Fragmente von Schreiberliene (Wind und Stille) ================================================================================ Kapitel 1: Und über seinem Denken schwebt das Warum --------------------------------------------------- Es fehlt. Sie kann nicht sagen, was es ist, doch es ist wichtig. Es fühlt sich nicht so an als hätte man ein Schmuckstück, die Brieftasche verloren, sondern als wäre einem ein Körperteil abhanden gekommen, ein Arm, ein Bein und doch viel mehr... Das Herz. Ein furchtbarer Schmerz ergreift sie, in Schüben, die sie nicht vorhersehen oder kontrollieren kann, und mischt sich mit einer unendlichen Traurigkeit. Sie ist nicht mehr vollständig, doch das Schlimmste ist, dass sie nicht weiß, was verschwunden ist. Weinen will sie, doch sie kann nicht. Sie kann nur in dieser endlosen Dunkelheit liegen und trauern, trauern um etwas, das sie nicht kennt. Die Frau steht stoisch am Bett des Mädchens, nein, eher der jungen Frau; neben ihr ein kleiner Junge, hilflos. Der Vater ist noch nicht da. Takumi Hakura schüttelt den Kopf; es sind Tage wie diese, die die sinnlose Leere schaffen, die ihn immer wieder, spät in der Nacht, wenn die Freunde gegangen sind, überfällt. Er mag nicht mit diesen Menschen reden, ihnen sagen, was sie nicht hören wollen. Sie wollen Hoffnung, und Hoffnung, das ist, was er sucht, aber nicht finden kann; es ist um so vieles einfacher, Hoffnung zu überbringen, selbst wenn es nur ein Hauch ist. Yasu sitzt neben seiner Schwester und kann noch immer nicht begreifen, dass die Andere nicht mehr da ist. Er will auch gar nicht daran denken, dass ihr zerschmetterter Körper auf der Straße liegt, will nicht verdrehten Knochen vor Augen haben, die er nie gesehen hat Er will wieder seine beiden großen Schwestern haben, will sie ärgern, will, dass sie lebendig sind... Und über seinem Denken, ohne das er es überhaupt bemerken würde, schwebt das große Warum. Genau das fragt sich auch Yuriko Taki, die heute eines ihrer Kinder verloren hat. Doch ihr Warum ist klein und leise; es verhält sich unauffällig. Sie könnte weinen; sie könnte das Schicksal verfluchen, die Ärzte, die von inneren Verletzungen sprechen, selbst den Wecker, der sie heute verraten hat. Doch sie tut es nicht. Sie tut es nicht, weil alleine die Gedanken es real machen würden, weil der Schmerz in ihr so groß ist, dass sie ihn kaum beherrschen kann. Und weil sie nicht nachgeben kann. Die Tür fliegt auf und ihr Mann stürzt herein. Er hat Tränen in den Augen und kann den Tod seiner Tochter doch nicht vollständig erfassen. Ihm fehlt das Bild, zuckt es durch ihren Kopf, das Bild, das sich tief in ihre Netzhaut gebrannt hat. Ihm fehlen das völlig verbogene, einst verchromte Fahrrad und die beiden Körper, die, eng verschlungen, wie ein einziger wirken. Sie hat es. Er greift mit zitternden Armen nach ihr, sie verbirgt ihr Gesicht tief in seiner Jacke und so stehen sie eine schier endlose Weile regungslos da, sich gegenseitig tröstend. Doch da ist kein Trost, egal, wie fest er sie umschließt, egal, wie eng ihre Haut sich an den Stoff schmiegt. Sie versuchen es trotzdem, bis es schmerzt. Und dann wacht das Mädchen auf. Für einen Moment steht die Zeit still, als die Eltern ihre Tochter in dem grünen Krankenhausgewand auf dem Bett sitzen und verwundert ihre Hände betrachten sehen. Dann bricht los, was nicht mehr zurückgehalten werden kann: Schluchzend nimmt Yuriko Amaya in den Arm, gleich darauf wird sie vom Vater umschlungen. Inmitten dieses Knäuels sitzt das Mädchen und stellt sachlich fest: "Es fehlt." Sofort lassen die beiden Erwachsenen von ihr ab und werfen sich hilflose Blicke zu. Es folgt eine Stille, die mit Worten oder Bildern nicht zu beschreiben ist, die Spannung in dem Raum nimmt zu, bis sie unerträglich wird und die Wahrheit, die keiner so recht wahrhaben wollte, aus dem Vater hervorbricht. "Kuraiko ist tot." Amaya blickt ihn für Sekunden erschrocken an und beginnt dann zu lachen. Es ist nicht hysterisch, nicht krankhaft, wie man es erwartet hätte; es ist das fröhliche Lachen über einen guten Scherz, den man fast für wahr gehalten hat. "Mama, was ist wirklich passiert?" Die Mutter schluckt. Ihr fehlen die Worte, ihr fehlt die Kraft, ihr fehlt – sie weiß nicht, was fehlt, doch sie spürt, dass sie fort muss. Kaum hat sie den Raum fluchtartig verlassen, dreht Amaya sich zu ihrem Vater um; ihre Miene zeigt keine Regung. Dann trifft sie ihren eigenen Blick im Spiegel und für einen Moment zeigt sich in ihren Zügen pure Agonie. "Nein...", flüstert sie, ehe sie das Bewusstsein verliert und in die Tiefen ihrer Erinnerung taucht. Ein sanfter Wind liebkost seine Wangen, ein leiser Hauch lässt die langen dunklen Haare schweben und das Mondlicht gibt allem einen seltsam mystischen Schimmer. Das kleine Mädchen, das am Fenster sitzt, weiß nicht, dass sein Schicksal schon in den Sternen geschrieben steht, weiß nichts von Leid und Trauer. Die Zukunft ist das Ziel einer ungewissen Reise durch Gefilde, von denen es höchstens im Traum zu sprechen wagt, doch selbst davon weiß das Kind nichts. Es denkt nicht einmal über etwas Besonderes nach, sonder genießt einfach nur die Stille der Nacht, die Kühle des Windes und freut sich auf seinen morgigen Geburtstag. Was das angeht, ist sie nicht alleine; wenige Meter entfernt findet eine kleine Gesellschaft statt. Wache blaue Augen funkeln, weißblondes Engelshaar glänzt; das Mädchen ist mehr als hübsch, es ist auf dem besten Weg zur Schönheit; sein Trumpf ist die Perfektion. Es fühlt sich wohl, freut sich auf den morgigen Tag. Viele Erwachsene grüßen es, streichen ihr über das weiche Haar. Stolz blickt das Mädchen umher. Es weiß noch nicht, dass Perfektion niemals glücklich macht; doch zumindest unterläuft ihr der selbe Fehler wie so vielen anderen Menschen. Die stolze Mutter streicht den beiden Mädchen über das Haar; vielleicht bleibt ihr Blick einige Sekunden länger an ihrem kleinen Engel hängen. Warum sie ihn heute trotz der späten Stunde noch hat aufbleiben lassen, weiß sie nicht so recht, doch dem Mädchen etwas abzuschlagen scheint fast unmöglich… Kurz streift ihr Blick ihre zweite Tochter und während die Liebe erhalten bleibt, ist der mütterliche Stolz mit einem Mal verloren; schnell sagt sie gute Nacht, geht hinaus und hinterlässt eine gespannte Stille. Ein leises Kichern füllt plötzlich den Raum. Neugierig dreht das dunkelhaarige Kind sich um und schaut zum Bett seiner Zwillingsschwester. Als das Kichern auch nach längerer Zeit nicht verstummt, fragt sie, halb interessiert, halb ärgerlich: "Amaya! Was ist so witzig?" Ihre Schwester kichert noch immer, lässt sich aber dann zu einer Antwort herab. "Morgen ist es genau sieben Jahre her!" "Was ist morgen genau sieben Jahre her?“, fragt das Mädchen verwundert. Es kann doch nicht sein, dass Amaya ihre Geburt so witzig findet? Überhaupt lacht Amaya zu viel. Und immer ist sie der Grund dafür; das ärgert sie maßlos. Wieder kichert ihre hübsche Schwester. "Na, dass Mama und Papa dir einen so komischen Namen gegeben haben!" Ach so. Darum geht es. Ihr kommen die Tränen, denn nicht zum ersten Mal zieht Amaya sie damit auf, dennoch antwortet sie verärgert, ohne die Blöße zu zeigen. "Es ist mein Name." Amaya kichert wieder, anscheinend hat sie ihre albernen fünf Minuten und wird sich so schnell auch nicht mehr einkriegen. "Aber Kuraiko ist doch ein Jungenname!" Langsam wird es dem anderen Mädchen endgültig zu viel. Es dreht sich wieder zur Wand und meint: "Nicht nur. Schließlich darf ich auch so heißen." Wieder ein Kichern. Resigniert schließt Kuraiko die Augen und beschließt, ihre Schwester einfach zu ignorieren. Dass sie Amaya in Wahrheit auch viel schöner findet, verschweigt sie – das muss ja keiner wissen. Dunkle Wolken verhüllen die Sterne, als Amaya wieder zu sich kommt. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass es vier Uhr Morgens ist. Neben ihrem Bett, auf einem Stuhl, sitzt ihr Vater und schläft, tief und traumlos. Schwer schluckend blickt das Mädchen an die Decke. Sie wartet. Sie denkt. Schon seit einer Stunde kämpft Amaya mit sich selbst. Sie möchte in den Spiegel sehen, um herauszufinden, ob alles nur ein furchtbarer Traum gewesen ist oder nicht, doch gleichzeitig fürchtet sie sich davor... Der Spiegel wird zum Symbol für all ihre Ängste, für ihre Unsicherheit. Sie will die Wahrheit nicht wissen und im selben Moment weiß sie, dass sie ihr nicht entkommen kann. Schließlich steht sie leise, ohne ihren Vater zu wecken, nachdem sie die Gerätschaften mit schlafwandlerischer Sicherheit gelöst und abgeschaltet hat, auf und läuft zu dem Spiegel, der die gesamte Südwand des Zimmers einnimmt. Noch kann sie nichts sehen, die Dunkelheit raubt ihr die Sicht, doch kurzentschlossen schreitet sie zum Fenster, zieht den Vorhang beiseite und lässt das grünliche Licht der Notbeleuchtung herein. Dann, ganz langsam, dreht sie sich um und betrachtet ihr Spiegelbild. Langes, weißblondes Haar, sturmblaue Augen und einen tiefen Kratzer im Gesicht; es stimmt. Ihre Beine geben unter ihr nach und sie fällt zu Boden, fassungslos. Und doch steht sie; die Realität verschwimmt. Sie kann nicht glauben, dass Kuraiko tot ist, denn sie ist es, sie ist doch Kuraiko Taki. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)