Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 18: ------------ Mamoru stand hilflos keuchend gegen die Wand gelehnt da und wartete darauf, dass der Schwindelanfall endlich vorbei ging. Er hatte gerade die mit Abstand anstrengendste Autofahrt seines Lebens hinter sich gebracht. Eine Nachbarin war so freundlich gewesen, Kioku an die Moto-Azabu-Oberschule zu fahren und sie zusammen mit ihrem Neffen auch wieder von dort abzuholen. Dummerweise war ihr alter Toyota nur mittelmäßig gut gefedert, und bei jedem Gullydeckel oder jedem noch so kleinen Schlagloch war in Mamorus Schädel ein so schmerzhafter Gong erklungen, als hätte ein Gott mit einem gewaltigen Hammer einen überdimensionalen Amboss malträtiert. Und zwar mit der größten Begeisterung. Doch endlich war die Tortur vorüber. Oder viel mehr: sie wurde durch eine andere ersetzt. Noch immer hatte Mamoru schwer mit seinem Blutdruck zu kämpfen. Auch jetzt, wo er endlich im Flur der Wohnung stand, kämpfte er gegen Schwindel, Brechreiz und Bewusstlosigkeit an. Ohne Kioku, die ihm beistand und ihn stützte, damit er nicht einfach zusammenklappte, hätte er diese Schlacht wohl schnell verloren. Als er sich wieder so weit gefangen hatte, dass er einigermaßen laufen konnte, führte ihn seine Tante ins Wohnzimmer, wo er sich erst mal schwer atmend auf die Couch fallen ließ. Sein Gehirn protestierte empört gegen die plötzlichen Bewegungen, indem es ein grässliches Pochen bis in die letzten Nervenenden des Körpers entsandte. Kioku setzte sich vorsichtig neben ihn und strich sein Haar aus seinem Gesicht. Besorgt seufzend fuhr sie über seine Stirn. "Mein kleiner Junge, Du glühst ja förmlich. Mit Deinem leuchtend roten Kopf kannst Du nachts im Bett lesen. Jede Weihnachtsbeleuchtung wird da grün vor Neid. Selbst die Sonne verblasst neben Dir! Woher hast Du eigentlich dieses Halogenlicht? Du erinnerst mich an meinen Chemieunterricht, als wir gelernt haben, wie gut Magnesium brennt..." "Ich hab's ja begriffen", brummte Mamoru. "Tschuldige. Ich übertreibe mal wieder, was?" Sie lächelte. Doch die Sorge stand ihr zu deutlich ins Gesicht geschrieben, als dass ihr Lächeln hätte echt wirken können. "Mamoru, mein Kurzer, kann ich irgendwas für Dich tun? Hast Du vielleicht Hunger?" Im letzten Moment widerstand Mamoru dem Impuls, den Kopf zu schütteln. Noch immer fraßen sich die Schmerzen an seinen Nervenbahnen entlang. Müde antwortete er: "Nein, lass mal gut sein. Ich hab mich vorhin schon übergeben müssen und mir geht's immer noch nicht besser." "Du hast...?" Einige Sekunden lang wusste sie nicht so recht, was zu tun sei. Schließlich stand sie mit einem Seufzer auf, murmelte ihm zu, sie komme gleich wieder, und verschwand für einen Augenblick aus dem Zimmer. Derweil löste Mamoru den Knoten seiner Krawatte und entledigte sich des lästigen Kleidungsstücks. Schweiß ließ sein Hemd an seinem Brustkorb kleben. Und ihm war so heiß, so wahnsinnig heiß! Mamoru glaubte fast, jeden Moment ersticken zu müssen. Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes. Bald darauf folgte der nächste. Und der nächste. Mittlerweile kam Kioku zurück. Sie balancierte eine kleine Wanne voller Eiswasser vor sich her, und in der einen Hand hielt sie einen Waschlappen. Sie stellte die Wanne vorsichtig neben der Couch auf dem Boden ab, griff nach Mamorus Handgelenken und zog sie behutsam vom Hemd weg. "Lass das, Du machst es nur noch schlimmer. Du solltest Dich lieber sogar noch zudecken." "Aber... es ist... auf einmal... so wahnsinnig... heiß hier", röchelte Mamoru. Die gewaltige Anstrengung zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. Verbissen kämpfte er gegen Schmerz und Übelkeit. "Ach, Mamoru...", wimmerte Kioku. Sie tauchte den Waschlappen in das eiskalte Nass, wrang ihn etwas aus und platzierte ihn auf der Stirn ihres Neffen. Die Kühle tat ihm wahnsinnig gut, und er ließ geschehen, dass Kioku sein Hemd wieder zuknöpfte und eine Wolldecke über ihm ausbreitete. Immer mal wieder tauchte sie den Waschlappen in das Wasser und tupfte Mamoru damit über das Gesicht, den Hals entlang und über die Stirn. Außerdem besorgte sie schon bald ein Fieberthermometer. Während es noch mit der Messung beschäftigt war, kniete Kioku neben ihrem Neffen nieder, tupfte die Schweißtropfen von seiner Stirn und sprach ihm immer wieder beruhigende Worte zu. Das Display des Thermometers zeigte eine Temperatur von 39,6°C an. Kioku stand schier am Rande der Verzweiflung. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht Seigi anrufen und ihm die Situation schildern sollte - oder ob sie einfach darauf warten sollte, dass er von der Arbeit heimkam - oder... "Tante Kioku?" Mamorus Stimme riss sie aus ihren Gedanken. "Was ist, Kleiner? Was brauchst Du?" "Es ist auf einmal so schrecklich kalt hier..." Urplötzlich fing Mamoru an, wie wahnsinnig zu zittern. Er verkrampfte seine Finger in der anscheinend viel zu dünnen Wolldecke und drückte seinen Körper fester in die Lehne der Couch, wie um dort den letzten Rest Wärme heraus zu saugen. Kioku sprang auf, holte die dicken Daunendecken aus ihrem Schlafzimmer und wickelte sie um Mamoru. Mangels einer besseren Idee stürmte sie daraufhin in die Küche um Mamoru einen Tee zu bereiten. Während die Teekanne auf dem Herd stand und sich nur allmählich erwärmte, warf Kioku einen flüchtigen Blich durch das Fenster nach draußen. Die Februarluft war schneidend kalt, und dazu kam auch noch ein starker Wind, der die dicken Schneeflocken annährend waagrecht am Fenster vorbeizischen ließ. Der Winter wollte und wollte einfach kein Ende nehmen. Kioku atmete tief durch, warf einen prüfenden Blick auf die Teekanne, die noch nicht einmal den geringsten Laut von sich gab, ging dann in Mamorus Zimmer und suchte einige warme Kleidungsstücke zusammen, die sie zu ihrem Neffen ins Wohnzimmer brachte. "Hier, Kurzer, zieh das an. Dann wirst Du bestimmt nicht mehr frieren. Warte, ich helfe Dir." Mamoru konnte kaum seine Arme heben. Kioku hatte einiges zu tun, bis er endlich aus seiner nassgeschwitzten Uniform geschält war und die Winterklamotten anhatte. Die schlimmste Kleinarbeit war es, seine Arme in die Pulloverärmel zu fädeln. Ständig verhakten sich seine Finger irgendwo. Noch dazu war er kaum mehr in der Lage, sein eigenes Gewicht zu tragen. Er konnte sich nur mit Müh und Not aufrecht halten, damit Kioku den Pullover bis an die Gürtellinie hinab ziehen konnte. Alleine hätte sie das nicht hinbekommen, dafür war er einfach zu schwer. Müde sank er wieder auf die weiche Couch zurück. Stunde um Stunde stand Mamoru die schrecklichsten Schmerzen aus. Die Platzwunde über seinem rechten Auge machte ihn halb rasend, sein Kopfweh minderte sich nicht im Geringsten und der ständige Wechsel von kochend heiß zu eiskalt in seinem Körper trieb ihn schier in den Wahnsinn. Mal fror er so erbärmlich, dass er mit dem Zittern nicht mehr nachkam, und von einem Schlag auf den andren fühlte er sich, als verglühe eine Sonne in seinem Inneren. Sein Herz schlug schnell und schmerzhaft in seiner Brust und sein Leib glitzerte vor kaltem, klebrigem Schweiß. Kioku kam schier nicht zur Ruhe. Wenn sie nicht gerade mit dem Waschlappen über sein Gesicht fuhr oder neuen Tee heran brachte, dann war sie damit beschäftigt, seine Körpertemperatur zu messen, die Eisstückchen in der Wasserwanne nachzufüllen, die Raumtemperatur auf Mamorus Bedürfnisse einzustellen (was wirklich eine Sisyphosarbeit war) oder ihrem Neffen tröstende Worte zu spenden. Hin und wieder blickte Mamoru erstaunt um sich und stellte schon fast mit wissenschaftlichem Interesse fest, dass die Sonne draußen immer wieder ein gutes Stück weiter gewandert war. Schon bald begnügte er sich mit der Antwort, dass er wohl einfach über längere Zeit eingeschlafen war. Überhaupt schien die Zeit ihre gewöhnliche Bedeutung völlig verloren zu haben. Mal krochen zehn Minuten nur so dahin; Mal war es, als habe Mamoru nur einen kurzen Moment sein Auge geschlossen, und dabei habe jemand an den Zeigern der Uhr herumgespielt. Erneut sank sein bleischweres Augenlid herab und für einen kurzen Moment genoss Mamoru den trügerischen Frieden. Eine angenehme Wärme hüllte seinen Körper ein, er fühlte sich irgendwie leicht und unbekümmert. Es war ein Moment der Ruhe, wie er nur sehr selten an diesem Tag da gewesen war. Mamoru hörte sein Blut schnell in seinen Ohren dahinströmen, aber für ihn klang es eher wie das sanfte Rauschen der Wellen, die das Meer gegen die Küste trieb. Es war gleichmäßig und ruhig, ein sehr linderndes Geräusch. Allmählich verlor es an Lautstärke, und irgendwann klang es irgendwie dumpf und monoton. Doch damit war die Veränderung noch nicht vorbei. Das Geräusch bekam nach und nach einen höheren, irgendwie zischenden Klang. Es verwandelte sich bedächtig in ein scheinbar allgegenwärtiges Wispern, wie das unwirkliche Gespräch hunderter Geister, die sich über die Lebenden lustig machten. Auch dieses Wispern klang langsam ab; nur eine Stimme flüsterte Worte, die Mamoru nie zuvor in seinem Leben gehört hatte. Das Flüstern steigerte sich allmählich, bis es zu einer lieblichen Frauenstimme wurde. Und einer Logik folgend, die nur im Traum möglich war, verstand er die Worte mit einem Mal: "Du, Herr der Erde, musst wiedererwachen. Du musst Deine Vergangenheit finden." Aus einer Selbstverständlichkeit heraus, die er sich selbst nicht erklären konnte, antwortete er der körperlosen Stimme: "Sag mir, was ich tun soll. Dein Wunsch ist mir Befehl." "Finde den Heiligen Silberkristall!" So, als wäre durch diese Worte ein Tor zur Vernunft aufgestoßen worden, erinnerte sich Mamoru jetzt erst daran, dass er im Grunde bei weitem zu wenig Informationen für so eine wahnwitzige Schatzsuche hatte. "Wer bist Du?" Die Stimme zögerte eine lange Zeit. Mamoru hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie nicht antworten wollte, oder es schlicht und ergreifend nicht konnte. "Sage mir, wer bist Du?" "Die Zeit wird es Dir zeigen." "Ich will es aber jetzt wissen! Nenne mir Deinen Namen!" "Dazu bin ich nicht fähig." "Warum nicht?" Mamoru wurde langsam zornig. Ihm war beim besten Willen nicht nach einem Katz-und-Maus-Spiel. "Weil..." "Nun?" "Weil... weil auch ich erst durch die Macht des Silberkristalls erwachen und meine ganze Stärke entfalten kann." "Erwachen? Du meinst... Du meinst, Du kannst Dich auch nicht mehr erinnern, wer Du bist?" Erneut zögerte die Fremde lange, ehe sie antwortete: "Ja. Genau so ist es." Es klang sehr traurig. Mamoru musste dieser Stimme einfach seinen Glauben schenken. "Erkläre mir, woran werde ich den Silberkristall erkennen, wenn ich ihn sehe?" "Es handelt sich dabei um einen makellosen Stein von unbeschreiblicher Schönheit, der die Farben des Regenbogens in sich trägt. Wenn Du ihm nahe bist, wirst Du es wissen." "Wo soll ich nach ihm suchen?" Er hörte die Stimme der Fremden noch deutlich, aber wie durch den Fingerschnipp eines bösen Zauberers waren ihm ihre Worte so fremd, als existiere die Sprache gar nicht, in der sie sprach; ja, als sei dieser Laut gar nicht menschlicher Natur! Allmählich begann ihre Stimme zu verklingen. "Ich höre Dich nicht mehr! Wo bist Du? Antworte mir!" Die Stimme der Fremden machte eine grausige Metamorphose durch. Sie wurde zunächst leiser, zugleich auch tiefer, verwandelte sich dann in ein verzerrtes Lachen mit tausend Echos, und mit einem Male hatten die Geräusche um Mamoru herum eine ohrenbetäubende Lautstärke. Hohngelächter aus Millionen dämonischer Kehlen umgab ihn und der infernalische Ton war hart an der Grenze des Erträglichen. Um dem Gebrüll die Wucht zu nehmen wollte Mamoru seine Arme hochreißen und die Hände gegen seine Ohren drücken, aber es war, als sei er gelähmt. Er konnte nicht einen Muskel seines Körpers regen. Er brüllte sich mit aller Macht die Seele aus dem Leib, teils aus Angst, teils aus dem Schmerz, den dieser Höllenlärm verursachte, teils aus dem Wahnsinn heraus, der ihm jedwede Logik verbot. Er fühlte sich von rasiermesserscharfen Krallen gepackt, die schier unmenschliche Kräfte besaßen und ihn zu erdrücken drohten. Er wehrte sich nach Leibeskräften, aber schon bald gab er erschöpft auf. Sein Körper schmerzte höllisch, seine Kopfschmerzen, die ihn während des Gesprächs mit der Fremden in Ruhe gelassen hatten, kehrten mit doppelter Macht zurück, um ihr Fehlen von vorhin auszugleichen. Stöhnend und keuchend ließ er die Schmerzen über sich ergehen. Er konnte ja doch nichts dagegen unternehmen. Langsam spürte er, wie die unbarmherzigen Dämonenhände den Griff lockerten und sich langsam zurückzogen. Als Mamoru dann verwundert das linke Auge öffnete, sah er irgendwas Verschwommenes, Braunes über sich. Der Druck auf seinen Armen verschwand nun völlig. Er arbeitete einen Arm unter den Decken hervor und wischte sich den Schweiß aus den Augen, wobei er nicht vorsichtig genug war, als er sich über sein geschwollenes rechtes Auge fuhr. Er zog scharf die Luft durch die Zähne ein und riss den Arm blitzschnell wieder zurück. Nun besah er sich das braune Irgendwas über seinem Kopf genauer, und allmählich, als die Schärfe in seinen Blick zurück kehrte, erkannte er endlich seinen Onkel Seigi, der nun langsam seine Hände von Mamorus Körper zurück zog. Sollen das etwa die grausigen Dämonenhände von vorhin gewesen sein? "Mamoru? Kannst Du mich verstehen? Erkennst Du mich? Ich bin es, Seigi! ...Komm, sag schon was!" Er sprach sehr langsam, übermäßig deutlich und eine Spur zu laut. Als wolle er mit einem Schwachsinnigen reden. ...Was tat er überhaupt so urplötzlich hier?... "Onkel... Seigi?..." Mamoru bemerkte den Geschmack von Blut auf seiner Zunge und tastete mit den Fingern über seine Lippen. Sie waren heiß, spröde und aufgesprungen. Er hatte einen wahnsinnigen Durst. "Dem Himmel sei Dank, Du bist endlich wach! Wie geht es Dir? Du warst ziemlich lange weggetreten." Prüfend und äußerst vorsichtig fuhr Seigi über Mamorus Stirn. Dieser jedoch flüsterte völlig entkräftet: "Gib mir doch bitte was zu trinken." Mit einem "Natürlich, sofort" reichte ihm Seigi eine Tasse inzwischen kalten Tees. Doch das war Mamoru gerade recht so. Schmeckte zwar furchtbar, was auch daran lag, dass viel zu wenig Zucker darin war, aber das war ihm allemal lieber, als sich jetzt noch obendrein die Schnauze zu verbrennen. Gierig trank er einige Schlucke. "Besser?", erkundigte sich Seigi. "Einigermaßen", antwortete Mamoru. Er hatte sich inzwischen so weit im Griff, dass er nicht mehr andauernd nur mit einem Nicken oder mit Kopfschütteln antworten wollte - was zweifelsohne sehr weh getan hätte. Leicht verstört sah sich Mamoru um. Draußen vor den Fenstern war es entschieden zu dunkel - es musste inzwischen ziemlich spät sein. Das Schneetreiben vom Mittag hatte stark nachgelassen, es rieselte nur noch vereinzelte Flöckchen. Der Fernseher lief, er war sehr leise gestellt. Die große Überschrift der Nachrichten lautete "Erdbeben in der Türkei" oder so ähnlich, Mamoru sah nicht richtig hin. Sein Blick wanderte weiter unstet durch das Zimmer und blieb auf dem Couchtisch haften, wo inzwischen mehrere Tassen herumstanden, die wahrscheinlich Tee enthielten oder enthalten hatten. Überall über den ganzen Tisch verteilt waren kleine, halbrunde, glitzernde, inzwischen eingetrocknete Teepfützen zu sehen, und die Tischdecke hatte ganz schön was abbekommen. Mamoru musste allerdings betreten feststellen, dass auf "seiner" Hälfte des Tisches entschieden die aller meisten Flecke waren. Als er den Blick wieder hob, begegnete er Seigis hellblauen Augen, die leicht amüsiert wirkten, wenn sie auch eine Spur von - ja, was eigentlich? Mitleid? - ausdrückten. "Mach Dir keinen Kopf, Mamoru. Wenn man krank ist, dann kann man schon mal etwas ... neben der Kappe sein." Seigi fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen, ewig verstrubbelten, haselnussbraunen, kurzen Haare und seufzte schwer. Gerade da betrat Kioku das Wohnzimmer, die kleine Wanne mit frischem Eiswasser vor sich her balancierend. Sie stellte die flache Schüssel vor sich ab, setzte sich zu ihrem Neffen auf die Couch, lächelte ihn an und fragte ihn dann mit einer Spur von Müdigkeit in der Stimme: "Na, wie fühlst Du Dich nun?" Mamoru zuckte mit den Schultern. "Wie soll's mir schon gehen? Ich hab Kopfschmerzen, die bringen mich fast um. Und mein Auge ist so dick wie ne gigantische Kartoffel. Außerdem... ist euch nicht auch wahnsinnig heiß hier drin?" Seigi half ihm, die Decken zu ordnen, die Mamoru in den letzten Stunden übelst zurecht gestrampelt hatte. Erleichtert atmete Mamoru auf. Er fand endlich die Kraft, sich aufrecht auf die Couch zu setzen. Kioku drückte ihm einen eiskalten Waschlappen in die Hand, den er sich unverzüglich auf die Stirn presste. "Aber davon abgesehen", fuhr er endlich fort, "geht es mir schon ein gutes Stück besser." "Das freut mich zu hören, mein Kurzer", meinte Kioku. Trotz der Müdigkeit, die ihr förmlich aus dem Gesicht sprang, wirkte sie glücklich und beruhigt. Seigi ließ sich neben seinem Neffen auf die Couch fallen und schlug die Beine übereinander. "So, und jetzt verrat mir doch mal, was heute morgen los war." Mamoru erzählte ihm die ganze Geschichte. Na ja, fast die ganze. Die Sache mit dem Silberkristall ließ er natürlich wegfallen. Und er blieb auch hier bei der Version, Chikara habe ihn nicht bedroht, sondern ihm geholfen. Mamoru versprach sich einen Vorteil davon, wenn die Wahrheit erst mal geheim bliebe. Im Notfall - in welchem Notfall auch immer - konnte man die Aussage immer noch im Nachhinein revidieren. Doch Mamoru hoffte, dass etwas Derartiges nicht nötig werden würde. Er war vom vielen Erzählen wieder sehr müde und durstig geworden. Mit einer Tasse frisch aufgebrühten Tees in der Hand, der diesmal genug Zucker enthielt, saß er auf der weichen Couch, lehnte sich an Seigis Schulter und kämpfte gegen die Müdigkeit, das Fieber, und unentwegt pochende Kopfschmerzen an, die zwar nicht mehr ganz so schmerzhaft von Innen gegen seine Schläfen schlugen, aber immerhin noch stark genug waren um zu nerven. Er nippte an seinem Tee und sah in die schweigende Runde. Kioku hatte sich Mamoru gegenüber in den Sessel gesetzt und in eine Decke eingehüllt. Ihre Augen fielen ständig zu und waren von dunklen Rändern umringt. Seigi warf immer mal wieder einen Blick auf den Fernseher. "Was ist da?", erkundigte sich Mamoru. Seigi nickte mit dem Kopf in Richtung Fernseher. "Da? In den Nachrichten kommt schon den ganzen Tag lang, dass es in der Türkei ein schlimmes Erdbeben gegeben hat. Immer wieder ist von heftigen Nachbeben die Rede." Einige Minuten hörten sie schweigend einem Nachrichtensprecher zu, der ein Interview mit seiner Korrespondentin vor Ort führte. Im Moment schien alles noch sehr ruhig zu sein. Mamoru wollte nur für einen kurzen Augenblick sein Auge schließen. Vielleicht einfach ein wenig schlafen. Und das dumpfe Pochen in seinem Schädel donnerte weiter. Es steigerte sich allmählich zu einem quälenden Stechen. "Onkel Seigi? Mein Kopf..." Weiter kam er nicht. Das Pochen verwandelte sich urplötzlich in höllische Pein. Klirrend zerbrach die Teetasse am Boden, als Mamoru seine Hände nach oben riss und gegen seine Schläfen presste. Die Qualen steigerten sich ins Unermessliche. Und dann geschah alles gleichzeitig. Die Zeit schien ganz kurz still zu stehen. Mamoru warf, wie durch Hypnose dazu gezwungen, einen Blick auf den Fernseher, wo die Korrespondentin in der Türkei ein schreckensbleiches Gesicht hatte. Mamoru konnte sich nicht erklären, warum das so war, aber es interessierte ihn auch nicht. Er hatte gar keine Zeit zum Nachdenken. Urplötzlich ertönte in seinem Kopf die Stimme der Unbekannten aus seinen Visionen wie ein ohrenbetäubender Schrei: DU, HERR DER ERDE, MUSST WIEDERERWACHEN!!! Dann schien die Zeit ruckartig wieder weiterzulaufen, und die gigantischsten Schmerzen ereilten ihn, wie er sie nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Aus Leibeskräften brüllte er, warf sich herum, bäumte sich auf. Er schien innerlich zu verbrennen und auf seinem Kopf lastete ein Druck wie bei einer gewaltigen Explosion. Die Zeit spielte völlig verrückt. Sekunden der absoluten Pein schienen einfach kein Ende nehmen zu wollen, und doch verwandelten sie sich irgendwie in Jahrtausende. Im Luftholen hörte er ein seltsam klingendes Schreien und Kreischen, wie von weit her und doch unnatürlich nah. Wieder schien ihn eine unsichtbare Macht dazu zu zwingen, den Blick auf den Fernseher zu richten. Was Mamoru da sah, war ein Bild des Grauens. Die Erde brach dort auf, Schreie der absoluten Todespanik wurden laut, ein Geruckel und Gewackel ging durch das Bild - und dann brach der Kontakt ab. Es war fürchterlich. Mamoru wand sich unter Krämpfen und Schmerzen. Ganz so, als würde er das Leid dieser Erde tragen. Ein gellender Schrei entrang sich seiner Kehle - dann verlor er das Bewusstsein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)