Liebe, Leid und Leben von theDraco (Mamorus Jugend) ================================================================================ Kapitel 43: ------------ Nun endlich besaß es die nötige Kraft, in einem lebenden Körper in der Welt der Menschen zu existieren, und die Energie würde auch noch für ein paar Wochen reichen, obwohl es dem Tier so viel davon abgegeben hatte, dass auch das Tier einen Körper aus fester Materie formen konnte um ebenso in der Menschenwelt bestehen zu können. Alles schien perfekt. "Dies ist das letzte Mal, da wir die Dimension der zeitlosen Finsternis zu Gesicht bekommen, mein treuer Partner", sprach es. Das Tier neben ihm nickte mit einem leichten Lächeln. Es konnte seine Worte hören, obwohl es in der Stille der zeitlosen Finsternis keine Akustik gab. Das Tier konnte tief in sich spüren, dass es diese Worte mit den Lippen formte. "Solange wir nicht versagen", gab das Tier zu bedenken. "Hab keine Sorge", beruhigte es seinen uralten Gefährten. "Ich werde zu verhindern wissen, dass es so weit kommt. Wenn es knapp wird, können wir immer noch auf die Kraft der Menschen zurückgreifen." Wieder schlich sich der sanfte Hauch eines Lächelns auf die dünnen Lippen des Tieres, als es antwortete: "Davor musst Du weitaus mehr Angst haben als ich. Sowie ich durch dieses Tor trete und diese unsägliche Hölle verlasse, bin ich nie mehr auf diese lebensfeindliche Welt angewiesen. Doch Du solltest auf Dich Acht geben, solange Du den Kristall noch nicht gefunden hast. Ohne ihn wirst Du nie mehr wirklich in die Welt der Menschen gehören, wie Du es dereinst getan hast. Du wärst nur ein energiesaugender Schatten, nicht mehr. Vielleicht müsstest Du wieder hier her zurückkehren, wenn Du weiter existieren willst." "Erinnere mich nicht daran", seufzte es. "Und vertrau mir ... ich werde den Kristall schon bald finden. Ich habe schon eine Spur zu ihm entdeckt. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wo genau ich nach ihm suchen muss, aber lange kann es nicht mehr dauern, bis ich ihn in meinen Händen halte." Dann fuhr es in einer beruhigenden Geste über das schwere Fell des Tieres. "Bist Du bereit, zum ersten Mal nach tausend Jahren wieder Sonnenlicht zu sehen, alter Freund?" Das Tier nickte. "Ich kann es kaum erwarten." Die Dimension der zeitlosen Finsternis war viele Jahrhunderte lang ihrer beider Zuhause gewesen - der einzige Zufluchtsort, den sie hatten; wo sie überleben konnten. Dennoch haben sie die endlose Stille und die Finsternis gehasst, die sie umschlossen gehalten hatten, für einen Zeitraum, der ihnen wie Ewigkeiten erschienen war. So verschwendeten sie nun keine Zeit damit, diesem Gefängnis Lebewohl zu sagen. Als sie endlich in die Welt der Menschen hinaus schritten, zum ersten Mal in ihren neuen Körpern, die speziell für den Aufenthalt hier geschaffen waren, da mussten sie sich zuerst eine neue Identität anlegen. Das Tier besaß nicht die Macht dazu, einen Platz in dieser fremden Welt zu erzwingen. Doch es hatte schon sehr bald eine passende Bleibe gefunden. Es streckte sachte seine geistigen Fühler aus und fand schon bald ein schwächliches, menschliches Opfer, dessen Erinnerungen es zu manipulieren vermochte. Ihrer beider neues Leben begann... Geistesabwesend starrte Mamoru zum Fenster des großen Flugzeugs hinaus. Der riesige, tiefblaue Pazifik unter ihm interessierte ihn schon lange nicht mehr. War ja doch nur Wasser, Wasser, und noch mehr Wasser. Der Herr der Erde richtete seine Aufmerksamkeit vielmehr auf seine Erinnerung. Er hing mit den Gedanken am Morgen dieses Tages fest. Als seine Tante ihn aus den Federn geholt hatte, war er fast noch müder gewesen als am Abend zuvor. Er wusste nicht zu sagen, ob er auch diese Nacht damit verbracht hatte, im Schlaf umherzustreifen und nach dem Silberkristall zu suchen, oder ob ihn der Energieverlust so fertig machte, den er dem Schattenwesen einen Abend vorher zu verdanken hatte. Jedenfalls war er schon nach kurzer Zeit mit seinem Onkel, seiner Tante, Motoki und dessen Vater zum Flughafen aufgebrochen. Herr Furuhata hatte sich freundlicherweise bereiterklärt, die Familie Chiba an den Tokyo Airport zu fahren. Es hatte ein großes Wiedersehen von Motoki gegeben, und Mamoru war keineswegs entgangen, dass sein Freund sich hastig eine Träne aus dem Augenwinkel gewischt hatte. Er hatte dann so getan, als hätte er es nicht bemerkt. "Ich wünsch Dir alles Gute!" Die Worte des besten Freundes hallten noch immer in Mamorus Ohren nach. Für ihn sollte nun also ein neuer Lebensabschnitt eintreten. Ein Neuanfang. Ein völlig anderes Dasein in einer völlig anderen Welt. "Ich will hier raus!", jammerte er leise und resigniert vor sich hin. "Kneifen gilt nun nicht mehr, Sportsfreund!", antwortete Kioku mit einem Augenzwinkern. Sie saß neben Mamoru und stupste ihn nun leicht mit dem Ellenbogen an. Seigi saß eine Reihe weiter hinten. Der Platz neben ihm war leer. Seigi hatte sich abgeschnallt. Nun stand er auf, beugte er sich etwas vor und streckte seinen Kopf zwischen den Sitzen hervor um Mamoru zu fragen: "Wie fühlst Du Dich?" Der Neffe zuckte mit den Schultern. "Ich bin müde", antwortete er wahrheitsgemäß. Seigi nickte. "Dann schlaf ruhig noch ne Runde. Es dauert noch ein ganzes Stück bis wir ankommen. Aber wenn ich Dir einen Tipp geben darf: Stell jetzt schon mal Deine Uhr um. In Texas ist es gerade 18 Uhr des gestrigen Tages." "Wow, wir machen ne Zeitreise. Cool", bemerkte Mamoru in leicht sarkastischem Unterton, während er an seiner Armbanduhr herumhantierte. "Freu Dich nicht zu früh", meinte sein Onkel mit schelmischem Grinsen. "Wir werden mehr als einen halben Tag nur mit Fliegen beschäftigt sein. Das ist kein Pappenstil und zehrt ganz schön an den Nerven. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, müssten wir frühmorgens irgendwann ankommen. Es ist besser, wenn Du dann für den restlichen Tag ausgeruht bist. Es wird viel zu sehen geben!" "Onkel Seigi", murmelte Mamoru leise, "ich hab ein wenig Angst vor dem, was nun alles kommen kann. Was, wenn ich einfach nicht zurechtkomme?" "Mamoru..." Seigi lächelte ihn warm an und legte beruhigend seine Hand auf die Schulter seines Neffen. "...Es wird alles gut. Wir beide, Kioku und ich, wir sind ja bei Dir. Wir passen schon auf, dass Du keine Schwierigkeiten bekommst. Außerdem ... ich hab ja auch Angst. Ich werd mich jetzt an viele neue Umstände gewöhnen müssen..." "Du hast auch Angst?", fragte Mamoru erstaunt. Seigi nickte. "Ich bin auch nicht perfekt", erklärte er. "Der Umzug hat uns alle in der vergangenen Zeit viel Kraft gekostet; und das Schwerste kommt ja erst noch. Aber sieh es doch mal von der Seite: Da draußen wartet das Abenteuer! Eine neue Herausforderung für jeden von uns! Gerade die Vereinigten Staaten sind berühmt für ihre Vielfältigkeit! Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten! ...Vielleicht war es so eine Art ... Schicksal ... das etwas Besonderes mit uns vorhat. Aber was auch immer kommen mag, Mamoru, wir sind eine Familie und werden zusammenhalten! Bestimmt!" Mamoru seufzte. Er legte seine Hand auf Seigis Hand, die noch immer auf der Schulter des Herrn der Erde lag. "Danke, Onkel Seigi." "Kein Problem." Seigi setzte sich wieder und griff nach seiner Zeitschrift. "Und was immer kommen mag", schnurrte Kioku und tätschelte Mamorus Wange, "ich werde meinen kleinen, süßen Butzel-Dutzel-Liebling beschützen! Komm an meine Brust! Ich werde jedes Steinchen aus Deinem Weg räumen, damit Du nicht stolperst!" "Tante Kioku!", fauchte er und wich zurück, soweit dies sein Sitz zuließ. "Lass das!" Als Kioku ihn dann endlich in Ruhe ließ, verschränkte er trotzig die Arme vor der Brust und starrte schlecht gelaunt nach draußen. Dann rutschte er unruhig auf seinem Sitz hin und her. Er kratzte sich am Kinn. Dann versuchte er, eine gemütlichere Position in seinem Sitz zu finden. Er schnallte sich ab und spielte mit dem Sicherheitsgurt herum. Er sah auf seine Armbanduhr. Er trommelte auf der Armlehne herum. Leise seufzte er. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um, sah über seine Lehne hinweg und fragte seinen Onkel: "Wie lange noch?" "Aber Mamoru", lachte Seigi, "wir fliegen doch erst seit etwa einer Stunde!" Sein Neffe schaute ihn entsetzt an. "Ich überlebe das nicht! Das dauert mir zu lange!" "Tu mir den Gefallen und benimm Dich Deinem Alter entsprechend", bat Seigi und nahm dabei nicht den Blick aus seiner Zeitschrift. Mamoru zog eine sauere Schnute, setzte sich wieder richtig hin und fuhr damit fort, weiter aus dem Fenster zu starren, während er beleidigt vor sich hin brummelte. Er hasste es, wenn Dinge ins richtige Licht gerückt wurden. Mamoru suchte seine Taschen ab, zog dann seinen Schlüsselbund hervor und inspizierte jeden Schlüssel einzeln. Als er damit fertig war, tat er genau das gleiche noch mal. Dann steckte er die Schlüssel wieder weg. Er öffnete die Schnürsenkel an seinen Schuhen und band sie wieder sauber und ordentlich zu. Dann trommelte er wieder nervös auf der Armlehne herum. "Mir ist langweilig!", verkündete er. "Ach, echt? Is mir gar nicht aufgefallen", brummte seine Tante. "Was soll ich tun?", wollte ihr Neffe wissen. "Mach mal nen Vorschlag." "Zieh Schuhe und Socken aus und spiel mit den Zehen." "Ganz bestimmt nicht!" Er spielte an seiner Armbanduhr herum. Dann zupfte er einige Stäubchen von seinem Hemd. Als nächstes friemelte er an seiner silbernen Halskette herum, jedoch ohne sie dabei zum Vorschein zu bringen. Er seufzte tief. Dann fuhr er sich durch seine dichten, schwarzen Haare. Er pfiff leise ein Lied vor sich hin. Danach streckte er sich und gähnte. Daraufhin beobachtete er eine Weile die anderen Passagiere in seiner unmittelbaren Nähe. Dann wandte er sich seiner Tante wieder zu: "Mach einen besseren Vorschlag!" Diese rollte entnervt mit den Augen. Dann setzte sie ihr diabolischstes Grinsen auf, lehnte sich zu Mamoru rüber und sagte: "Lass Dir doch einen Bart wachsen! Dann bist Du für lange Zeit beschäftigt!" Mamoru schnappte empört nach Luft. "Du bist grausam..." "Ich weiß", antwortete Kioku und der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde noch etwas kälter. "Ist mein Hobby." Mamoru drehte sich wieder auf seinem Sitz um. "Onkel Seigi! Tante Kioku ist gemein zu mir!" "Mamoru...", stöhnte sein Onkel, "...bitte ... bitte, bitte, benimm Dich Deinem Alter entsprechend." "...Aber ... aber...", machte der Herr der Erde noch. Dann brach sein Widerstand völlig. Er hockte sich wieder richtig hin und schmollte. Und diesmal brachte er es sogar fertig, zwei ganze Stunden lang keinen Piepton mehr von sich zu geben. Doch dann, endlich, nach geraumer Zeit, drehte er sich wieder seinem Onkel zu und sagte im beschämt leisen Ton: "Kann ich auch was zu lesen haben, bitte?" "Aber sicher doch!" Seigi griff wahllos nach einer von den vielen Zeitungen, die er auf den freien Sitz neben sich gelegt hatte und überreichte sie Mamoru. "Danke schön." Der Junge überflog also gelangweilt die Überschriften der Zeitung, auf der Suche nach irgendwas Interessantem. Doch da gab es nicht viel. Politik... Noch mal Politik... Eine Umfrage... Irgendwas mit den Steuern... Langweilig... Und dann blieb Mamorus Blick an einer besonderen Überschrift haften: "Dreiköpfiges Schaf trennt sich wieder von außerirdischem Yeti-Klon - was geschieht nun mit den dreihundert Kindern?" "Also ... langsam mach ich mir Sorgen um diese Welt...", murmelte der Herr der Erde leise. Nun gut, schlussendlich fand er doch noch einige Artikel, die ihn interessierten. Er vertrieb sich einige weitere Stunden mit Lesen. Zwischenzeitlich wurde ein Essen serviert. Mamoru rechnete sich aus, dass dies nach japanischer Zeit ein Mittag- und nach amerikanischer Zeit ein Abendessen war - sogar ein Spätimbiss, um genau zu sein. Doch so sehr er auch herumrechnete, er bekam einfach nicht raus, ob er bei der Ankunft in Texas einen Tag verloren oder dazubekommen hätte, würde er in Nullzeit reisen. Das Rechnen mit Zeitzonen erwies sich als schwieriger, als er hätte ahnen können. Da steckte er doch lieber wieder seine Nase in die Zeitung. Es dauerte nicht allzu lange, da sank die Zeitung allmählich haltlos auf sein Gesicht zu und blieb schließlich drauf liegen. Als Kioku die Ecken der Blätter leicht anhob und neugierig einen Blick unter die Zeitung warf, da sah sie, dass ihr Neffe endlich seelenruhig schlief. Sie grinste zufrieden und ließ die Zeitung wieder auf sein Gesicht sinken. Seigi würde sich schon nicht daran stören, dass ein paar Seiten leicht angesabbert wurden. Als Mamoru viele Stunden später seine schweren Augenlider wieder hob, die Zeitung von seinem Gesicht nahm und sich verwirrt umblickte, saß Kioku nicht mehr neben ihm. Sie hatte sich wohl irgendwann nach hinten zu Seigi gesetzt und die Zeit damit verbracht, sich leise mit ihm über wer-weiß-was zu unterhalten. Der erste Gedanke, der ihm kam, als er erwachte, war: Er gähnte erst mal ausführlich, reckte seine Glieder, drehte sich nach hinten und murmelte verschlafen: "Wo sind wir?" "Na, ausgeschlafen?", begrüßte ihn Seigi. "Wir sind schon seit einiger Zeit über dem Festland. Ich schätze, bis zur Landung ist es nicht mehr lange. Ich hätte Dich sowieso jetzt geweckt." Mamoru nickte, rieb sich den Schlaf aus den Augen, erhob sich aus seinem Sitz und schlurfte gemächlich zur Toilette. Und gerade, als er wieder zurückkam, hörte er die Durchsage, die Passagiere mögen sich doch bitte auf die Landung vorbereiten. Er setzte sich hin und schnallte sich an. Als die drei am Flughafen auf ihre Koffer warteten hatte Mamoru nichts Besseres zu tun als sich umzusehen und nachzudenken. Draußen war wohl vor nicht allzu langer Zeit die Sonne aufgegangen. Dennoch war am Flughafen eine Menge Betrieb. Etliche hundert Leute liefen herum, unterhielten sich, suchten bestimmte Orte, liefen in diverse Shops oder in die Bäckerei, rannten zu ihrem Gate oder saßen wartend in der Gegend herum. Anscheinend waren etliche verschiedene Kulturen zu finden. Schilder wurden in vielen Sprachen übersetzt. Ein lautes Gemurmel, bestehend aus unzähligen verschiedenen Sprachen, hallte durch die Luft. Mamoru betrachtete das alles mehr oder weniger mit Interesse. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Eigentlich hätte er aufgeregt herumhüpfen müssen wie ein kleines Kind. Genau das tat Kioku. Doch Mamoru fühlte sich irgendwie immer noch total verpennt. Und noch immer spukte der Gedanke in seinem Kopf herum, dass ihm etwas Bestimmtes hätte auffallen müssen. Doch er kam nicht drauf. Etwas war diesmal an seinem Traum anders gewesen ... aber was bloß? ... Was bloß... Seigi fischte gerade einen weiteren Koffer vom langen Fließband herunter. Nur einer fehlte noch. Doch das interessierte Mamoru bei weitem nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit mit einem Mal auf zwei dunkelhäutige Männer, die ganz in der Nähe standen und sich unterhielten. Vermutlich Araber, Mamoru war sich aber nicht ganz sicher. Die beiden bemerkten Mamoru gar nicht. Sie standen nur rum und redeten. Und dennoch war da etwas, das dem Herrn der Erde seltsam vorkam. Nur was? Was um Himmels Willen war so besonders an den beiden? Doch so sehr Mamoru grübelte, er kam einfach nicht darauf. "Ich hab den letzten Koffer!", tönte Seigi freudig. "Mamoru, kommst Du? Wir gehen weiter." "Ja", sagte Mamoru geistesabwesend. Er packte seinen Koffer, den sein Onkel direkt neben ihm abgestellt hatte, und lief ein paar Schritte hinter seinem Onkel und seiner Tante her, ohne dabei aber den Blick von den beiden Männern abzuwenden. Was war nur so besonders an ihnen? Und als Mamoru an ihnen vorbeilief und ihnen af diese Weise etwas näher kam, da konnte er die Worte deutlicher hören, die der eine Mann sagte. "Wahad ... Ithnani ... Thalatha ... Arbaa..." Und er verstand sie. Obwohl die Sätze in Arabisch waren. Der Kerl zählte nach, ob er all seine Koffer zusammenhatte! Mit einem Ruck blieb Mamoru stehen. Er kam nicht umhin, die beiden Typen mit offenem Mund anzustarren. Er konnte es absolut nicht fassen. Er konnte Arabisch verstehen! ...Und nicht nur das! Jetzt erst fiel es ihm auf. Natürlich waren die meisten Leute hier das, was man als einen typischen Amerikaner bezeichnen konnte, und Mamoru hatte sich nicht daran gestört, dass er dieses Englisch verstand; er hatte es immerhin in der Schule gelernt. Doch nun fiel ihm auf, dass er dieses Ausmaß an Vokabular nie und nimmer in der verhältnismäßig kurzen Zeit hätte lernen können. Auch verschiedene Dialekte waren ihm auf Anhieb geläufig. Und von alledem abgesehen konnte Mamoru auch all die anderen Sprachen verstehen, die um ihn herum durch die Luft flogen: egal ob es sich dabei um Deutsch, Spanisch, Chinesisch, oder Griechisch handelte. Verdammt noch mal, er verstand sogar die handvoll christlicher Priester, die sich anscheinend zufällig getroffen haben, und eine aufgeregte Diskussion angefangen hatten, wobei sie sich gelegentlich des lateinischen Idioms bedienten. Mamoru konnte es absolut nicht fassen, aber er als Herr der Erde war dazu in der Lage, all die Sprachen dieses Planeten zu verstehen; auch wenn diese schon seit zweitausend Jahren nicht mehr aktuell waren! Es hätte ihn nicht gewundert, wenn er diese Sprachen auch lesen und schreiben konnte, ohne es zuvor geahnt zu haben. Einer der Araber riss ihn aus seinen Gedanken und quatschte ihn ziemlich unwirsch an, warum er denn so glotze. Selbstredend tat er das in arabischer Sprache. "Afwan!" , gab Mamoru von sich, in einem derart perfekten Arabisch, dass diesem Mann die Kinnlade herunterfiel. Mit einem hastigen "Ilal-li'qa", , und einer leichten, eigentlich eher typisch japanischen Verbeugung verabschiedete sich der Herr der Erde und wandte sich seinem Onkel Seigi zu. Die beiden Männer blieben reglos und vor Schrecken stumm zurück. "Mamoru! Was treibst Du denn da die ganze Zeit? Komm endlich!", rief ihm seine Tante entgegen. Als er die beiden dann eingeholt hatte, strich ihm Kioku eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte besorgt: "Ist was? Du siehst urplötzlich so blass aus..." "Nein, es ist nichts", antwortete Mamoru eine Spur zu hastig. Kioku schaute ihren Neffen etwas skeptisch von der Seite an. Doch sie sagte nichts mehr. Seigi traf auch schon ziemlich bald auf den kleinen, etwas dicklichen Japaner, den seine Firma geschickt hatte um die Familie abzuholen. Dieser Mann hatte irgendwie einen nervösen Tick. Er konnte keine Sekunde ruhig stehen bleiben, trippelte ständig von einem Fuß auf den andren, gestikulierte ohne Unterlass mit seinen kurzen Wurstfingern herum und war vor Euphorie schier nicht zu bremsen. Er war auf anderen Gebieten ebenso wenig zu bremsen, wie Mamoru nur etwas später feststellte, denn dieser hibbelige Kerl fuhr Auto wie eine gesenkte Sau. Dem Herrn der Erde kam dumpf die Frage in den Sinn, wie es dieser dauernervöse Mensch geschafft hatte, sich so eine Wampe zuzulegen. Jeder Wackeldackel, der in einem Auto auf einer von Schlaglöchern nur so übersäten Straße mitfuhr, musste vor Neid erblassen, so viel zappelte der Dicke herum. Er erläuterte während der Fahrt hier was und dort was, doch Mamoru hörte schon lange nicht mehr hin. Er war in seinen Gedanken mit völlig anderen Sachen beschäftigt. Er hatte eine absolut neue Seite an sich entdeckt. Der Herr der Erde beherrschte alle Sprachen der Erde. Gehörten Blindenschrift und die Gebärdensprache der Stummen und Tauben eigentlich auch dazu? Bei Gelegenheit würde Mamoru das auch noch testen. Aber es gab noch einen ganz besonderen Aspekt, über den er im Stillen grübelte. Er war inzwischen darauf gekommen, was genau es gewesen war, das ihn vorhin noch an seinem Traum gestört hatte. Es war das erste Mal seit zehn Jahren gewesen, dass er nicht von der Mondprinzessin geträumt hatte. Was zum Teufel hatte das jetzt schon wieder zu bedeuten? Während Mamoru in seinen Gedanken versunken war, raste die texanische Landschaft an ihm vorüber. Weideland mit kräftigem, grünem Gras wechselte sich dauernd ab mit staubigen, trockenen Gebieten, wo nur einzelne braune Büschel herumstanden. Dann und wann fuhren sie durch kleine Städtchen, die man eigentlich gar nicht als Stadt bezeichnen konnte, sondern die praktisch nur aus einer handvoll Gebäuden bestand. Für jemanden aus Tokyo war das gar nichts. Dann kamen in schönem Wechsel wieder Felder, Koppeln und jede Menge Nichts. "Der nächstgelegene Ort, Orendaham, befindet sich nur wenige Meilen entfernt von hier. Man kann es gar nicht verfehlen ... oder aber man fährt in eine völlig falsche Richtung", gab der Dicke am Steuer zum Besten. "Wir werden allerdings drum herum fahren. Dann kommen wir schneller an. Es ist jetzt nicht mehr weit. Nur noch ein paar Minuten und wir kommen an der SilverStar-Ranch an." "Und was sollen wir da?", brummelte Mamoru vor sich hin. "Das wird unser neues Zuhause", erklärte Kioku, die neben ihm auf der Rückbank des alten, zerbeulten Wagens saß. "Wie jetzt...", meinte Mamoru und wandte sich ihr zu. Mit einem Schlag war sein Interesse geweckt. "...Wir besitzen eine Ranch? Eine richtige, echte Ranch?" "Scheint so", bestätigte Kioku nickend. Nun drückte Mamoru seine Nase an der Fensterscheibe platt, und es störte ihn auch nicht mehr allzu sonderlich, dass eben diese Scheibe sowohl von innen als auch von außen wohl schon seit Monaten nicht mehr saubergemacht worden war. Dies war nun mal eine recht staubige Gegend, da waren etwas Wasser und Seife schon sehr schnell ziemlich machtlos. Irgendwann erschien auf der rechten Seite der Straße ein hohes Tor, bestehend aus drei Holzstämmen, wo oben am Querbalken ein großes, ebenfalls hölzernes Schild hing mit der weißen Aufschrift: . Der Dicke fuhr in die staubige Einfahrt ein, vorbei an einem leicht rostzerfressenen Briefkasten und fuhr weiter, und weiter, immer weiter. Und dann kam der Gebäudekomplex in Sicht. Die Straße führte auf einen riesigen Hof. Vor dem Auto erstreckte sich ein längliches Holzhaus, bestehend aus zwei direkt aneinander gebauten Teilen. Man konnte auch sagen: ein großes Haupthaus und ein etwas kleineres Nebenhaus waren Seite an Seite neben einander gebaut worden. Eine überdachte Veranda war längs der gesamten vorderen Seite gebaut, sodass man auch im Regen trockenen Fußes von einem Haus zum andren gehen konnte. Vor jedem dieser beiden Eingänge führte jeweils eine Treppe auf die Veranda hinauf. Säulen aus Holz stützten das Dach über der Veranda ab. Das Haupthaus ragte zwei Stockwerke hoch empor und auch im Dach waren Fenster eingelassen. Das Nebenhaus hingegen, war nur ein Stockwerk hoch und hatte ein zu niedriges Dach, als dass man dort hätte aufrecht stehen können. Stand man vor den beiden Hauselementen und sah man direkt auf das Haupthaus, so hatte man einige Meter zu seiner linken Hand ein längliches, relativ niedriges Gebäude, das man vielleicht als einen Schuppen ansehen könnte. Rechter Hand war da eine Menge Staub. Nur auf einem kleinen Platz stand ein Wasserhahn mit Gartenschlauch, und rund herum wuchsen einige Grasbüschel. "Fantastisch", staunte Seigi. "Schnuckelig", rief Kioku entzückt aus. "Ähm...", machte Mamoru auf der Suche nach einer Gefühlregung, "...einsam und verlassen?" "Ach, Mamoru!", schimpfte seine Tante. "Du wirst Dich schon noch daran gewöhnen. Ich bin mir sicher, das hier ist eine herrlich ruhige Gegend. Wer braucht schon Videospielhallen und laute Discos und Stau auf den Straßen alle zwei Meter ein Kaugummi auf dem Asphalt?" Mamoru brummelte etwas vor sich hin. Doch daran störte sich seine Tante nicht. "Hinter dem Haus ist der ideale Platz, um einen Garten anzulegen", erklärte der Dicke, der seit der Abfahrt am Flughafen nicht ein Mal Luft geholt hatte. "Im hinteren Teil des Stalltraktes befindet sich ein abgesonderter Bereich, der als Garage genutzt werden kann. Ein Wagen steht schon bereit, ein großzügiges Geschenk der Firma. Des weiteren..." Bla, bla, bla. "Wir bekommen einfach so einen Wagen?", fragte Mamoru seinen Onkel. Dieser zuckte mit den Schultern. "Es hat fast den Anschein, als hätten die hier tüchtige Mitarbeiter wirklich sehr dringend nötig..." "Bis jetzt", so fuhr der Dicke ungerührt fort, "haben wir sämtliche Kartons und Möbel, die bislang eingeliefert worden sind, im Stall gelagert. Wir hatten ja keine Ahnung, wie die Zimmer im Einzelnen eingerichtet werden sollen. Sie haben etwa eine Stunde Zeit, das Haus zu besichtigen und erste Pläne zu machen, dann werden einige Arbeiter und Handwerker hier eintreffen, um Ihre Wünsche zu Ihrer Zufriedenheit zu erfüllen. Bis heute Abend dürfte alles bereit sein für Ihre erste Nacht in diesem wunderbaren Texas. Hier..." Er verschwand kurz im Wagen und holte diverse Dinge heraus. "...sind die Schlüssel für das Haupthaus, der Schlüssel für das Nebenhaus, für den Stall, für die Garage und für den Wagen. Dazu noch alle wichtigen Papiere, Dokumente und Formulare. Alles, was ich jetzt noch brauche, sind Ihre Unterschriften, Herr Chiba, und zwar hier, hier und hier..." Er wies mit seinen Stummelfingern auf die Stellen, hielt Seigi einen Kugelschreiber hin und erklärte noch den Weg in das kleine Städtchen Orendaham. "Noch irgendwelche Fragen?" Der Dicke verstummte zum ersten Mal seit Mamoru ihm begegnet war und blickte die dreiköpfige Familie erwartungsvoll an. Es wurde schon fast bedrückend still. "Sind da auch Pferde im Stall?", fragte Mamoru eher beiläufig. Der Dicke verneinte. "Der Vorbesitzer hatte einige Pferde besessen. Doch nun befindet sich keines mehr auf dieser Ranch. Es wäre allerdings kein Problem, Tiere und Pfleger zu besorgen, wenn es Ihnen beliebt. Ein Pferd ist an Orten wie diesem ein beliebtes Fortbewegungsmittel." "Ja", brummte Mamoru leise, "für Leute, die auch reiten können..." "Die Telefonleitungen, der Strom, fließend Wasser, Fernsehanschluss und was nicht noch alles dazu gehört, liegt bereits", erklärte der Dicke weiter. "Dann würde ich mal einen guten Aufenthalt hier wünschen und mich zurückziehen, wenn's recht ist. Ich denke, ich habe nichts vergessen. Wie gesagt, die Arbeiter sind in einer Stunde zur Stelle..." Er sah kurz auf seine Armbanduhr. "...oh, sogar etwas weniger als eine Stunde. Wie die Zeit vergeht... Alles Gute! Und wenn etwas ist, Herr Chiba, ich habe Ihnen Adresse und Telefonnummer Ihres neuen Arbeitsplatzes aufgeschrieben. Ist unter den Notizen, die Sie nun erhalten haben. Auf Wiedersehen!" Damit setzte er sich in sein Auto, wendete langsam, tuckerte einige Meter vor sich hin, gab in einiger Entfernung Vollgas und verschwand dann hinter einer dichten, roten Staubwolke. "Tja...", machte Seigi, "...dann woll'n wir doch mal einen Blick riskieren, was?" Darauf zückte er den passenden Schlüssel, hob seinen Koffer aus dem Staub und trat auf das Haupthaus zu. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)