Fragmente von Schreiberliene (Wind und Stille) ================================================================================ Kapitel 4: Nicht viel Reden in ihrem Haus ----------------------------------------- Immer noch sind die Tage regnerisch, kalt, noch immer sind die Blicke, die ihr Tag für Tag folgen unerträglich, doch Kuraiko hat nun einen anderen Grund dafür, sich regelmäßig mit dem Wagen abholen zu lassen: Mit einem Mal scheint die Stadt voll mit merkwürdigen Gestalten, die ihr immer und immer wieder über den Weg laufen, sie beobachten, ihr folgen... Sie ist sich nicht sicher; manchmal glaubt sie, einfach nur den Verstand verloren zu haben, vielleicht sogar zu träumen, dann wieder ist sie kurz davor, die Polizei zu rufen. Gleichzeitig fühlt sie sich dumm – warum sollte man ihr folgen? Es kann doch keiner wissen, wer sie ist, oder wichtiger, wer sie nicht ist; wer soll so etwas denn glauben, geschweige denn vermuten? Doch die Unsicherheit bleibt und so ist sie dankbar für ihre Eltern, die alles tun, was sie möchte. Es ist eine merkwürdige Form von Alltag eingekehrt, nach der Beerdigung; dieser Teil ihres Familienlebens ist vorbei. Es ist fast so, als habe es den zweiten Zwilling nie gegeben. Fast. Kuraiko vermutet, dass ihre Eltern darunter leiden, dass ihre Tochter nicht zum Begräbnis gegangen ist, doch der Gedanke, sich selbst in der Erde verschwinden zu sehen, ist einfach zu viel gewesen. Natürlich reden sie nicht darüber. Um ehrlich zu sein, es ist überhaupt nicht viel Reden in ihrem Haus. Yasu versucht es, doch er versteht seine Schwester einfach nicht. Er kann fühlen, dass sie aufgebracht ist, er spürt die Wut, aber kann nicht hinter die kalte Fassade blicken, die Kuraiko aufgebaut hat. Seine Eltern versuchen, zu erhalten, was da ist, auch wenn es unmöglich scheint: Jeden Abend ist da der leere Platz, vorwurfsvoll, anklagen. Und um dieser Schuld zu entkommen, behandelt man die übriggebliebenen Kinder mit übergroßer Vorsicht. Doch heute kann keiner der Beiden sich loseisen, um sie heim zu bringen und so tut sie, was getan werden muss, tritt in den kalten Nachmittag hinaus und folgt der Hauptstraße, die, wie immer um diese Zeit, nahezu unüberquerbar ist.. Prompt beginnt es zu regnen. Das Wasser fließt in breiten Strömen den Gehweg hinab und durchweicht die wenigen Passanten, die sich noch nicht ins Trockene gerettet haben. Kuraiko kümmert es nicht. Sie mag den Regen und selbst, wenn das nicht so wäre, hätte ihre Gleichgültigkeit sie von jeder Handlung abgehalten. Sie fühlt sich ausgelaugt, tot und muss fast schon darüber lachen, da sie es strenggenommen ja ist. Kein besonders netter Gedanke, doch ihre Gedanken sind üblicher Weise nicht besonders freundlich. Nicht mehr. Ihr Blick wandert die Straße entlang und plötzlich sieht sie sie. Hochgewachsen, dunkles Haar, das Gesicht einer griechischen Prinzessin; die Augen einer alten Frau. Sie kommt die Straße hinunter, ihr entgegen, es ist die selbe Frau, die ihr Tag für Tag über die Straße wissende Blicke zugeworfen hat, aber nun kommt sie dem Mädchen gefährlich nahe. Kuraiko beschließt, auf der Stelle umzudrehen, doch als sie diesen Beschluss in die Tat umsetzt, sieht sie, dass ein anderer fremder Bekannter, ein breitschultriger Mann in einem warmen Wintermantel, ihr folgt, es wahrscheinlich die ganze Zeit über getan hat. Kuraiko weiß nicht warum, doch sie fühlt, dass sie für dieses Treffen nicht bereit ist. Sie möchte nicht hören, was die Fremden zu sagen haben, möchte noch nicht herausfinden, ob sie tatsächlich etwas von ihr wollen oder ob alles nur ein merkwürdiger Zufall ist. Und so tut sie das einzige, das ihr übrig bleibt: Sie verschwindet in eines der Cafés am Straßenrand. Ein Schwall warmer Luft kommt ihr entgegen, ein Gemisch aus Kuchenduft, Pizza und heißer Schokolade. Er ist, wider alle Erwartungen, nicht unangenehm, weckt in der jungen Frau alte Kindheitserinnerungen. Unsicher dreht sie sich zum Eingang um, erwartet halb, dass die Türe aufschwingt und die Gestalten, die sie in diese Aufregung versetzt haben, herein kommen. Doch nichts Derartiges geschieht; durch das große Fenster kann sie erkennen, dass beide Passanten regungslos vorbeischreiten, sich nicht um ihre Flucht kümmern. Natürlich nicht. Kuraiko schüttelt den Kopf über sich selbst und ihre Paranoia, die von Tag zu Tag zu wachsen scheint, während gleichzeitig ein Drang in ihr erwacht, aufzudecken, was eigentlich passiert. Jetzt aber spürt sie nur den Drang, die Kälte aus ihren Knochen zu treiben und da der Duft des warmen Schokoladenkuchens längst vergessene Bedürfnisse in ihr weckt, setzt sie sich an einen der wenigen freien Tische und wartet auf die Bedienung. Überhaupt, das fällt ihr erst jetzt auf, gibt es im ganzen Café nur wenige Tische; klein und gemütlich, für nicht mehr als zwanzig Menschen Platz bietend ist es – zwanzig eng zusammenrückende Menschen. Das Licht, das das Geschäft erhellt, kommt durch das große Fenster von der Straße und kann, wie das Mädchen plötzlich entdeckt, gegen Abend wohl von den kleinen Tischlämpchen ersetzt werden. Fünf hölzerne Tische stehen in dem Raum, Mahagoni, die trotz ihrer Gedrängtheit immer noch Freiraum für Intimität lassen, jeder umringt von zwei oder vier tiefroten, samtenen Sesseln, in denen die Besucher gemütlich versinken können. Die Wände sind mit einer weinfarbenen Tapete überzogen, die ihre besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hat und auch das Parkett auf dem Boden verrät, dass die letzte Renovierung wohl vom Vorbesitzer ausgeführt wurde. Dennoch, oder vielleicht genau deswegen, verströmt der Laden einen unbestimmten Charme, der das Mädchen, das so lange nichts mehr fühlen konnte, berührt. Der Sitz passt sich genau ihren Formen an, als habe er nur auf sie gewartet, und alle negativen Gedanken sind mit einem Mal wie fortgeblasen. Kuraiko genießt einfach, was sie vorgefunden hat. Fast schon empfindet sie die junge Frau in dem schwarzen Kostüm, die ihre Bestellung aufnimmt, als störend, doch der Gedanke an eine heiße Schokolade mit Sahne und einem übergroßen Stück selbst gemachten Kuchens versöhnt sie mit der Bedienung. Kurz darauf fühlt sie das gewünschte Getränk in ihren Händen und auch der Imbiss lässt nicht auf sich warten. Und zum ersten Mal seit Wochen entspannt sie sich, wird ruhig und lässt die Wut und den Schmerz ziehen; zum ersten Mal findet sie sich mit der Realität ab. „Darf ich?“ Erschrocken ob der unerwarteten Störung ihrer Nachdenklichkeit blickt die junge Frau auf und schaut in das blasse Gesicht eines Mannes, der offensichtlich in seinen frühen Zwanzigern ist. Die Züge sind sehr fein geschnitten, vielleicht etwas zu mager für einen Erwachsenen; die dunkelbraunen Augen verleihen dem Antlitz mit ihrer Form selbst für einen Asiaten ein fremdländisches Aussehen. Er wirkt sanft, nicht bedrohlich, dennoch will Kuraiko für einen Moment verneinen. Sie fühlt sich nicht nach Gesellschaft, schon gar nicht nach einer, die mit großer Wahrscheinlichkeit nur am Körper ihrer Schwester interessiert ist. Sie hat diese neue Aufmerksamkeit in den letzten Wochen kennengelernt und kann nicht verstehen, wie sie sich Amayas Attraktivität jemals hat wünschen können. Anscheinend liest der Mann etwas in ihren Augen, der er lächelt entschuldigend und erklärt sein Anliegen genauer. „Ich komme jeden Tag hier her. Das Café ist nicht weit von der Uni entfernt und ich habe einen guten Blick auf die Straße... Ich sitze immer an diesem Tisch, so bleibt die Perspektive die Selbe.“ Er präsentiert ihr seinen Zeichenblock und legt ihn danach halb auf der Tischplatte ab. „Ich rede nicht. Versprochen.“ Die Vorstellung, dass er nicht an ihr, sondern an der Aussicht interessiert ist, beruhigt Kuraiko ein wenig und ihr Widerstand schwindet. Nickend weist sie auf den Sessel dem ihren und dem Fenster gegenüber. „Selbstverständlich. Setzen sie sich ruhig.“ Ganz wohl ist ihr bei dem Gedanken an Gesellschaft dann aber auch nicht, zumal sie nicht einmal weiß, wie aufrichtig der Fremde ist, doch sie hat gerade erst ihren zweiten Kakao bekommen und so beschließt sie, nicht willens, ihren neu gefundenen Denkort aufzugeben, den Anderen einfach zu ignorieren. Schwer ist das eigentlich nicht; kaum hat er Platz genommen, da holt er schon seinen Stift hervor und beginnt zu zeichnen. Auch bei seiner Aussage über die Regelmäßigkeit seiner Besuche scheint er ehrlich gewesen zu sein, denn ohne weiter nachzufragen bringt die Bedienung einen großen Kaffee und aberwitzige Mengen Zucker. Sein Blick, immer wieder an ihr vorbei nach draußen huschend, scheint konzentriert und auch er hat offensichtlich beschlossen, sich nicht von diesem Eindringling in seiner Welt stören zu lassen. Kuraiko will wieder zurück in ihre Gedanken, die sich ihr endlich geöffnet haben, möchte mit dem Verarbeiten des Geschehenen anfangen, doch die ruhige, konzentrierte Art ihres Gegenüber lenkt sie ab. Seine schlanken Finger gleiten immer wieder über das Papier, werden allmählich schwarz von der Kohle, die sich auch unter den kurzen Nägeln sammelt. Was genau er zeichnet, interessiert den einsamen Zwilling nicht, aber ohne dass er es merkt, hat der Anblick des Fremden ihn auf merkwürdige Art fasziniert. Sie will wissen, woher er kommt, was er tut; sie, die auf jeden Ansatz einer Konversation mit Desinteresse geantwortet hat, fühlt das Bedürfnis, mit ihm zu sprechen und wagt es im selben Moment nicht, seine Konzentration zu stören. Und so bleibt sie dort sitzen, stumm, in Gedanken halb bei ihrer Schwester, halb bei dem Zeichner, bis der Kakao kalt und das Licht dunkel geworden ist. Dann steht sie auf und verabschiedet sich mit einem Nicken; zuhause wartet man schon auf sie. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)