragend an, doch ich nicke nur glücklich. „Ja, alles bestens.“ Und das ist es. Das ist es wirklich. Ich habe mich lange nicht mehr so wohl gefühlt. Ich bin endlich angekommen. Als Kari, Takeru und Yuuko sich verabschiedet haben, bekomme ich meinen Entlassungsbrief, mit der Bitte, täglich im Krankenhaus zum Verbandswechsel zu erscheinen. Tai hilft mir, mich anzuziehen und gleich wollen wir noch aufs Polizeirevier fahren, um meine Aussage aufzunehmen. „Musst du nicht eigentlich zur Reha?“, frage ich Tai, während er mir dabei hilft, in die Ärmel meiner Jacke zu kommen, ohne, dass es all zu sehr weh tut. „Ja, schon. Aber ich pausiere. Nur heute. Nur, bis ich dich sicher bei mir zu Hause abgesetzt habe. Morgen geht’s dann weiter.“ „Sehr gut“, sage ich. „Vielleicht können wir ja noch zusammen essen, wenn du schon mal da bist.“ Tai schmunzelt verwegen. „Klingt verlockend. Wir haben lange nicht mehr zu zweit gegessen.“ Gerade, als wir fertig sind und aufbrechen wollen, öffnet sich die Tür zu meinem Zimmer und Joe betritt den Raum. Tai und ich bleiben stehen und schauen ihn entgeistert an. Mit ihm habe ich jetzt nicht gerechnet. Er trägt nicht mal seinen Arztkittel wie sonst, sondern Alltagskleidung, was mir verrät, dass er gerade nicht im Dienst sein muss. „Hallo“, sage ich und will ihn schon fragen, ob er sich in der Tür geirrt hat, aber nein. Er macht sie hinter sich zu. Er sieht uns nicht direkt an und räuspert sich, während er einige Schritte auf uns zu macht. „Hallo, ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht, Mimi.“ Ich blinzle mehrmals verwirrt. „Äh … gut, danke.“ „Schön.“ Ich schiele zu Tai, der nur die Achseln zuckt. „Ich äh …“, redet Joe weiter und vergräbt die Hände in den Hosentaschen. „Ich war eben bei der Polizei. Sie sagten mir, dass der Prozess meines Vaters, auf Grund der Schwere der Tat, nun vorverlegt wurde. Er findet bereits in zwei Wochen statt. Offenbar hatte Kaito da seine Finger im Spiel. Er kann es anscheinend gar nicht abwarten, meinen Vater hinter schwedischen Gardinen zu wissen.“ Ich nicke leicht. Ja, so wie wir alle. Dieser Mensch hat allen nur Unglück gebracht. Joe räuspert sich wieder und sieht mich nun direkt an. „Ich möchte mich gerne bei dir entschuldigen, Mimi. Für alles, was dir meine Familie, besonders mein Vater, angetan hat.“ Beinahe klappt mir der Mund auf. Sprachlos starre ich ihn an. „Ich denke, das ist längst überfällig. Und auch ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich weiß, ich habe dich nicht immer richtig behandelt. Das tut mir leid“, sagt Joe und ich kann ihm ansehen, wie schwer ihm dieses Geständnis fällt. Ich schlucke schwer, während er sich unbeholfen am Hinterkopf kratzt. Wahrscheinlich hat es ihn ordentlich Überwindung gekostet, überhaupt hierher zu kommen. „Ist schon gut“, sage ich. Joe sieht verwundert zu mir auf. Seine Stirn ist gerunzelt. „Wirklich?“ „Ja, ich … ähm …“ Ich sehe zu Tai, der mir einen kurzen Blick zuwirft. „Ich meine, wir … wir wollten uns auch noch mal bei dir entschuldigen. Ganz offiziell. Vielleicht war es falsch, dich nicht von Anfang an in alles einzuweihen, was wir wussten. Wir waren uns eben nicht sicher, ob du uns glauben würdest. Allerdings …“ Und nun bin ich diejenige, die verlegen zu Boden sieht. „Allerdings tut es uns wirklich leid, dass wir dich hintergangen haben. Es war nie Teil des Plans, dich zu verletzen. Wir wollten lediglich zusammen sein und wäre Haruiko nicht gewesen, …“ Joe hebt eine Hand und bringt mich somit zum Schweigen. Er schüttelt langsam den Kopf, als wäre es nicht nötig, dass ich die ganze Geschichte noch mal im Detail erzähle. „Ist in Ordnung, Mimi. Du musst dich nicht mehr vor mir rechtfertigen. Heute geht eine Pressemitteilung raus, dass unsere Verlobung offiziell und einvernehmlich gelöst ist. Ich denke, die Medien werden dann nach und nach das Interesse an dir verlieren und dann könnt ihr beide ganz ungestört zusammen sein. Mehr kann ich nicht dazu sagen. Es tut mir wirklich leid, was meine Familie dir angetan hat. Ich hoffe, du kannst uns vergeben.“ Joe schließt gequält die Augen und verbeugt sich ganz höflich. Doch eine Sache frage ich mich: warum redet er immer von „uns“? Er richtet sich auf und dreht sich zum Gehen um, aber ich muss ihm noch etwas sagen. Etwas sehr wichtiges. „Joe?“ „Ja?“ „Warum entschuldigst du dich im Namen deiner Familie bei mir? Ich dachte, du möchtest kein Kido mehr sein?“ Ein kurzes Grinsen huscht über seine Lippen und etwas blitzt in seinen Augen auf. Etwas Neues, das vorher noch nicht da war. „Richtig. Ich kann zwar meinen Namen nicht einfach so abschütteln, aber ich werde mich öffentlich von meiner Familie distanzieren. Ich …“ Er wirft einen Blick zur Tür, als könnte er durch sie hindurchsehen. Als würde hinter dieser Tür etwas Großes auf ihn warten. Eine neue Zukunft. „Ich habe jetzt eigene Pläne. Ich brauche den Namen Kido nicht, um meinen Weg zu gehen.“ Mein Mund verzieht sich zu einem zufriedenen Lächeln und ich nicke. „Gut so. Denn ich wollte dir nur sagen, dass ich deinem Vater niemals vergeben werde. Was er getan hat, ist einfach unverzeihlich, egal, wie oft du dich dafür entschuldigst. Aber dir vergebe ich immer, Joe. Habe ich schon längst und ich würde es immer wieder tun. Es war nicht alles schlecht und du bist ein guter Mensch. Ich könnte dir niemals böse sein.“ Ich werfe einen Blick zu Tai. Joe hat Tais Leben gerettet und das nicht nur ein Mal. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein, ganz egal, was zwischen uns vorgefallen ist. Ich hege keinen Groll gegen Joe. Das habe ich nie. „Ich weiß, dass du deinen Weg finden wirst. Du bist stärker als du denkst“, sage ich und mein Lächeln wird noch breiter, als er mich erst überrascht und dann erleichtert anschaut. „Ich danke dir, Mimi.“ Seine Augen wandern kurz zu Tai, dann wieder zu mir. „Ich wünsche euch alles Gute.“ Dann verlässt er das Zimmer und lässt nicht nur alles, was geschehen ist, hinter sich, sondern auch die Scherben einer langjährigen Freundschaft, von der keiner weiß, ob sie je wieder heilen wird. „Ich bin ein bisschen stolz auf ihn“, gibt Tai plötzlich von sich. Ich schaue zu ihm auf, wie er da steht und mit einem zufrieden Lächeln auf den Lippen und feuchten Augen zur Tür sieht. „Tai, heulst du?“ „Quatsch.“ Er schnappt sich seine Krücken und humpelt los. „Lass uns endlich abhauen. Ich will dieses Krankenhaus nie wieder von innen sehen.“ Die Aussage bei der Polizei fiel mir nicht leicht. Ich musste alles noch mal im Detail schildern, den ganzen Tathergang, alles, was Haruiko gemacht oder gesagt hat. Dabei habe ich auch gleich angegeben, dass er mich schon mal gewürgt und bedroht hat. Damals hat die Polizei in New York meine Aussage aufgenommen und Ken wird sich diesbezüglich mit ihnen in Verbindung setzen. Allerdings bat ich ihn inständig, nichts davon an die Medien durchsickern zu lassen. Ich möchte mit Haruikos Verhaftung nicht in Verbindung gebracht werden. Ken hat mir versprochen, dass das nicht passieren wird. Das alles ist jetzt drei Tage her und ich bin gleich mit Kaori in einem Café verabredet. Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit Jim so durchgedreht ist. Ich hoffe, es geht ihr gut. Ich bin gerade auf dem Weg zu unserem Treffpunkt, als mein Handy klingelt. Ich krame es aus meiner Tasche und sehe sofort, dass es Sally ist. „Hey Sally“, sage ich freudestrahlend ins Telefon, werde jedoch nur angeschnauzt. „Na, du hast ja gute Laune. Bist du eigentlich völlig irre gewesen, direkt nachdem ich abgereist bin, in die Villa der Kidos zurückzugehen? Hast du dein Hirn rausgenommen und in irgendeiner zwielichtigen Gasse in die Tonne geworfen? Denn anders kann ich mir dein Verhalten nicht erklären.“ Ich kneife die Augen zusammen. Autsch. Man, sie ist echt richtig sauer. „Davis hat dir wohl alles erzählt“, schlussfolgere ich kleinlaut. „Natürlich hat er es mir erzählt. Du hast mich nicht mal angerufen und Tai auch nicht. Mit ihm muss ich noch ein Hühnchen rupfen. Er passt überhaupt nicht auf dich auf. Ich habe das Gefühl, dass du ohne mich in Tokyo einfach nicht klarkommst. Kaum bin ich weg, lässt du dich fast von diesem Psychopathen umbringen. Du machst wirklich nur Dummheiten, Mimi.“ Jetzt muss ich aber schmunzeln, weil es fast schon ein bisschen süß ist, wie sie sich aufregt. „Du musst dir keine Sorgen machen, ich komme klar.“ „Na, das sieht man.“ „Wenn du denkst, ich brauche dich hier ganz dringend, musst du wohl doch wieder herkommen“, necke ich Sally und höre sie am anderen Ende der Leitung mit der Zunge schnalzen. „Sei froh, dass ich nicht da bin, sonst hätte ich dir für diese Aktion den Hintern versohlt.“ Ich muss lachen. „Aber ich freue mich, dass es dir gut geht.“ Nun klingt ihre Stimme wieder etwas sanfter. Sie hat sich wohl abreagiert. „Ich freue mich, dass du noch lebst.“ „Ich mich auch“, sage ich und biege dabei in die nächste Straße ein. Da hinten sehe ich bereits das Café, in dem Kaori wahrscheinlich schon auf mich wartet. „Wie fühlst du dich denn in New York? Vermisst du Davis?“ Kurz herrscht betretenes Schweigen am Telefon. Dann sagt sie: „Und wenn es so wäre?“ „Hmm“, mache ich nachdenklich. „Dann würde es die Sache deutlich komplizierter machen.“ Sally seufzt schwerfällig. „Was du nicht sagst. Er rief mich vorhin an und nachdem er mir von deinem Beinahe-Tod erzählt hat, hatte er die glorreiche Idee, dass wir uns erst mal nicht wiedersehen sollten.“ „Halt mal, das verstehe ich jetzt nicht. Vermisst er dich denn gar nicht?“ Irgendwie hätte ich gedacht, dass sie einander mehr bedeutet hätten. Habe ich mich so getäuscht? „Doch, schon“, sagt Sally und klingt etwas unschlüssig. „Aber er meinte, dass wir uns ja auch gerade erst voneinander verabschiedet hätten. Klar kreisen unsere Gedanken noch um den jeweils anderen. Aber er sagte, bevor wir jetzt etwas riskieren und am Ende nur enttäuscht sind, sollten wir lieber abwarten.“ „Aha, und worauf?“ „Ob wir uns in ein paar Monaten immer noch vermissen.“ Ich runzle die Stirn. „Okay, ergibt das Sinn?“ „Irgendwie schon. Auf eine komische Art und Weise. Man traut es ihm nicht unbedingt zu, aber Davis ist sehr vernünftig. Und er ist realistisch. Er sagt, wenn wir es schaffen, in den nächsten 6 Monaten den Kontakt zu halten … also, wenn wir uns dann immer noch vermissen … dass wir dann wohl zusammengehören. So oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt.“ „Wow“, sage ich gedehnt. „Klingt ja tiefgründig. Aber schon irgendwie vernünftig. Was hältst du von der Idee?“ Ich kenne meine beste Freundin. Sie gehört nicht zu den Frauen, die auf einen Typen warten. Entweder man erobert sie im Sturm oder man hat verkackt. Daher wundert es mich umso mehr, als Sally gar nichts antwortet. „Sally?“ „Ich weiß es nicht.“ Sie klingt wirklich unsicher. Okay. Das ist neu. „Oh Sally“, lache ich. „Der Mann hat’s dir aber angetan.“ „Argh! Schrecklich, oder?“, beschwert sich Sally sofort, als könnte irgendjemand etwas dafür. Wobei … Ich habe die beiden ja einander vorgestellt. Na super, jetzt bin ich auch noch daran schuld, wenn meine Freundin Liebeskummer hat. „Ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll. Aber es klingt sehr unverbindlich. Eigentlich sollte ich mich nicht darüber beschweren, aber irgendwie …“ Ich nicke, als ich vor dem Café angekommen bin. „Ich verstehe dich. Hör einfach auf dein Herz, es wird dir sagen, was das Richtige ist.“ Ich höre Sally schmunzeln. „Ja, vermutlich.“ „Ich muss jetzt leider auflegen, Sally. Ich treffe mich noch mit Kaori.“ „Oh, ist gut, dann richte ihr liebe Grüße aus.“ Wir verabschieden uns und ich betrete das Café, in dem Kaori bereits an einem der Tische auf mich wartet. „Hallo, Kaori“, begrüße ich sie und setze mich ihr gegenüber. Ich staune nicht schlecht, dass direkt vor Kaori ein riesen großer Schokoladeneisbecher steht. „Oh, hallo Mimi“, sagt sie und leckt sich Schlagsahne vom Mund. Ich grinse. „Du lässt es dir ja gutgehen.“ Kaori erwidert mein Grinsen. „Ich hatte so einen Heißhunger auf Schokolade. Hach, schlimm, diese Gelüste.“ Ich kichere, weil ich es immer noch herrlich erfrischend finde, sie so normal und losgelöst zu erleben. Es ist immer noch etwas ungewohnt, aber es steht ihr. Diese Schwangerschaft tut ihr gut. „Schon gut“, sage ich und hebe abwehrend die Hände. „Wegen mir musst du dich nicht zurückhalten.“ Von mir aus kann sie zehn Eisbecher verdrücken. Für jeden Tag, an dem die Kidos sie unterdrückt und über ihr Leben bestimmt haben eine Kugel Eis – ist doch das Mindeste. „Ich soll dich von Sally grüßen. Wir haben eben telefoniert.“ „Danke, das ist lieb.“ „Sie hat sich tierisch darüber aufgeregt, was passiert ist.“ „Oh man, Mimi.“ Plötzlich huscht ein mitleidiger Ausdruck über ihr Gesicht und sie mustert meine Arme, die immer noch verbunden sind. Ich habe zwar extra ein Shirt angezogen, aber unter den kurzen Ärmeln, sieht man es trotzdem etwas heraus. „Es tut mir so leid, was dir passiert ist. Joe hat mir davon erzählt. Er war echt fertig deswegen. Zum Glück ist es nicht in die Medien gelangt, sonst wärst du jetzt Schweinefutter.“ Ich nicke zaghaft. Ich kann mir gut vorstellen, wie schockierend es für alle gewesen sein muss. Außer Tai und mir hat es Haruiko wohl niemand zugetraut, so weit zu gehen. „Hast du was von Frau Kido gehört?“, erkundige ich mich. „Ja, es geht ihr soweit gut und sie musste ebenfalls eine Aussage bei der Polizei machen. Aber …“ Kaori verzieht das Gesicht und rollt mit den Augen. „Sie will sich nicht von ihrem Mann trennen. Egal, was passiert ist. Ich habe keine Ahnung, was in ihr vorgeht, aber sie steckt wohl zu tief in diesem kranken Familienkonstrukt drin. Außerdem würde sie sonst, wie meine Mutter, vor dem Nichts stehen. Sie haben sich beide Jahrzehnte lang von ihren Männern abhängig gemacht und nie gelernt, ein eigenes Leben zu führen. Frau Kido weiß gar nicht, wie das geht.“ Ich senke den Blick. Ja, vermutlich hat Kaori recht. Trotzdem ist es schade und tut mir für Frau Kido leid. Joe hätte ihr sicher geholfen und unter die Arme gegriffen. „Warum wolltest du dich mit mir treffen?“, frage ich und sie schiebt mir zwei Umschläge über den Tisch. „Joe bat mich, dir das zu geben. Willst du auch ein Eis?“ Die Kellnerin ist zu uns an den Tisch getreten, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich schüttle den Kopf. „Nein, ich nehme nur einen Kaffee, danke.“ Dann nehme ich die Umschläge an mich. „Was ist das?“ „Mach es doch auf“, meint Kaori grinsend und verliert plötzlich ganz und gar das Interesse an ihrem Eis. Auf einem Umschlag steht „Tai“. Auf dem anderen steht mein Name. Ich mache den Umschlag auf und greife hinein. „Was …“ Ich ziehe ein kleines, dickes Buch heraus. Überrascht blinzle ich. Der Einband ist weiß, mit goldenem Glitzer darauf. Ich schlage es in der Mitte auf. Die Seiten sind leer, nur ganz vorne steht mit Hand geschrieben: Tut mir leid, dass ich dein Tagebuch verbrannt habe. Ich hoffe, du kannst hier neue, schönere Erinnerungen festhalten. Joe. Ich sehe zu Kaori auf. Sie grinst mich an. „Nett von ihm, oder?“, sagt sie. „Und es war ganz allein seine Idee. Wir waren neulich bummeln und als er es gesehen hat, hat er es einfach gekauft.“ Ich bin völlig perplex. Damit habe ich absolut nicht gerechnet. Erst die Entschuldigung und jetzt das? Macht Joe gerade einen Sinneswandel durch? „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, antworte ich ehrlich, doch Kaori schüttelt nur lächelnd den Kopf und widmet sich wieder ihrem Eis, das schon langsam schmilzt. „Ist schon gut. Er brauchte es wohl einfach für sein Gewissen. Den anderen Umschlag gibst du besser Tai.“ Allerdings. Ich weiß gar nicht, was ich von dieser netten Geste halten soll, denn ehrlich gesagt bin ich immer noch ziemlich sauer darüber, dass Joe einfach so mein Tagebuch verbrannt hat. Aber immerhin versucht er, es wieder gutzumachen. Ich bin natürlich super neugierig, was in Tais Umschlag steckt, packe ihn jedoch ganz brav in meine Tasche. „Wie geht es denn Joe so?“, erkundige ich mich, weil es mich wirklich interessiert. Kaori zuckt mit den Schultern. „Er hat im Krankenhaus gekündigt.“ Beinahe wäre ich vom Stuhl gekippt. „Er hat, WAS?“ „Ja“, nickt sie nur, als wäre es keine große Sache. „Er nimmt sich ein Jahr Auszeit. Bis er weiß, was er wirklich machen will. Er überlegt, eine eigene Praxis zu eröffnen, aber ist sich noch nicht sicher.“ Man, okay. Das hätte ich irgendwie nicht erwartet. „Na schön, und wie geht es dir?“ „Ganz gut, denke ich“, sagt sie und wirkt irgendwie ziemlich geläutert. Als wäre sie mit sich selbst ins Reine gekommen. „Es ist erleichternd, wenn man endlich einsieht, woran man ist und was man zu erwarten hat. Jim’s Auftritt neulich …“ Sie verzieht das Gesicht, als würden die Erinnerungen an diesen Abend noch immer zu sehr schmerzen. „ … hat mir klar gemacht, dass es so nicht weitergehen kann – mit dieser Ehe, mit diesem Leben. Ich will nicht, dass mein Kind in so eine kaputte Familie hineingeboren wird. Jim wird sich nicht ändern. Nicht für mich. Und auch nicht für unsere Tochter. Daher habe ich entschieden … also, ich denke, es ist das Beste, wenn wir uns scheiden lassen.“ Nun klappt mir der Mund auf. Schon wieder weiß ich nicht, was ich sagen soll. Aber ich weiß, dass eine Scheidung so etwas wie eine Todsünde in der Familie Kido darstellt. „Ja, so hat Joe auch geguckt, als ich es ihm erzählt habe“, lächelt sie immer noch zufrieden und ich wundere mich, woher sie diese Gelassenheit nimmt. Vor ein paar Monaten hätte sie so etwas niemals gesagt. Sie hätte sich nicht mal getraut, an das Wort ‚Scheidung‘ überhaupt zu denken! „Ich, ähm … Ich bin stolz auf dich, Kaori. Nein, wirklich. Es kommt nur so unerwartet.“ „Ja, ich weiß“, sagt sie und wirft einen Blick auf ihre Hand. Erst jetzt fällt es mir auf. Sie hat ihren Ehering abgelegt. Ein eindeutiges Zeichen. „Ich hätte auch nie gedacht, dass es möglich ist. Dass ich auf eigenen Beinen stehe. Dass ich mich nicht mehr von dieser Familie abhängig mache. Aber ich habe erkannt, dass ich stärker bin als das alles und Nanami hat mir gezeigt, was ich wirklich will.“ „Und das wäre?“ „Ich will sie“, antwortet Kaori entschlossen. „Ich will sie als meine Schwester und ich will meine Mutter. Ich will, dass wir wieder eine Familie werden. Und ich will, dass mein Kind frei und selbstbestimmt aufwachsen kann. Und ich will …“ Sie unterbricht sich in ihrer Euphorie und lehnt sich zurück. „Ich will einen Mann, der mich verdient hat. Nicht einen, der mich nur besitzen will, weil er es kann.“ Ich nicke, wenn auch ein wenig sprachlos. Es ist unfassbar, welchen Wandel diese Frau in den letzten Wochen vollzogen hat. Sie ist überhaupt nicht wieder zu erkennen. Ich lächle sie aufmunternd an. „Das klingt alles wunderbar. Du wirst das Richtige tun, Kaori. Weiß Jim schon, was du vorhast?“ Sie schüttelt den Kopf und sieht nun doch ein wenig befangen aus. „Nein, aber ich habe mit meinem Vater gesprochen. Er wird ein Schreiben aufsetzen. Momentan möchte ich nicht mit Jim persönlich reden.“ Ich nicke und schlürfe meinen Kaffee. Ich verstehe das sehr gut. Wir reden noch eine ganze Weile über Nanami und Misaki und dass die beiden sich nun auch langsam annähern. Das braucht natürlich alles Zeit, aber Nanami scheint sich in diesem neuen Leben sehr wohl zu fühlen. Sie geht jeden Tag auf eine öffentliche Schule und so, wie ich es mitbekommen habe, hat sie sogar schon ein paar Freunde gefunden. Nur Ayaka vermisst sie sehr. Sie sitzt, wie Haruiko, bis zum Prozess in Untersuchungshaft, allerdings möchte Kaito dafür sorgen, dass sie in den nächsten Tagen auf Kaution freigelassen wird. Schließlich geht von ihr keine Gefahr aus und da sie alles gestanden und die ganze Geschichte offengelegt hat, besteht auch kein Grund zur Annahme eines Fluchtversuchs. Mich freut das alles wirklich sehr und als wir uns verabschieden, weitet sich mein Herz bei dem Gedanken daran, dass nun auch Kaori in eine komplett neue Zukunft aufbricht. Unfassbar, was Tai und ich alles erreicht haben, dabei wollten wir nur zusammen sein. Jetzt scheint es so, als hätten einfach alle davon profitiert. Ich mache mich auf den Weg zum Park, wo Tai bereits auf mich wartet. Der Park befindet sich ganz in der Nähe seiner Reha-Klinik und wir treffen uns abends oft dort, um noch eine Runde spazieren zu gehen. Tai gibt sich wirklich Mühe mit seinem Reha-Programm, er ist eben sehr ehrgeizig und inzwischen ist er auch mit den Krücken etwas schneller. Den Rollstuhl braucht er gar nicht mehr, worüber er sehr froh ist. Und ich auch. Er kommt mir entgegen und strahlt übers ganze Gesicht, als er mich erblickt. „Hey, Prinzessin“, begrüßt er mich. Ich bleibe vor ihm stehen, gehe auf die Zehenspitzen und gebe ihm einen Kuss. „Hey“, sage ich. „Wie war dein Tag?“ „Wie immer. Viel Training, viele Therapeuten. Wollen wir ein Stück gehen?“ Wir schlendern durch den Park und die Dunkelheit bricht langsam über uns herein. Während die Straßenlaternen bereits angehen und uns den Weg leuchten, erzähle ich ihm von Sally und Davis. Und auch davon, dass ich mich mit Kaori getroffen habe. Das wusste er schon, aber was er noch nicht wusste, war … „Kneif mich mal.“ „Wieso?“ „Machst du Scherze?“ Tai sieht mich fassungslos an. „Sie will sich scheiden lassen? Von Jim?“ Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, das macht sie niemals, das glaube ich nicht.“ Ich zucke mit den Schultern. „Doch, sie klang sehr entschlossen. Sie hat sich wirklich sehr verändert. Aber das haben wir wohl alle.“ Tai nickt zwar, zieht aber dennoch zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe. „Da könntest du recht haben. Wir warten es mal ab.“ „Ich habe dir was mitgebracht“, sage ich und ziehe den Umschlag, den Kaori mir gegeben hat, aus meiner Tasche. „Der ist von Joe. Keine Ahnung, was drin ist.“ Ich sehe, wie Tai die Stirn runzelt und auf den Umschlag starrt, als wüsste er nicht so ganz, was er davon zu halten hat. Er schaut sich suchend im Park um und sagt dann: „Wollen wir uns kurz setzen?“ Wir gehen zu einer freien Parkbank und machen es uns bequem. Tai legt die Krücken zur Seite und sieht mich fragend an. „Soll ich mal aufmachen?“ „Ja, ich würde zu gern wissen, was drin ist, aber vermutlich kein Tagebuch.“ „Hä?“ „Ach, nicht so wichtig.“ Tai zieht mit den Fingern am Einband und öffnet diesen. Er greift rein und holt einen Haufen Zettel hervor. „Was ist das?“, frage ich verwirrt, während Tai bereits zu lesen beginnt. Dann sieht er mich ungläubig an. „Das ist mein Arbeitszeugnis.“ „Wie jetzt?“ Tai wirft noch mal einen prüfenden Blick darauf, um auch ganz sicher zu gehen, dass er sich nicht verlesen hat. „Joe muss das geschrieben haben. Er … er lobt mich und meine Arbeit als persönlichen Assistent und Pressesprecher in höchsten Tönen und bedankt sich für die langjährige Arbeit.“ Er blättert auch die anderen Seiten durch und überfliegt sie. „Das ist eine Liste, mit allen Aufträgen, mit denen Joe mich während meiner Arbeitszeit betraut hat. Jedes Event, jede Pressemitteilung. Dieser kleine Spießer hat doch tatsächlich alles aufgeschrieben, was ich je getan habe.“ Ich rücke dichter an Tai heran und schiele auf das Papier in seinen Händen. Wirklich – Joe hat alles akribisch aufgelistet. Jede Arbeit, die Tai für ihn oder für die Familie ausführen musste. Aber mein Blick bleibt lediglich an einem Auftrag hängen – an seinem Letzten: Das unterrichten von Mimi Tachikawa in japanischer Kultur. – ausgezeichnet Ich runzle die Stirn. Ich checke es einfach nicht. „Das klingt alles ziemlich professionell.“ „Ja, offenbar soll das meine Qualitäten untermauern. Aber warum das Ganze?“ Da bin ich überfragt. Obwohl … sagte Kaori nicht, er hätte auch mein Tagebuch gekauft, um sein Gewissen zu beruhigen? Ist es das? „Joe steht wohl an einem Scheideweg in seinem Leben. Kaori meinte, er hat sogar im Krankenhaus gekündigt. Ich denke, er versucht nur irgendwie das Richtige zu tun.“ „Kann schon sein.“ Tai sieht wieder auf das Schreiben in seiner Hand. „Was wirst du nun damit machen?“, frage ich ihn. Er seufzt schwer. „Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob ich je wieder als Stuntman arbeiten kann. Aber ich weiß auch sonst nichts mit meinem Leben anzufangen. Stuntman war alles, was ich hatte. Na ja, und die Anstellung bei Joe, aber auch so ein Job kommt für mich definitiv nicht mehr in Frage.“ Ich lege den Kopf an seine Schulter und schließe kurz die Augen, um seinen Duft einzuatmen. Gott, wie habe ich das vermisst, als er nicht bei mir war. „Das kann ich verstehen. Lass dir einfach Zeit. Du kannst ganz in Ruhe einen Schritt nach dem anderen machen.“ „Hmm“, macht Tai und klingt sehr nachdenklich. Schließlich sagt er gequält: „Ich denke, ich kann das nicht annehmen.“ Mein Kopf schnellt in die Höhe. „Was? Warum nicht?“ Ich schaue in Tais Gesicht und sehe sofort die Schuld darin, die immer noch an ihm nagt – auch wenn er es manchmal nicht zugeben möchte. „Joe ist viel zu nett. So ein gutes Arbeitszeugnis hab ich nicht verdient“, murmelt er traurig. „Er war doch mein Freund und ich habe ihm wehgetan. Warum tut er jetzt so was?“ Ja, das habe ich mich tatsächlich auch schon gefragt und kann Tai sehr gut verstehen. Er hat ein schlechtes Gewissen, wegen dem, was alles vorgefallen ist. „Nimm es einfach an, Tai“, sage ich und lege behutsam eine Hand auf seine. „Ich denke, damit tust du Joe im Moment den größten Gefallen. Er versucht, sein Leben neu zu ordnen und vielleicht hat er diesen Abschluss gebraucht, um nach vorne sehen zu können.“ Tai nickt zaghaft. „Ja, vielleicht hast du recht.“ Dann hebt er den Kopf und sieht hinaus in den Himmel, der langsam aber sicher in ein kühles Blau wechselt. Ein Grinsen kehrt auf seine Lippen zurück. „Mir fällt grad ein, ich habe noch etwas für dich.“ „Oh? Was denn?“ Tai greift in die Tasche seiner Sweatshirt Jacke und holt ein Armband heraus. Ich runzle die Stirn. „Das kenne ich doch.“ Es ist das Armband mit dem grünen Jaspis, welches ich Tai geschenkt habe, als er im Koma lag. Er trägt seins immer noch und hat nun offensichtlich ein zweites gekauft. „Ich wollte, dass du auch eins hast“, sagt er, greift nach meinem Handgelenk und legt es mir um. „Damit du immer an mich denkst.“ Ich lächle zufrieden, als ich unsere beiden Armbänder betrachte. „Als ob ich das nicht ohnehin ständig tue. Danke.“ Ich beuge mich nach vorne und küsse ihn. Tai schmunzelt. „Gerne, Prinzessin.“ Dann lege ich wieder meinen Kopf an seine Schulter und halte seine Hand. Wir sitzen noch eine ganze Weile so da und genießen die Nähe des anderen. Es ist schon erschreckend, wie schnell ich mich an dieses Leben hier gewöhnen könnte. Es fühlt sich wie Glück an – in seiner reinsten Form. Hier bei Tai zu sein, mit ihm zusammen zu sein, ist alles, was ich brauche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)