Fragmente von Schreiberliene (Wind und Stille) ================================================================================ Kapitel 8: Und er zeichnet Zeichen in die Wirklichkeit ------------------------------------------------------ Sie sitzt vor ihm, die Augen geschlossen; der Geist aber, so hofft er, weit geöffnet. Er hat mit ihr gesprochen und ihr Verlust traf ihn tief. So tief, dass er fast nicht bemerkt, dass die Pain sie noch viel tiefer mit sich gerissen hat, so tief, dass er nicht zuhört, wenn sie spricht, von dunklen Gestalten, Verfolgern und dem Verlorensein in einem fremden Körper. Doch jetzt folgt er aufmerksam, schon seit Stunden trinkt er ihre Worte und während er stillschweigend zuhört, erzählt sein ganzer Körper Romane. Von Verlangen. Von Mitleid. Von Liebe? Vielleicht; zumindest glaubt er das und es ist einfach genug, ihm zuzustimmen. Die Welt, wie er sie sieht, ist simpel; sie in Gefahr, er der Retter. Und so nimmt er ihre Hand; die schwarze Kohle unter seinen Nägeln färbt ihre Unschuld dunkel. Und dann redet auch er. Die Eltern weinen, als seine Worte sie erreichen; erst blicken sie ihn an, wie er da steht, das Jackett in der Hand, dann sie, wie sie dort steht, im Flur, verloren und doch kurz davor, wiedergefunden zu werden. Und endlich verstehen sie und endlich fühlen sie und endlich sehen sie, was es ist, das ihre Tochter von innen heraus frisst, ihr Innerstes zuerst nach außen kehrte und es dann von der Haut kratzte. Zumindest glauben sie, zu verstehen, zu fühlen, zu sehen. Amaya aber schweigt; wie verrückt, deplatziert. Ihre Augen folgen dem Fremden, fixieren seine Finger. Die schwarzen Fingernägel sind für immer in ihre Haut gebrannt. Nach dem Reden schweigt das Haus; die Nacht ist ruhig, obwohl schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden, in stillen Kammern voll hoffender Köpfe. Es ist ein Wunder, so sagen die Therapeuten, dass der tiefe Fall in die Schizophrenie unbemerkt blieb; der Umstand, dass er sie aus der eigenen Umklammerung befreien konnte Zeichen für das Vertrauen, dass Amaya ihm entgegenbringt. Sie sind zufrieden und so lange Amaya an ihn glaubt, ist er es auch. Doch jedes Vertrauen hat ein Ende; spätestens dann, wenn die Antwort unbefriedigend erscheint. Und für sie ist es unbefriedigend. Weil er ihr nicht glaubt, weil er sie sanft anblickt, ihre Hand hält und ihr mitteilt, sie habe Wahnvorstellungen. Und weil sie nicht mehr kann, tut sie das eine, das ihre Hilflosigkeit übertönt: Sie schreit. Er hält sie. Sie tobt. Er bleibt ruhig. Sie schlägt ihn, verzweifelt, weil er ihr nicht glauben mag; weil er den Abgründen in ihrer Seele nicht zuhört. Dann weint sie und er weint mit. So ist dann auch der erste Kuss: verregnet. Dann schreit sie wieder, tobt, schlägt, verzweifelt und zieht sich schließlich für ihn aus. Er malt sie. Und während für ihn alles Kurve ist, Weichheit, Verletzlichkeit, während alles zusammenfließt in seinen Augen und dort überströmt, weil er eine solche Perfektion nicht voll erfassen kann, während er das Wunder der gleichmäßigen Unendlichkeit erlebt, sind die Wochen für sie nur eines: Abgehackt. Wieder sind Wochen vergangen, Monate, seit sie die ersten Male zusammen saßen, er ihr Gesicht vor Augen, sie ihre Augen auf seinen Fingern. Es scheint unendlich weit weg, eine Ewigkeit und doch sieht sie es jede Nacht. Sie wünscht es sich; doch auch wenn seine Finger sie berühren, wenn die Kohle unsichtbare Spuren an feinem Haar hinterlassen, kann sie nicht mit ihm fortgehen. Sie darf nicht und wünscht sich, sie hätte geschwiegen; sie sagt es zwar nicht, doch ihr Leiden spricht Bände, wenn man versucht, sie zu heilen. Und während sie nun hier sitzt und ihn betrachtet, die Hoffnung in seinen Augen misst, die stets dieselbe bleibt, wenn er ihr erneut mit einem Akt beweisen will, dass sie ist, wer sie niemals war, spürt sie eine Müdigkeit. Er bemerkt es nicht; er malt fleißig weiter. Und seine Finger erzwingen die Wirklichkeit, machen Amaya zum Zeichen; und dieses Zeichen zeichnet er in die Wirklichkeit. Er macht sie zum Bildnis und hat noch nie Max Frisch gelesen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)