1000 kleine Tode von Ixtli (oder: Die Kunst des Sterbens) ================================================================================ Kapitel 3: Miras Blumen ----------------------- "Niemand, der in die Wüste geht, kehrt als derselbe daraus zurück." (Tuareg Weisheit) ~ * ~ Das Angebot hatte verlockend geklungen. Sich einmal im Leben wie Laurenz von Arabien fühlen? Die Wüste hautnah erleben? Genießen Sie ein abenteuerliches Wochenende voller neuer Erfahrungen in der Sahara. Entdecken Sie am Tag die schöne Seite dieses lebensfeindlichen Stück Erde und besuchen Sie am Abend einen wirklichen Nomadenstamm. Feiern Sie mit neuen Freunden und verbringen Sie eine Nacht in einem echten Beduinenzelt! Anmeldungen für die Wochenendtour werden Mo. - Mi. in der Zeit von 9.00 bis 17.00 Uhr bei unseren Mitarbeitern im Reisebüro entgegengenommen. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an Ihre Reiseleitung. Langweilige Pauschalunterhaltung für langweilige All-Inclusive-Touristen, dachten sich die vier jungen Leute, die vor dem Plakat in der Hotellobby standen. Sie tauschten kurze Blicke miteinander, die erkennen ließen, dass sie eine solche Tour allemal alleine organisieren konnten und prompt machten sie sich auch in der nahegelegenen Stadt auf eigene Faust auf die Suche nach jemandem, der sie durch die Wüste führen konnte. Denn wer, wenn nicht die Einheimischen selbst, kannte sich besser im eigenen Land aus?! Und billiger waren die beiden Scouts auch, die sie nach einigem Hin und Her Verhandeln in der Altstadt fanden. Die ersten Zweifel, die sie beim Anblick ihres etwas klapprigen und staubigen Gefährts überfielen, ignorierten die Vier. Es war nicht das neueste Modell, aber mit allem ausgerüstet, was man für eine Wüstentour brauchte, genau wie die Jeeps auf den Safaribildern im Hotel. Und Staub und Schmutz waren in einem Land, das zu 90% aus Wüste bestand, eben unvermeidlich. Nina und Tim, ein frischverheiratetes Paar, und ihre beiden flüchtigen Bekannten aus dem Hotel, Mira und Joscha, die nach Ninas Meinung genau so aussahen, wie ihre Namen klangen: ein bleichgesichtiges Ökopärchen, das in der Wüste so deplatziert wirkte wie blühende Blumen, verabredeten sich für den nächsten Vormittag. Die Tour durch die Wüste erfüllte nahezu alle Anforderungen, die sich die beiden Paare davon versprochen hatten. Der Fahrer schien die Strecke im Schlaf zu kennen. Für ihren Geschmack hielten sie zwar nicht immer lange genug an, um sich die bizarren Felsformationen genauer betrachten zu können, aber in der gleißenden Hitze war ihnen die Weiterfahrt mit Aussicht auf ein versprochenes Camp, in dem sie sich eine Weile ausruhen konnten, ohnehin lieber. Als die Nachmittagssonne die schroffen Felsen zum Glühen brachte und das Gelände immer unwegsamer wurde, stoppte der Jeep abrupt mitten im sandigen Nirgendwo. Der Fahrer und sein Nebenmann brachen, kaum dass das Auto angehalten hatte, in einen lautstarken Disput aus, der die vier jungen Leute auf der Rückbank unsichere Blicke austauschen ließ. Hatten sie sich doch verfahren? Der Beifahrer zischte dem Fahrer deutlich ungehalten ein paar Sätze zu und schlug, offenbar um seine wütende Rede noch zu untermalen, mit der Faust auf das Armaturenbrett. Der Fahrer erwiderte nun etwas, das seinen Nebenmann prompt zufrieden lächeln ließ. Auf einen Schlag war die Diskussion beendet und die beiden Einheimischen stiegen aus dem Jeep. Nina legte das mitgebrachte Modemagazin, mit dem sie sich die ganze Zeit über Luft zugefächelt hatte, zur Seite. "Endlich mal Pause", seufzte sie erleichtert auf und griff nach ihrem Rucksack, um sich mit etwas zu essen für die Weiterfahrt zu stärken. Kopfschüttelnd lehnte Mira den angebotenen Fruchtriegel ab. "Zu viel weißer Zucker", rechtfertigte sie sich lächelnd. Nina warf ihrer Sitznachbarin einen verständnislosen Blick zu. Sie zuckte kurz mit den Schultern und aß dann ihren Riegel kommentarlos weiter. Tim verließ unterdessen den Wagen und ging zum Heck, um sich frisches Wasser aus einem der Kanister zu nehmen. Den Plastikbecher in der Hand drehte er sich um und blickte in einen metallisch glänzenden Gewehrlauf, der auf sein Gesicht gerichtet war. "Ach, du Scheiße", entfuhr es Tim, der den Plastikbecher fallen ließ und langsam die Arme über den Kopf hob. Den schockiert dreinblickenden Tim vor sich her treibend, umrundete der Fahrer den Jeep bis zur Front, wo bereits die beiden Frauen und Joscha im heißen Sand knieten und von ihrem ebenfalls bewaffneten Beifahrer in Schach gehalten wurden. Der Fahrer deutete wortlos auf einen Platz neben dem Jeep und Tim trottete gehorsam zu seinen drei Mitfahrern hin. "Was ist denn hier los?", flüsterte Tim Nina zu, die neben ihm kniete und die Männer, die nun ihr Gepäck aus dem Wageninnere nach draußen verfrachteten, nicht aus den Augen ließ. "Das fragst du mich?" Nina war anzusehen, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand und Tim schaute hinüber zu Joscha, der eine Hand sinken ließ und sie der weinenden Mira beruhigend auf den Rücken legte. "Lebensmüder Irrer", stieß Tim zwischen seinen aufeinander gepressten Zähnen hervor. "Was machen die denn mit unserer Ausrüstung?", stammelte Nina mit erstickter Stimme. Zu keinem Widerspruch fähig, sahen die vier jungen Leute zu, wie nacheinander ihre Habseligkeiten aus den Taschen genommen wurden. Die beiden Fahrer durchwühlten ihre Rucksäcke sorgsam und warfen zurück ins Auto, was ihnen wertvoll genug erschien, um es nicht in der Wüste zurücklassen zu müssen, auch die wenigen Lebensmittel, die die Vier mitgebracht hatten. Der wenige nutzlose Rest, der noch blieb, lag vor den vier Gefangenen im Sand. Als alle mitgenommenen Mobiltelefone, Geldbörsen, Fotoapparate, Schmuck und Uhren aussortiert waren und die Besitzer gewechselt hatten, ging ihr ehemaliger Fahrer zum Heck des Jeeps und kehrte gleich darauf mit einem der Trinkwasserkanister zurück. Lächelnd stellte der Mann den Kanister vor den jungen Leuten ab. In aller Ruhe erklärte er ihnen noch etwas in seiner Sprache, was sie nicht verstanden. Dann lud er sein Gewehr durch und schoss ein paar Mal auf den oberen Teil des Plastikbehälters, der ihren ganzen Vorrat an Trinkwasser enthielt. Tim ballte seine im Nacken verschränkten Hände zu Fäusten und war drauf und dran, sich auf ihre Entführer zu stürzen, als ein Schatten neben ihm nach vorne fuhr. Joscha war aufgesprungen und stürzte zum Wasserkanister hin. Die beiden Männer würden sie hier in der Wüste lassen und ohne das Wasser, das aus dem durchlöcherten Kanister floss und im glühenden Sand versickerte, hatten sie keine Chance hier lebend heraus zu kommen. Aber noch ehe Joscha den durchlöcherten Wasserkanister erreicht hatte, stand ihr Fahrer vor ihm und schlug Joscha den Gewehrkolben mit voller Wucht ins Gesicht. Schreiend sprang Mira auf und ließ sich neben Joscha zu Boden fallen, der benommen im Sand lag. Blut quoll aus Joschas Mundwinkeln und Mira versuchte vergeblich die rote Flüssigkeit mit einem Zipfel ihres T-Shirts aufzuhalten. Langsam kam Joscha wieder zu Bewusstsein. Er versuchte sich aufzurichten, ließ es aber sein, als eine Schwindelattacke ihn erfasste. Vorsichtig tastete er seinen Kiefer ab, der bei dem Schlag mit dem Gewehr bedenklich geknackt hatte, aber es schien nichts gebrochen zu sein. "Alles in Ordnung", versuchte der Blutüberströmte Joscha die weinende Mira zu trösten, die noch immer neben ihm kniete, ihren Kopf an seine staubige Schulter gelehnt hatte und leise vor sich hin sprach. "Das Wasser - es ist fast alles weg." Unter Schmerzen erhob sich Joscha, bis er einigermaßen aufrecht dasaß. Er sah zu dem Kanister hin, der zu zwei Dritteln leer war und dann zu ihren Entführern, die vor ihnen auf und ab schritten. Ihr Beifahrer richtete nun sein Gewehr nacheinander auf die vier Touristen, die starr vor Schreck an ihrem Platz saßen und die Szene stumm beobachteten. Der Mann zischte ihnen eine Warnung zu. Offensichtlich die letzte, wie seine Mimik und Gestik klarzumachen versuchten. Dann stellte er einen Fuß auf den Wasserkanister und kippte den Behälter demonstrativ langsam zur Seite, bis auch der letzte Rest des Wasser daraus zu fließen begann. Joschas schockbleiche Wangen färbten sich nun in einem wütenden Rot. Die Angst vor dem bevorstehenden Verdursten war größer als der Schmerz durch den Schlag oder die Furcht vor den bewaffneten Männern. Er startete einen erneuten Versuch, das letzte bisschen Wasser zu retten, das ihnen noch geblieben war und machte einen mutigen Hechtsprung nach vorne. Der überrumpelte Entführer strauchelte, als sich Joscha gegen ihn warf. Er verlor sein Gewehr, aber noch ehe er sich anderweitig wehren konnte, erklang von hinten ein Schuss und Joscha fiel getroffen zu Boden. Das Aufheulen des Motors ging im Geschrei und der panischen Hektik, die selbst die beiden zuvor starr im Sand knienden Leute erfasst hatte, fast unter. Im wahnsinnigen Tempo raste der Jeep mit den beiden Entführern davon und verschwand schließlich am Horizont, während sich die kleine Gruppe um den im Sand liegenden Joscha scharte. "Nix zu machen." Tim ließ Joschas Hand sinken. "Der ist tot." Mira starrte den bleichen Mann sprachlos an, der an Joschas Seite kniete und gerade dieses endgültige Urteil verkündet hatte. "Das ist nicht wahr", schrie Mira nun wie von Sinnen. "Wir müssen ihn beatmen!" Mira trommelte mit beiden Fäusten auf Joschas reglose Brust. "Hilf mir doch!", brüllte sie Tim an, der tatenlos vor ihr saß. Mira griff in den Sand und warf ihn in Tims Richtung. "Hilf doch endlich!" "Das kann ich nicht, er ist tot..." Tim wischte sich den Sand aus den Augen. "Wir müssen gehen, solange wir noch die Spuren des Wagens im Sand erkennen können", erklärte er Mira so ruhig es ging, doch die Frau schrie erneut auf und Tim verstummte bedrückt. Er stand auf und half Nina auf die Füße. Hilfsbereit streckte Tim Mira seine Hand hin, die diese wütend wegschlug. "Hör zu", begann Tim wieder. Er achtete auf jedes Wort, das er sprach, aber sein Tonfall verbarg nur wenig seiner eigenen Angst. "Wir waren vier Stunden mit dem Jeep unterwegs, wir haben also ziemlich viele Kilometer zurückgelegt. Bleiben wir noch länger hier und warten, bis die Dunkelheit hereingebrochen ist, sehen wir die Wagenspuren nicht mehr, die unsere einzige Chance sind, hier herauszufinden, und dann werden wir alle sterben. Joscha hat nichts mehr davon, wenn wir hier neben ihm verrecken, aber wir drei leben noch und sollten sehen, dass wir zumindest so weit wie möglich den Weg zurückverfolgen können." Mira war über dem Körper des toten Joscha zusammengesunken und weinte leise. Sie wusste es doch selbst, dass er tot war, aber der Gedanke, ihn hier alleine an diesem leeren Ort zurückzulassen, erschien ihr noch unerträglicher als ihr eigener Tod. Garantieren, dass sie überleben würden, konnte ihr auch niemand, dann wollte sie lieber hier neben demjenigen sterben, ohne den sie zu Hause nicht sein wollte. Tim schüttelte den Kopf. "Wir gehen jetzt, wenn du hier bleiben möchtest, dann tu es, aber ich warte nicht darauf, dass ich sterbe, ohne alles getan zu haben, um das zu verhindern." Der junge Mann ergriff die Hand seiner Frau und nach einem letzten Blick auf die von Weinkrämpfen geschüttelte Mira, gingen sie und überließen die junge Frau ihrem Schicksal, das sie schon längst akzeptiert zu haben schien. Die Fahrrinnen des Jeeps waren gut zu sehen und Tim und Nina kamen trotz der Hitze zügig voran. "Wenn wir Wasser finden, müssen wir es wenigstens nur durch zwei teilen, anstatt durch drei." Tim strich sich den Schweiß aus dem Gesicht. Nina hielt sich die Hände über die Augen, um sie vor der Sonne zu schützen und versuchte vor sich in der flirrenden Weite der Wüste einen Anhaltspunkt auszumachen, an dem sie sich orientieren konnten. "Unmöglich", flüsterte Tim und Nina drehte sich zu ihrem Mann um. "Schau mal", Tim deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Ein kleiner Punkt folgte ihnen aus der Ferne. "Kaum zu glauben, oder?" Nina nickte langsam. "Dass sie es doch geschafft hat... Sollen wir warten?" Tim hob die Schultern. "Na ja, warum nicht." Miras Gesicht war rot vor Anstrengung und Hitze. Sie sagte kein Wort zu Nina und Tim, die warteten, bis Mira zu ihnen aufgeschlossen hatte. Kein einziges Wort würde sie mehr über Joscha fallen lassen, nie wieder in ihrem Leben. Nina und Tim kam das Schweigen nur recht, so konnten sie alle ihre dringend benötigte Energie für den langen Heimweg sparen. Die späte Nachmittagssonne brannte heiß vom Himmel herab. Der leichte Wind, der aufgekommen war, verhieß nichts gutes. Tapfer kämpften sich die drei jungen Leute durch den fliegenden Sand, aber schnell merkten sie, dass dieser ihnen nicht nur die Sicht nahm, sondern auch die Reifenspuren des Jeeps verwischte, denen sie bisher gefolgt waren. Hatten sich die Fahrrinnen bis eben noch gut sichtbar durch den Sand gezogen, waren sie nach einer Weile einfach weg als hätte es sie gar nicht gegeben. Ihre letzte Hoffnung, sich einen Überblick zu verschaffen, war ein zerklüftetes Felsplateau, das sich vor ihnen aus dem Boden gen Himmel erhob. Die Drei erklommen den aufgeheizten Felsen und ließen oben angekommen ihre Blicke über die weite Landschaft schweifen. Aber selbst von oben war kaum mehr zu sehen als von unten. Die Wüste zog sich endlos von Horizont zu Horizont. Von einem sichtbaren Ende zum anderen war nichts als eine riesige Einöde zu erkennen, die lediglich von einigen Felsen und ausgedörrtem Gestrüpp unterbrochen wurde, das sogar zum Schattenspenden zu mickrig war. "Wir bleiben wohl besser hier im Schatten des Felsens." Ninas Stimme klang kratzig und erschöpft. Tim ließ ratlos die Schultern hängen. Er nickte zustimmend und folgte den beiden Frauen den Felsen hinab. "Man sucht sicher schon nach uns", murmelte Tim. Seit einer Unendlichkeit schienen sie schon hier in dieser Wüste gefangen zu sein. Die Sonne neigte sich mittlerweile dem Horizont entgegen und die drei jungen Leute saßen noch immer im Schatten des großen Plateaus. "Wir sind schon den ganzen Tag unterwegs und irgendwann wird man uns im Hotel sicher vermissen..." Nina lehnte mit dem Rücken gegen den Sandstein. Zumindest im Schatten war es erträglich gewesen, den Rest des Nachmittags auszuhalten. Und jetzt kam schon die Nacht, die sie alle mindestens genauso fürchteten, wie den riesigen Feuerball, der gerade hinter dem Horizont versank. Aber eines blieb gleich: ihr Durst. "Ich habe eine Filmdose." Nina und Tim hoben die Blicke, als Miras Stimme erklang. Seit Joschas Tod hatte sie geschwiegen, nicht einmal geweint oder geseufzt, so dass die beiden anderen schon fast froh darüber waren, jetzt etwas von ihr zu hören. "Damit könnten wir etwas Wasser auffangen." In ihrer zittrigen Hand hielt Mira eine leere Filmdose in die Höhe. "Wir bräuchten nur noch ein Stückchen Plastikfolie..." Ihre beiden Begleiter sahen die junge Frau verständnislos an, dann begannen sie in ihren Taschen zu wühlen, bis Nina schließlich eine Plastikfolie von der Größe einer Handfläche aus ihrer Hosentasche hervorzog. Tim suchte neben sich den Boden ab und präsentierte kurz darauf ein paar kleine Steine. Sie gruben ein kleines Loch in den Boden, in das Mira die leere Filmdose mit der Öffnung nach oben stellte. Nina deckte das Loch mit der Folie ab und beschwerte die Ränder mit weiteren Steinen und Tim legte schließlich einen etwas kleineren Stein in die Mitte der Folie, so dass diese sich nach innen wölbte. Jetzt mussten sie nur abwarten, dass das Wasser unter ihrer Konstruktion kondensierte, sich an der Folie sammelte und von dort in die Filmdose hinab tropfte. Mira sah auf das Loch im Boden. Den Film mit ihren Urlaubsbildern hielt sie fest in ihrer Hand. Und das waren nun die letzten sichtbaren Erinnerungen an Joscha, dachte sie verbittert. Dumme Bilder von ihnen beiden am Strand, beim Essen in einem maurischen Café und noch mehr solcher unsinnigen Fotos. Wie hätten sie wohl ausgesehen, wenn sie gewusst hätten, dass ihr letzter gemeinsamer Tag so nahe war? Die Nacht brach mit einer Gewalt ein, die die drei jungen Leute völlig überrannte. Sie lagen eng aneinander gedrängt im Windschatten des Felsens, aber die eisige Kälte kroch in ihre müden Knochen und nagte an ihrem Überlebenswillen, mit dem sie sich bis hierhin gerettet hatten. So heiß die Wüste am Tag auch gewesen sein mochte, so kalt war sie jetzt. Niemand sprach mehr ein Wort, aber ihre Blicke waren alle auf das gleiche Ziel gerichtet, die Sterne, die silbrig am ansonsten tiefschwarzen Himmel glänzten. Wie viele Grad es wohl waren, dachte Nina fröstelnd. Vier? Fünf? Über Null oder darunter? Es dauerte lange, bis alle drei die Augen von den blinkenden Objekten am Himmel gewandt hatten und eingeschlafen waren. Mehr blieb ihnen nicht übrig. Dass der eiskalte Wind die Plastikfolie über ihrer Wassergewinnungskonstruktion wegwehte, nahm niemand mehr wahr. Mira fuhr auf, als sie das leichte Rütteln an ihrer Schulter spürte. "Wir gehen weiter", sagte eine erschreckend abgeklärte Nina zu der am Boden sitzenden Frau. "Die Folie wurde in der Nacht wohl weggeweht. Tim will nicht mehr länger hier bleiben. Die Dünen... sie sind jetzt alle ganz anders als gestern..." Nina lächelte verkrampft und Mira wandte die Blicke ab. Erst jetzt sah Mira, dass Tim schon den Felsen hinabgeklettert war und unten auf Nina wartete. Die beiden hatte sich wohl schon abgesprochen und fragten Mira nur, um sich hinterher keine Unmenschlichkeit vorwerfen lassen zu müssen. "Ich bleibe hier", murmelte Mira Von Nina kam keine Reaktion auf diese Eröffnung. Sie drehte sich nur wortlos um und machte sich an den Abstieg des Felsens. Mira blieb alleine auf dem zerklüfteten Felsmassiv zurück. Lange hatte es Mira nicht ausgehalten. Der Felsen, so hatte sie den Eindruck, würde ihr Grabstein werden, wenn sie noch länger unter einer seiner steinernen Überhänge liegen blieb. Von Nina und Tim hatte sie keine Spuren gesehen. Sie waren irgendwann hinter den neu formierten Dünen verschwunden. Noch war es früh am Morgen, aber die mit der aufgehenden Sonne ansteigende Wärme ließ erahnen, was der jungen Frau in ein paar Stunden an Hitze bevorstand. Etwas später wünschte sich Mira, sie hätte unrecht gehabt. Die Sonne stach mit ihren Strahlen auf die vor Durst fast wahnsinnig gewordene Frau. Mira hatte nun vollständig die Orientierung verloren, nicht zuletzt auch wegen des Schwindels, der sie kaum noch einen Schritt geradeaus machen ließ. Ihr Gesicht schien mit dem Sand unter ihren Füßen um die Wette zu glühen. Sie suchte nach Halt, griff aber ins Leere. Der Horizont wankte vor ihren Augen. Oder war sie es, die wankte? Ihre Beine waren weich wie Pudding. Kurz ausruhen, dachte Mira bei sich. Nur ganz kurz sich hinsetzen. Mira fiel in den Sand, wo sie gerade gestanden hatte. Er war so weich und ließ ihre schmerzenden Knochen die Strapazen für Sekunden vergessen. Aber der Schwindel wurde nicht besser. Mira schloss die Augen und selbst hinter ihren geschlossenen Lidern spürte sie das Wanken ihres Körpers, der schon zu wissen schien, dass es keine Rettung gab. Wie es wohl war, zu verdursten? Wie fühlte sich der letzte Herzschlag an? Mira dämmerte weg. Träume von Joscha plagten sie. Sie wollte weinen, aber sämtliche Körperflüssigkeiten schienen von der Sonne ausgetrocknet worden zu sein. Ihre Zunge klebte dick und pelzig an ihrem Gaumen. Schlucken konnte sie nicht mehr, doch ihr Körper führte den natürlichen Reflex trotzdem aus und schon bald schmerzte Miras Hals, als wäre das Feuer des gleißenden Balls am Himmel ihre Kehle hinabgeglitten. Etwas Nasses lief über Miras Wangen und die junge Frau kam ein wenig zur Besinnung. Weinte sie etwa doch, dachte Mira. Wo kamen die Tränen her? Ein Tropfen rann zwischen Miras aufgeplatzte Lippen in ihren Mund hinein. Er war süß, aber waren Tränen nicht salzig? Nein, nicht ihre! Miras Tränen waren süß! Sie überschwemmten ihr überhitztes Gesicht. Wie Ströme brachen die Tränen aus ihr heraus und überfluteten ihre glühend roten Wangen. Miras geschwollener Hals konnte die Fluten kaum bewältigen. Sie hustete, als das Wasser in ihre Luftröhre gelangte, doch keine ihrer Tränen durfte verloren gehen, sie waren alle für Joscha, der hier irgendwo in der Wüste lag, und der ihren Wasserkanister zu retten versucht hatte und dabei erschossen wurde. Dann hörte sie die leisen Worte. Sicher war es nur der Wind, der in den wandernden Dünen sang. Mira zwang sich, die Augen zu öffnen, schloss sie allerdings sofort, als ein erneuter Wasserschwall auf ihr Gesicht niederging. Erst als die Fluten verebbt waren, hob Mira ihre müden Lider und erkannte verschwommene bunte Kleckse in dem goldenen Meer aus Sand. Das Wasser, ihre Tränen, hatte Blumen sprießen lassen, dachte Mira. Ein zaghaftes Lächeln zog sich über ihr Gesicht. Ihre Tränen waren im leblosen Sand versickert und hatten diesen fruchtbar werden lassen. Überall sprossen nun Blumen! Und es wurden immer mehr. Blaue, Grüne, Rote, Gelbe und Lilafarbene. Wie Blumen in einem Weizenfeld, so wuchsen die vielfarbigen Pflanzen in der goldgelben Wüste und wiegten sich im warmen Wind. Eine dieser Blumen, eine hochgewachsene Kornblume, die direkt neben ihr aus dem Boden wuchs, neigte nun ihr Blütenköpfchen zu Mira hinab, als wollte sie die junge Frau fragen, wie sie denn hierher an diesen einsamen Ort gekommen sei. Mira versuchte zu antworten. Sie wollte von ihrer Tour erzählen und Joscha, den sie hatte alleine lassen müssen. Aber nichts als ein heiseres Krächzen entrang sich Miras gepeinigter Kehle. Mira hob ihre zitternde Hand. Ihre Finger krallten sich das seidige Gewand der blauen Blume. Sie war zart und weich, nicht so dornig wie die, die überall wuchsen. Sie durfte nicht mehr verschwinden, sondern sollte ihr weiter Schatten spenden. Die Blume beugte ihren grazilen Stängel, bis ihr Blütenkopf ganz nahe an Miras war und ihre Blätterhände strichen sanft über Miras glühende Wangen. Erschöpft schloss Mira kurz die Augen. Sie hätte der Blume, die ihr den erholsamen Schatten spendete, so gerne von Joscha erzählt und von den anderen Blumen in ihrem Hochzeitsstrauß, den sie nach dem Urlaub in der Gärtnerei hätten abholen sollen. Und jetzt musste sie die Blumen ihres Straußes zu einem Kranz winden lassen. Die Kornblume, die Mira in ihrem Arm hielt, hob nun eine ihrer Blätterhände und schob die indigofarbenen Blütenblätter auseinander. Bräunliche Flecken blitzten unter dem dunklen Blau hervor und Mira hielt erschrocken die Hände der Blume fest. Sie durfte nicht verwelken! Der Gesang des Windes erklang wieder und Mira ließ die Blume los. Staunend sah sie zu, wie die schwieligen Hände, denen man die harte Arbeit ansah, ein ausdrucksstarkes Gesicht enthüllten, das voller Falten war, so zahlreich wie die vom Wind in den Sand gepflügten Furchen, die die junge Frau in die Irre geführt hatten. Wie ein aufgeschlagenes Buch erzählte das wettergegerbte Gesicht des Beduinen von seinem kargen Leben in der Wüste. Aber die stärksten Furchen in diesem Gesicht, das von allen durchlittenen Entbehrungen gezeichnet war, zogen sich um die nun gütig lächelnden Mundwinkel. Der Beduine half Mira, sich etwas aufzusetzen. Er redete und lächelte gleichzeitig, und während der Mann zu Mira sprach, erkannte die junge Frau in den melodischen Worten den Gesang des Windes, den sie eben zu hören geglaubt hatte. Er sprach davon, dass sie früh am Morgen, als die Sonne nur einen dünnen Streifen am Horizont erwärmt hatte, einen Toten gefunden hätten. Er musste schon länger im Sand liegen, denn sein Blut war selbst zu rotem Sand geworden. Und er sprach davon, dass sie, als die Sonne höher stand als die Felsen in der Wüste, noch einen Toten gefunden hätten und nur ein paar Dünen weiter eine leblose Frau. Keinem hätten sie mehr helfen können. Dann sprach der Beduine davon, dass man sich in der Bahr-bela-mar, dem Meer ohne Wasser, niemals trennte. Man musste zusammen halten. Gemeinsam sei man wie der Wüstensand, viele, die miteinander zogen und sich im Sturme Halt gaben. Alleine wäre man ein hilfloses Staubkorn auf einer glatten goldenen Platte, das beim kleinsten Windhauch einfach hinweggeweht würde. Jetzt stünde die Sonne fast über ihren Häuptern und sie hätte Glück gehabt, dass sie gefunden worden sei, denn das güldene Meer hatte keine festen Ufer. Mira verstand die Sprache nicht, sie verstand nur das tröstende Lächeln, das die faltigen Mundwinkel des Mannes umgab. Auch die anderen Blumen kamen nun näher und umringten Mira und ihre blaue Blume, nein, den blaugekleideten Mann, berichtigte sich Mira. Der Alte an Miras Seite nahm einen schlauchähnlichen Behälter, den er gereicht bekam, und kippte das Wasser daraus in seine Handfläche. Er hielt sie an Miras aufgesprungene Lippen und ließ die Flüssigkeit in ihren Mund fließen. Erneut schüttete er sich Wasser in die Hand und goss es über Miras Stirn. Mit seinem Wasserbenetzten Schultertuch tupfte er Miras Gesicht ab und kühlte es so eine Zeitlang, bis sich die junge Frau soweit erholt hatte, dass der Schwindel wieder nachließ. Einer der anderen Nomaden brachte ein Tuch, das man Mira als Schutz vor der Sonne um Kopf und Nacken wand. Der Alte drückte ihr drei getrocknete Feigen in die Hand und dann nahm man Mira mit - hinaus aus der Einöde. ~ Ende ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)