Love against all Reason von Ukiyo1 (Liebe gegen jede Vernunft) ================================================================================ Kapitel 59: ------------ Mimi   Ich liege noch in Tais Bett und liebe es, hier zu sein. Mittlerweile ist Tai schon seit zwei Wochen in der stationären Reha. Ich kann es kaum erwarten, dass er entlassen wird und auch endlich hier mit mir wohnen wird. Ich bin irgendwie sogar aufgeregt deswegen. Wie wir wohl so harmonieren, wenn wir tagtäglich aufeinander hocken? Aber ich glaube, wir werden das super machen. Er und ich. Wir beide. Mein Handy klingelt. Meine Mutter. Ja, die muss noch völlig fertig sein. Meine Eltern wissen natürlich, was hier passiert ist und machen sich große Sorgen. Sie wollen, dass ich nach Hause komme, aber ich habe ihnen erklärt, dass ich jetzt endlich Zuhause bin. Sie verstehen, dass ich mit Tai zusammenbleiben will, aber würden es natürlich besser finden, wir würden gemeinsam in New York leben. Meinen Eltern ist auch nichts geschehen. Ich habe mir ehrlich gesagt schon Sorgen gemacht, ob Haruiko sich durch meine Eltern an mir rächen wird und glaube auch, dass das noch passieren könnte, aber ich denke, so langsam muss er einsehen, dass er verloren hat und jetzt nur noch alles schlimmer machen kann. Der Prozess von meinem Vater beginnt in einigen Wochen und Haruikos sogar schon in einer. Nur noch so wenig Zeit und dann ist er weg. Denn er wird hoffentlich nie wieder rauskommen und das ist auch gut so. “Hallo Mama.” “Mimi, Schatz, wie geht es dir?” “Gut, das sagte ich doch schon.” Sie erkundigt sich jeden Tag bei mir und natürlich war das alles ein Schock, aber so langsam schaffe ich es, alles zu verarbeiten. Der Verband am Hals ist weg, genau wie die an meinen Armen. Wenn ich mir die Narben anschaue, ist dies wohl der Preis, den ich für meine Freiheit bezahlen musste. Die Wunden an meinen Armen sind schon recht tief gewesen und auch wenn die Narben noch blasser werden, verschwinden werden sie nicht. Ich habe viel mit Tai gesprochen. Er hilft mir, das alles durchzustehen und ich weiß, dass mich all diese Erfahrungen nur stärker machen werden. “Es ist so grausam! Und du bist dir sicher, dass du vor Haruiko sicher bist?” “Ja, er wird nicht mehr die Gelegenheit bekommen, auf Kaution frei zu kommen und ich werde sicher nie wieder in die Villa gehen.” Meine Sachen hat mir Ken schlussendlich in Tais Wohnung gebracht und ich habe alles wieder. Sogar die Klamotten, die ich zurücklassen wollte, weil sie mich verkleidet und mir nie gefallen haben. Selbst die teuren Kimonos waren in den Kartons dabei, darüber freue ich mich sehr. Ich hätte sie selbst nicht mitgenommen, weil ich sie mir nicht selbst gekauft habe, sondern Joe, aber scheinbar weiß Frau Kido auch nicht, was sie mit den Klamotten sonst machen soll. Daher werde ich die Kimonos behalten und die Oma-Sachen spenden. Was soll ich nur mit Frau Kido machen? Eigentlich würde ich mich gerne nochmal mit ihr treffen. Immerhin verdanke ich ihr mein Leben. Sie wird doch sicher jetzt auch schrecklich einsam sein. Wenn sie es nicht eh schon all die Jahre war. Jim ist Jim und Joe, er wird bestimmt Kontakt zu seiner Mutter behalten, denn sie kann ja schließlich auch nichts dafür, aber dennoch wird es die Familie zerrütten. “Das will ich dir aber auch geraten haben. Ihr müsst trotz allem noch vorsichtig sein. Ihr beide.” Ich rolle mit den Augen, nicke aber brav. “Ja, Mama.” Ich weiß ja, dass sie sich nur Sorgen macht, aber ich glaube, so langsam habe selbst ich es begriffen. “Okay, das beruhigt mich. Ich soll dich lieb von Papa grüßen. Er wird auch immer nervöser wegen seinem Prozess.” Das glaube ich sofort. Wer wird schon gerne angeklagt? “Papa wird das schaffen. Er ist mutig, weil er zu seinen Taten steht und wirkliche Reue zeigt. So sind nicht alle.” “Ja, ich bin auch stolz auf ihn. Er benimmt sich wieder fast so, wie zu unseren Kennenlernzeiten. Er ist wieder so aufmerksam, charmant und …” “Okay, Mama, ich glaube, ich habe es verstanden.” Bevor ich etwas höre, was ich lieber nicht hören will, unterbreche ich meine Mutter lieber. “Ich muss jetzt auch auflegen. Wir telefonieren die Tage, okay?” “Alles klar. Pass auf dich auf.” “Ja, ihr auch.” Ich lege auf und schüttel lachend den Kopf. Meine Mutter ist schon ne Marke. Ich strecke mich durch und stehe auf, als mein Handy erneut klingelt. Wieder meine Mutter? Eine unbekannte Nummer. Etwas zögerlich nehme ich das Gespräch entgegen. “Tachikawa.” “Ms. Mimi Tachikawa?” Oh nein, die Presse? Haben sie meine Handynummer rausbekommen? Bitte nicht. Ich will schon panisch auflegen, als die fremde Frauenstimme weiter spricht. “Wie schön, dass ich sie gleich erreiche. Ich melde mich bezüglich ihrer Bewerbung. Hier spricht Tomoko Ogawa von Sin Den.” Oh? Oh. Au man, das gibt es ja gar nicht. Ich dachte schon, es hätte niemand Interesse an mir, weil sich jetzt ewig niemand auf meine Bewerbung gemeldet hat. “Wie schön.” “So eine Bewerbung mit persönlichem Anschreiben und in Papierform habe ich schon lange nicht mehr erhalten.” Na super, ich wusste nicht genau, wie man sich diesbezüglich verhält. Aber klar, Japan ist sowas von digitalisiert. Hätte ich mir echt denken können. “Ich fand, das war irgendwie eine nette Abwechslung.” Puh, nochmal Glück gehabt. “Danke.” “Da wir viele internationale Kundinnen haben, ist es für uns sehr wichtig, dass die Mitarbeiter neben Talent und exzellenten Service auch fließend Englisch sprechen können und da Sie viele Jahre in New York gelebt haben, wird das ja sicher kein Problem darstellen.” “Da können Sie sicher sein.” Ich freue mich gerade richtig und fange schon langsam an, hin und her zu tanzen. “Sehr gut. Wir arbeiten eng mit Beautysalons aus New York und Los Angeles zusammen und waren sogar schon für das Styling der Fashion Week in New York verantwortlich.” Mega. “Das klingt ja alles total spannend.“ “Ist es. Haben Sie spontan Zeit? Heute Mittag?” “Auf jeden Fall.” “Sehr gut, dann sind Sie pünktlich um zwölf da.” “Vielen Dank. Bis später.” Sofort schreibe ich Tai eine WhatsApp, dass ich heute ein Bewerbungsgespräch habe und tanze durch die Wohnung. Und dann: Was soll ich anziehen? Meine hippen: Ich bin Mimi Tachikawa aus New York und ziehe an, was immer mir gefällt oder doch etwas seriöser und etwas, was normalerweise nicht zu meinem Kleidungsstil gehört?   >Taaaaiiiiii, was soll ich nur anziehen? Den Mimi, American Girl Look oder doch eher, das, was die Kidos auch immer aus mir machen wollten?<   >Du bist perfekt, so wie du bist ;) Na ja, vielleicht nicht ganz so einen kurzen Rock für ein Bewerbungsgespräch :D Das darfst du mir dann gerne privat zeigen ;) <   Ich rolle die Augen, aber ich verstehe was Tai sagen will. Ich will mich nicht verstellen, aber es ist ein Bewerbungsgespräch und kein Mädelsabend. Also öffne ich die vielen Kartons und meinen Koffer und überlege, wie ich mich am besten präsentieren möchte. Ich wähle eine enge schwarze Jeanshose, ziehe ein weißes Top und einen beigen Blazer über. Die Jeans und das Top sind aus meiner Heimat und den Blazer habe ich beim Umstyling mit Tai gekauft. Na ja, vielleicht ist nicht alles ein Oma-Look. Ein Blazer geht eigentlich immer. Dazu auffallende rote High Heels, um dem Look ein wenig mehr Pepp zu verleihen. Ich schminke mich und ziehe feine Korkenzieherlocken mit meinem Lockenstab. Ich denke, das Outfit kann sich sehen lassen. Zum Schluss trage ich meinen roten Lippenstift auf, mache ein Selfie von mir und schicke das Bild Tai zu. Natürlich lässt die Antwort nicht lange auf sich warten.   >Du hast den Job.<   Grinsend verstaue ich das Handy in meiner Tasche und mache mich auf den Weg.   Tai   Sechs Wochen trage ich nun schon meinen Gips am Bein. Heute sollte die letzte Nachuntersuchung sein und Trommelwirbel: der Gips kommt endlich ab. Ich muss sagen, ich kann es kaum erwarten. Ich durfte bisher so gut wie kein Sport machen, weil der Schweiß unter dem Gips sonst nur für Hautirritationen gesorgt hätte, dabei war die Physiotherapie auch nicht gerade ohne. Egal, heute kommt er ab und dann fühle ich mich wieder ein Stück weit normaler. Es wundert mich etwas, als die Türe aufgeht und Jim in den Behandlungsraum kommt. “Was machst du denn hier?” “Ich bin Chirurg und werde deinen Gips abnehmen”, sagt er selbstverständlich und fängt an, sich die Hände zu desinfizieren. “Ganz sicher nicht. Ich verlange einen anderen Arzt. Du wirst mich nicht behandeln. Du darfst nicht mal ein verdammtes Pflaster an irgendeiner Stelle aufdrücken.” Jim verharrt in seiner Bewegung. Ich wundere mich schon, dass er nicht kontert, aber noch mehr, dass er überhaupt hier ist, um mich zu behandeln. “Ich wusste das mit dir und Kaori.” Jim dreht sich zu mir um. Ich hätte das im Leben nicht gedacht, denn wir haben uns selten in der Öffentlichkeit blicken lassen. “Meinst du wirklich, ich hätte meine zukünftige Frau nicht die ganze Zeit beschatten lassen?” Ich schüttel den Kopf. Kontrolle von Anfang an. Aber warum kommt er jetzt damit? Kaori und ich sind schon lange nichts mehr. Ich habe Mimi und Kaori lässt sich von diesem Arsch scheiden und damit habe ich überhaupt nichts zu tun. Das hat er ganz allein verbockt. Nicht, dass ich das nicht immer wusste, dennoch tut es mir für Kaori leid, dass sie das alles durchmachen muss und nicht mehr Glück in der Liebe hat. “Nur deswegen habe ich überhaupt die Ehe vorgezogen. Eigentlich war es später geplant, aber das mit euch musste ich sofort unterbinden. Du warst mir schon immer ein Dorn im Auge.” Ich grinse überheblich. Nicht, dass mich dieses Geständnis in irgendeiner Form überrascht, aber selbst Jim muss einsehen, dass ich in dieser Geschichte der Gewinner bin. “Du magst das mit uns damals vielleicht beendet haben. Dennoch hatte sich Kaori freiwillig für mich entschieden und mir ihr Herz geschenkt, obwohl sie wusste, dass sie dich heiraten wird. Du hast alles erzwungen und sie immer nur kontrollieren wollen und trotz aller Verträge, ist sie dir schlussendlich abgehauen. Wahrscheinlich hat sie die ganze Ehe über sowieso nur an mich gedacht.” Ich zwinkere ihm frech zu, was ihn rasend macht. Erkenne ich in Jims Augen tatsächlich so etwas wie Reue? Mimi hat mir erzählt, dass Kaori die Scheidung veranlasst hat. Doch er lässt mich nicht lange auf sein Inneres blicken. Er fängt sich. Applaus. “Joe wollte sie schon immer und jetzt nimmt er sie mir sicher weg. Sie hat immer nur mir gehört.” Er spannt seine Hand zu einer Faust und scheint immer noch nichts verstanden zu haben. “Sie sind ständig zusammen, aber wenn er denkt, Papa für mein Kind zu spielen, wird er mich kennenlernen.” Wütend feixe ich Joes älteren Bruder an. “Falsch. Du lässt die beiden in Ruhe. Siehst du nicht, wie falsch dieser Weg ist? Wenn du hättest Kaori zurückerobern wollen, hättest du dir mehr einfallen lassen müssen, als Drohungen aussprechen und Panikmache. Du wirst es nicht glauben, aber darauf stehen Frauen nicht.” “Tzz.” “Aber wahrscheinlich hattest du einfach nur ein schlechtes Vorbild.” “Halt meinen Vater da raus.” “Ach du, ganz ehrlich. Diese ganze Geschichte hat sich in einer Woche eh erledigt und vielleicht ist das auch das Beste, was dir passieren konnte und jetzt will ich einen anderen Arzt. Sofort.” Notfalls verlasse ich jetzt dieses Krankenhaus und lasse diesen Gips woanders entfernen. Jim setzt an, um etwas sagen zu wollen, schließt aber wieder seinen Mund und dampft ab. Was war das denn? Wollte er mich damit verletzen, dass er der Grund war, warum das mit Kaori so plötzlich vorbei war? Ich meine, es wäre so oder so darauf hinausgelaufen. Ob jetzt ein Jahr früher oder später, spielt dann auch keine Rolle mehr.   Die Tür öffnet sich erneut und diesmal taucht Joe auf. Ernsthaft, gibt es hier keine anderen Ärzte? “Kam Jim gerade aus diesem Behandlungszimmer?” “Jap.” Joe zieht seine Augenbrauen zusammen. “Was wollte er?” “Mir ähm …” Joe weiß nicht, dass ich mal was mit Kaori hatte. Oh man, er wird mich jetzt wahrscheinlich für einen noch größeren Lügner halten. “Bevor Kaori und Jim sich verlobt hatten, war ich mit Kaori ein halbes Jahr zusammen.” Mit großen Augen schaut Joe mich an. “D-du? W-waaas?” Ich zucke mit den Schultern. “Es war heimlich und Kaori meinte immer, dass unsere Beziehung ein Ablaufdatum hätte, ich wusste aber nie wieso. Ich wusste auch nicht, dass sie Jim versprochen war. Ich habe sie an der Uni kennengelernt, als ich noch studiert hatte.” Joe setzt sich auf den Hocker und sieht irgendwie so aus, als wäre er gerade ganz woanders. “Wolltest du deshalb damals den Job als Assistenten? Wolltest du sie zurück?” “Nein.” Ein ganz klares Nein. Kaori hatte mich damals verletzt und mein Ego gekränkt. “Ich verstand nicht, was passiert war und alles, was ich wollte, war eine Erklärung und Entschuldigung, aber ich wollte sie nicht zurück. Ich hatte mit ihr abgeschlossen, als sie damals ohne jedes Wort gegangen ist.” Mittlerweile haben wir alles geklärt und die Geschichte hinter uns gelassen. Ich muss daran denken, was Jim gesagt hat. Könnte da was dran sein? “Magst du Kaori?” “Was, ich?” Sofort läuft Joes Gesichtsfarbe rot an und er kreischt in einem ziemlich hohen Tonfall. “Also … so ein Unsinn. Sie ist meine Schwägerin.” “Na ja, noch, wenn sie geschieden ist, ist sie nicht mehr deine Schwägerin.” “Ist das für dich immer so leicht? Sich zu nehmen, was einem nicht gehört?” Ich rolle mit den Augen. Oh man, echt jetzt? Aber scheinbar habe ich einen wunden Punkt getroffen. Vielleicht weiß es Joe noch nicht oder er will es nicht zugeben, aber so oder so, Kaori ist ihm nicht egal. “Wenn du sie magst, solltest du es ihr sagen. Vielleicht empfindet sie ja auch so für dich. Ihr habt zuletzt viel zusammen durchgemacht. So etwas schweißt zusammen.” “Ich kümmere mich nur um sie, weil ich Onkel werde, das ist alles.” “Okay, wenn du das sagst. Nimmst du mir jetzt den Gips ab oder kommt nochmal ein Arzt rein, der mich von diesem Ding erlöst?” Joe steht auf, wäscht und desinfiziert sich die Hände und kommt mit einem komischen Gerät auf mich zu. “Was ist das?” “Keine Sorge, das ist ein Gipsspreizer, damit lässt sich das Gips am besten durchtrennen.” “Na dann, Leg los. Ich will das Ding endlich loswerden.” “Wir sind nur Freunde”, setzt Joe erneut an und greift das Thema von vorhin wieder auf. Ich dachte, es wäre nichts bei ihm. Hmmm. “Mimi und ich waren auch erst ‘nur Freunde’.” Joe schneidet weiter und weiter und ich spüre, wie das Blut wieder anfängt, richtig zu fließen. Es kribbelt. Das Gips ist durchtrennt und die Reste landen im Müll. Noch ist mein Bein etwas geschwollen. Unter meinem Knie komplett über meinem Schienbein ist eine lange Narbe. Man sieht noch viele kleine schwarze Punkte und es sieht auch noch ziemlich bläulich aus. “Die Schwellung wird in ein paar Tagen von alleine abklingen.” “Okay und darf …” “Ich meine, ich bin es ihr auch irgendwie schuldig, dass ich mich um sie kümmere. Jim hat sie nicht gut behandelt. Mein Vater auch nicht.” Kaori ist also wieder Thema, dabei würde ich gerade lieber über mein Bein reden. “Ja, da hast du natürlich Recht”, pflichte ich ihm bei und hoffe jetzt endlich über mein Bein reden zu können. “Darf ich jetzt wieder Sport machen? Also alles normal?” “Und dann ist da auch noch Nanami. Ich meine, sie bedeutet Kaori ne Menge, aber sie ist ja auch meine Schwester und ich will sie ja auch kennenlernen und zufällig wohnt sie nun mal bei Kaori.” Oh man, ich werde die Antwort sicher googlen können. “Ja, dein gutes Recht”, antworte ich und versuche aufzustehen, aber scheiße, so leicht ist das alles nicht. Es schmerzt. “Tai, du wirst die Krücken bestimmt noch ein- zwei Wochen brauchen. Du darfst nicht direkt losgehen.” “Was, aber? Oh man.” “Jetzt beginnt der Wiederaufbau der Muskulatur und Koordination. Es dauert etwa drei Monate bis die normale Belastbarkeit wiederhergestellt ist.” “Drei Monate?” Enttäuscht setze ich mich wieder auf die Liege. “Du darfst natürlich vorher wieder mit Sport anfangen. In der Reha werden sie dir sicher gute Übungen zeigen, aber dein ganzes Schienbein war durch und das braucht auch nach Gips noch etwas Zeit.” Zeit, Geduld, Verständnis. Das habe ich alles schon seit sechs Wochen. Ich arbeite jeden Tag hart an mir, um endlich wieder ich zu sein. Der Weg ist noch so weit und ob ich je ganz wiederhergestellt sein werde, weiß keiner. Das ist so frustrierend. “Ich denke, Kaori hätte auch gerade gar kein Interesse an einer Beziehung. Ich meine …” “Joe. Ich meine das jetzt wirklich als Freund. Geh zu ihr und rede mit ihr.” “Worüber?” Oh man, fragt der das wirklich? “Du fängst immer wieder mit Kaori an.” “Du hast doch als erstes damit angefangen.” “Ich habe es aber beendet. Du nicht.” Im wahrsten Sinne des Wortes. “Weißt du, ich hätte auch nichts tun können, bei Mimi, meine ich. Ich hätte mich meinem Schicksal fügen und zusehen können, wie die Frau die ich liebe, einen anderen Mann heiratet. Ich wäre gegangen. Das hätte ich mir nicht aus nächster Nähe angetan und wäre wohl einsam gestorben oder ich kämpfe und zwar so, wie ich es noch nie zuvor getan habe. Für niemanden. Mimi ist es wert. Das alles meine ich.” Ich deute auf mein Bein. Es war ein hoher Preis, aber ich würde es wieder tun. “Du hast doch nur dieses eine Leben, Joe und du solltest dich nicht hinter deine Gefühle stellen. Du musst mutig sein und mit etwas Glück, wirst du reich dafür belohnt.” “Aber sie ist die Frau meines Bruders.” “Ja, und …? Und deshalb darfst du dich nicht in sie verlieben? Es gibt am Ende nur Gefühle, die zählen.” Joe räumt weiter alles weg, während ich mit den Krücken zum Stehen komme. “Ich weiß es nicht”, murmelt Joe nachdenklich. „Außerdem hat Jim eben gedroht und ahnt was, aber eigentlich ist er nur verletzt, weil Kaori ihn verlassen hat. Euer brüderliches Band ist durchtrennt, seit du dich gegen Haruiko gestellt hast. Also wem gegenüber willst du loyal sein?” Darüber muss wohl auch Joe nachdenken. Oh man, es ist gerade fast wie früher zwischen uns. Wer hätte gedacht, dass wir zwei nochmal so ein Gespräch führen würden. “Und hey, wir haben einen ziemlich ähnlichen Frauengeschmack. Respekt.” Ich grinse, während Joe mich mahnend ansieht. Okay, ganz so weit sind wir wohl noch nicht. “Jetzt aber wieder ernst, danke für das Zeugnis.” Joe lächelt und nickt. “Keine Ursache. Ich hoffe, es hilft.” Hoffe ich auch. Ich weiß noch nicht genau, was ich beruflich machen möchte, aber mein altes Studium für Ingenieurtechnik kommt nicht mehr in Frage. Es war damals schon so trocken, dass ich mich bewusst dagegen entschieden habe. “Und der Rest wird auch wieder. Tai, als du wach wurdest, konntest du fast gar nichts mehr. Jetzt sind nicht mal zwei Monate um und du läufst schon auf Krücken. Vergiss das nicht. “Manche brauchen dafür Jahre.” Joe hat Recht. Ich sehe immer nur den Berg, der noch vor mir ist und vergesse, wie viel Strecke ich eigentlich schon hinter mir gelassen habe. “Das stimmt. Danke. Ich muss wohl auch lernen, auf das stolz zu sein, was ich bisher erreicht habe. Auch wenn ich gerne schon viel weiter wäre.” Joe öffnet mir die Tür und wir sehen uns nochmal an. “Zu oft, ist man viel zu streng zu sich.”   “Oh ja. Mach's gut, Joe.” “Du auch Tai.” Mit einem Lächeln auf den Lippen und einem guten Gefühl verlasse ich das Behandlungszimmer. Ich glaube, zwischen Joe und mir ist doch noch nicht alles verloren.   Mimi   Ich bin mitten im Bewerbungsgespräch und bin unfassbar nervös. Ich habe eben schon das gesamte Institut kennengelernt und einige Kolleginnen bei ihrer Arbeit zusehen dürfen und tatsächlich wird hier hauptsächlich Englisch gesprochen, was mir total in die Karten spielt, denn im Gegensatz zu meinen Kolleginnen spreche ich Akzentfrei. “Laut Ihrem Lebenslauf waren Sie, bevor Sie nach Tokyo kamen, in Los Angeles. Was haben Sie dort gemacht und warum sind Sie hierher gekommen?” Erkennt sie mich wirklich nicht oder will sie herausfinden, ob ich ehrlich genug bin? “Ich war in L.A., weil ich ganz gerne als Stylistin in Hollywood unterkommen wollte, aber ich war bei weitem nicht die Einzige, die das wollte und die Konkurrenz ist nicht gerade ohne. Am Ende blieb kaum Geld zum Leben und ich war bereit für was Neues.” “Und dann sind Sie nach Tokyo gekommen?” “Ja, wegen meiner Verlobung mit Dr. Joe Kido.” Tomoko macht ein interessiertes Gesicht und es scheint, als würde ihr gerade ein Licht aufgehen. “Ich habe mir eben doch gedacht, dass ich Sie schon mal irgendwo gesehen habe, aber wusste beim besten Willen nicht wo, aber klar, aus den Medien.” Ich lächle unsicher, weil ich darüber jetzt wirklich nicht reden will. “Aber Sie haben sich getrennt?” Oh nein, sie hakt nach. “Ja, wir haben uns in Freundschaft getrennt und ich habe beschlossen, hier zu bleiben, weil es mir hier sehr gefällt und ich mich einfach auf die Herausforderung freue. Mein Beruf gibt mir die Freiheit überall auf dieser Welt arbeiten zu können und warum nicht in Tokyo?“ Tomoko lächelt zufrieden. Scheinbar gefällt ihr die Antwort. Sie fragt zum Glück nicht weiter nach und hoffentlich bleibt das auch so. “Ich denke, ich habe einen guten Eindruck über Sie gewonnen und wenn Sie wollen, können Sie morgen anfangen.” “Ja klar, danke.” Ich freue mich. Endlich wieder mein eigenes Geld verdienen und das bei so einer tollen Arbeitsstelle. Zwar nicht mehr selbstständig wie vorher, aber aktuell ist das auch überhaupt nicht schlimm. “Sehr gut, wir haben nämlich wirklich alle Hände voll zu tun und freuen uns über eine fähige Kollegin.” “Das höre ich gerne.” Wow, ich habe einen Job und ich hatte schon befürchtet, ich müsste wirklich bei Davis kellnern. Nichts gegen sein Restaurant, aber ich habe da doch meine eigenen Qualitäten. “Ich gebe Ihnen den Vertrag mit. Sie lesen sich alles in Ruhe durch, füllen den Personalbogen aus und bringen morgen alles unterschrieben mit.” Ich nicke begeistert und sehe wahrscheinlich aus wie ein Wackeldackel, aber ich freue mich einfach so. Bald wohne ich richtig mit Tai zusammen und ich kann wieder als Stylistin arbeiten. Ich brauche niemanden nach Geld zu fragen und kann auch Sally endlich wieder ihres wiedergeben. Es geht doch wirklich bergauf. Wir stehen auf und ich verbeuge mich vor Frau Ogawa. “Bis morgen und vielen Dank nochmal.” Als ich vor dem Schönheitssalon stehe, rufe ich sofort Tai an. “Hi Prinzessin, und?” “Ich habe die Stelle.” “Herzlichen Glückwunsch. Das freut mich für dich.” Ich grinse übers ganze Gesicht, als mir klar wird, dass Tai heute auch einen wichtigen Termin hatte. “Und wie ist es wieder auf zwei Beinen?” “Leider bin ich die Krücken noch nicht ganz los, aber auch das hat bald ein Ende. Kommst du nachher noch vorbei?” “Auf jeden Fall. Du musst mir nämlich mit dem Vertrag helfen.” Ich höre, wie Tai lacht. Wahrscheinlich hat er schon damit gerechnet, aber ich verstehe nicht mal die Hälfte. Ich gehe gerade die Treppen zur U-Bahn runter, als die passende Bahn auch schon direkt einfährt. “Ich mache mich auf den Weg. Bis später.”   Ich kann es kaum erwarten, Tai ohne Gips zu sehen. Er wartet bereits im angrenzenden Park auf mich und ich bin froh, dass der goldene Oktober sich noch von seiner schönsten Seite zeigt. Das Sonnenlicht schimmert durch die rot-gelben Blätter und lässt mich daran erinnern, dass ich bereits die dritte Jahreszeit in Japan verbringe. Tai sitzt auf einer Bank und steht natürlich gleich auf, als er mich sieht. Er stützt sich zwar recht schnell mit seinen Krücken, aber es ist so ein toller Erfolg, wie weit er einfach schon gekommen ist. Ich bin einfach so stolz auf ihn. Er hat eine Tasche dabei und ich werde glatt ein wenig neugierig. “Hi Liebster, was ist da drin?” Tai grinst, begrüßt mich mit einem Kuss und holt eine Sektflasche und zwei Plastik-Sektgläser aus der Tasche heraus. “Na ja, wir müssen ja schließlich noch auf deinen neuen Job anstoßen.” Er ist so süß. Ich setze mich neben ihn und beobachte, wie er die Flasche öffnet und die Gläser voll macht. Eigentlich ist diese Geste viel wertvoller zu feiern als mein neuer Job. Vor zwei Monaten konnte Tai so gut wie nichts. Er konnte nicht mal selbstständig essen oder sich was zu trinken einschütten. Jetzt sitzt er hier mit Krücken und Sektgläsern und das nur, um mit mir anzustoßen. Ich kann kaum verhindern, dass Tränen in meinen Augen aufkommen. “Was ist los? Stimmt was nicht?” Ich schüttle gleich meinen Kopf. “Es ist unglaublich, was du schon alles geschafft hast. Ich weiß gar nicht, ob du überhaupt ein normaler Mensch bist.” Tai legt seinen Arm um mich und hält mich fest. “Glaub mir, wie schwach ich sein kann, hab ich gerade erst erfahren und das war wirklich kein Zustand, den ich irgendwie ertragen konnte und dann war ich auch immer so gemein zu dir. Ich hab mich echt dämlich verhalten.” “Du warst doch nicht absichtlich gemein. Du warst komplett überfordert, hattest eine Amnesie und wusstest gar nicht, wer ich war. Klar, war ich traurig, aber ich habe deswegen nicht ans Aufgeben gedacht und du auch nicht und genau deswegen sind wir wir.”   “Darauf stoßen wir an.” Tai hält mir sein Sektglas hin und ich stoße mit ihm an. Ja, wir haben bewiesen, dass unsere Liebe stärker ist und allen Widrigkeiten trotzen konnte. “Ich mache mir Gedanken, wie es mit mir beruflich weitergeht.” “Willst du in deinen alten Job zurück?” Ich habe ein wenig Angst, diese Frage zu stellen. “Würdest du das wollen?” Oh nein, ich kann diese Entscheidung nicht für ihn übernehmen. Das muss von ihm kommen, sonst würde das irgendwann zwischen uns stehen. “Ich würde immer hinter dir stehen, egal wie du dich entscheidest, aber ja, die Angst wäre wohl mein stetiger Begleiter.” Tai ist für ein paar Minuten still. Er sieht sich, wie ich, das Farbenspiel des Herbstlichts an. “Ich weiß zumindest, dass es eben kein Unfall oder ein Versagen meinerseits gewesen ist. Es war ein Mordanschlag und sicher wird dies nicht mehr vorkommen, aber …” Tai wird wieder ruhig und ich stelle das Sektglas zur Seite. “Aber dennoch habe ich gelernt, wie schnell alles vorbei sein kann, dazu muss nicht mal jemand versuchen, einen anderen umzubringen. Unachtsamkeit oder Fahrlässigkeit reicht aus und ich will nie wieder an so einen Punkt kommen, wie nach meinem Unfall. Natürlich kann immer was passieren, aber bei so einem Job ist die Chance nun mal wesentlich höher.” Da kann ich Tai nur zustimmen. Man muss das Schicksal nicht unnötig herausfordern. Tai stellt sein Sektglas ebenfalls zur Seite und nimmt mein Gesicht in seine Hände. “Bisher war ich Single. Ich war für niemanden außer mich selbst verantwortlich, aber jetzt habe ich dich. Wir sind zusammen und ich sehe eine Zukunft. Es geht nicht mehr nur um mich. Es geht um uns und ich will diese Zukunft mit dir.” Ich schließe meine Augen, hebe aber meinen Kopf und treffe seine Lippen. Der Kuss intensiviert sich und ich wünschte, wir könnten jetzt an einem geschützten Ort sein. Wir lösen unsere Lippen voneinander und ich öffne meine Augen wieder. “Ich werde mich beruflich umorientieren. Ich bin noch jung und in mir stecken sicher noch viele Talente.” “Das tun sie. Ich liebe dich.” “Und ich liebe dich.” Das ist alles, was wichtig ist und alles was zählt und egal, wie oft Tai sich neu erfindet. Er wird mit allem Erfolg haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)