366 Tage - 366 Geschichten von Gedankenchaotin (366 Tage Challenge 2024) ================================================================================ Kapitel 1: 01.01.2024 - Windig ------------------------------ “Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.” Die Worte seiner Frau Gisela hingen Oswald noch immer im Ohr. Auch jetzt noch, als er dick eingepackt am Nordseestrand stand. Erst vor wenigen Wochen war Gisela für immer gegangen und hatte eine große Lücke in seinem Leben hinterlassen. Der Urlaub an der Nordsee war von langer Hand geplant gewesen und obwohl Oswald am liebsten gar nicht gefahren wäre, stand er jetzt doch hier. Der Wind pfiff ihm um die Ohren und erhob die Schultern, um sich ein wenig zu schützen. Früher, als es windig gewesen war, hatte er oft mit Gisela hier gestanden. Und jetzt war sie einfach nicht mehr da. Gegangen für immer. Julika, seine Tochter und sein Schwiegersohn Hannes hatten ihm dazu geraten, die Reise doch anzutreten, und trotzdem war er sich noch immer nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Gisela sollte mit ihm hier sein, sie sollte an seiner Seite stehen. Sie sollte ihn damit aufziehen, dass er seine Socken überall liegen ließ oder seine Kaffeetasse halbvoll irgendwo stehen ließ. Sie sollte hier mit ihm stehen, an der Stelle, an der sie sich vor über dreißig Jahren das erste Mal getroffen hatten. Damals hatte er sich sofort in Gisela verliebt und um sie gekämpft. Wochenlang, bis auch Gisela ihm endlich eine Chance gegeben hatte. Die letzten dreißig Jahre waren trotz vieler Höhen und Tiefen die schönsten seines Lebens gewesen und er vermisste Gisela in jeder Sekunde, in der sie nicht bei ihm war. “Hier bist du.” Die Stimme seines Schwiegersohnes riss ihn aus seinen Erinnerungen und er sah mit einem flüchtigen Lächeln zu dem Jüngeren. “Wo soll ich denn sonst sein,Hannes? Hier hat alles angefangen”, erwiderte er und erschauderte, als erneut Wind aufkam. Hannes legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte sachte. “Hier wird auch immer der Ort für dich sein, an dem du deine große Liebe kennengelernt hast und hier hat auch das Leben angefangen, dass du bislang geführt hast, aber …”, begann Hannes und diesmal war Oswald derjenige, der lächelte. “.. aber hier wird es nicht enden, das willst du doch sagen, oder?” Leicht nickte Hannes und folgte dessen Blick über das Meer hinweg. “Ja.” “Keine Sorge, mein Junge. Hier wird es nicht enden. Niemand weiß, wieviel Zeit ich noch habe, aber ich möchte sie mit den Menschen verbringen, die ich noch habe. Mit Julika und dir. Und mit den beiden wunderbarsten Enkelkindern, die ihr mit hättet schenken können”, antwortete Oswald und wandte seinen Blick zu Hannes hoch. “Und immer, wenn es windig ist, wird sie dir sanft durch die Haare streichen und die zeigen, dass du nicht alleine bist”, beendete Hannes den Satz seines Schwiegervaters und deutete mit dem Kopf in Richtung Bungalows. “Komm, das Essen ist fertig”, fügte er hinzu und führte Oswald wieder in Richtung der Wohnanlage. Oswald lief neben ihm her und warf einen flüchtigen Blick zurück auf das Meer. Just in dem Moment kam erneut der Wind auf und Oswald wusste, dass es Gisela war, die ihm zeigte: Auch wenn er sich momentan schwer und unwirklich anfühlte, war er nicht allein. Solange Julika, Hannes und die Kinder für ihn da waren, war er nicht allein. Und in seinen Gedanken und seinem Herzen war Gisela sowieso immer an seiner Seite. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)