A Joker's Game von abgemeldet (-A Play in three Acts-) ================================================================================ Prolog: Prologue ---------------- "Viele spielen, einer gewinnt." Deutsches Sprichwort Ja, dieser Satz beschreibt fast perfekt den Gang der Dinge. Aber eben nur fast perfekt. Nun, für den Unwissenden muss ich, bevor ich damit beginne, mein Sein zu beschreiben, wohl noch weiter ausholen, damit er begreift. Womit fange ich am besten an... Vielleicht mit einer simplen Aussage: Ich bin ein Spieler. Was das bedeutet? Dazu muss ich wohl das große Gesamtkonzept der Welt erörtern. Also, um es auf den Punkt zu bringen: Ein jeder spielt ein Spiel. Nein, nicht irgendein Spiel, DAS Spiel. Aber die wenigsten sind sich dessen bewusst. Ein geläufiges Sprichwort merkt an, dass das Leben ein Spiel sei. Ach, so nah an der Wahrheit und doch so falsch... Denn nicht das Leben ist ein Spiel, sondern das Große Spiel ist das Leben! Es macht keinen Unterschied? Denk noch einmal drüber nach. Es ist eine Frage der Gewichtung. Fest steht, dass sowohl ich als auch du oder die anderen jämmerlichen Kreaturen da draußen feste Bestandteile des Spiels sind - die Spielfiguren. Und niemand von uns kann sich dem entziehen, niemand. Ja, ich muss zugeben, dass wir nicht allzu viele bewusste Einflussmöglichkeiten auf dieses Spiel haben. Tragisch, nicht wahr? Im Endeffekt bekommt man sein Würfelergebnis präsentiert und kann gerade mal frei entscheiden, in welche Richtung man auf dem riesigen Spielplan weiterziehen möchte. Nein, ich revidiere. Es ist die Kunst, dies frei entscheiden zu können. Denn allzu gern lassen wir uns beeinflussen von den anderen, von den Umständen, vom Wetter... Es gibt sicherlich ein Haufen Spielregeln, nur möchte ich meinen, dass niemand auf der Welt sie alle kennt. Hin und wieder gelingt es einem vielleicht gerade mal einen kurzen Einblick hinter die Kulissen zu erhaschen, bevor das Bild verschwimmt und man wieder unwissend gefangen ist auf dem Spielplan des Lebens. Wer weiß schon, ob nicht genau das auch eine der Regeln ist..? (Außerdem behaupte ich, dass sich die Regeln von Zeit zu Zeit verändern.) Wer macht nun die Regeln und wer würfelt? Darüber muss sich der geneigte Leser wohl selbst Gedanken machen. Es gibt unzählige verschiedene Ansichten darüber. Manche reden von "der Gesellschaft", andere vom Schicksal oder von einem Gott. Ich denke, alles davon ist absoluter Quatsch. Wahrscheinlich sitzen vier grüne Marsmännchen vor dem Spielplan der Welt und langweilen sich, weil mal wieder eine Spielfigur in eine Sackgasse hineingezogen ist. Nein? Dann mach dir doch deine eigenen Gedanken! Neben dem Großen Spiel gibt es natürlich auch noch viele kleinere Spiele - das Spiel im Spiel sozusagen. Witzig, nicht? Auch dessen sind sich die meisten nicht bewusst. Wie schade für sie. Aber gut für mich. Diese sind die Spielfiguren in den Tausenden von kleinen Spielen, meine Spielfiguren. Hier kann nur der gewinnen, der weiß. Wie hätte es auch anders sein können: Ich weiß und ich bin ein Spieler. Bist du es auch? Mitspieler? Nun, das muss sich erst mal jemand verdienen. Denn Mitspieler sind ebenbürtig. Was hätte ich wohl davon mit dir zu spielen, wenn ich doch sowieso wüsste, dass das Spiel viel zu einfach für mich würde... Aber ob einfach oder nicht, wenn es hart auf hart kommt und ich wirklich bangen muss, ob ich das Spielchen verliere, dann habe ich immerhin noch einen As im Ärmel - oder einen Joker. Kapitel 1: Act One - Scene 1 - Born in Hell ------------------------------------------- Nach dieser kurzen, Grundlegendes zu klären versuchenden Einleitung beginne ich nun mit der Geschichte über meine Taten, mein Wesen, mein Sein. Ich beginne am Anfang. Und der Anfang ist eine stürmische Gewitternacht, in der sich eine für diese Jahreszeit unnormale Kälte durch die Tür- und Fensterritzen schlich, mitten im Juni 1958. Mein Vater spürte wohl den eisigen Hauch, während ich aus den dunklen, schleimigen Höhlen meiner Mutter, deren Singsang aus Schmerzensschreien den Kreißsaal belebte, in das Halogenlicht hervor kroch, denn er zog sich den Krankenhauskittel enger um die Schultern und rieb sich die Hände. Woher ich das weiß? Noch Jahre später hat meine Mutter im Suff ständig meinen Vater beschimpft, er sei nie für sie da gewesen. Selbst bei der Geburt ihrer einzigen Tochter habe er nur an sich gedacht, anstatt ihr, die vor Schmerzen fast gestorben wäre, die Hand zu halten. Na ja, shit happens. Meine Mutter hat sich gefreut, dass ich endlich da war - ihr gingen der dicke Bauch und die Schwangerschaftsbeschwerden verdammt auf die Nerven. Und mein Vater... Nun, er war so stolz darauf, Vater einer Tochter geworden zu sein, dass er ihr den Namen seiner eigenen, verhassten Mutter gab: Charlotte; ein ordinärer, langweiliger Name, wenn man mich fragt. Aber man hat mich nicht gefragt. Auch später nicht. Sie haben nie danach gefragt, ob ich mit meinen sechs Jahren Lust dazu hatte, ständig die sechs Treppen unseres schäbigen Wohnhauses hinabzusteigen und mit ein wenig Kleingeld in den nächstbesten Supermarkt zu gehen, um meiner Mutter ihren Alkohol zu kaufen. Aber dazu gibt es später noch eine kleine Geschichte. Wo war ich? Immer diese Abschweifungen, ts. Ach ja: Meine Familie bewohnte also eine Drei-Zimmer-Wohnung in Berlins berühmt-berüchtigten Bezirk Kreuzberg. Ich erinnere mich natürlich nicht an meine Babyjahre. Aber als ich ungefähr fünf war, räumte meine Mutter extra für mich ihr Arbeitszimmer von all dem Müll und Gerümpel frei, der sich dort über die Jahre angesammelt hatte. Ist das nicht reizend? Tja, im Nachhinein denke ich, meinen Eltern ging mein nächtliches Geplärre in jenen Situationen auf die Nerven, die sie lieber in trauter Zweisamkeit ohne Störungen verbracht hätten. Hm, warum habe ich eigentlich geheult? Ah, ich glaube, die Geräusche machten mir tatsächlich Angst (das Bett knarrte so unheimlich und meine Mutter schrie immer so laut, dass es mir in den Ohren wehtat). Ich war ein Stubenhocker-Kind. Soweit ich mich erinnern kann, hat mein Vater einmal versucht, mich in einen Kindergarten zu stecken. Aber ich habe mich gewehrt. Ich muss zugeben, dass er stärker war als ich - schließlich musste er wohl einsehen, dass er mich mit den blauen Flecken lieber zu Hause lassen sollte, um sich unangenehme Fragen zu ersparen. In der Tat habe ich die Wohnung eigentlich nur verlassen, wenn meine Mutter ihre zwei Lieblingsdrogen brauchte. Irgendwer musste ja auf sie aufpassen. Mein Vater war den ganzen Tag auf der Arbeit und ich konnte sie ja schlecht auf dem Boden liegen lassen, in ihrem eigenen Erbrochenen qualvoll erstickt... Also habe ich sie sauber gemacht. Und Essen gekocht, wenn was da war. Na ja, mein Vater wurde immer so schrecklich ungehalten, wenn nichts fertig war und er nach Hause kam. Ich weiß noch, einmal habe ich mir ganz schön die Fingerchen verbrannt am Wasserdampf. Da war meine Mutter wirklich wütend, weil durch meine heftige Reaktion der Topf zu Boden fiel. Er hat die Fliesen kaputt gemacht. Komisch, nicht? Alles wäre gut gewesen, hätten sie mich nur ein einziges Mal in Ruhe gelassen. Aber das konnten (oder wollten?) sie nicht. Ich musste immer machen, was sie sagten. Vielleicht hätten sie mir ja ein einziges Mal nur zuhören sollen... Kapitel 2: Act One - Scene 2 - A Door to Solitude ------------------------------------------------- Auch in der Schule hatte ich keine Ruhe. Da war diese Lehrerin mit ihren täglich neu aufgerollten, blonden Löckchen. Wirklich hübsch! Aber leider penetrierte sie mich die ganze Zeit mit seltsamen Aufgaben. Zum Beispiel sollte ich ein Bild von meiner glücklichen Familie malen. Und als ich das dann getan hatte, war es auch nicht richtig. Ihr gefiel nicht, dass ich um die Köpfe meiner Eltern wunderschöne, glänzende Blutlachen malte und sie schimpfte mit mir. Da habe ich ihre sanfte, durch den Ärger leicht gerötete Haut zerkratzt. Davon hat sie bestimmt Narben. Aber ehrlich, die stehen ihr sicher gut! Eines habe ich jedenfalls damit erreicht: Sie wird sich jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel sieht und die dünnen Striemen in ihrem Gesicht sieht, an mich erinnern. Ein nettes Andenken. Gern geschehen! Meine Mutter wurde deswegen in die Schule bestellt. Was sie besprochen haben, weiß ich nicht. Aber danach habe ich meine Strafe dafür bekommen. Entschuldigt habe ich mich nicht, ich war ja im Recht. Ich hatte Gott sei Dank keine Freunde. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Und die Neckereien der anderen Kinder haben schließlich auch aufgehört, nachdem ich einmal einem Jungen einen Stock ins Auge gepiekst habe. Der hat geschrieen und ist dabei die ganze Zeit herumgehüpft, sich die Hände vor sein Gesicht pressend. Das sah wirklich lustig aus! Das führte jedenfalls alles dazu, dass die Schulpausen die beste Zeit an einem durchschnittlichen Tag waren. Ich hatte meine Ruhe und konnte meinen Gedanken nachhängen, Bilder mit Stöcken in den Sand malen und schöne Lieder singen. Eines der Lieder von damals singe ich selbst heute noch ab und an... "Auf den Teichen schwimmen Leichen, mit weit aufgeschlitzten Bäuchen. In den Rücken stecken Messer, mit der Aufschrift "Menschenfresser". Auf den Straßen fließt der Eiter, der Verkehr geht nicht mehr weiter. An den Ecken stehen Knaben, die sich an dem Eiter laben. An den Sträuchern und Gestrüppen, hängen menschliche Gerippen. Und die Negerlein, die Kleinen, hängen noch an den Gebeinen." Auszug aus dem Lied: "Sklavenaufstand in Kuba" Als ich neun Jahre alt war, erfuhr mein bisheriges Leben eine drastische Wendung. Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen... Es war an einem ganz normalen Tag, einem Samstag. Mein Vater war wie immer irgendwo unterwegs. Ich glaube, er vertrieb sich die Zeit mal wieder mit einer seiner Nutten, während sich meine Mutter traurig darüber im Wohnzimmer die Augen ausheulte. Ich war in meinem Zimmer und wollte gerade meine nassen Spielkarten - ich musste sie waschen, weil meine Mutter ihren Wein darüber vergossen hatte - trocken und glatt bügeln, als sie mich schon wieder zu sich rief. Sie gab mir eine Anweisung, die wie immer nicht klar und deutlich artikuliert, sondern vor sich her genuschelt worden war, so dass ich sie nicht verstand. Ich leerte also den Aschenbecher und wollte zurück in mein Zimmer, als sie hysterisch meinen Namen rief und mir ein paar zerknitterte, stinkende Geldscheine in die Hand drückte. Also machte ich mich missmutig auf den Weg zum Supermarkt um die Ecke. Ein solcher Ausflug dauerte im Regelfall nicht allzu lange. Nach zehn Minuten Fußweg erreichte ich mein Ziel, kaufte eine Flasche von ihrem Lieblingswein (ein billiger Fusel - sie hatte einfach keinen Geschmack) und zwei oder drei Päckchen Zigaretten und schon ging es zurück nach Hause. Diesmal war es etwas anders. Auf dem Rückweg, schon in unserer Straße, traf ich auf Laura und ihre Freundinnen. Laura war eine Ziege aus meiner Klasse - mit blonden, langen Haaren und Spielzeug bis zum Abwinken. Sie lutschte einen dieser riesigen Lollis mit so einem lustigen Wirbel drauf, von denen ich auch gerne einen gehabt hätte, und starrte mich mit ihren wässrigen Kuhaugen unschuldig an. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl und meine Vorahnungen irren sich selten, so auch damals. Gerade als ich an ihr vorbei ging, stellte sie mir ein Bein und ich fiel hin, so dass die Weinflasche zerbrach. Oh, war ich wütend! Sie hatte ja keine Ahnung, was meine Mutter mir daheim erzählen würde... Oder wie mein Vater wieder seinen aufgestauten Stress und Unmut bei diesem Grund an mir auslassen würde (nein, in der Regel brauchte er keinen Grund dafür, aber ich glaube, ihm ging es einfach besser, wenn er einen vorschieben konnte). Sie grinste mich nur dämlich an und sagte zu den anderen Kindern: "Guckt mal, die doofe Charlotte. Die kann noch nicht mal richtig gehen!" Und sie haben gelacht. Mein Vater hat mir einmal gesagt, dass ich mir von anderen nichts gefallen lassen muss. "Wenn dich jemand dumm anmacht, brauchst du ihm bloß zeigen, wie der Hase läuft." Und genau das tat ich auch. Laura sollte ihren zuckersüßen Mund halten und mir nie wieder ein Bein stellen können. Ich hüpfte auf sie drauf und riss sie zu Boden. Sie hat gar nicht verstanden, was passiert war, denn ihre riesigen Augen sahen mich verschreckt an, wie ein kleines Reh. Aber dann schien sie zu sich zu kommen und riss mir eine Strähne meiner schwarzen, dünnen Haare aus. Das ging einfach zu weit. Ich griff nach dem Rest der Weinflasche und schlug zu. Ich erinnere mich noch an das Geräusch ihres berstenden Schädels und den Geschmack ihres jungen Blutes, das mir ins Gesicht spritzte. Was für ein Fest! Dann bewegte sie sich nicht mehr und ich sah irgendwann nur noch eine Spiegelung meiner selbst in ihren leeren, leblosen Augen. Armes Kind. Ich fühlte Bedauern für sie, dass sie ihrem Leben so ein Ende bereiten musste... Aber sie hatte mir eben ein Bein gestellt und so etwas tut man nicht. Mit einer sanften Geste schloss ich ihre Lider, nahm ihren Lolli und sammelte die Zigarettenschachteln meiner Mutter, die noch immer auf dem Boden lagen, auf, um wieder hinauf zu gehen. Der Lolli schmeckte nach Zucker und Blut. Ich weiß bis heute nicht genau, was dann geschah, aber vielleicht zwanzig Minuten später erreichte die Polizei unsere Wohnung und nahm mich und auch meine protestierende Mutter mit. Nach endlosen Stunden auf dem Revier wurde ich von einer Fremden mitgenommen und dorthin gebracht, wo ich die nächsten elf Jahre meines Lebens verbringen sollte. Es ist ein wenig seltsam. So genau ich mich selbst an die kleinsten Details vom Anfang dieses Tages erinnere, nachdem ich von Zuhause weggeholt worden war, sehe ich alles nicht mehr klar und deutlich vor meinem geistigen Auge. Ich sehe Ausschnitte, wie in einem Film, mal mit, mal ohne Ton unterlegt. Ein allgegenwärtiger, grauer Schleier überdeckt die Ereignisse. Zu dieser Zeit habe ich nicht verstanden, warum alle Leute um mich herum so hysterisch waren - ich sah ihre Blicke nicht, mit denen sie mich abschätzig beäugten. Ich saß einfach nur da, lutschte den Lolli und spielte mit einer Locke blonden Haares, das einzige, was noch von Laura Hartmann existiert. Über die folgenden Jahre gibt es nicht viel zu berichten. Ein langweiliges Kapitel in der Geschichte meines Seins. Ich bekam ein wunderschönes Einzelzimmer - ganz in Weiß! - in der Anstalt. Die meiste Zeit war ich endlich allein. Ich füllte meine Tage aus mit dem Erfinden von unzähligen Liedern, ich bemalte meine Wände und schlug jeden, der mir die Locke wegnehmen wollte. Letztendlich haben sie es doch irgendwie geschafft, das hat mich sehr getroffen. Aber ich habe sie mir später wiedergeholt. Ich musste mich ab und an mit einem netten, alten Herrn mit unaussprechlichem Namen unterhalten, der mich alles Mögliche über mein Zuhause und meine Eltern fragte. Irgendwann fand ich heraus, dass er mich schneller wieder gehen ließ, wenn ich ihm seine Fragen beantwortete. Natürlich habe ich hin und wieder lustige Geschichten, die ich mir selbst ausgedacht hatte, mit einfließen lassen. Er hat mir doch tatsächlich geglaubt, dass meine Mutter mich dazu zwang, wenn ich unartig gewesen war, meinen eigenen Urin zu trinken! Was man alten, verwirrten Menschen so alles erzählen kann! Ich hatte jedenfalls ziemlich viel Spaß mit ihm. Am lustigsten waren diese steilen, tiefen Falten auf seiner grauen Stirn und der bedauernde Ausdruck in seinen müden, grünen Augen, wenn ich ihm wieder eine meiner Lügen auftischte. Manchmal waren es auch keine richtigen Lügen, ich habe lediglich die eine oder andere Geschichte noch ein wenig aufgebauscht. Nun ja, letztlich genoss ich sein stetig anwachsendes Mitleid. Ich war ja auch so ein bedauernswertes, kleines Mädchen! Hach ja. So verstrichen die Jahre dort. Ich erlebte nicht viel, aber es war ruhig und entspannend. Ich führte regelmäßig Gespräche mit dem alten Doktorchen oder beschäftigte mich mit mir selbst. Auch in der Anstalt hatte ich keine Freunde. Aber das hatte mir ja noch nie etwas ausgemacht. Kapitel 3: Act One - Scene 3 - One Way to Salvation --------------------------------------------------- Als ich 14 Jahre alt war, beschlossen meine Ärzte, ich solle etwas Sinnvolles tun. Ich war gespannt darauf, was sie mir anbieten würden und mit der Entscheidung, eine Lehre als Tischler anzufangen, war ich einverstanden. Nur ich und das Holz. Mit dem heutigen Wissen bin ich davon überzeugt, sie haben an so etwas wie Resozialisierung gedacht. Ist ihnen kaum zu verdenken; ich war ein ruhiges, vielleicht etwas introvertiertes Kind, das nach dem Wegnehmen der blonden Locke einer gewissen Laura Hartmann keinerlei Anzeichen von Aggressionen mehr zeigte. Nun ja, schließlich kam etwas dazwischen, könnte man sagen. Oder besser: Jemand. 1973, kurz nach meinem 15. Geburtstag, wurde ein Pfleger auf unsere Abteilung versetzt. Michael hieß er, Michi nannte ich ihn. Er war relativ groß und untersetzt, nicht sehr gepflegt mit unordentlichem, dunklen Haar. Und dieses stetige Grinsen. Eigentlich fand ich ihn soweit ganz nett - nicht, dass er für mich als Freund in Frage kam; ich hatte und wollte auch immer noch keine Freunde. Aber er machte mir gegenüber keine dummen Bemerkungen oder Ähnliches. Deshalb war es für mich umso überraschender, als er mich eines schönen Tages auf dem Weg von der Werkstatt zurück auf mein Zimmer begleitete. Das war selbstverständlich nicht das Überraschende. Nein, nur zog er mich völlig überraschend (hihi!) in eine Kammer, die auf dem Weg lag. Und dann erblickte ich sein wahres Gesicht. Er stürzte sich auf mich, hielt mich fest, zog mir die Kleider vom Leib und machte sich an mir zu schaffen. Das war eklig! Eigentlich fand ich es auch damals schon ganz widerwärtig. Ich wehrte mich auch, aber ich war zu schwach. Irgendwie habe ich den Eindruck, als hätte dieser lange Frieden, in dem ich in den Jahren zuvor gelebt hatte, mich geschwächt. Langer Rede, kurzer Sinn - Michi hatte während des nachfolgenden Jahres sicher seinen Spaß mit mir. Ja, und dann habe ich mir gedacht, es wird einmal Zeit, dass auch ich an der ganzen Sache Spaß finde. Ungefähr wiederum ein Jahr später bekam ich eine günstige Gelegenheit. Michi, der mich noch immer regelmäßig in irgendwelchen Kammern vergewaltigte (Ich muss wohl zugeben, ich wehrte mich inzwischen nicht mehr halb so ehrgeizig. Er war ohnehin stärker als ich und so nutzte ich die Chance, wenn er nicht damit rechnete. Ich gab ihm Ohrfeigen, kratzte oder spuckte ihn an.), war auf die überaus schlaue Idee gekommen, mich zum Oralverkehr zu zwingen. Ich spielte mit, denn natürlich hatte ich etwas im Sinn. Gerade in dem Moment, als er in völliger Hingabe meinen Kopf auf sein Geschlechtsteil drückte... biss ich zu! Grandios, nicht wahr? Nun, die Folge war, dass er mich wegstieß und schrie. Ich lief auf den Gang und wurde von Schwestern aufgelesen. Ich weinte große Krokodilstränen, zeigte auf ihn und schniefte nur noch. Ich war schon immer ein guter Schauspieler! Letztlich weiß ich gar nicht genau, was mit ihm danach passiert ist. Ich hatte jedenfalls meine Ruhe und gehen lassen haben sie mich nach diesem neuen Gewaltausbruch jedenfalls nicht mehr. Auch wenn ich leichtfertig über dieses Thema reden kann, so ganz unberührt lässt es mich ja doch nicht. Ich glaube ab und an, dass etwas nicht stimmt. Manchmal höre ich Michis Stimme in meinem Kopf und ich dachte auch schon, ich hätte ihn lange nach diesem Erlebnis gesehen. Ein Gesicht in der Menge, ein Spiegelbild in einer Fensterscheibe... Immer, wenn ich genauer hinsehe, ist er verschwunden. Und dennoch: Er lässt mich nicht in Ruhe. Er ist nicht dauerhaft da. Hin und wieder vergesse ich ihn sogar und dann taucht er plötzlich wieder auf, für ein paar Sekunden. Manchmal glaube ich, ich werde noch verrückt! Na ja, aber um wieder zum Thema zurückzukommen: Die Folgejahre verliefen sehr geordnet. Nach drei Jahren schloss ich meine Ausbildung zum Tischlergesellen ab und arbeitete danach hin und wieder sogar in diesem Beruf. Ja, irgendwie haben sie mir das in der Anstalt ermöglicht - Beschäftigungstherapie würde ich das nennen. Inzwischen erhielt ich auch ab und an Freigang. Nicht allein, versteht sich. Ich wurde meist von Schwester Biggi begleitet. Ich glaube, sie konnte mit mir nicht so richtig etwas anfangen. Anfänglich versuchte sie immer wieder, mit mir Gespräche zu führen, gab dieses Vorhaben aber aufgrund meines Schweigens irgendwann auf. Und danach war sie nur noch genervt von mir, was mich im Übrigen sehr amüsierte. Bei einem dieser Freigänge geschah es dann. Wir schrieben inzwischen das Jahr 1978. Winter. Ich war den Nachmittag und frühen Abend mit Biggi unterwegs gewesen. Sie wollte unbedingt, dass ich mit auf den Weihnachtsmarkt ging - warum, frage ich mich? (Vielleicht wollte sie dorthin und indem sie mich mitnahm, konnte sie das während der Dienstzeit erledigen.) Aber nun gut, ich habe mich breitschlagen lassen. Biggi konnte beharrlich sein, muss ich wohl dazu erwähnen, und extrem penetrant! Wie auch immer, wir hatten uns also dort herumgetrieben. Der Heimweg gestaltete sich ereignislos, bis... ja bis wir auf zwei sonderbare Gestalten stießen. Sonderbar nicht unbedingt wegen ihrem Aufzug. Der eine trug einen langen, weißen Kittel und seine grau-weiß melierten Haare standen ihm wirr um den Kopf. Aber gut, ich sah öfters mal seltsam gekleidete Menschen, nichts Außergewöhnliches. Sonderbar war das Verhalten. Jener Herr sprach Biggi an und erklärte ihr, dass ich weggelaufen sei auf dem Weihnachtsmarkt und dass sie mich vergeblich zwei Stunden lang in der Kälte gesucht hatte. Ich konnte mir das nicht so recht erklären, immerhin stand ich doch genau daneben. Aber ich sagte nichts dazu, sondern wartete ab, was dabei herauskommen sollte. Das war der Anfang vom Ende meines bisherigen Lebens. Schließlich ging Biggi mit dem anderen mit. Ich weiß nicht, wohin er sie brachte und was danach mit ihr geschah. Eigentlich kümmert es mich auch nicht wirklich, denn sie war letztlich doch nur eine Nervensäge. Na ja, ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Was ein tragischer Verlust! Ausdruckslos sah ich den verrückten Professor, an den mich sein Aufzug unweigerlich erinnerte, an. Er grinste breit und musterte mich über die Ränder seiner riesigen Hornbrille. Dann nahm er mich bei der Hand und zog mich mit den Worten "Komm mit, Lottchen!" hinter sich her. Er hüpfte wie ein kleines Kind und später musste ich feststellen, dass er das immer tat, wenn er gute Laune hatte. Ich stellte keine dummen Fragen, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass von nun an alles seinen Lauf nehmen würde, so wie es das Schicksal vorgesehen hatte. Süß, nicht wahr? Damals glaubte ich noch an solch banale Dinge wie Schicksal... Jedenfalls fuhren wir ein paar Stationen mit der U-Bahn, stiegen dann sogar noch in den Bus um und gelangten schließlich irgendwo in Reinickendorf zu einem Wohnblock. In der Zwischenzeit hatte er mir zumindest erzählt, dass sein Name Dr. Waldemar Finke sei (ja, schon wieder ein Doktor - ich war ein Leben lang nur von irgendwelchen Quacksalbern umgeben...) und ich musste anerkennen, dass er es irgendwie geschafft hatte, eine Menge Informationen über mich herauszubekommen. Er konfrontierte mich mit allen herausragenden Dingen, die in meinem Leben so geschehen waren. Mir war, als hörte ich die Geschichte eines anderen. Dennoch irgendwie unheimlich. Professor's Wohnung lag im elften Stock. War ganz nett da. Nicht unbedingt ordentlich, muss ich zugeben. Es lagen viele Bücher, Zettel oder auch Kleidung quer durch alle Räume verteilt. Das komplettierte meine Vorstellung von diesem zerstreuten, wahnsinnigen Professor. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie nah an der Wahrheit dieser erste Eindruck lag. Ich setzte mich, noch immer schweigend, auf ein braunes Sofa. Ich brauchte auch gar nicht reden, das tat er ja die ganze Zeit. Er erzählte irgendwelche Geschichten über dies und das - ich hörte nicht wirklich zu, da seine Wohnung weitaus interessanter war. Er hatte eine herausragende Vorliebe für Spiegel, dachte ich mir. Ich zählte allein im Wohnzimmer zwölf, zusätzlich zu den Scherben, mit denen er die Decke des Raumes verkleidet hatte. Während ich mich also umsah, wollte er mir etwas zu trinken besorgen. Dann hörte ich ihn aus einem anderen Raum, vermutlich der Küche, nur noch grübeln, ein lautes "Hmm..." Und "So so...", so dass ich schließlich doch beschloss, ihm Gesellschaft zu leisten. Ich fand ihn vor einem geöffneten Kühlschrank, in den er hineinstarrte. Ich erhaschte einen Blick: Darin befand sich ...nichts. Dann schlug er die Tür wieder zu, sah mich überrascht an und schob mich zurück ins Wohnzimmer, wobei er etwas murmelte, das sich wie "Nichts da, Kindchen, nichts da. Wir müssen schnell weitermachen, damit du nicht verdurstest..." anhörte. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich auf seinem Sofa. Er hatte sich in einen Sessel niedergelassen und sich ein Pfeifchen gestopft. Dann begann er zu erzählen, wobei er mich durchgehend über die Ränder seiner Brille, die ihm immer wieder bis zur Nasenspitze herunterrutschte, in den Augen behielt und jede noch so kleine Reaktion meinerseits beobachtete. Zunächst konzentrierte ich mich mehr auf seine durch die Kopfbewegungen wippenden Haare. Aber als er mit der Einleitung fertig war (irgendwelche Dinge über seine Weltsicht, weder damals noch heute für mich in irgendeiner Form von Bedeutung), schockte er mich mit einem einfachen Aussagesatz: "Weißt du, Lottchen, ich bin ein Vampir." Ich muss dazu sagen, dass mich der Inhalt dieses Satz weniger schockte - ich glaubte ihm eh kein Wort, jedes Kind weiß doch schließlich, dass Vampire eindeutig zu den Mythenfiguren zählen (hihihi!). Wenn ich nicht so perplex gewesen wäre, ob der Tatsache, dass er das erste Mal einen einfachen Satz formulierte, ohne ellenlange Nebensätze, ohne wenig aussagekräftiges Blabla drumherum... Wenn mich dieser Umstand nicht so aus der Fassung gebracht hätte, so hätte ich wahrscheinlich geweint - vor Lachen! Als Professor nun fortfuhr, veränderte er sich. Er wirkte weniger schusselig, kühler, berechnender. Später, nachdem ich die ersten paar Jahre mit ihm verbracht hatte, kam es mir so vor, als wäre das sein wahres Ich. Er war ein Meister darin, andere glauben zu machen, er sei ein unbedeutender, verrückter Kauz... Aber zurück zum Thema. Je mehr er erzählte, desto mehr erlangte er meine Aufmerksamkeit. Auch wenn ich noch weit davon entfernt war, ihm diese Lügen abzukaufen, so hatte ich doch schon immer einen Sinn für spannende Geschichtchen gehabt - war ich doch selbst so gut darin, mir die abstrusesten Dinge auszudenken. Und ich konnte mich für die interessante Fassung über "Dracula" begeistern. Vampire, die seit Urzeiten unter den Menschen wandeln, getrieben von dem Verlangen nach Blut und Macht, gefangen in ihrem selbst geschaffenen Netz von Lügen und Gefallen. Herrlich! Die Zeit verstrich und ich konnte mich gerade noch zurückhalten, den Professor darauf aufmerksam zu machen, dass man mich in der Anstalt sicherlich schon vermisste (Scherz!). Außerdem war ich eigentlich ganz gerne in seiner Gesellschaft. Obwohl er mittlerweile alles andere als sympathisch auf mich wirkte, so glich das seine Geschichte und seine ruhige Art tausendfach aus. Ich machte mir keinerlei Gedanken darüber, was geschehen würde, hatte er fertig erzählt. Aber als es dann schließlich so war, überschlugen sich die Ereignisse. Erst sah er mich erwartungsvoll an, als ob er eine Frage oder auch nur ein Kommentar erwartete. Ich beschloss, ihm diesen Gefallen zu tun, als Dankeschön für die nette Geschichte. "Das war ein sehr erfüllender Abend, Professor", begann ich. "Ich meine, Sie wissen eine Menge von den Dingen, die ich erlebt habe. Aber woher wussten sie, dass ich ausgefallene Geschichten mag?" Er lachte kalt, sodass mir ein Schauer über den Rücken lief. "Du glaubst also, Lottchen, dass das nur eine Geschichte war?" Ich stutzte. Inzwischen war ich mir sicher, dass er wirklich verrückt war, denn er schien tatsächlich zu glauben, was er erzählt hatte. Wie dumm ich doch war, wie klein und dumm... "Dann sage mir doch, wie du dir das erklärst..? Es war ja schließlich nur eine Geschichte..." Im Halbdunkel des Raumes, der übrigens nur von Kerzen erhellt wurde, konnte ich doch die Veränderung erkennen. Seine obere Zahnreihe hatte sich verformt - es blitzten mir die vampirtypischen, spitzen Eckzähne entgegen. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich erschreckt hätte. Ich zog die Augenbrauen hoch und antwortete gelassen: "Dieser billige Trick reicht jedenfalls nicht aus, mich zu überzeugen." Und wieder grinste er breit. "Nun gut, Lottchen. Du zwingst mich ja förmlich dazu. Ich wollte dich vor die Wahl stellen, aber jetzt... wo du mir durch deinen Unglauben keine andere Alternative mehr lässt..." In diesem Moment erhob er sich und setzte sich neben mich. Er nahm meine Hand mit seinen kalten, toten Fingern und führte sie langsam an seine Brust. "Siehst du? Kein Herzschlag. Ich bin mausetot!" Obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich mich mit dem Tod konfrontiert sah (man erinnere sich doch an das arme, kleine Mädchen, das wegen ihrer Mobbingversuche leider das Zeitliche segnen musste), begann nun doch mein Herz schneller zu schlagen. Dieses Phänomen war mir unerklärlich, außer... Außer ich nahm die Worte des Professors für bahre Münze. Er sah mich beruhigend an und das Letzte, an das ich mich erinnere, bevor er mir seine Zähne in den Hals schlug, waren jene Worte: "Pssst, Lottchen. Ganz ruhig. Ich habe dir so viel erzählt und möchte dich eigentlich nicht mehr gehen lassen. Hab keine Angst, es tut nur ganz kurz weh..." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)