366 Tage - 366 Geschichten von Gedankenchaotin (366 Tage Challenge 2024) ================================================================================ Kapitel 32: 01.02.2024 - Sitz ----------------------------- “Du sitzt auf meinem Platz.” Die Stimme, die dafür sorgte, dass Alina von ihrem Buch aufsah, erklang unmittelbar neben ihr und ließ sie eine Augenbraue hochziehen. “Ich wüsste nicht, dass auf diesem Sitz ihr Name steht”, entgegnete sie und sah wieder in ihr Buch. Sie war aktuell von Mannheim nach Hamburg unterwegs und hatte sich extra einen Sitzplatz im ICE gebucht, um während dieser über fünf Stunden Fahrt nicht irgendwo auf dem Gang sitzen zu müssen. “Das nicht, aber ich habe diesen Sitz extra gebucht und bin mir sicher, dass du auf meinem Platz sitzt”, hörte sie erneut die Stimme des Mannes neben sich, woraufhin sie kurz die Augen verdrehte und ihn anschließend wieder ansah. “Das glaube ich kaum, denn ich sitze schon auf diesem Platz, seitdem er in Mannheim gestartet ist und ich habe ihn extra gebucht”, entgegnete sie und zog, wie als Beweis, ihre eigene Bordkarte aus ihrem Rucksack. Sie hielt sie dem Fremden entgegen und beobachtete ihn dabei, wie er sich etwas nach vorne beugte und anschließend auf seine eigene Bordkarte sah. “Bei mir steht auch Sitznummer 125, allerdings erst ab Münster”, erwiderte er und hielt seine Bordkarte nun seinerseits in Richtung Alina. Stirnrunzeln las sie die Nummer und die Mitteilung, dass der Fremde von Münster nach Hamburg reisen würde, während sie bereits in Mannheim eingestiegen war. “Tatsächlich”, murmelte sie leise und ließ sich wieder etwas nach hinten sinken. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte, aber sie wollte ihren Platz auch ganz sicher nicht hergeben. “Wieso nehmen Sie nicht einfach den Platz neben mir? Er ist immerhin frei und wenn doch jemand zusteigen sollte, können wir uns immer noch etwas überlegen oder den Schaffner kontaktieren”, schlug sie ihm vor und deutete mit einer Hand auf die freie Sitzfläche neben sich. Der Fremde zögerte und zuckte anschließend kurz mit den Schultern. “Wieso eigentlich nicht?”, entgegnete er und stellte seine Reisetasche oben auf der Ablage ab. Erst danach ließ er sich neben Alina nieder und streckte ihr seine Hand entgegen. “Ich bin übrigens David.” “Alina”, erwiderte sie knapp und ergriff die Hand ihres neuen Sitznachbarn kurz, bevor sie ihr Buch zuklappte und ihn ansah, als er erneut seine Stimme ergriff. “Ich bin oft in Hamburg, aber das ist mir tatsächlich noch nie passiert.” Zustimmend nickte Alina, auch wenn sie eher selten in Hamburg war. Seitdem sie in Mannheim studierte, war sie eher selten in der Stadt in Schleswig - Holstein. Mit ihren Eltern hatte sie sich zerstritten, weil sie ihre Entscheidung, nach Mannheim zu gehen, nie nachvollziehen konnten, aber als sie jetzt die Nachricht bekommen hatte. dass es ihrem Vater nicht gut ging, hatte sie sich sofort ein Ticket nach Hamburg gekauft. Auch wenn sie ihre Meinungsverschiedenheiten hatten, so war er doch noch immer ihr Vater und sie machte sich Sorgen um ihn. “Wieso bist du nach Hamburg unterwegs?”, holte sie die Stimme Davids erneut aus ihren Gedanken, woraufhin sie sich ein Seufzen nicht verkneifen konnte. “Mein Vater liegt im Krankenhaus und da ich nicht weiss, wie es ihm wirklich geht, möchte ich ihn noch einmal sehen”, entgegnete sie, woraufhin David verstehend nickte. “Und du?”, schob Alina hinterher und sah ihn fragend an, während sie den Kopf gegen die Fensterscheibe hinter sich lehnte. “Mein Bruder heiratet”, antwortete der Dunkelhaarige und auf Alinas Lippen bildete sich ein kurzes, wenn auch bitteres Lächeln. Ihr Vater lag vielleicht im Sterben und Davids Bruder heiratete. Zwei völlig unterschiedliche Gründe für einen Besuch in Hamburg und dennoch waren sie auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden. Der Kreislauf des Lebens bewies ihr auf eine schmerzliche Art und Weise, dass er sich nicht verändern ließ. Starb ein Mensch, erblickte irgendwo anders ein neuer Mensch das Licht der Welt. Den Rest der Fahrt unterhielt sie sich wirklich gut mit David. Sie erzählte ihm davon, was sie in Mannheim studierte und erfuhr auch von ihm, dass er in Münster seinen Bachelor in Kindheitspädagogik absolvierte. Als durch die Durchsage erklang, dass der Zug in wenigen Minuten den Bahnhof erreichen würde, packte sie ihre Sachen zusammen und erhob sich langsam. “Hast du Lust, heute Abend mit mir noch etwas trinken zu gehen? Ich würde unser Gespräch wirklich gerne fortsetzen.” Verblüfft hielt Alina inne und sah David einen Moment lang an, bevor sie schließlich nickte. “Warum eigentlich nicht?”, wiederholte sie seine Worte von vorhin und lächelte sachte. Sie zog einen Stift aus ihrer Tasche und hielt ihm das Buch entgegen, was sie gerade wegpacken wollte. “Gib mir doch einfach deine Handynummer, dann melde ich mich später bei dir”, erwiderte sie und hielt ihm beides hin. Nachdem David seine Nummer in das Buch geschrieben hatte, steckte sie das Buch weg und folgte den anderen Passagieren schließlich aus dem Zug. “Ich melde mich bei dir, versprochen!”, rief sie David noch zu, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung davon eilte. Mit dem Wissen, dass sich der Besuch in Hamburg jetzt doch nicht mehr ganz so beklemmend anfühlte, als zu dem Zeitpunkt, als sie in Mannheim losgefahren war. Und das alles nur wegen einer doppelten Sitzplatzreservierung Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)