Fragmente von Schreiberliene (Wind und Stille) ================================================================================ Epilog: -------- „Wann es geendet hat, weiß ich nicht, doch die Erinnerung an den Anfang ist so deutlich, dass es mich schmerzt. Der Unfall. Lautes Quietschen und eine Wolke aus Abgasen und dem Geruch von verbranntem Gummi. Die Leere. Und inzwischen? Nach all der Zeit, was ist da aus dem "Warum" geworden? Das Große des Bruders? Das Kleine der Mutter? Immer noch unbeantwortet. Es hat eine Zeit gegeben, da dachte ich, die Fremden wüssten die Antwort; doch auch dieser Weg ist mir nun versperrt. Sie kommen nicht mehr zu mir, nicht mehr, seit ich hier bin. Für einen Moment habe ich ihm geglaubt. Habe gedacht, er verstünde mich besser als ich selbst, habe gedacht, die Art, wie er meinen Körper spielen konnte, beweise, dass er mich kenne. Doch lange konnte der Selbstbetrug nicht dauern. Ich liebe ihn, ja, das weiß ich, ich liebe die Finger, die kurzen gepflegten Nägel; ich liebe den Geruch nach Lösungsmitteln; ich liebe sogar und ganz besonders den Kohlestaub auf seinem Körper. Ich liebe ihn, mehr als irgendjemand einen anderen Menschen jemals lieben kann. Für ihn habe ich es versucht. Als er mir nicht glauben wollte, als er die Fremden ins Reich der Psychose bannte; als er die Wahrheit mit Drogen verschleiern wollte, bin ich ihm gefolgt. Ich habe getan was er wollte, habe es getan wegen der Erinnerung an den Kakao und an den Kuchen, an weinrote Tapete und gemütliche Sessel. Doch ich habe gewusst, dass es eine Lüge war; ich habe gespürt, dass es ein Geheimnis gab, habe das Zerren in der Brust gefühlt, habe gewusst, dass ich nicht war, wer ich sein sollte. Die Seele der einen im Körper der anderen, und das ist kein Wahn. Doch immer, wenn ich es ihm sagte, weinte er und flehte, und immer, wenn er flehte, wollte ich ihm Mut zusprechen und ihm versichern, dass alles gut werden würde. Die Monate zehrten an seinen Kräften und schließlich wusste ich, dass er mich aufgeben musste – dass er mich aufgeben wollte, weil die Hülle ihn mehr angelockt hatte als das Innere. Ich liebe ihn, habe ihn immer geliebt; deswegen habe ich ihm Recht gegeben. Deswegen habe ich die Medikamente genommen und heimlich fortgeworfen, deswegen habe ich nie von den bekannten Fremden erzählt, nicht von den Kämpfen in der Nacht. Ich habe alles aufgegeben was ich war, um dem zu entsprechen, was er wollte; und zumindest er war glücklich. Mit Amaya. Und trotzdem habe ich ihn geliebt, in demselben Maße, in dem ich meine schöne Schwester gehasst habe. Der Spiegel wurde mein Feind. Jahrelang habe ich es vor ihm geheim gehalten, habe ihm nichts gesagt von den Agenten, von den schwarzen Herren. Ich bin zu ihm gezogen, ich bin für ihn Amaya geworden, ich habe mit ihm gelebt. Und er hat mich verraten. Dass er mit ihnen zusammenarbeitete, wollte ich lange nicht sehen; ich habe es lange nicht gesehen. Erst als er nach Hause kam, als er die Tür öffnete, mich ansah, als sein Blick in den Spiegel fiel und er sagte, ich sei nicht die, für die er mich gehalten habe, ist es mir klar geworden. Dabei war es so offensichtlich; er war es, der mich gefunden hat. Er hat mich abgelenkt. Und als genug Zeit verstrichen war, wollte er mich loswerden. Doch ich habe ihn geliebt. Das verstehen Sie doch, oder? Das werden Sie in ihr Buch schreiben. Das Buch über mich, nicht wahr? Das ich ihn geliebt habe. Denn das habe ich. Wirklich. Oder sind Sie schon fertig? Ich würde gerne selber ein paar Worte schreiben, oder Sie benutzen einfach ein paar unserer Protokolle. Ich glaube nicht, dass man so eine Geschichte erzählen kann, so ganz einfach, indem man die einzelnen Geschichten und Ereignisse schildert; das kann so gar nicht erfasst werden, oder? Sie irritieren mich, wenn sie so ganz schweigsam sind. So ärztlich. Wissen Sie was, schreiben Sie einfach ein paar Dinge auf, die ich gesagt habe. Natürlich müssen Sie sie noch literarisch formulieren, aber tun Sie einfach so, als habe ich so mit Ihnen gesprochen. Ich will ans Ende ihres Buches, denn wenn Sie schon ein Buch über meine Geschichte schreiben, will ich das letzte Wort. Sie dürfen dann noch einen klugen Spruch dahinter setzen, also haben wir beide das letzte Wort; aber wenn Sie einen Roman daraus machen, dann könnten ihre Leser Sie falsch verstehen. Denn das ist klar und darauf bestehe ich: Ich bin nicht schizophren. Wer fünf Jahre in einer glücklichen Beziehung lebt, ist nicht krank.“ Und die Vehemenz, mit der Amaya den Kopf schüttelt, macht die Absurdität dieses Vorwurfs noch deutlicher, doch mehr noch als die Tatsache, dass sie vollkommen gesund ist, fällt dem geneigten Beobachter ihre Traurigkeit auf. Der Irrtum, Perfektion bedeute Glück und äußere Vollkommenheit sei ein Indiz für die Innere Schönheit, unterläuft vielen Menschen; doch im Gegensatz zu Amaya hatte ihr Geliebter das Glück, nicht lange mit diesem Wissen leben zu müssen. Sie dagegen muss man vor dem Trugschluss warnen, eine gute Klinge könne ihr zurückgeben, was sie verlor: Ihren Freund, ihre Familie, gleich noch ihre Freiheit und die Individualität, zusammen mit tausend anderen Dingen. Mehr als alles andere: Ihre Schwester. Wenn es anders wäre, hätte ich sie nie kennengelernt und das Scheitern am Verfassen meines ersten, nicht fachwissenschaftlich geprägten Textes hätte noch auf sich warten lassen. Doch es ist wie es ist. “Es ist bemerkenswert, daß wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, daß sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. Wir wissen, daß jeder Mensch, wenn man ihn liebt, sich wie verwandelt fühlt, wie entfaltet, und daß auch dem Liebenden sich alles entfaltet, das Nächste, das lange Bekannte. Vieles sieht er wie zum ersten Male. Die Liebe befreit es aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solange wir sie lieben. Man höre bloß die Dichter, wenn sie lieben; sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken, sie greifen nach allen Dingen im All, nach Blumen und Tieren, nach Wolken, nach Sternen und Meeren. Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Geräumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfaßbar ist der Mensch, den man liebt - Nur die Liebe erträgt ihn so. (…) Unsere Meinung, daß wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe, jedesmal, aber Ursache und Wirkung liegen vielleicht anders, als wir anzunehmen versucht sind - nicht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. Er muß es sein. Wir können nicht mehr! Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. Wir verweigern ihm den Anspruch alles Lebendigen, das unfaßbar bleibt, und zugleich sind wir verwundert und enttäuscht, daß unser Verhältnis nicht mehr lebendig sei. ‘Du bist nicht’, sagt der Enttäuschte oder die Enttäuschte: ‘Wofür ich Dich gehalten habe.’ Und wofür hat man sich denn gehalten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde geworden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.” Max Frisch Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)