Seasons von Kunoichi (Oneshot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: [Winter] Das Wiedersehen (Romantik) ---------------------------------------------- Hinata blickte durch die vereiste Scheibe auf das dichte Schneetreiben draußen vor ihrem Fenster, das bereits seit mehreren Stunden anhielt und für jeden schneelosen Winter entschädigte, den es je gegeben hatte. Kleine Eisblumen zierten das dünne Glas, das sofort beschlug, als Hinatas Atem es berührte. Das Mädchen lehnte ihre Stirn gegen die kalte Scheibe und suchte nach einem Punkt in der Dunkelheit, den sie erkennen konnte, doch noch nicht einmal die gegenüberliegenden Häuser waren zu erkennen. Einzig ihr Spiegelbild blickte ihr verzerrt und traurig entgegen. Hinata schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche des Hauses. Es war kein Laut zu hören. Weihnachten war vorbei und Hinata war allein. Sie wusste, sie hätte mit den anderen mitgehen können. Ihre Familie war auf dem alljährlichen Fest, das während der Weihnachtstage in Konoha abgehalten wurde. Es war ein vergnügliches Ereignis, bei dem alle ihren Spaß hatten. Doch Hinata war nicht zum feiern zumute; nicht dieses Jahr. Was sollte sie dort allein, wenn all ihre Freundinnen in Begleitung erschienen? Ino kam mit Shikamaru, Tenten mit Neji und Sakura gar nicht. Sie hatte zu viel mit ihrer Ausbildung zu tun. Warum sollte Hinata dann dort auftauchen? Sie wusste, mit wem sie zu dem Fest gehen würde. Es hatte keinen Sinn, sich noch weiter zu verstellen oder den anderen etwas vorzumachen, denn sie wussten es ohnehin alle. Hinata seufzte tief. Naruto war mittlerweile schon drei lange Jahre fort und sie wusste nicht, wann er zurückkommen würde. Damals hatte sie ihn beobachtet, wie er das Dorf verlassen hatte. Doch sie hatte sich nicht getraut, ihm Aufwiedersehen zu sagen, obwohl sie doch genau wusste, dass sie ihn für eine lange Zeit nicht mehr sehen würde. Von dem Moment an, hatte sie keinen Tag verbracht, ohne an ihn zu denken. Es tat weh, sich daran zu erinnern. Ebenso, wie jeder Tag ohne ihn schmerzhaft war. Hinata wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie eine vermummte Gestalt draußen an ihrem Haus vorbeihuschen sah. Einen Moment lang meinte sie, einen blonden Haarschopf erkannt zu haben, als der Wind die Kapuze zurückgeweht hatte. Ruckartig stand sie auf und der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, fiel krachend zu Boden. Hatte sie jetzt schon Wahnvorstellungen? Unschlüssig verharrte sie am Fenster und sah der Person nach, die sich durch das Schneetreiben kämpfte und immer weiter von ihr entfernte. Hinatas Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Wenn er es nun tatsächlich war? Wenn er wirklich wieder zurück war? Hecktisch überlegte sie hin und her, obwohl sie wusste, dass ihr Entschluss längst feststand. Im Vorbeirennen packte sie ihre Jacke, die unordentlich gefaltet auf ihrem Bett lag, und streifte sie über, während sie die Treppe hinunter jagte. Dann öffnete sie die Haustür und lief, ohne ihre Schuhe über zu ziehen, durch den kalten Schnee. Ihre Socken durchweichten sofort und ließen die Kälte ihren Körper empor steigen. Doch Hinata war es egal. Sie wollte die Gestalt um jeden Preis einholen; musste sich vergewissern... "NARUTO-KUN!" Der Wind trug ihre verzweifelten Rufe fort und sie schrie erneut, so laut es ihre Stimme erlaubte. In dem hohen Schnee sackte sie immer wieder ein und ein schnelles Vorankommen war somit kaum möglich. Hinata kam sich unendlich langsam vor. Dann verharkte sich plötzlich ihr Fuß und sie landete der Länge nach im Schnee. Keuchend blieb sie liegen. Sie würde ihn nicht einholen; jetzt nicht mehr. Vielleicht würde er gleich seine Wohnung aufsuchen. Eine Möglichkeit wäre es, ihn dort anzutreffen; eine kleine Hoffnung, an die sie sich klammerte. Zitternd erhob sich Hinata wieder, schüttelte den Schnee aus ihren Haaren und betrachtete den frischen Abdruck ihres Körpers, in der weißen Pracht. Der kalte Wind brannte ihr in Augen und Lungen; sie schlang die Arme um ihren Körper und machte ein paar Schritte voran. Wie Glassplitter bohrten sich die eisigen Flocken in Hinatas Haut. Sie wagte kaum aufzusehen. Dann zeichnete sich ein paar Meter vor ihr die Silhouette eines Jungen ab, der ihm Schein einer Laterne stand. Hinata verengte die Augen zu Schlitzen um besser sehen zu können und erkannte endlich die Person, nach der sie sich so lange gesehnt hatte. Sie hatte es geschafft: Er hatte ihre Rufe gehört und er hatte auf sie gewartet. In einen dicken Mantel gehüllt, schritt Naruto dem Mädchen entgegen und zog sich die Kapuze aus dem Gesicht, damit sie ihn erkennen konnte. Entsetzt blickte er auf Hinatas frierende Gestalt hinunter. "Hinata, was tust du hier?", fragte er vollkommen perplex und berührte ihr Gesicht. Es war so kalt und weiß wie der Schnee. "Ich- Ich habe nach d- dir gesucht", sagte sie heiser und plötzlich schien alle Kälte von ihr abzufallen und sie fühlte sich, als würde sie von innen heraus glühen. Es war eine andere Hitze, als die bei einem Fieber und Hinata wusste nur zu gut, woher sie kam. "D- Du warst... so lange weg", stammelte sie und ihr fiel plötzlich ein, dass sie sich gar nicht überlegt hatte, wie sie ihm erklären sollte, warum sie ihm nachgelaufen war. "Hinata..." Er blickte sie besorgt an. "Wir sollten irgendwo reingehen! Und du hast ja auch gar keine Schuhe an!", sagte er sichtlich verwirrt, nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her, in eine Seitenstraße. Durch das Heulen des Windes waren die Geräusche des Festes aus der Ferne zu hören. Der Platz an dem es stattfand musste ganz in der Nähe sein. Benommen folgte Hinata der hochgewachsenen Gestalt Narutos. Außer seiner Größe hatte er sich nicht sehr verändert. Auch seine Art, die Weise wie er sprach oder sich bewegte, war gleich geblieben. Hinata konnte das besser beurteilen als jeder andere, denn es gab niemanden, der Naruto so genau beobachtet hatte wie sie. Endlich machte er halt und zog klappernd ein Schlüsselbund aus der Innentasche seines Mantels hervor. Das Schloss gab mit leisem Klicken den Durchgang frei und eilig schlüpften die beiden Ninja in das Treppenhaus des Wohnblocks. "Was für ein Mistwetter!", fluchte Naruto und klopfte sich den Schnee vom Mantel, "Komm, gehen wir hoch in meine Wohnung! Du solltest dich erstmal aufwärmen." Er wandte sich lächelnd zu Hinata um, die seine Geste schüchtern erwiderte. Stumm folgte sie ihm die Treppen hinauf in den zweiten Stock. Nur sehr langsam drang in ihr Bewusstsein ein, was gerade in den letzten Minuten geschehen war: Naruto war zurückgekehrt. Gerade noch hatte sie an ihn gedacht und plötzlich stand er vor ihr, so als hätte er ihre inneren, verzweifelten und einsamen Rufe gehört. War das nur ein Traum? Konnte es wirklich sein, dass er sie gerade mit zu sich nahm? Und wie sollte sie sich verhalten? Mit jeder Stufe, die Hinata nahm, sank ihr mehr und mehr der Mut. Sie hatte sich diese Situation immer herbeigesehnt, doch nun, wo sie da war, konnte sie gut und gerne darauf verzichten... Als Naruto schließlich vor einer der Türen stoppte und erneut das Schlüsselbund hervorkramte, ereilte Hinata plötzlich der absurde Wunsch, sich wieder umzudrehen und nach Hause zu laufen. Es war ihr egal, wie feige das ausgesehen und wie komisch es auf Naruto gewirkt hätte. Hinata schluckte sacht. Aber konnte sie jetzt einen Rückzieher machen? Unmöglich! "Wow, ist das schön, wieder hier zu sein", rief Naruto freudig aus, trat in seine Wohnung, schaltete das Licht ein und warf den Mantel achtlos in eine Ecke. Hinata folgte ihm nur zögernd und blieb einen Moment unschlüssig im Flur stehen. Sie beobachtete den Jungen, wie er mit seinem Rucksack in einem der Räume verschwand und wunderte sich anschließend, was er dort drin veranstaltete, als lautes Klappern von Geschirr zu hören war. "Mach's dir doch einfach im Wohnzimmer bequem, Hinata! Ich koch uns in der Zwischenzeit Tee", beantwortete er ihre unausgesprochene Frage und schüchtern befolgte Hinata seine Anweisungen, suchte das Wohnzimmer und nahm dort auf dem geräumigen Sofa platz. Es war ein merkwürdiges Gefühl hier zu sein. Unauffällig sah sie sich um, bis ihr Gastgeber mit einem Tablett das Zimmer betrat. "Hier, davon wird dir sicher warm!", sagte er lächelnd, reichte Hinata einen Becher Tee und ließ sich dann neben ihr in die Kissen sinken. Dankend nahm sie an und trank in einem Zug aus. Der Tee zeigte seine sofortige Wirkung und die Wärme kehrte in ihre Glieder zurück. Behutsam stellte sie den Becher zurück aufs Tablett und Naruto tat es ihr gleich. "Das war gut, oder nicht?", fragte er zufrieden und steckte sich. Hinata nickte. Sie hielt den Blick gesenkt; aus Angst, wieder zu erröten, wenn sie den Jungen ansah, so wie es ihr immer passierte, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte. Naruto schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. "Wirklich angenehm, wieder Zuhause zu sein", seufzte er, "Ich hab zwar auf der Trainingsreise eine Menge gelernt, aber mit dem alten, perversen Sack sind drei Jahre echt eine Tortur, das kannst du mir glauben!" Er grinste und fixierte dann interessiert seine Gesprächspartnerin. "Und was hast du die Jahre so gemacht, hm?" Überrascht, dass Naruto sie etwas fragte, zuckte Hinata leicht zusammen. "I- Ich hab nichts gemacht... also nicht wirklich..." Ihr Gesicht brannte. Sie merkte, wie sie sich mehr und mehr verhaspelte. "Ich hab trainiert", brachte sie hervor und plötzlich hörte sie Naruto leise lachen. "Was- Was i- ist so lustig?", fragte sie unsicher. "Ach, ich hab mich nur gerade gewundert", sagte er und grinste sie breit an, "Du bist wirklich sehr hübsch geworden, Hinata." Hinatas Herz setzte für einen Schlag aus. Ihr wurde schwindelig; sie meinte, ohnmächtig zu werden. Hatte Naruto das tatsächlich gerade zu ihr gesagt? War das möglich? Bisher sagte er immer ganz offen und ehrlich seine Meinung, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, also... "Du- Du machst- Witze!", stammelte sie. Ihr Kopf wirbelte herum und ihre Blicke trafen sich. So direkt hatte sie ihm wohl noch nie in die Augen gesehen. "Ich meine es ernst", entgegnete er verdutzt über ihre plötzliche Reaktion und Hinata schluckte. Wie lange hatte sie auf diese Worte gewartet!? "Naruto, ich muss dir etwas sagen!", platzte es aus ihr heraus. Wenn sie es ihm jetzt nicht sagte, würde sie es ewig bereuen. "Ich- Ich wollte es dir schon so lange..." Sie stockte, als wäre ihr mit einem Mal die Luft weggeblieben. Seine kristallblauen Augen blickten sie durchdringlich an; interessiert, was nun kommen würde, und plötzlich wusste Hinata das selbst nicht mehr. Ihre Stimme wurde wieder schwächer, dünner, und plötzlich war sie wieder das schüchterne Mädchen, wie sie es seit je her schon immer war. "Ich..." Am liebsten wäre sie aufgestanden und gegangen. Sie schaffte es einfach nicht. Hinata atmete tief ein, setzte erneut an, doch ihr ging kein Ton mehr über die Lippen. Warum konnte sie ihre Gefühle nur nicht aussprechen? "Was ist denn, Hinata?" "N-Nichts", flüsterte sie resigniert und brach den Blickkontakt; starrte auf ihre Knie. Ihr Herz trommelte ihr rasend und schmerzhaft gegen die Brust. Naruto schaute sie verwundert an und sie wünschte sich, er würde endlich wegsehen. Gleich würde er wieder sagen, sie wäre merkwürdig; ja, sie wartete nur darauf... Doch es kam nichts. Naruto blieb stumm und die Stille im Raum wurde unerträglich. "Du musst es ja nicht sagen", seufzte er leise, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute zur Decke. Hinata erfasste schon Panik, er könnte nun beleidigt sein, als er in normalem, freundlichem Ton weiter sprach. "Heute ist so eine Art Weihnachtsfest in Konoha, nicht wahr?", fragte er fast beiläufig und Hinata nickte rasch. "Und warst du schon dort?" "N-Nein, noch nicht..." "Warum nicht?" "Ich- Ich hatte keine Lust", antwortete das Mädchen zögernd und spürte, wie ihr das Blut abermals in den Kopf schoss. Sie war so eine schlechte Lügnerin... Aber sollte sie ihm etwa erzählen, dass sie nicht hingegangen war, weil sie nicht ohne Begleitung dort erscheinen wollte? Womöglich würde er es als Anspielung verstehen und was sollte sie dann sagen? "Wirklich schade, denn ich würde gerne vorbeisehen", sagte er, "Es wäre die Gelegenheit die anderen wieder zu treffen. Immerhin bin ich seit drei Jahren nicht mehr hier gewesen. Was meinst du? Willst du's dir nicht doch noch mal überlegen?" Hinatas Herz tat einen Sprung, als hätte sie beim Treppensteigen eine Stufe verfehlt. "Du... willst... mit mir dahin...?", fragte sie unsicher und blickte ihn an, als hätte sie nicht ganz verstanden, was er meinte. "Ja, oder willst du wirklich nicht? Ich-", begann er und stockte, als sie ein hastiges "Doch!" dazwischen warf. Fast erschrak sie selbst über die Begeisterung in ihrer eigenen Stimme und schüchtern korrigierte sie: "Ich meine... wenn du möchtest, können wir ja dahin..." Naruto grinste sie frech an. "Ich wusste doch, dass ich dich noch überrede!", sagte er, erhob sich und wollte sie schon auffordern, ebenfalls aufzustehen, als sie plötzlich einen Einwand vorbrachte: "A- aber, wenn wir so lange draußen bleiben brauch ich was Wärmeres zum anziehen! Ich lauf schnell nach Hause, es ist nicht weit..." "Du willst so durch den Schnee laufen?", fragte er ungläubig und musterte sie von oben bis unten, "Du hast keine Schuhe-" "Schon okay, das geht so", tat sie die Sache ab, doch Naruto schien damit nicht einverstanden zu sein. "Nein, nimm solange einfach meine Schuhe! Sie stehen an der Tür. Ich hab noch andere hier", entgegnete er streng und zeigte in den Flur. Hinata bedeutete ihm, dass sie verstanden hatte, folgte dem blonden Jungen an die Haustür und schlüpfte in seine Schuhe, die ihr viel zu groß waren. Sie hatte die Hand schon am Türgriff, als sie noch einmal seine Stimme hörte. "Treffen wir uns am Festplatz? Dort, wo immer der Markt ist." "Okay..." "Und... Hinata-" Sie drehte sich verwundert um und erblickte Naruto an der Tür zum Wohnzimmer stehen. Lässig lehnte er sich gegen den Türrahmen, grinste sie freudig an und musterte sie mit seinen meerblauen Augen; die Arme vor der Brust verschränkt. "Hinata, du bist nicht merkwürdig. Ich mag dich wirklich sehr gerne." Hinata glaubte, ihr Kreislauf würde abermals versagen. Warum sagte er ihr solche Dinge? Konnte es sein, dass... "Bis gleich." Sie schlug die Tür ein wenig zu fest hinter sich zu und polterte das Treppenhaus hinunter. Ihr Gesicht glühte und erst, als sie raus lief auf die Straße, spürte sie wieder die Eiseskälte, auf ihrer Haut und in ihrer Lunge. Doch diesmal schien die Wärme von innen stärker zu sein. Sie lief in Narutos Schuhen und es waren die Schuhe, die er drei Jahre lang getragen hatte. Hinata konnte es nicht glauben... Der Wind peitschte ihr kalt und feucht ins Gesicht. Während sie die fünf Minuten Fußmarsch durch den feinen Puderschnee bis vor ihre Haustür lief, überschlugen sich ihre Gedanken. Alles schien wild auf sie einzuströmen; alles ging viel zu schnell für sie: Narutos Rückkehr, ihr Treffen mit ihm, ihre Verabredung auf dem Fest... Stolpernd hielt sie vor dem großen Anwesen des Hyûga-Clans und begann hektisch in ihrer Jacke nach dem Schlüssel für den Eingang zu suchen. Mit zitternden Fingern öffnete sie schließlich das Schloss; hatte es sogar zu eilig, um auf Kleinigkeiten wie die matschigen Fußabdrücke auf dem Hausflur zu achten, über die sich ihre Mutter wieder furchtbar ärgern würde, wenn sie heim kam. Auch wie sie sich den Mantel überwarf und ihre Schneestiefel anzog, wusste sie später nicht mehr. Zu sehr schwelgte sie in ihren Gedanken. Wenige Sekunden später hatte sie sich fertig angezogen und stürzte wieder aus dem Haus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Gleich würde sie Naruto wieder sehen, würde mit ihm zum Fest gehen. Niemand hätte ihre Glücksgefühle in diesem Moment zu beschreiben gewusst; nicht einmal sie selbst schaffte es, das für sie ungewöhnliche und breite Lächeln aus ihrem Gesicht zu verbannen. Die Musik des Festes kam näher und näher. Hinata bescheunigte ihr Tempo, wirbelte den Schnee hinter sich auf und hinterließ eine lange Spur auf der weißen Decke. Keuchend rannte sie durch die verlassenen Straßen, nahm eine Abkürzung über einen Gartenzaun und brauchte danach nur noch wenige Schritte, bis sie zwischen zwei dicht stehenden Häusern auf dem großen Marktplatz ankam. Schwer atmend und mit hochrotem Kopf blieb sie stehen; blickte sich um. In den Menschenmassen war es ganz unmöglich Naruto zu finden, das war ihr auf den ersten Blick klar. Gerüche verschiedener Speisen drangen in ihre Nase, die Musik, gemischt mit den lauten Stimmen der feiernden Gesellschaft, machte die Ohren taub. Hinata rannte an einigen Ständen vorbei, bis zum offiziellen Eingang aufs Festgelände, das mit einem großen Banner, der in der Luft wehte, gekennzeichnet war. Eine Weile stand sie regungslos auf einem Fleck und ihr Puls hatte einen Moment Zeit, sich zu beruhigen. Hätte sie mit Naruto doch nur einen Treffpunkt ausgemacht! In dem Durcheinander würden sie sich niemals finden... Ihr Kopf ruckte ungeduldig von einer Seite zur anderen; sie stellte sich auf Zehenspitzen um besser zu sehen, doch ein blonder Haarschopf kam ihr nicht unter die Augen. Resigniert wandte sie sich um. Auch außerhalb des Geländes, hinter dem Banner, kam niemand mehr hinzu. Die Straßen wirkten ausgestorben, der Nebel und das Schneetreiben verdeckten die Sicht. Hinata zog den Kragen ihres Mantels höher. Vielleicht würde er sie hier finden, wenn sie blieb, wo sie war? "HINATA!" Sie spürte wie jemand sie von hinten packte und sie benahe von den Füßen riss. Hinata strauchelte und wirbelte erschrocken herum. Ihre Augen weiteten sich, als sie in Narutos freudestrahlendes Gesicht blickte. Er hatte die Arme noch immer um sie geschlungen. Ihre Gesichter waren einander näher als jemals zuvor. "Ich hab schon nach dir gesucht!", rief der blonde Ninja grinsend und Hinata glaubte, wieder bewusstlos zu werden. Das Blut stieg ihr in den Kopf und sie senkte verschüchtert den Blick. "Ich bin noch nicht lange hier", flüsterte sie leise und Naruto neigte den Kopf vor. Zuerst glaubte Hinata, er habe sie durch den Wind nicht verstanden und wollte die Worte schon wiederholen, als sich ihre Lippen sacht berührten. Es kam so plötzlich und unerwartet, dass Hinata ihre Verwirrung kaum verbergen konnte; diese sich in ihrem Gesicht abzeichnen musste. Alle Geräusche in der unmittelbaren Umgebung waren mit einem Schlag verstummt. Die Zeit stand still; selbst der Schnee schien langsamer vom Himmel zu fallen. Hinata wusste nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Kaum hatte sie begonnen die Situation zu erfassen oder gar zu genießen, stoben die beiden auch schon wieder auseinander. Atemlos blickten sie sich an und die Welt gewann an Farben und Tönen zurück. Sanft nahm Naruto Hinatas Hand und drückte sie leicht. Erkannte sie bei ihm etwa auch einen leichten Rotschimmer auf den Wangen? "Komm mit zu den anderen, Hinata! Sie sind ein Stück weiter hinten", sagte er unsicher lächelnd und zog sie langsam durch die feiernde Menge. In Hinata explodierte ein Feuerwerk der Gefühle, wie sie es noch nie gespürt hatte. Endlich war das, was sie sich schon immer gewünscht hatte, eingetreten. Naruto hatte sie geküsst; hatte ihr den indirekten Beweiß seiner Zuneigung für sie gegeben. Und doch wusste sie noch immer nicht genau, was sie davon halten oder wie sie damit umgehen sollte. Vielleicht würde die Zeit es ihr sagen. Wenigstens eine einzige Sache stand für Hinata nun endgültig fest: Jetzt würde es doch noch ein schönes Weihnachtsfest werden... Kapitel 2: [Frühling] Geständnis (Shōnen-Ai) -------------------------------------------- Naruto presste sich keuchend gegen die Zimmertür, als habe er Angst, irgendjemand könne sie von außen wieder aufstoßen. Sein Herz hämmerte ihm schmerzhaft gegen die Rippen und er fuhr sich mit der Hand über die Brust; schaffte es allmählich, sich wieder zu beruhigen. Für eine kurze Weile schloss er die Augen und stand in völliger Finsternis. Mühsam versuchte er die wirren Gedanken zu ordnen, die sich in seinem Kopf überschlugen und ihm Bilder vorführten, die er am liebsten aus seinem Leben streichen wollte. Wie kochende Lava flossen die Erinnerungen durch ihn hindurch, schnürten ihm die Kehle zu, dass das Schlucken plötzlich schwer fiel, drückten auf seinen Brustkorb und brannten ihm in den Eingeweiden. Naruto wurde schwindelig und er öffnete die Augen, ließ von der Tür ab und taumelte auf das alte, gebrauchte Hotelbett zu, das sich knarrend unter dem Gewicht des Blonden durchbog, als dieser bäuchlings in die viel zu weiche Matratze fiel. Ein paar Sekunden lag er regungslos da, das Gesicht in den Kissen verborgen, und wünschte sich, diese Position nie wieder ändern zu müssen. Doch es half nichts. Nach Luft schnappend drehte er den Kopf zur Seite und starrte an die gegenüberliegende Wand. Das Zimmer schwamm in gräulicher Dunkelheit, sodass von den Gegenständen im Raum bloß einige schemenhafte Umrisse blieben. Die Vorhänge waren noch nicht zugezogen und durch das Fenster leuchtete der Schein des Halbmondes als einzige matte Lichtquelle. Plötzliche Stimmen und das Fußgetrappel einiger Hotelgäste auf dem Flur ließen Naruto hochfahren und ängstlich lauschte er ihnen nach. Könnte sich eine ganz bestimmte Person unter ihnen befinden? Wie albern er sich benahm, fiel ihm erst auf, als sich bereits nach wenigen Minuten das Getümmel auf den Gängen legte, ohne dass jemand an seine Tür geklopft hatte. Augenblicklich fiel die Anspannung wieder von seinem Körper ab und Naruto atmete erleichtert auf. Er konnte seine Aufregung weder leugnen noch unterdrücken und schämte sich gleichsam dafür. War er zu feige sich der Konfrontation zu stellen? War er zu feige sich Sasuke zu stellen? Hitze entflammte auf seinen Wangen, als ihm beim bloßen Gedanken an den Namen wieder der Grund für seine überstürzte Flucht bewusst wurde und gleichzeitig brandete eine Flut vernichtender Wut in ihm auf. Was hatte der dämliche Trottel sich nur bei dieser Aktion gedacht? Hatte er es überhaupt ernst gemeint oder hatte er Naruto nur veralbern wollen? Wenn ja, war es ein ziemlich mieser Scherz gewesen. Denn egal, was der Uchiha zu ihm gesagt hatte, Naruto würde nie so fühlen können wie er, da war er sich sicher. Vielleicht hätte er gleich kontern sollen, anstatt wie ein angeschossenes Tier davonzulaufen. Oder zumindest hätte Sasuke ein saftiger Fausthieb nicht geschadet… Ruhelos richtete Naruto sich wieder auf und starrte gedankenverloren auf das kitschige Bild über seinem Bett, ohne es wirklich wahrzunehmen. Er wusste nicht, wann alles begonnen hatte, aber sein Verhältnis zu Sasuke musste sich verändert haben, seit dieser nach Konoha zurückgekehrt war. Zehn Jahre war es nun her, dass sie einander als Rivalen erwählt hatten und die Zeit des Neides und der Konkurrenz war schon ewig vorbei. Mittlerweile war es ein festes, freundschaftliches Band, das beide zusammenhielt. Naruto fragte sich, ob es die unterschwellige Angst war, Sasuke erneut verlieren zu können, die ihn dazu brachte, so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen zu wollen, denn in den letzten Monaten hatten sie beinahe jede Mission zu zweit absolviert. Doch wenn er genauer darüber nachdachte, waren da vielleicht auch noch andere Dinge mit im Spiel: Gefühle, die Naruto bisher nicht wahrgenommen hatte… Der Blondschopf schlug beide Hände vors Gesicht und spürte abermals, wie das Blut ihm in die Wangen schoss. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Wie konnte ein einziger Satz Narutos ganze Welt nur derart ins Chaos stürzen? Er würde mit Sasuke reden müssen, selbst wenn es vermutlich auf ein sehr unangenehmes Gespräch hinauslief. Denn spätestens morgen früh, wenn ihre Reise nach Sunagakure fortgesetzt werden musste, würden sie einander nicht länger aus dem Weg gehen können. Das Ganze möglichst schnell hinter sich zu bringen, erschien Naruto plötzlich sinnvoller als eine Nacht ohne kostbaren Schlaf aufs Spiel zu setzen und er sprang so schwungvoll auf, dass das Bett unter ihm fast auseinander brach. Er durchquerte das Zimmer in nur drei langen Schritten, schlug donnernd die Tür auf und stürmte den Hotelflur entlang bis zur Treppe, die ihn ins untere Geschoss führte. Von dort aus bog er rechts um die Ecke und konnte auch schon den Tisch im Schankraum sehen, an dem er Sasuke so blindlings zurückgelassen hatte. Zu Narutos Bedauern war der Platz bereits leer, wie alle anderen um ihn herum auch, und selbst die Getränke waren schon abgeräumt worden. Der Wirt, der hinter seiner Theke energisch die Gläser putzte, warf dem Jungen einen missbilligenden Blick zu. „Ich mach hier gleich dicht“, raunzte er. „Du kannst nichts mehr bestellen.“ Naruto schenkte ihm keine Reaktion, machte auf der Türschwelle kehrt und schlurfte unschlüssig wieder die Treppe hinauf. Vielleicht war es gut, dass er Sasuke nicht mehr angetroffen hatte, denn wenn er richtig überlegte, hatte er eigentlich gar nicht vorbereitet, was er sagen wollte. Nun stand ihm also doch eine schlaflose Nacht bevor, in der er aber immerhin genügend Zeit haben würde, darüber nachzudenken, wie er seinem besten Freund gegenübertreten sollte. Vielleicht war es am schlausten, so zu tun, als wäre gar nichts vorgefallen? Nein, das kam ihm heuchlerisch vor. Definitiv würde er Sasuke zur Rede stellen! In Gedanken versunken gelangte Naruto zu seiner Zimmertür, schob die Hand in die Hosentasche und angelte in ihr nach dem Schlüssel. Doch außer klebrigem Bonbonpapier, einem ausgefransten Taschentuch und längst vergessenen Münzen konnten seine Finger nichts ertasten. Ein wenig hektischer durchwühlte er nun auch die restlichen Taschen und merkte schließlich, dass seine Suche vergebens und der Schlüssel unauffindbar blieb. Wahrscheinlich hatte er ihn auf dem Nachttisch liegen lassen, als er übereifrig zurück in die Schankstube gelaufen war. Ein taubes, kribbelndes Gefühl breitete sich über seinen Körper aus, während er hilflos die verschlossene Tür anstarrte. Warum musste es eigentlich immer noch schlimmer kommen, wenn sowieso schon alles fürchterlich war? „Verdammt!“ Wütend schlug Naruto mit der Faust gegen den Türrahmen, doch das einzige, was er davon hatte, war eine schmerzhaft pochende Hand. Einen Moment hielt er ruhig inne und überlegte, wie er sein Problem am Geschicktesten lösen konnte. Die Rezeption war um diese Uhrzeit nicht mehr besetzt und der unfreundliche Wirt – wenn er überhaupt noch an der Theke war – half ihm sicher nicht weiter. Auch die Tür oder das Fenster aufzubrechen würde ihm mehr Schwierigkeiten einhandeln, als vorher abzusehen war. Also blieb da eigentlich nur noch eine Möglichkeit übrig… Naruto schluckte schwer und folgte widerwillig dem ausgestorbenen Flur um eine Biegung, bis er mit klopfendem Herzen vor Zimmer 713 zum stehen kam. Weder Licht noch Geräusche drangen aus dem Raum und eine flüchtige Sekunde hoffte Naruto, dass Sasuke schon schlief oder gar nicht anwesend war. Andererseits würde er dann wohl auf dem Hotelflur übernachten müssen, was sicher keinen guten Eindruck erweckte, wenn die ersten Gäste ihn am nächsten Morgen so zu sehen bekämen. Zaghaft hob Naruto die Hand um anzuklopfen, doch noch bevor sein Handrücken auf das Holz traf, stoppte er und zog sie wieder zurück. Minute um Minute verstrich, während er regungslos dastand und sich selbst für seine Feigheit hasste. Dann wandte er sich schließlich um und ließ sich seufzend an der Tür hinab gleiten. Es war zum verrückt werden! Der Boden war entsetzlich kalt und Narutos Gedanken überschlugen sich bei dem verzweifelten Versuch, eine brauchbare Lösung zu finden, die nicht mit dem Uchiha in Verbindung stand. Er schloss die Augen, lehnte den Kopf zurück und erwartete eigentlich die Tür, als er plötzlich hinten über kippte und mit leisem Ächzen auf dem Rücken liegen blieb. „Sa- Sasuke?!“ Schwarze Augen blickten wie vom Donner gerührt auf Naruto hinab, dessen Blut schlagartig in dreifacher Geschwindigkeit zu pulsieren begann. Fast erwartete er, Sasuke würde ihn auslachen, wie er als Häufchen Elend vor ihm auf dem Boden lag, doch stattdessen fragte er nur leise: „Was machst du da unten?“ „Ich- Ich hab mich ausgesperrt“, antwortete Naruto wahrheitsgemäß und rappelte sich schnell zu einer würdevolleren Position auf. Sasuke musterte ihn überrascht, schien aber keineswegs belustigt, sondern erweckte eher den Eindruck, als sei er über etwas betrübt oder enttäuscht. „Dann komm rein“, fuhr er fort, trat ein Stück zur Seite und ließ Naruto an sich vorbei ins Zimmer. Mit steifen Gliedern und gesenktem Blick steuerte Naruto auf einen Hocker neben der Garderobe zu und vermied es dabei gründlich, seinem Teamkollegen ins Gesicht zu sehen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Sasuke die Tür schloss und sich ihm gegenüber aufs Bett setzte. Er lächelte nicht, genauso wie er auch im Schankraum nicht gelächelt hatte. Wartete er darauf, dass Naruto jetzt den ersten Schritt machte? Das wäre nur allzu verständlich gewesen… „Ich-“, setzte der Blondschopf an, doch die Worte wollten ihm einfach nicht über die Lippen gehen, obwohl sie ihm so sehr auf der Seele brannten, dass es schon wehtat. Er sog scharf die Luft ein und fragte dann schnell: „Hast du das vorhin ernst gemeint?“ Sasuke zeigte keinerlei Regung und schaute Naruto bloß aus durchdringenden Augen an. „Sehe ich aus, als ob ich scherze?“, fragte er in bemüht lässigem Ton. „Denkst du vielleicht, es ist mir leicht gefallen, dir zu sagen, dass ich mich in dich verliebt habe?“ Naruto wäre vom Stuhl gestürzt, hätte er nicht die Wand im Rücken gehabt und schon wieder durchlief ihn der starke Impuls, einfach davonzurennen. Sasuke hatte es erneut gesagt und abermals war er dabei todernst geblieben. Was sollte das bitte heißen? „Es tut mir leid… also, ich… es ist nur so“, stammelte Naruto und sein Gesicht begann zu glühen, „dass ich einfach nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.“ „Ich denke, dass hast du mir bereits sehr deutlich gezeigt“, entgegnete Sasuke mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme und seine verletzte Miene erschütterte Naruto so stark, dass es in ihm tiefes Mitgefühl hervorrief. „Nein!“, entfuhr es ihm rasch. „Ich war nur so überrumpelt. Das ist alles. Gib- Gib mir einfach ein bisschen mehr Zeit, ja?“ Sasuke erhob sich vom Bett und kam ein paar Schritte auf seinen Kameraden zu. „Ich will aber nicht länger warten“, wisperte er und sein Gesicht kam dem Narutos gefährlich nah. „Vielleicht überdenkst du deine Entscheidung hiernach ja etwas schneller.“ Und noch bevor der Blonde etwas sagen, noch bevor er irgendwie reagieren konnte, lagen die Lippen der beiden Jungen aufeinander und hatten sich zu einem unerwarteten Kuss vereint. Naruto spürte den heißen Atem und die weiche Haut seines Freundes und stellte mit Erstaunen fest, dass sie ihm nicht unangenehm waren. Vielmehr kam es ihm vor, als hätte er sich schon viel zu lange nach dieser Person gesehnt. Der Moment ging so schnell vorbei, wie er gekommen war und Naruto und Sasuke lösten sich von einander und sahen den jeweils anderen beinahe beschämt an. Die Stille im Raum drückte schmerzhaft auf ihre Ohren und erst als draußen auf dem Flur eine Tür zugeschlagen wurde, bewegten sich die beiden langsam auseinander und Sasuke sank wieder zurück aufs Bett. Nach seinem unsicheren Blick zu urteilen, schien er zu bereuen, sich nicht genug am Riemen gerissen zu haben. Naruto konnte ihm das nicht verübeln und doch kam er nicht umhin, den Anblick der Angst zu genießen, den er in Sasuke auslöste, indem er ihm keine Reaktion schenkte. „Wenn du jetzt lieber gehen willst-“, setzte der Uchiha schließlich an und die Anspannung in seiner Stimme war deutlich zu vernehmen. „Ich meine, ich würde dir keinen Vorwurf machen.“ Schweigend trafen kristallblaue Augen auf pechschwarze und nach schier endloser Zeit sagte Naruto leise, aber deutlich vernehmbar: „Und ich dachte, ich könnte heute Nacht bei dir schlafen?“ Kapitel 3: [Sommer] Zwischen uns (Drama) ---------------------------------------- „Ich verstehe dich einfach nicht!“ Aus Sakuras Stimmlage war ihr Unverständnis gegenüber der Situation klar und deutlich heraus zu hören. „Du magst ihn doch, oder etwa nicht?“ „Schon, aber-“ „Und du weißt, dass er dich mag.“ Tenten stöhnte leicht auf. „Nein, ich weiß noch gar nichts“, sagte sie genervt, „Mir kam es nur so vor als ob… Und überhaupt, vielleicht interpretiere ich da zu viel rein.“ „Mach dir doch nichts vor! Du willst es bloß nicht wahr haben, weil es jetzt vielleicht ernst werden könnte!“ „Und wenn es so wäre?“ „Dann bist du ängstlicher und unentschlossener als ich bisher dachte.“ „Na vielen Dank auch!“ Langsam ging Tenten auf ihr Bett zu und ließ sich mit so viel Schwung auf den Rücken fallen, dass die Matratze unter ihr quietschte und das Lattenholz zu sprengen drohte. Ihre Beine reichten über den Bettrand hinaus, sodass ihre nackten Füße in der Luft baumelten. Dann atmete sie laut seufzend aus. „Es ist nur alles so kompliziert.“ „Nein, gar nicht! Du machst es dir so kompliziert!“, argumentierte Sakura dagegen, „Sieh mal: Du magst ihn, er mag dich… Wenn das immer so einfach wäre-“ „Ich will ihn doch auch!“ Beide Mädchen schwiegen einen Moment lang und Tenten hörte Sakuras leises Atmen an ihrem Ohr. „Ich will ihn!“, wiederholte sie mit Nachdruck und klang dabei fast herausfordernd. Sakura gluckste und auch Tenten konnte sich ein Schmunzeln nur schlecht verkneifen. „Wie sich das anhört“, stellte Sakura belustigt fest, „Warum sagst du’s ihm dann nicht selbst? Bist du zu schüchtern?“ „Eigentlich nicht. Ich will… Ich will einfach, dass er es macht!“ „Was macht?“ „Na, auf mich zukommen!“ Nun lachte die Jüngere tatsächlich. „Tenten, mal unter uns: Du kennst Neji!“, sagte sie nicht unfreundlich, „Hör auf zu träumen und wag endlich den ersten Schritt!“ „Neji ist aber kein Beziehungstyp. Wenn die Initiative jetzt von ihm ausginge, wüsste ich genau, dass er es auch will; dass es ihm ernst ist. Außerdem mag er mich vielleicht auch gar nicht wirklich.“ Sakura sog die Luft scharf ein. „Das Thema hatten wir vor einer Stunde schon mal“, bemerkte sie mit gezwungener Ruhe, „Wir drehen uns im Krei-“ Sie stockte plötzlich und Tenten konnte leise Stimmen im Hintergrund hören. Dann meldete sich Sakura erneut zu Wort: „Mist! Tut mir leid, aber ich muss jetzt los!“ „Schon okay.“ „Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe, es sei denn, du willst, dass ihn dir jemand vor der Nase wegschnappt! Falls ich mich doch irre und er dich – wer weiß, warum auch immer – ablehnt, musst du dir wenigstens nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben.“ „Ja, du hast ja recht“, murmelte Tenten gedankenverloren, „Ich denk drüber nach.“ „Na also!“ Sakura klang triumphierend. „Ich hab die ganze Nacht Dienst im Krankenhaus. Wir sehen uns also morgen- oder warte! Komm nachher einfach vorbei und erzähl mir, wie es gelaufen ist!“ „Moment mal, wieso-“ „Bis denn!“ Noch bevor Tenten aussprechen konnte, schallte ihr ein monotones Tuten entgegen und nun legte auch sie den Hörer wieder auf. Sakura sagen wie es gelaufen ist? Wie sollte Tenten das machen, wenn sie sich noch nicht einmal entschieden hatte, Neji zu sagen, wie es seit langem mit ihren Gefühlen aussah? Langsam kamen in ihr Zweifel auf, ob es richtig gewesen war, sich ihrer Freundin anzuvertrauen. Sakura hatte einfach eine andere Art mit solchen Dingen umzugehen. Tenten seufzte abermals schwer und drehte sich auf die Seite. Eigentlich hatte sie ja nichts zu verlieren, da hatte Sakura Recht. Ihn zu fragen war nicht schädlich und sie musste zugeben, dass es schon ziemlich unwahrscheinlich war, dass Neji sie ablehnte. Diese Zuneigung zu ihm hatte sich langsam und schleichend eingestellt. War er zu Beginn nicht mehr als ein Teamkamerad gewesen, hatten sich ihre Gefühle innerhalb von vier Jahren, in denen sie sich nun kannten, stark verändert. Das alte Team gab es nur noch sehr selten, denn jeder hatte seinen eigenen Weg eingeschlagen, doch trotzdem dachte sie oft an ihn. Nein, eigentlich verging kaum eine freie Minute, in der er nicht in ihren Gedanken kreiste. Sie sehnte sich nach seiner Anwesenheit, seiner Stimme, seinem Körper… „Tenten?“ Ein Klopfen an ihrer Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. „Was ist?“, rief sie genervt und erschrocken über die unerwartete Störung. Die Türklinke wurde nach unten gedrückt, doch die Tür blieb verschlossen. „Kannst du bitte was für mich erledigen?“ Die Stimme von Tentens Mutter klang gestresst und auffordernd und duldete keine Widerrede. „Ich habe hier einen Brief, der schnellstmöglich zur Hokage gebracht werden muss.“ „Kannst du das nicht selbst machen?“, fragte das Mädchen erzürnt, stand auf, schlüpfte in ihre kurze Hose und streifte sich ein knappes Top über, um kurz darauf das Schloss der Zimmertür aufschnappen zu lassen. Der Blick ihrer Mutter verriet die Antwort und wortlos überließ sie den gelben Umschlag ihrer Tochter. „Danke“, raunzte diese und schlüpfte an ihrer Mutter vorbei, um zur Treppe zu gelangen. „Nicht so frech, meine Liebe!“, wurde sie ermahnt, doch Tenten war bereits im unteren Geschoss und hörte die Worte nicht mehr. Die Haustür schlug hinter ihr zu und Tenten stand plötzlich inmitten der wallenden Hitze des Abends. Im Haus war es kühler gewesen und sie hatte nur Unterwäsche getragen. Jetzt schlug ihr die schwüle, heiße Luft wie ein Fausthieb ins Gesicht und ließ ihre Kleidung unangenehm auf der Haut kleben. Kein Windhauch war zu spüren und da seit Tagen kein Regen mehr gefallen war, war der Boden staubtrocken. In der Ferne flimmerte die Luft und Wolken zogen sich am Horizont zu dunklen Türmen zusammen. Ein leises Grollen war zu vernehmen und man konnte das bevorstehende Gewitter förmlich riechen. Tenten versuchte im Schatten der Häuser und Bäume zu laufen, um der prallen Sonne nicht zu lange ausgesetzt zu sein, welche bereits recht tief stand, aber dennoch sehr viel Kraft hatte. Obwohl dem Mädchen der Schweiß auf der Stirn stand, waren ihr so warme Sommertage wesentlich lieber als der frostige Winter und sie genoss die Ruhe des Abends auf den menschenleeren Straßen. Nachdem sie beschloss, einen kleinen Umweg zu machen und um eine weitere Hausecke bog, gelangte sie in eine weniger bewohnte Gegend des Dorfes. Links der Straße erblickte sie die weitläufige Wiese, die von vielen Ninja als Trainingsplatz genutzt wurde, rechts war eine Blumenwiese, auf der die schönsten Exemplare Konohas zu finden waren und im Hintergrund war bereits der Waldrand zu erblicken. Die grünen Kronen der Bäume leuchteten in der Abendsonne und verdeckten die Außenmauern des Dorfes, die unweit dahinter gezogen waren. Tenten lauschte dem abendlichen Zwitschern der Vögel und dem Zirpen der Grillen. Sie ging langsam, wollte aus der beruhigenden Atmosphäre nicht herauskommen und dem Zentrum weiter entgegengehen; wollte dem Sitz der Hokage nicht näher kommen, wo es wieder turbulenter zugehen würde, als sie plötzlich stockte und inne hielt. Weiter hinten auf der Wiese waren zwei Gestalten, die tatsächlich ehrgeizig genug schienen, um bei dieser Wärme zu trainieren. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie Neji und dessen Cousine Hanabi. Neji schien Hanabi eine Technik zu zeigen, die sie ihm nachmachen und lernen sollte, was ihr, trotz einigem Talent in den Ninja-Künsten, sichtlich schwer fiel. Eine Weile blieb Tenten stehen und schaute dem Schauspiel aus der Ferne zu. Nejis Können erstaunte sie mit jedem Mal neu und sie bewunderte die Eleganz und Genauigkeit mit der er seine Techniken ausführte. Wie er sich dabei bewegte und… Der Blick seiner weißen Augen traf sie wie ein Schlag und ihr Herz machte einen Hüpfer. Er hatte sie bemerkt, doch wie sollte sie jetzt reagieren? Sollte sie einfach weitergehen, zu den beiden hingehen oder einfach nur winken? Noch bevor sie wusste, wie sie sich verhalten wollte, nahm Hanabi ihr die Entscheidung ab. Sie war Nejis Blick gefolgt und winkte nun Tenten zu ihnen herüber. Zögernd betrat das Mädchen die Wiese und kam auf die beiden Hyûga zu. Der Wind frischte auf und die Sonne verschwand hinter schwarzen, schweren Wolken. Am Horizont war es bereits bezogen. „Hallo Tenten! Hast du nicht Lust mit uns zu trainieren?“, fragte Hanabi fröhlich, nachdem das ältere Mädchen bei ihnen angekommen und von Neji nur ein knappes Nicken zur Begrüßung bekommen hatte. Tenten wurde dadurch ein wenig schwermütig, weil sie nicht wusste, ob er dies aus Verlegenheit tat oder sie sich doch vollkommen in ihm getäuscht hatte. „Tut mir leid“, entgegnete sie schließlich und lächelte der kleinen Hyûga zu, „Aber ich hab noch etwas zu erledigen und eigentlich gar keine Zeit.“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass Neji den Blick keine Sekunde von ihr abwandte, während sie mit seiner Cousine sprach. „Das ist aber schade. Weißt du, Neji zeigt mir gerade sein Hakkeshou Kaiten , aber ich bekomme es einfach nicht hin. Ich kann die Geschwindigkeit nicht richtig regulieren.“ Hanabi wirkte müde und ausgelaugt, doch trotz ihrer Misserfolge keineswegs demotiviert. Neji stand dagegen im Gesicht geschrieben, dass sie bereits eine ganze Weile trainiert hatten, womöglich den gesamten Nachmittag, und ihn langsam die Lust verließ. „Das schaffst du schon noch, da bin ich mir sicher!“, ermutigte Tenten die Jüngere und wollte sich gerade Neji zuwenden, als sie sah, dass dieser den Blick gen Himmel gerichtet hatte. „Wir sollten uns zuerst unterstellen, bevor wir weitermachen“, meinte er ernst, „Es gibt gleich einen gewaltigen Schauer.“ Die drei gingen in Richtung der Dorfstraße, um bei den Häusern Schutz vor dem Regen zu finden, doch als die ersten Tropfen vom Himmel fielen und es keine Minute dauerte, bis es wie aus Eimern auf sie niederging, begannen sie zu rennen. Blitze und Donner waren zwar noch in weiter Ferne, doch der Regen war stark und kribbelte warm und dennoch angenehm erfrischend auf der Haut. Tenten kam der Weg, den sie auch hergekommen war, zurück um ein vielfaches länger vor. Sie lief so dicht hinter Neji, dass sie nur ihre Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren und wagte es doch nicht. Stattdessen begnügte sie sich damit, gebannt auf seinen Rücken zu starren, den die langen braunen Haare durch seine Bewegungen sanft umspielten. Er hätte die Richtung ändern und überall hinlaufen können, selbst aus dem Dorf hinaus, und sie wäre ihm sicher gefolgt. Zu spät bemerkte Tenten das vom Regen rutschige Gras unter ihren Füßen und als sie ungeschickt strauchelte, gelang es ihr nicht, sich rechtzeitig wieder zu fangen. Wie ein schwerer Sack Reis flog sie vornüber auf den nassen Boden und gleichzeitig fuhr ein brennender Schmerz in ihre Handflächen, mit denen sie sich abzufangen versuchte. „Tenten!“ Sofort drehte sich Neji zu dem Mädchen um, welchem schlagartig bewusst wurde, dass er sie durch seine Augen, die das Bluterbe der Hyûga in sich trugen, die ganze Zeit beobachtet haben musste. Vorsichtig richtete sich Tenten wieder auf und nachdem Neji sie am Ellenbogen hochzog, kam sie beschämt auf die Beine. „Entschuldige“, murmelte sie leise, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Dann bemerkte sie, dass sie ihm hätte danken müssen, doch nun war es zu spät, um ihre Aussage zu korrigieren und sie fühlte die Hitze stärker in ihren Kopf steigen. „Ist dir was passiert?“, fragte er unbeirrt und das Einzige, was Tenten in diesem Moment heraus zu bringen schien, war ein leises „Nichts“. Ihr fiel auf, wie dicht sie und Neji beieinander standen und wie nah sich ihre Gesichter waren; dass sie begann, sich in den hübschen weißen Augen zu verlieren, bis auch Neji den Blick nicht länger auszuhalten schien und völlig unvermittelt seine Lippen auf ihre legte. Es waren Hoffnungen und Träume gewesen, die Tenten bis dahin beherrscht hatten, aber ganz sicher keine Erwartungen. Für einen Augenblick schloss sie die Augen und wollte wissen, was ihre anderen Sinne ihr vermitteln würden, doch da gab es nichts als ihn. Sie roch seinen Duft, hörte seinen Herzschlag, spürte seinen Atem und seine Finger, die sich unbewusst um ihr Handgelenk geschlossen hatten, nachdem sie ihren Unterarm beim Aufhelfen hinab gewandert waren. Tenten genoss Nejis sanfte Berührung und sehnte sich gleichzeitig nach mehr davon. Endlos lange mussten die beiden so dagestanden haben, dann war es im nächsten Atemzug auch schon wieder vorbei und Tenten schien an den Ort zurück zu kehren, den sie vor ein paar Minuten meinte verlassen zu haben. Verlegen sah sie Neji an und wartete, dass die Aufregung verebbte und das Kribbeln nachließ. Der strömende Regen, den sie eine Weile nicht wahrgenommen und vergessen hatte, brach nun umso stärker auf sie herein und ihr wurde bewusst, dass sie beide nass bis auf die Haut waren. Tenten störte diese Tatsache wenig, denn alles um sie und in ihr verströmte plötzlich eine wohlige Wärme. Das Rauschen des Regens dröhnte ihr laut in den Ohren, bis Neji das allgemeine Schweigen beendete und zerstreut meinte: „Wir müssen uns unterstellen.“ Er fasste ihre Hand und zog seine ehemalige Teamgefährtin hinter sich her, die ihm folgte wie in Trance. Endlich erreichten sie die schmale Dorfstraße und stellten sich zu Hanabi unter das große Vordach eines angrenzenden Hauses. Neji erntete sofort ein viel sagendes Grinsen von seiner jüngeren Cousine und ließ Tenten so abrupt los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Die rasche Bewegung riss diese wiederum aus ihrer Abwesenheit und ließ sie bedauern, nicht mehr seine Hand in ihrer zu spüren. Das Gewitter hielt weiter an und Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel, der wie ein Zelt über das Dorf gespannt war und verschleierte, wie der Tag der Nacht wich. Hagelkörner stürzten zu Boden und verwandelten ihn in eine Schneelandschaft mitten im Hochsommer. Das Dröhnen der Donnerschläge hallte in Tenten Kopf wider, welcher voll von Gedanken war, die sie nicht zu ordnen wusste. Es schien ihr unwirklich, hier unter diesem Vordach zu stehen und zusammen mit Neji auszuharren, bis das Unwetter vorbei gezogen sein würde, doch es bestand kein Zweifel daran, dass es wirklich so war. Tenten musste unerwartet grinsen und je mehr sie versuchte, ihr Gesicht zu entspannen, umso weniger konnte sie damit aufhören. Ganz sicher gab es in diesem Moment auf der ganzen Welt kein glücklicheres Mädchen als sie. So schnell wie der Spuk begonnen hatte, war er auch schon wieder vorüber. Tenten beobachtete, wie der Himmel in der Ferne aufklarte und das Donnern nur noch sehr leise zu ihnen vordrang. Der Platzregen wurde von einem schwachen Nieseln abgelöst und machte Hoffnung, dass es bald wieder trocken sein würde. Jetzt erinnerte sich Tenten auch wieder Hanabis Gegenwart, die erleichtert aufatmete und rief: „Ich dachte schon, es geht nie mehr vorbei! Schließlich muss ich weiterüben!“ Auch Neji fuhr sichtbar zusammen, als die Stimme seine Cousine die Stille brach und kurz darauf hörte man ihn leise räuspern. „Lassen wir es besser für heute“, sagte er bestimmt, „Es hört nicht mehr auf zu regnen und dunkel wird es auch schon. Wir gehen zurück!“ Die junge Hyûga sah ihn empört an, wagte es aber nicht, zu widersprechen. „Was ist mit dir, Tenten?“, fragte sie an die Ältere gewandt, die im ersten Moment überlegten musste, weshalb sie überhaupt hier war, bis ihr siedend heiß einfiel, welche Besorgung sie eigentlich zu erledigen hatte. „Ich muss zu Tsunade“, entgegnete sie hastig, „bevor es noch zu spät wird!“ Tenten hatte nicht vor, überstürzt aufzubrechen und wäre lieber noch eine Weile in Nejis Nähe geblieben, doch die Zeit drängte und veranlasste sie, sich zu beeilen. „Kommst du morgen Abend wieder hierher?“ Es war Neji, der sie aufhielt. Im ersten Moment wirkte Tenten überrascht, da die unmissverständliche Direktheit seiner Frage sie verblüffte. Dann strahlte sie ihn freudig an. „Wenn du möchtest“, war ihre knappe Antwort und mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete sie sich von den beiden Hyûga-Abkömmlingen und stürmte die Dorfstraße in Richtung Zentrum davon. „Du magst sie, was?“, stichelte Hanabi mit einem weiterhin anzüglichen Grinsen. Neji schenkte diesem keinerlei Beachtung. „Das geht dich überhaupt nichts an“, erwiderte er und war bemüht, ruhig und teilnahmslos zu bleiben. Hanabi zuckte mit den Schultern. „Mir ist es ja egal, aber ich weiß, was ich sehe.“ Beleidigt wandte sie sich von Neji ab und trat den Heimweg an, während ihr Cousin ihr in einigem Abstand folgte und sie schon nach wenigen Metern wieder eingeholt hatte. „Und mir ist es egal, was du gesehen hast, aber ich will nicht, dass du auch nur ein Wort darüber verlierst!“, griff er das Thema erneut auf und Hanabi blickte nun wütend zu ihm hoch. „Denkst du, ich werde es überall rumposaunen?“ „Nein“, gab der Ältere zu, klang aber dennoch forsch, „Es darf nur vorerst niemand Wind davon bekommen. Versprich es!“ „Ich verstehe nicht, warum dir das so wichtig ist, aber meinetwegen versprochen“, murmelte das Mädchen kopfschüttelnd und Neji atmete innerlich auf. Auf Hanabis Wort konnte er sich verlassen und nur das zählte. „Nein, ehrlich???“ Sakuras Stimme überschlug sich vor Aufregung und fast im selben Moment legte die angehende Ärztin erschrocken die Hände vor den Mund. Im Krankenhaus herrschte seit etwas über einer Stunde Nachtruhe und sie und Tenten standen auf dem abgedunkelten Gang vor einer Reihe von Türen, hinter denen die Patienten bereits schliefen. „Er hat dich geküsst?“, wiederholte sie nun im Flüsterton, schien aber nicht weniger begeistert. Tenten nickte atemlos und man konnte deutlich sehen, dass ihre Wangen immer noch glühten. „Und er will sich morgen Abend wieder mit mir treffen“, berichtete sie weiter, nicht ohne ihren Stolz verlauten zu lassen. „Dann ist die Sache ja so gut wie besiegelt. Ich hab dir doch gesagt, dass es ihm ernst ist!“ Tenten zog eine Schnute. „Die Sache? Du redest davon, als würde man eine Beziehung ganz nebenbei beginnen.“ „Schön wär’s, aber die Herren machen es einem nicht immer so leicht wie Neji.“ „Das sagt ausgerechnet die ohne Temperament, die es allen Männern einfach macht…“ Beide Mädchen prusteten los und kamen erst aus ihrem Gelächter raus, als einer der letzten Besucher auf seinem Weg aus dem Gebäude, über den Gang auf sie zukam. Sie erkannten Hiashi Hyûga, das Oberhaupt des größten Clans Konohas, grüßten ihn im Vorbeigehen höflich und wünschten ihm eine angenehme Nacht, welches er förmlich erwiderte. Sobald er hinter der nächsten Ecke verschwunden war, raunte Sakura hinter vorgehaltener Hand: „Aber du musst zugeben, dass sie doch alle etwas ernst wirken.“ Wieder musste Tenten kichern. „Nur, weil du sie nicht kennst“, stellte sie richtig, „Hanabi ist von einer ganz anderen Sorte. Was macht ihr Vater überhaupt hier?“ „Ein Mitglied des Clans hat sich bei einer Mission schwer verletzt“, gab Sakura prompt zur Antwort, „Sein Augenlicht hätten wir fast nicht retten können. Die Familie macht immer viel Wirbel, wenn ein Hyûga betroffen ist.“ „Ist doch schön, wenn sie sich so umeinander sorgen.“ Sakura wollte sagen, dass sie nicht glaube, es habe damit etwas zu tun, doch ihre Freundin lächelte so glücklich, dass sie ihre Bemerkung wieder hinunter schluckte. Es dauerte noch einige Zeit, bis Tenten die Begegnung mit Neji in ausführlichen Einzelheiten geschildert hatte und die bloße Erinnerung an das Vergangene weckte ihre Vorfreude auf den nächsten Tag von neuem. Schließlich wurde Sakura von einer Oberärztin, die zufällig vorbeikam, zurechtgewiesen und musste sich wieder ihrer Arbeit widmen. Tenten machte sich auf den Weg nach Hause, konnte es sich aber nicht nehmen lassen, an der Wiese entlang zu schlendern, auf der der Junge, in den schon so lange verliebt war, sie vor erst wenigen Stunden geküsst hatte. Für einen Moment blieb sie stehen, sah in den sternenklaren Nachthimmel und stellte sich vor, wie es wäre, Neji auch jetzt bei sich zu haben; wie es wäre, seine Hand zu spüren und seine Stimme zu hören. Diese Gedanken ließen ihr warme Schauer über den Rücken fahren. Was er wohl gerade tat? Ob er schon schlief oder etwas aß? Oder ob er wohl auch an sie dachte? Und wie würde es wohl morgen sein? Würden sie sich wieder so nah kommen wie heute? Ein unwillkürliches Schmunzeln schlich sich über Tentens Lippen. Für die Antworten, die sie suchte, musste sie wohl oder übel noch einige Stunden abwarten, doch eines war bereits sehr gewiss: Er meinte es ernst mit ihr, denn, entgegen Sakuras und ihren eigenen Vermutungen, hatte er den Anfang gemacht, so wie sie es sich immer gewünscht hatte. Niemand auf der Welt hätte ihr jetzt noch weismachen können, dass Neji nichts für sie empfand und niemand würde die pure Glückseligkeit zerstören, die Tenten durchflutete wie ein reißender Fluss. Alle Bedenken, die sie vor ihrer Begegnung gehabt hatte, waren vollständig verwischt, schienen nie existiert zu haben… Tenten atmete tief ein und setzte ihren Weg bedächtig fort. Die Luft war wieder warm und vom Regen war keine Spur mehr geblieben, so begierig hatte der verdorrte Boden das Wasser aufgesogen. Auch Tentens Haare und ihre Kleidung waren schon fast wieder trocken. Sie war sich sicher, dass der morgige Tag ebenso heiß werden würde wie der heutige. Ganz automatisch trugen ihre Füße sie nach Hause und Tenten wurde erst bewusst, wo sie war, als ihre Mutter ihr den Weg ins Bad versperrte und fragte, wo sie so lange gewesen sei. „Ich habe mir Sorgen gemacht“, zeterte sie streng, „Hast du wenigstes den Brief weggebracht?“ „Welchen Brief?“, erkundigte sich ihre Tochter gedankenverloren, berichtigte aber sofort, „Ach ja, den! Ja, hab ich.“ Geschickt wand sich die Jüngere an der Frau vorbei und schlüpfte ins dahinter liegende Zimmer, um weiteren Fragen schnell zu entgehen. „Ich dusche eben.“ „Willst du schon schlafen?“ Ihre Mutter klang überrascht, doch Tenten antwortete nicht und ließ hinter der geschlossenen Tür zur Ausrede das Wasser rauschen. Wenn sie schnell schlief, würde der nächste Morgen schneller da sein und sie würde Neji schneller wieder sehen, überlegte sie gut gelaunt, rechnete jedoch nicht mit ein, dass sie vor Aufregung die ganze Nacht keinen Schlaf finden würde. Der darauf folgende Tag war so langsam und schleppend verstrichen, wie es Tenten bisher noch nie vorgekommen war und als sie gegen Abend am vereinbarten Treffpunkt erschien, war Neji noch nicht zu sehen. Das war nicht weiter wunderlich, denn sie war viel zu früh dran, hatte es zuhause aber einfach nicht länger aushalten können. Um sich die Zeit zu vertreiben, ging sie zu einer alten Eiche am Rande der Wiese, stellte sich in einigem Abstand auf und warf Kunais, die sie, wie einige andere Waffen, stets bei sich führte, auf die Rinde des Stammes. Schon bald merkte sie, dass ihr die Konzentration versagte und die Wurfgeschosse ihr Ziel verfehlten. Obwohl Tenten kaum geschlafen hatte, fühlte sie sich hellwach und bis aufs Äußerste angespannt, denn die Erwartung auf das Kommende raubte ihr beinahe die Sinne. Vielleicht wäre sie doch besser noch daheim geblieben und hätte die restliche Zeit mit einem guten Buch überbrückt. Aber auch das hätte ihre Nervosität und Vorfreude wohl nicht gelindert und sie hätte nach der ersten gelesenen Seite sicher vergessen, worum es ging. Die Zeit schritt unermüdlich voran und es dauerte nicht lange, bis die Sonne sich dem Horizont neigte und blutrot zu versinken drohte. Auf der anderen Seite stand der Mond als matte, blasse Scheibe am Firmament und bildete den Mittelpunkt zwischen den hellsten Sternen, die während der Dämmerung immer als erstes zu erkennen waren. Nun wurde es einsam um Tenten, denn den Weg neben der Wiese passierten immer weniger Menschen und jedes Mal, wenn jemand in der Ferne auftauchte, wirbelte ihr Kopf erwartungsvoll herum und sie versuchte zu erkennen, wer sich ihr näherte. Dabei wurde das Kribbeln im Bauch meist unerträglich und das Herz schlug Tenten bis zum Hals, bis sie merkte, dass keiner, der vorbeikam, der war, den sie ungeduldig herbeisehnte. Tatsächlich ließ der Junge sich viel Zeit und kam und kam nicht. Tenten merkte, wie die Dunkelheit sie einschloss und zum ersten Mal kamen Zweifel in ihr auf. Es war nur ein Kuss und ich habe ihn gefeiert, als hätte Neji mir seine Liebe gestanden und wir wären schon ein Paar, meldete sich eine Stimme in ihrem Inneren flüsternd zu Wort, die sie nicht hören wollte. Aber hatte Neji sie wirklich versetzt? Womöglich verarscht oder nicht den Mut gehabt aufzutauchen? Beides wollte sie nicht recht glauben, denn so schätzte sie ihren früheren Gefährten nicht ein. Er war auch damals im Team immer sehr zuverlässig gewesen. War ihm vielleicht etwas dazwischen gekommen? Ja, so musste es sein. Oder er hatte sein Treffen mit ihr einfach vergessen… Aber dann musste es für ihn etwas Unbedeutendes sein und auch das wagte Tenten sich nicht vorzustellen. Der Wind raschelte durchs hohe Gras, ließ die Blätter der Eiche leise rauschen und Tentens braune Haarknoten erzittern, als er ihr tröstend über den Kopf strich. In der Nähe huschte eine junge Katze umher und jagte nach Glühwürmchen, doch Tenten konnte sie durch ihren Tränenfilm nicht richtig erkennen. Dabei war sie doch eigentlich kein Mädchen, das schnell weinte und auch keines, das schnell die Flinte ins Korn warf. Wütend über sich und die Situation wischte sie mit dem Saum ihres Tops über ihre Augen. Mittlerweile war klar, dass Neji nicht mehr kommen würde und Tenten fand es an der Zeit, herauszufinden, was vorgefallen war. Entschlossen machte sie sich auf den Weg über die unbelebte Dorfstraße, abermals in Richtung des Zentrums. Tausend mögliche Erklärungen rasten dabei durch ihre Gedanken und keine wirkte richtig plausibel. Vor dem großen, auffallenden Anwesen des Hyûga-Clans machte Tenten Halt. Eine Weile stand sie unschlüssig und verloren da und blickte zu den beleuchteten Fenstern im oberen Geschoss hinauf. Eigentlich war es unhöflich zu so später Stunde noch zu klopfen, doch wenn sie es nicht tat, würde sie keine Ruhe finden. Hiashi öffnete das Eingangsportal und erblickte die einstige Kameradin seines Neffen, die mit ruhiger, höflicher Stimme sagte: „Verzeihen Sie die Störung, aber ist Neji vielleicht zuhause?“ Die Augen des Clan-Oberhauptes musterten sie kalt. „Er ist da“, entgegnete er abweisend und Tentens Herz schlug stärker gegen ihre Brust, „aber er möchte dich nicht sehen. Geh bitte nach hause!“ Seine letzten Worte klangen wie ein Befehl. Noch bevor Tenten etwas Weiteres sagen konnte, hatte sich die Tür wieder geschlossen und ließ sie allein auf dem dunklen Gehweg stehen; zur Säule erstarrt und wie vom Donner gerührt. Neji wollte sie nicht sehen? Das durfte, nein, das konnte nicht stimmen! Sie traute sich nicht, ein zweites Mal zu klopfen und begann stattdessen, das Anwesen zu umrunden, doch es war zu weitläufig und sie wusste nicht, wo sich Nejis Zimmer befand. Verzweifelt blieb sie stehen und sah die massive, graue Mauer empor, die sich um Haus und Hof spannte. „Tenten!“ Erschrocken fuhr das Mädchen herum und blickte hektisch umher, damit sie erkennen konnte, woher die flüsternde Stimme kam, die ihren Namen gerufen hatte. Sie entdeckte niemanden. Erst als sie abermals aufsah, konnte sie Hanabis zarte Gestalt erkennen, die sich im zweiten Stockwerk des Hauptgebäudes aus einem Fenster lehnte. „Komm über die Mauer zu mir hoch!“, wies sie sie leise an und Tenten ließ sich kein zweites Mal bitten und folgte dem Aufruf umgehend. Lautlos wie ein Schatten glitt sie ins Zimmer und landete leichtfüßig neben Hanabi, welche sofort ihre Hand ergriff. „Ich bringe dich zu Neji“, erklärte sie und zog die Ältere hinter sich her auf den dunklen Flur, „Wir müssen uns beeilen, damit mein Vater uns nicht sieht.“ Tenten wollte anhalten und fragen, worum es hier eigentlich ging, konnte das Hyûga-Mädchen aber nicht stoppen. „Hanabi, nun warte mal!“, begann sie schließlich, wurde jedoch von dem energischen Zischen ihrer Begleiterin zum Schweigen gebracht. „Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, aber Vater und Neji haben sich furchtbar gestritten“, murmelte sie, blieb kurz stehen, schaute sich vorsichtig um und führte Tenten dann über den nächsten Flur, bis sie vor einer Tür hielten, durch dessen Ritzen schwaches Licht fiel. Hanabi gab Tenten einen Schubs auf den Rücken. „Ich halte die Luft rein“, raunte sie und war verschwunden, bevor Tenten ihr danken konnte. Diese betrachtete einen Augenblick lang die Tür und schluckte hart. Dann legte sie ihre zitternde, schwitzige Hand gegen das Holz und pochte zaghaft dagegen. Aus dem Inneren des Raumes drang Nejis verärgerte Stimme mit der knappen Bemerkung: „Ist offen.“ Tenten schob die Tür zögernd zur Seite und trat in sein Zimmer ein. Als Neji sie sah, stand er so schnell von seinem Stuhl auf, dass dieser krachend zu Boden fiel. Verwundert sagte er ihren Namen und schien eindeutig nach Worten zu ringen, die einfach nicht kommen mochten. „Hanabi hat mich rein gelassen, nachdem dein Onkel mich fortgeschickt hat“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. Er wies sie an, sich auf sein Bett zu setzen, schien aber zu überrumpelt zum Sprechen und nahm stattdessen einfach neben ihr Platz. Tenten blickte sich dabei verstohlen um und stellte fest, dass es in dem Zimmer des Jungen unordentlicher war, als sie vermutet hatte, an ihr eigenes Chaos daheim aber dennoch nicht heranreichte. Eine Vase neben der Fensterbank wirkte, als sei sie mutwillig zerstört worden… „Ich hätte dich heute nicht stehen lassen“, murmelte Neji nach einer Weile endlich ohne Tenten anzusehen. Dennoch hörte es sich aufrecht entschuldigend an. „Ich weiß.“ „Hiashi hat mir verboten das Haus zu verlassen. Er muss irgendwie mitbekommen haben, dass wir uns treffen wollten.“ Tentens Magen schien ihr in die Knie zu sinken. Sie wusste plötzlich, wo das Oberhaupt aufgeschnappt haben musste, dass sie und Neji etwas füreinander empfanden und eine Verabredung hatten und ärgerte sich maßlos darüber, nicht leiser mit Sakura gesprochen zu haben. Nur wie hätte sie sich auch denken können, was diese Unterhaltung für Auswirkungen haben würde? „Warum hat er etwas dagegen?“, erkundigte sie sich und Neji schwieg ein paar Sekunden. „Die Stammhalter dulden keine Bindungen der Zweigfamilie zu Außenstehenden“, erwiderte er und eine Spur der Verbitterung war aus seiner Stimme zu vernehmen, „Es muss gewährleistet sein, dass das Byakugan in rechtmäßiger Blutlinie vererbt wird. Deswegen darf ich mich in niemanden verlieben, der nicht dem Clan angehört.“ „Hast du dich denn verliebt?“ Eigentlich hatte Tenten diese Frage nicht stellen wollen, doch nun war sie ihr aus dem Mund gerutscht. Nejis Worte hatten so fremd und gleichzeitig so schön geklungen, dass sie sich nicht hatte zurückhalten können. Sein Kopf ruckte herum und beider Blicke blieben an den Augen des jeweils anderen haften. Vielleicht war er zu perplex, um sofort zu antworten, vielleicht dachte er aber auch einfach nur nach, wie er formulieren konnte, was er sagen wollte, doch in jedem Fall dauerte es eine ganze Weile, bis Neji redete. „Wenn es bedeutet, so zu fühlen, wie ich es tue“, sagte er langsam, „dann vermutlich schon.“ Tenten verfiel abermals dem Anblick seiner weißen Augen, die in sie eindrangen, als wollten sie in ihre Seele schauen. Sie spürte seine warme Hand auf ihrer Wange und ließ zu, dass sein Gesicht sich ihr näherte und sein Mund den ihren sacht berührte. Der Kuss kam fast wie selbstverständlich und war für Tenten trotzdem so unerwartet und spontan wie ihr erster am gestrigen Tag. Nejis Beweis der Zuneigung, die sie sich so lange ersehnt hatte, weckte in ihr den Wunsch, diesen andauernden Moment niemals enden zu lassen, der besser war als alles, was sie bisher erlebt hatte. Nein, kein Clan und auch keine Tradition würde stark genug sein und es schaffen, ihnen diese Gefühle zu verbieten, da war sich Tenten sicher und das freute sie sehr. Ein Poltern riss die beiden Liebenden auseinander und sie hörten Hanabis halb aufgebrachte, halb flehende Stimme auf dem Flur, die nichts Gutes vorausahnen ließ. Umsichtig erhob sich Neji und ging auf die Zimmertür zu, als diese auch schon aufflog und Hiashi in den Raum eintrat. Sein Blick verriet keine Gemütsregung und wanderte teilnahmslos von seinem Neffen zu dem Mädchen auf dessen Bett und wieder zurück. Neji fixierte ihn wie ein Raubtier seine Beute und schien bereit, bei der kleinsten falschen Bewegung zuzuschlagen. Eine zerreißende Stille breitete sich aus und Tenten wurde es heiß und kalt. Fast war ihr, als hätte sie es kommen sehen. „Gehorsamkeit und Loyalität“, sprach Hiashi unvermutet ruhig, „ist das erste was du als Hyûga lernen musstest.“ „Der Clan und seine verdammten Regeln!“ Nejis Worte klangen mutig, doch seine Stimme bebte vor Furcht und Zorn. „Ich habe nicht vor, mich ihnen weiterhin zu fügen“, sagte er herausfordernd, „und will meine eigenen Entscheidungen treffen!“ „Überleg, was du sagst!“, zischte Hiashi, doch gerade dies schien Neji in seiner blinden Wut nicht zu tun, denn er rief: „Wenn es nötig ist, breche ich mit der Familie!“ Im nächsten Augenblick wusste Tenten nicht mehr, was geschah. Der ältere Hyûga formte mit der rechten Hand ein Fingerzeichen und zeitgleich stürzte Neji zu Boden. Er krümmte und wand sich unter der schmerzhaften Folter, als würde er von heftigen Krämpfen geschüttelt werden, während seine Hände an seinem Kopf lagen. Entsetzt sprang Tenten auf und kniete sich zu dem Jungen nieder; schrie hilflos seinen Namen, wusste aber nicht, wie sie ihm helfen konnte. Die schweißnasse Hand, die sie zu fassen bekam, zerdrückte fast ihre eigene und Tränen der Verzweiflung traten in Tentens Augen. Bereits nach wenigen Sekunden schien der Schmerz zu verebben. Neji beruhigte sich, schnappte stockend nach Luft und kauerte stöhnend und zitternd auf dem kalten Fußboden; unfähig sich zu rühren und unfähig, den Kopf zu heben und seinem Onkel ins Gesicht zu sehen. Tenten erkannte den Ausdruck von Reue in Hiashis Augen. „Wenn du etwas für ihn tun möchtest“, riet er ihr leise, „dann gehst du jetzt besser.“ Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu bleiben und dem Drang der Anweisung folge zu leisten, blieb Tenten an Nejis Seite und musterte besorgt dessen zusammen gekrümmte Gestalt. War es gerade eben noch wie leergefegt in ihr gewesen, so brachen nun tausend Vorwürfe auf sie ein und schienen sie mit ihrer Last schier zu erdrücken. Wenn sie nur nicht hergekommen wäre, wenn sie ihn nur nie in diese Lage gebracht hätte… Sie wollte nicht, dass der Mensch, den sie so liebte, noch mehr leiden musste und um ihn zu beschützen, hatte Tenten nur eine Wahl. Schweren Herzens ließ sie Nejis Hand aus ihrer gleiten und stand auf. Als sie wortlos an Hiashi vorbei und auf den Flur trat, bemerkte sie hinter ihm Hanabi, die mit geweiteten Augen ihren Cousin anstarrte; die Hände erschrocken vor den Mund geschlagen und scheinbar um Fassung ringend. Tenten konnte sie nicht beachten, zu sehr hatte ein undurchdringbarer Nebel ihre Sinne eingehüllt und auch den langen Weg hinaus aus dem Anwesen der Hyûga, nahm sie nur sehr verschwommen wahr. Sie begegnete niemandem und hörte im ganzen Haus, das um diese Stunde wie ausgestorben wirkte, keinen einzigen Ton als den, ihrer eigenen Schritte. Erst als Tenten das Eingangsportal hinter sich zuzog, auf der Straße stehen blieb und versuchte, die jüngsten Geschehnisse zu begreifen, begann sie bitterlich und hemmungslos zu weinen. Es war pures Glück, dass ihre Mutter nicht zuhause war und keine störenden Fragen stellen konnte, da Tenten jetzt wirklich die Lust fehlte, mit jemandem zu reden. Schluchzend warf sie sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in den Kissen. Nejis schmerzverzerrtes Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf und sie wünschte sich aufzuwachen und diesen Albtraum endlich ein Ende finden zu lassen, doch die Erlebnisse waren real und nicht zu verdrängen. Wenn sie Neji vor seinem Clan bewahren wollte, wenn sie gut machen wollte, dass sie ihn in Schwierigkeiten gebracht hatte, indem sie zu ihm gegangen war, dann musste sie fortan zurückstecken und durfte ihn nicht weiter lieben; hatte die Zärtlichkeiten zwischen beiden zu vergessen, als hätte es sie nie gegeben und wusste doch, dass sie das nicht schaffen würde. Tenten kam sich schrecklich egoistisch vor. War denn da kein anderer Weg? War da keine Lösung und keine Hoffnung; keine Zukunft? Sie hatte nicht gemerkt, wie der Schlaf über sie gekommen war, so still und schleichend wie der Tod, und als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, öffnete Tenten müde die verquollenen Lider. Mit erschlagender Wucht kehrten die Vergangenheit und die Gefühle von gestern wieder zu ihr zurück und machten unmissverständlich klar, dass nicht nur ihre Träume der Nacht zerplatzt waren wie eine große Seifenblase. An der Tür pochte es sanft und Tenten schreckte unbewusst hoch. War Neji etwa entgegen allen Befehlen und aller Vernunft zu ihr gekommen? Und wenn er es wäre, würde sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren können? Die Stimme ihrer Mutter ernüchterte sie. „Tenten, bist du wach? Ein Mädchen vom Hyûga-Clan war eben hier“, teilte sie mit und Tenten sprang auf, „Ich soll dir etwas geben.“ Hastig wurde die Zimmertür aufgerissen und die Tochter nahm von ihrer Mutter einen kleinen Brief entgegen, öffnete den Umschlag unsauber und viel zu eilig und zog eine weiße Karte heraus. Sofort erkannte Tenten die vertraute Handschrift und las den einzigen Satz: „Heute Abend lasse ich dich nicht stehen…“ Kapitel 4: [Herbst] Unheimlicher Auftrag (Thriller) --------------------------------------------------- Es waren Regentage, wie Konoha sie schon ewig nicht mehr erlebt hatte. Straßen und Wege waren von einer matschigen Schicht bedeckt, Flüsse und Gräben überflutet. Das Wasser sammelte sich in Gärten und Kellern. Der Wind peitschte durchs Land, riss Bäume um und Ziegel von den Dächern. Dem Himmel nach zu urteilen war ein baldiges Ende der Herbststürme nicht in Sicht. Grau und schwer lag die Wolkendecke über dem Dorf, schon drei ganze Tage lang. Es war ein miserables Wetter, bei dem jeder Zuhause im Warmen blieb. Jeder außer mir… Ich rannte die nassen, schlammigen Straßen entlang, beeilte mich, um so schnell wie möglich wieder ins Trockene zu gelangen. Das Wasser wirbelte hinter mir auf, gleichzeitig drängte der Wind mich zurück. Meine Schuhe waren durchweicht und ein unangenehmes Kältegefühl stieg mir die Beine hinauf; betäubte meine Gliedmaßen. Ich war noch nicht sehr lange unterwegs und trotzdem nass bis auf die Haut. Meine Haare hingen mir strähnig ins Gesicht und ich fuhr mit der Hand über meine Augen. Den ganzen Tag wurde es nicht richtig hell, doch jetzt, bei Regen und Dämmerung, schien die Dunkelheit unaufhaltsam näher zu rücken und verschleierte die Sicht. „Verdammtes Dreckswetter!“, fluchte ich laut auf und meine Stimme verhallte im donnernden Sturm, „Verdammter Mistkerl!“ Ich wusste sehr genau wem ich den ganzen Schlamassel zu verdanken hatte. Es gab nur eine Person, die es kontinuierlich schaffte mich in Schwierigkeiten reinzureiten. Seit drei Jahren arbeiteten wir beide bei der Anbu und nicht ein einziges Mal hatte Naruto gefehlt. Nur heute, ausgerechnet heute, bei einer der wichtigsten Besprechungen, tauchte er nicht auf. Wer musste ihm also alle Unterlagen vorbeibringen? Diesmal würde ich ihm tatsächlich den Kopf abreißen! Das matte Licht der Straßenlaternen führte mich zu dem Haus, in dessen oberstem Stockwerk sich Narutos Wohnung befand. Ich blickte hinauf und stellte erleichtert fest, dass Licht in einem der Zimmer brannte. Wenigstens war er zuhause. Ich drückte die Tür auf und stolperte ins Trockene, hastete dann die Treppe hinauf und blieb vor der Wohnungstür stehen um mir eine kleine Atempause zu gönnen. Mein Puls ging schnell und mein Körper zitterte vor Kälte. Von Kleidung und Haaren tropfte das Wasser auf den Boden und ich hatte im ganzen Flur nasse Fußabdrücke hinterlassen. Naja, ich musste hier ja nicht saubermachen… Als ich mich einigermaßen gesammelt hatte, begann ich energisch an die Tür zu klopfen und es dauerte schier endlos lange, bis mir schließlich von dem Blondschopf geöffnet wurde. Naruto sah mich verwundert an und mir schoss durch den Kopf, dass er sich eigentlich denken konnte, dass die Anbu jemanden losschickte um nach ihm zu sehen. Da er selbst nichts sagte, ergriff ich das Wort. „Wo warst du heute?“, fragte ich im meinem härtesten Tonfall. Er sollte ruhig spüren, dass er mir Umstände bereitet hatte, „Weißt du, was heute für ein Tag ist? Ich hoffe, dir ist bewusst, dass der Termin wichtig war!“ Naruto antwortete mir nicht direkt sondern trat einen Schritt zurück und murmelte dann: „Komm erstmal rein.“ Ich folgte ihm kommentarlos in die Wohnung, schloss die Tür hinter mir und sah ihm zu, wie er in einem der Räume verschwand. Leise Geräusche drangen an meine Ohren und ich tippte darauf, dass der Fernseher lief. Was dachte sich dieser Idiot eigentlich dabei, sich einen gemütlichen Tag zuhause zu machen, während ich abends im Regen durch die Straßen rannte um ihm seine Unterlagen zu bringen? Ich glaubte vor Wut zu platzen, beherrschte mich jedoch, folgte Narutos Weg und blieb im Türrahmen zum Wohnzimmer stehen. Naruto saß auf dem Sofa und blickte mich an. Er trug nur ein T-Shirt und eine weite Hose, hatte sich eine Wolldecke über die Schultern geworfen und wirkte recht blass. „Bist du krank?“, erkundigte ich mich nun doch und bemühte mich, alle Besorgnis aus meiner Stimme zu verbannen. Zumindest die Wut ebbte bei dem Anblick ein wenig ab. „Ich hab keine Ahnung“, gab er leise zu, „Ich fühle mich irgendwie seltsam.“ Seltsam? Was war „sich seltsam fühlen“ für eine neue Entschuldigung dem Dienst fernzubleiben? Ich antwortete nicht und öffnete stattdessen die Brusttasche meiner Weste, zog eine kleine Schriftrolle heraus und warf sie dem Blonden entgegen. Er fing sie nicht und sie landete lautlos neben ihm auf dem Sofa. „Die Unterlagen über das Besprochene“, erklärte ich kurz, „Es geht um die neue Diensteinteilung. Da du nicht da warst, haben sie dir ziemlich viel Schrott untergeschoben, aber vielleicht kannst du das noch ändern lassen, bevor der Plan in Kraft tritt.“ Naruto griff nach der Rolle und brach das Siegel, doch bereits nach dem er die ersten paar Zeilen gelesen hatte, legte er sie wieder weg. „Danke, dass du sie gebracht hast“, sagte er und weckte in mir mehr und mehr den Eindruck, dass irgendwas ganz und gar nicht stimmte. Er verhielt sich nicht so, wie ich ihn kannte. Ich trat langsam ins Zimmer und ließ mich neben ihm auf das Sofa gleiten. „Also, was ist los?“ Er schaute verwundert auf. „Ich sagte doch, ich fühl mich nicht so gut. Vielleicht krieg ich eine Erkältung oder so. Bauchschmerzen, aber nichts Ernstes“, entgegnete er, doch eine innere Stimme sagte mir, dass das nicht so ganz der Wahrheit entsprach. Schweigend saßen wir nebeneinander. Der Regen trommelte gleichmäßig gegen das große Fenster am anderen Ende des Raumes und übertönte die Geräusche des Fernsehers. Die Scheibe war beschlagen, doch draußen war es so stockfinster, dass man ohnehin nichts hätte erkennen können. Ich wäre länger bei Naruto geblieben, nicht wegen ihm, sondern nur um mich noch ein wenig aufzuwärmen, aber ich hatte für diesen Tag genug und wollte möglichst schnell nach Hause und ins Bett. Morgen musste ich zum Dienst wieder früh hoch. „Also gut, kurier dich aus“, sagte ich nach ein paar Minuten schließlich, „Ich mach mich auf den Weg, bevor der Sturm noch stärker wird.“ Ich hatte mir keine Vorwürfe zu machen: Wenn er nicht erzählen wollte, was los war, konnte ich auch nichts für ihn tun. Lange genug gewartet hatte ich jedenfalls und vielleicht bildete ich es mir auch nur ein und ihm fehlte tatsächlich nichts weiter. Wir standen auf und Naruto brachte mich zur Haustür, wünschte mir eine gute Nacht und ich verschwand auf der Treppe, ohne seine Worte zu beachten. Wenn ich eines nicht leiden konnte waren es höfliche Floskeln. Widerwillig begab ich mich zurück in den Regen. Der Wind hatte nachgelassen, doch das Wasser strömte nach wie vor wie aus Eimern auf mich herab. Ich wich einer umgestürzten Weide aus, nahm eine Abkürzung durch die kleine Gasse rechts von mir und war nach ein paar Minuten schon in meiner Straße. Keuchend erreichte ich meine Wohnung und schloss die Tür auf. Ich freute mich auf eine heiße Dusche, eine Mahlzeit und dann auf mein Bett. Dieser Tag war alles andere als angenehm verlaufen und ich hoffte inständig, dass sich das Wetter zu morgen bessern würde. Doch ich sollte kein Glück haben… Ich begann schon um 9 Uhr morgens mit dem Bereitschaftsdienst. Es war eine der Aufgaben bei der Anbu, die ich bei weitem am meisten hasste, da meine Fähigkeiten nur zum Einsatz kamen, wenn eine Person ausfiel oder es auf anderen Missionen Komplikationen gab. Neben mir war noch Neji im Raum und auch Naruto hätte eigentlich da sein sollen, doch er fühlte sich scheinbar immer noch nicht besser und kam auch nicht zum Dienst. Es war schon später Nachmittag und wie immer, wenn ich Bereitschaft machen musste, fühlte ich mich wie bestellt und nicht abgeholt. In letzter Zeit gingen nicht viele Aufträge der Stufe A oder S ein und dementsprechend wenig hatte die Anbu zu tun. Auch heute war noch nichts passiert und ich war froh, dass in einer halben Stunde meine Ablösung kommen würde. Vielleicht konnte ich aus diesem Tag doch noch etwas Sinnvolles machen. Ich hatte schon nicht mehr damit gerechnet, als plötzlich ein Falke durch das offene Fenster zu uns reinsegelte und kreischend über unsere Köpfe hinweg flog. Jetzt musste alles schnell gehen. Neji und ich griffen fast zeitgleich zu den Schwertern, die wir neben uns abgestellt hatten, schnallten sie uns auf den Rücken und rannten aus dem Raum. Der Wind war eiskalt, schnitt in die Haut und brannte in den Lungen. Es nieselte nur noch leicht, doch den Wolken nach zu urteilen, kündigte sich schon eine weitere Verschlechterung des Wetters an. Neji und ich folgen dem Falken, nahmen den Weg über Konohas Dächer, wobei wir aufpassten mussten, nicht auf den glitschigen Dachziegeln auszurutschen, und kamen keine drei Minuten später am Dorftor an. Ich hatte keine Ahnung, wohin uns der Vogel führen würde und demnach wusste ich auch nicht, wie weit es war und was für Probleme aufgetreten waren, dass wir einspringen mussten. Ich glaubte nicht an eine S-Rang Mission, da Anbu meistens keine Hilfe forderten, und nahm stark an, dass es Jo-Nin waren, die sich in Schwierigkeiten befanden. Nach den ersten hundert Metern dachte ich, der Falke würde uns in den Todeswald führen, welcher nicht weit entfernt von dem Dorf lag, und ich rechnete schon mit dem Schlimmsten, als er zu meiner Erleichterung plötzlich die Richtung wechselte und weiter nördlich Kurs nahm. Wir gerieten in unbekanntes Gebiet und der Wald um uns wurde dichter. Ich war froh, Neji an meiner Seite zu haben, der mit seinem Byakugan auch durch das undurchdringbarste Gestrüpp sehen und so den Vogel nicht verlieren konnte. Uralte Baumriesen schlossen uns in ihrem Labyrinth aus Zweigen ein. Ihre Kronen reichten weit hinauf und verdeckten die Sicht auf den grauen, verhangenen Himmel; verliehen dem Wald eine immerwährende Dunkelheit, so dass man kaum merkte, wie die Dämmerung langsam voranschritt. Äste, breit wie ganze Baumstämme, versperrten uns den Weg; zwangen uns auf den Waldboden auszuweichen und ein Stück übers Unterholz zu laufen. Unmerklich zog Neji das Tempo an und ich kam mir mehr denn je vor wie auf der Flucht, ohne zu wissen wovor. „Wir sind gleich da“, hörte ich meinen Partner nach einigen Minuten berichten, „Das sieht echt schlimm aus. Wir sollten uns beeilen!“ „Kannst du sehen, was passiert ist?“, entgegnete ich interessiert und er antwortete mit leichter Anspannung in der Stimme: „Es muss einen Kampf gegeben haben, aber es scheint schon alles vorbei zu sein. Da hinten bewegt sich keiner mehr.“ „Tz, wie immer sind wir zu spät und haben das Beste verpasst“, spottete ich, „Sie hätten nach Ärzten schicken sollen, nicht nach Verstärkung.“ „Ich glaube nicht, dass noch Ärzte gebraucht werden, Sasuke…“ Wir kämpften uns weiter vor und brachen nur wenig später durch das Gehölz auf eine kleine Lichtung. Fast kam es mir vor, als wären die Bäume nur für uns zur Seite gewichen und hätten einen Kreis um die Menschen in ihrer Mitte geschlossen, damit uns kein Detail des ganzen schockierenden Ausmaßes entging. Für einen kurzen Moment schien die Zeit still zu stehen und weder Neji noch ich wagten es, uns zu rühren. Meine Augen glitten über die bleichen Körper, folgten dem roten Fluss, der sich wie eine Schlange den Weg durch das Gras bahnte und blieben an den zerbrochenen Tiermasken hängen. Ich war schon lange bei der Anbu und hatte mir schon einiges ansehen müssen, doch solch ein Massaker war mir, zumindest im Dienst, bis jetzt immer erspart geblieben. Kalte Schauer ließen meinen Körper unwillkürlich erzittern. Ich wusste, dass es nicht der Ekel vor diesem Anblick war, sondern bloß ein Augenblick, in dem die Angst mich mit eisigen Fingern berührte; in dem ich realisierte, dass es keine Jo-Nin waren, sondern diese Leute alle so stark gewesen waren wie ich, bevor sie brutal getötet wurden. „Sasuke, hier!“ Ich erwachte aus meiner Starre und schenkte die Beachtung wieder Neji, der sich ein Stück von mir entfernt und nun neben einen Anbu gekniet hatte, dessen Gesicht zu entstellt war, um es persönlich zu erkennen, an dessen Kleidung allerdings noch das Abzeichen angebracht war, das ihn als Anführer dieser Gruppe identifizierte. Neji öffnete eine Schriftrolle, die er dem Mann zuvor aus der Tasche genommen haben musste und sagte nachdem er den obersten Abschnitt gelesen hatte: „Eine Gruppe von sechs Leuten, im Auftrag der Hokage für ein Attentat zuständig“ – er zeigte auf die Stelle mit dem Siegel – „Die Mission wurde erfolgreich ausgeführt. Sie müssen gerade auf dem Rückweg gewesen sein, als sie überfallen wurden. Zähl nach, sind alle sechs da?“ Ich ließ den Blick abermals über die Lichtung schweifen und nickte zur Bestätigung. Neji rollte das Pergament wieder auf und wischte das Blut an der Kleidung des Anbu ab, bevor er es in seiner Seitentasche verstaute. „Wer könnte zu so etwas fähig sein?“, murmelte er abwesend, „Dieses Monster stellt eine wahre Bedrohung für das Dorf da. Ich finde, wir sollten so schnell es geht zurück und Bericht erstatten.“ Es passierte rein zufällig, als mein Blick den Waldrand um die Lichtung streifte, dass ich aus dem Augenwinkel eine rasche Bewegung wahrnahm. Sofort wirbelte ich herum, griff instinktiv nach dem Schwert auf meinem Rücken und fixierte die Stelle, an der ich meinte, jemanden gesehen zu haben. Vielleicht war es die Tatsache, dass so viele Anbu getötet wurden, die mich so nervös machte und aufmerksamer werden ließ, vielleicht auch eine leise Vorahnung, der Angreifer könne noch ganz in der Nähe sein und uns jeden Augenblick überfallen. Immerhin befanden sich Neji und ich auf dieser Lichtung wie auf dem Präsentierteller. „Was ist denn jetzt?“ Der Hyûga-Erbe starrte mich verwirrt an, als ich völlig unangekündigt in Kampfposition wechselte und die Hand zu meinem Schwertgriff führte. Ich bedeutete ihm nur, mir zu folgen, als ich ein paar Schritte vortrat und forderte knapp: „Neji, das Byakugan!“ „-ist erschöpft“, vervollständigte er meinen Satz, „Ich hab es den ganzen Weg hierher benutzt, damit wir den Vogel nicht verlieren. Wir müssen auch noch irgendwie zurückkommen und ich vergeude mein Chakra nicht. Der Angreifer ist weg, es ist keine Energie im engeren Umkreis zu spüren. Komm schon, das ist ein streunendes Tier, nichts weiter. Lass uns gehen!“ Es war nur allzu verständlich, dass Neji es eilig hatte von diesem Ort zu verschwinden und Tsunade von dem Vorfall zu erzählen, um noch Schlimmeres zu verhindern. Doch ich war noch nicht bereit zu gehen. Etwas gold-gelbes blitzte zwischen den Büschen auf und ich hielt kurz inne. „Das ist kein Tier, Neji“, murmelte ich, „Jemand beobachtet uns.“ Langsam steuerte ich dem Waldrand entgegen, den Griff immer noch fest um das Schwert gelegt und bereit zuzuschlagen. Ich wagte es nicht über die Schulter zurückzusehen, doch ich nahm an, dass Neji stehen geblieben war um aus der Distanz anzugreifen, falls irgendetwas passierte. Fast kam ich mir lächerlich vor, jemandem entgegenzugehen, von dem ich nicht mal genau wusste, ob er überhaupt da war und wollte schon wieder umdrehen und zugeben, dass ich mich geirrt haben musste, als ich eine erneute Regung wahrnahm. Blitzschnell wanderte meine freie Hand an den Gürtel, zog ein Wurfmesser heraus und schleuderte es nach vorn, direkt ins Gestrüpp. Im selben Moment begann ich zu laufen, zog das Schwert aus der Scheide und holte aus. Mein Angriff ging ins Leere und ich blickte mich panisch um, doch es war niemand da. Raschelnd wirbelten Blätter durch die Luft und glitten langsam dem Boden entgegen. Ich stand bis zu den Knien im Strauch, rings umher von Bäumen eingekreist. Zögernd drehte ich mich um und blickte auf die Lichtung zurück; suchte Nejis Blick, der jedoch ebenso ahnungslos schien wie meiner. Dann bemerkte ich das Wurfmesser seitlich in der Baumrinde stecken und stellte verblüfft fest, dass ein Fetzen abgerissenen Stoffes an der Spitze hinunter hing. Es war das gleiche Gefühl, als würde einem mit voller Wucht in den Magen geschlagen werden, so dass die Luft für ein paar Sekunden wegblieb. Mit zitternden Fingern zog ich das Messer ab und betrachtete das orangene Stück Stoff in den Händen. „Das kann nicht sein…“, flüsterte ich, „Er ist nicht hier.“ Jemand legte mir eine Hand auf die Schulter und zerrte mich zurück auf die Lichtung. Ich schloss eine Faust um meinen Fund, bevor Neji ihn zu sehen bekam. „Bist du fertig?“, fragte dieser nun ruppig, „Ich versteh ja, dass dich das alles hier beunruhigt, aber dreh jetzt gefälligst nicht durch! Ich hab doch gesagt, dass du dich getäuscht hast.“ Ich konnte ihm weder Recht geben noch seine Aussage abstreiten, starrte stattdessen abwesend zu dem Fleck, von dem ich gekommen war und fühlte das kleine Stück Stoff in meiner zitternden Hand. Die Gedanken rasten wild durch meinen Kopf ohne zu einer Erkenntnis oder Erklärung zu kommen. Wie war das möglich? Was hatte das zu bedeuten? Er konnte nicht… „-ji… Neji?“ Eine verzerrte, von permanentem Rauschen unterlegene Stimme durchbrach das Schweigen und schreckte uns beide auf. Unverzüglich griff Neji an seinen Gürtel und führte das Funkgerät an seinen Mund. „Was ist?“, fragte er schroff, scheinbar wütend darüber, sich ebenfalls erschrocken zu haben. „Alles in Ordnung bei euch?“, ertönte die Stimme aus dem Gerät, nun etwas deutlicher zu verstehen, „Was war los? Habt ihr gekämpft?“ „Es gab nichts mehr zu tun, alle Anbu sind tot“, antwortete der Hyûga und wir hörten, wie jemand scharf die Luft einsog. Danach herrschte eine kurze Pause, bevor die Person fortführte: „Anbu? Das ist schlecht. Sehr schlecht…“ „Was meinst du?“, harkte Neji vorsichtig nach und ich fürchtete mich bereits vor der Antwort. „Es gab einen weiteren Angriff, nicht weit von euch entfernt. Der Notruf wurde soeben abgeschickt.“ „Wie bitte? Was sollen wir jetzt tun?“ „Nichts, bleibt wo ihr seid! Es ist zu riskant. Ich hatte mit einem kleineren Übel gerechnet. Mit einem Streit zwischen Jo-Nin und fremden Ninja vielleicht, nicht mit so was. Ich schicke eine Spezialeinheit zu euch, ihr rührt euch da nicht weg!“ „Scheiß auf den Spezialtrupp, meinst du etwa, die können irgendwas ausrichten?“ Neji drückte seinen Gesprächspartner weg, ohne ein weiteres Wort anzuhören und steckte das Funkgerät zurück an den Gürtel. „So ein Idiot!“, fluchte er leise, „Viel wichtiger ist jetzt die Sicherung des Dorfes, bevor es dort mit den Morden weitergeht. Die wissen nicht, wer oder was hier rumläuft. Alle restlichen Anbu abzuziehen ist der größte Fehler, denn man machen kann.“ „Was hast du vor?“, fragte ich ruhig und ließ den Stofffetzen unbemerkt in meiner Hosentasche verschwinden, um wenigstens eine Hand frei zu haben. „Wir kehren um!“, antwortete Neji aufgebracht, „Für den Rückweg werden meine Augen das aushalten. Je länger wir diskutieren, umso mehr Zeit geht verloren.“ Eigentlich hätte ich lieber auf die Verstärkung warten wollen, denn ich hatte einen Verdacht und musste herausfinden, in wie weit die Vorfälle damit in Verbindung standen. Doch ich ignorierte das ungute Gefühl und schloss mich Neji an, der die Lichtung wieder verließ. Die Vorahnung, das Wetter würde noch einmal zum Schlechteren umschlagen, bestätigte sich und der Nieselregen verwandelte sich in einen Hagelschauer, von dem wir unter dem dichten Blätterdach des Waldes zum Glück nicht allzu viel spürten. Der Wind wurde stärker und erinnerte mich beinahe schon an den Sturm, gegen den ich vorigen Abend angekämpft hatte, als ich auf dem Weg zu Naruto war. Dieser Abend schien mir eine Ewigkeit her zu sein. Was hatte Naruto eigentlich noch zu mir gesagt? Ich wusste es nicht mehr genau… Es passierte zu schnell, um rechtzeitig reagieren zu können. Wir sprangen von Ast zu Ast und ich lag einige Meter hinter Neji zurück; hatte mich bis zu diesem Augenblick an dem Rücken des Hyûga orientiert um den Weg beizubehalten, als ich von der Seite einen Schatten auf mich zukommen sah. Im nächsten Moment wurde ich im Sprung gepackt und mit voller Wucht zu Boden gerissen. Ich wollte Neji zu Hilfe rufen, doch er war bereits zu weit weg und der Knall meines Aufpralls ging im tosenden Wind unter. Ich wurde ins Unterholz geschmettert und schaffte es gerade noch, den Sturz mit einer Rolle abzufangen, um mich nicht schwerer zu verletzen. Sofort kam ich wieder auf die Beine und blickte mich panisch um. Meine Schulter schmerzte und es fühlte sich an, als wären ein paar Rippen gebrochen, doch äußerlich war ich unversehrt. „Sasuke!“ Erschrocken wirbelte ich herum und sah für den Bruchteil einer Sekunde die orange-schwarze Jacke im Dickicht verschwinden. Schon seine Stimme hatte mir verraten, um wen es sich handelte. Ich hatte mich also doch nicht geirrt… „Naruto, bleib stehen!“, brüllte ich ihm hinterher und begann zu rennen. Ich war zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen; kämpfte mich durchs Unterholz einen kleinen Steilhang hinauf und zerschnitt mir dabei Arme und Gesicht an Zweigen und Dornenbüschen. Die Schmerzen breiteten sich im ganzen Körper aus und ich hätte geschrieen, wäre mir nicht vom Laufen die Luft ausgeblieben. Immer wieder erhaschte ich kurze Blicke auf meinen Kameraden und konnte mir sicher sein, der richtigen Spur zu folgen. Was tat Naruto hier und weshalb lief er vor mir davon? Hatte er mit den Morden zu tun? Ich hatte immer noch keine Erklärung für sein Verhalten und beschloss, ihm weiter nachzujagen, bis einer von uns erschöpft war oder er sein Ziel erreicht hatte. Mein Gefühl sagte mir, dass hier etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zuging. Mit der Zeit wurde das Blätterdach lichter und der Regen ging nur umso gewaltiger auf mich nieder. Der Himmel war hinter schwarzen Wolken versteckt, die das Land in düsteres Licht tauchten und es wie bei Nacht wirken ließen. Die Bäume standen nun weiter auseinander, sodass ich irgendwann zwischen ihnen ein großes Gebilde erspähen konnte. Schon seit einer guten Viertelstunde lieferten Naruto und ich uns die wilde Verfolgungsjagd durch den Wald und ich hatte bereits keine Ahnung mehr, wo ich mich überhaupt befand. Auch das Gebäude, das vor mir zwischen den Kiefern empor ragte, hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ich beobachtete, wie Naruto die Tür aufstieß und in dem Haus verschwand, ehe ich selbst die Stelle erreichte. Keuchend blieb ich vor dem Eingang stehen, stemmte meine Arme auf die Knie und rang nach Luft. Das Haus ähnelte einer alten Villa und es war anzunehmen, dass zu früherer Zeit reiche Fürsten in ihr gehaust haben mussten. Jetzt stand sie leer und Farbe bröckelte von den Wänden, die schönen Statuen zu beiden Seiten des Eingangs waren von der Sonne ausgebleicht und zum Teil zerstört und die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Was sollte ich tun? Es war offensichtlich, dass es sich hier um eine Falle handelte, ich wusste nur noch nicht, wer sie gestellt hatte... Allerdings war Naruto scheinbar nicht ganz klaren Verstandes und irgendjemand musste diesen kleinen Idioten ja wieder aus seinem Schlamassel befreien. Ich war nun schon so weit gekommen und wusste ohnehin nicht, wie ich zurückkommen sollte, da konnte ich ihm also genauso gut auch das letzte Stück in die Villa folgen. Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, trat ich ein paar Schritte vor und schob die Tür langsam auf. Der Gang vor mir war stockdunkel, dass man die eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte. Es war angenehm, nach so langer Zeit endlich wieder im Trockenen zu stehen, doch dafür war es bitterkalt. Der Regen tropfte von meinen Haaren hinunter, über die Haut und ließ mich erschaudern. Ich wischte mir die nassen Strähnen aus den Augen und wagte mich weiter vor. Zu beiden Seiten waren Türen, doch ich probierte nicht, ob sie verschlossen waren. Am Ende des Flures konnte ich eine Treppe ausmachen und umso näher ich ihr kam, umso dunkler wurde es und umso leiser wurde das Tosen des Windes draußen hinter der Eingangstür, die ich offen gelassen hatte. Ich hörte meinen eigenen Atem, laut und stockend, und als ich mich dabei ertappte, wie die schwitzige Hand sich um den Griff des Schwertes klammerte, wurde mir bewusst, dass ich Angst hatte. Mit einem erschütternden Knall warf der Wind die Tür ins Schloss und ich glaubte, mein Herz würde stehen bleiben. Sekundenlang befand ich mich in totaler Finsternis, fühlte mich, wie von einem großen schwarzen Loch verschluckt, bis sich meine Augen an die neue Situation gewöhnt hatten und ich schwache Umrisse erkennen konnte. Der Sturm drang gedämpft an meine Ohren, ansonsten war alles still. Ich war kein Feigling, doch in diesem Moment wusste ich nicht ob es Regenwasser oder Schweiß war, der mir das Gesicht hinunterlief. Zögernd tastete ich mich an der Wand entlang und erreichte schließlich das Ende des Flures, indem ich schmerzhaft mit dem Knie gegen eine niedrige Kommode stieß. Links und rechts neben dem Treppenaufgang gingen wieder zwei Türen ab, wobei ich bei der rechten einen schwachen Lichtschimmer durch die Ritzen dringen sah. Mit zitternder Hand griff ich nach der Klinke und drückte sie runter. Das Zimmer war nicht abgeschlossen und ich setzte einen Fuß hinein. Ein bleiches Gesicht starrte mich aus pechschwarzen Augen an, nur wenige Meter vor meinem eigenen. In wilder Panik zog ich das Schwert aus der Scheide, ehe ich realisieren konnte, dass ein großer Spiegel an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. In einem langen Stoß atmete ich aus. Mein Herz raste und die Kehle war zugeschnürt, sodass es mir schwer viel zu schlucken. „Alles in Ordnung“, flüsterte ich mir mit heiserer Stimme zu, „Du bist doch sonst nicht so ängstlich.“ Langsam drang in den Raum ein und ließ den Blick schweifen. Die Lichtquelle, deren Schein ich unter der Tür wahrgenommen hatte, entpuppte sich als duzende von Kerzen, die überall verteilt standen und dem Ort eine unheimliche Atmosphäre verliehen. Das Zimmer war groß und mit altertümlichen Gegenständen möbliert, die meist zerschlissen und gebraucht waren. Am anderen Ende des Raumes stand eine Tür offen, doch im Halbdunkel konnte ich nicht erkennen, wie es im Zimmer hinter ihr aussah. Die Vorhänge vor den vernagelten Fenstern waren runter gerissen worden, der Teppich fleckig und abgenutzt. Die Luft war stickig und stank verfault, dass einem übel wurde. Ich wusste nicht, ob dieser Weg wirklich die richtige Fährte zu Naruto war, doch einen anderen Anhaltspunkt als die brennenden Kerzen gab es nicht und so durchquerte ich das Zimmer mit anhaltender Achtsamkeit. Als ich bereits die Mitte erreicht hatte, regte sich etwas in Türrahmen vor mir und wie angewurzelt blieb ich stehen und hielt mein Schwert zum Angriff bereit. Überraschenderweise trat mir eine junge Frau gegenüber. Das schwarze Haar fiel ihr sanft über die Schultern, schimmerte bläulich im Kerzenschein. Ihre Gesichtszüge waren mir so vertraut wie die eigenen und binnen weniger Sekunden kam die Erkenntnis. Sie traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Völlig perplex starrte ich die Person mir gegenüber an; stand wie versteinert da, während meine Gedanken wild durcheinander wirbelten. Die Frau war kein Geist; sie blickte mich aus klaren, lebhaften Augen an, wie es nur ein Mensch aus Fleisch und Blut vermochte. Dennoch wirkte ihr Gesicht leer und emotionslos. Ich begriff nicht, warum sie hier war, denn mein Bruder hatte sie vor knapp 12 Jahren getötet. Ich selbst hatte ihre Leiche neben der meines Vaters gefunden. Sie machte einen Schritt auf mich zu und ich wich vor ihr zurück wie ein verängstigtes Kind. Diese schwarzen Augen durchbohrten mich, als könnten sie mir bis in die Seele blicken. Ich hatte keine Ahnung wohin dieses Schauspiel führen würde, doch mit jedem Schritt drängte sie mich weiter in die Enge. Sollte ich angreifen? Meine Hand zitterte und war so schwitzig, dass mir das Schwert jeden Moment aus der Hand zu gleiten drohte; der Arm schien wie blockiert und ließ sich einfach nicht heben, so sehr ich es auch wollte. Nur noch wenige Meter trennten mich von der Tür, durch die ich gekommen war. Wenn ich nun floh, was würde dann aus Naruto? Die Frage erübrigte sich rasch, als mich jemand von hinten packte, festhielt und mir etwas Weiches gegen Mund und Nase drückte. Sofort schwanden meine Sinne, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte. Mein Körper war gelähmt und ich bekam ihn nicht mehr unter Kontrolle. Das Schwert fiel klirrend nieder und als ich losgelassen wurde, sank auch ich widerstandslos zu Boden. Benommen blieb ich liegen und kämpfte verzweifelt gegen die Dunkelheit an, die mein Sichtfeld einzuhüllen drohte. „Wir haben uns lange nicht gesehen, Sasuke.“ Aus dem Schatten hinter meiner Mutter trat eine große Gestalt hervor und an der rauen Stimme und blassen Haut, die im Licht der Kerzen noch viel weißer wirkte, erkannte ich ihn sofort: Orochimaru. Nach all den Jahren hatte er sich kein bisschen verändert. Ich hatte ihn für tot gehalten, doch hier stand er nun vor mir, das Schlangengesicht zu einer hämischen Grimasse verzogen, die gelben Augen voller Begierde auf mich gerichtet, als wäre ihm nie geschadet worden. Ich wollte ihn anschreien; wollte wissen, was mit Naruto passiert war; sagen, dass ich es mir hätte denken können, dass er hinter der ganzen Sache steckt… Doch meine Stimme gehorchte mir nicht. Nicht mal ein leises Krächzen bekam ich aus der Kehle. „Um genau zu sein“, fuhr Orochimaru fort, „haben wir uns nicht mehr gesehen, seit du dich von mir abgewandt und mich fast getötet hast. Zu meinem Glück lebte ein kleiner Teil von mir in Kabuto weiter und so konnte ich nach einiger Zeit meinen Leihkörper wechseln und zu alter Stärke zurückkehren. Ich nehme an, damit hast du nicht gerechnet?“ Ich versuchte mich aufzurichten, probierte nach meinem Schwert zu greifen, wenigstens einen Finger zu rühren und musste feststellen, dass alle Bemühungen vergebens waren. Es war mir nicht möglich auch nur irgendeinen Teil meines Körpers zu bewegen. Noch dazu verdichtete sich der schwarze Nebel vor meinen Augen immer mehr. „Glaub nicht, dass ich noch mal versuchen werde, deinen Körper zu übernehmen. Ich hole mir nur eine Sache von dir und das sind die Augen. Mehr als dein Sharingan benötige ich gar nicht. Kabuto wird sich um die Operation kümmern.“ Mit einem Ruck wurde ich von der Person hinter mir hochgerissen und gegen die kalte Wand gedrückt. Ich sah wie Kabuto das Tuch, mit dem er mich betäubt hatte, zur Seite legte und fühlte, wie er meine Arme durch Schlaufen steckte, die mich an der Wand aufrecht stehen ließen. Wie eine schlaffe Puppe hing ich nun vor ihm, während er die Vorbereitungen für die Operation traf. Im Gegensatz zu seinem Meister blickte er mir nicht ein einziges Mal in die Augen und konzentrierte sich stattdessen ganz auf seine Aufgabe. Hinter ihm erkannte ich die schemenhaften Umrisse Orochimarus und meiner Mutter. Plötzlich trat eine vierte, etwas kleinere Person hinzu. Ich schärfte meinen Blick, doch der Nebel war zu stark geworden. Ich hörte, wie Kabuto eines der Instrumente nahm; spürte, wie er begann sein Chakra für sein Medizin-Ninjutsu in der Hand zu sammeln. Dann wurde die ganze Szenerie von einem Schrei und einem dumpfen Aufprall unterbrochen, doch auf meinen Ohren wurde es endgültig still. Als ich wieder zu mir kam war der Himmel klar und der kühle Wind strich mir angenehm über das Gesicht. Das Gras unter mir war noch nass vom letzten Regen und die Luft erfüllt von den Stimmen der Anbu, die um die Villa verstreut waren. Ein besorgtes Gesicht beugte sich über mich und ich sah in die blauen Augen unserer Hokage. „Wo ist Naruto?“, fragte ich sofort und versuchte mich aufzurichten, doch Tsunade drückte mich zurück und wies mich an, noch liegen zu bleiben. „Du bist noch geschwächt von der Betäubung, also beweg dich nicht zu viel!“, murrte sie, „Ich hab dir bereits das Gegenmittel verabreicht, aber es dauert noch, bis es vollständig wirkt. Naruto ist dort drüben bei Jiraiya. Sie stellen das Siegel wieder her, das Orochimaru gebrochen hat, um Kyûbi die Kontrolle übernehmen zu lassen.“ Nur sehr langsam drangen die Worte zu mir durch und ich begann zu begreifen, wo ich war und was geschehen sein musste. Endlich verstand ich auch, weshalb sich Naruto die ganze Zeit so seltsam benommen hatte und das Puzzle fügte sich aus seinen Einzelteilen zusammen. Doch was war nur passiert, nachdem ich das Bewusstsein verloren hatte? Es brannten mir noch zu viele Fragen auf der Seele. „Wo ist Orochimaru? Wer hat mich gerettet?“, erkundigte ich mich mit matter Stimme und Tsunade seufzte schwer. „Orochimaru und Kabuto sind geflohen als wir das Haus stürmten“, entgegnete sie bitter, „Bedanken darfst du dich bei Neji. Er hat uns mit dem Byakugan hierher geführt.“ „Das meine ich nicht“, sagte ich endlich, „Wer hat Kabuto gehindert als-“ Ich hielt inne und plötzlich wurde mir klar, wer die vierte Person im Raum war, die hinter Orochimaru auftauchte. Hatte Naruto etwa die Kontrolle über Kyûbi zurück gewonnen, um mir zu helfen? War sein Wille am Ende doch stärker als die Macht des Fuchses? „Weiß Naruto was passiert ist?“, durchbrach ich unser kurzes Schweigen. „Leider nicht, er hat keinerlei Erinnerungen an die letzten paar Tage. Wir wissen nicht, wann Orochimaru das Siegel gelöst haben kann, aber er muss Naruto schon eine Weile zuvor aufgelauert haben. Vielleicht auf einer Mission. Wer weiß…“, antwortete die Hokage grimmig, „Wir nehmen auch an, dass Orochimaru noch zu schwach war, um sich dir in Konoha zu stellen, wo du in meiner und Jiraiyas Nähe gewesen wärst. Deshalb wird er Kyûbi auf dich angesetzt haben, indem er ihm versprach, ihn ganz zu entsiegeln, falls er es schafft dich alleine herzuholen.“ „Dann hat Kyûbi die Anbu-“ „Es scheint so zu sein.“ In einiger Entfernung hörte ich Naruto mit Jiraiya streiten und atmete erleichtert aus. Es beruhigte mich, dass er wieder ganz der alte war und ich mir zumindest um ihn keine Gedanken mehr machen musste. Scheinbar hatte sich doch noch alles zum Guten gewandt. Ich fühlte, wie das Gefühl in meinen Körper zurückströmte und schaffte es problemlos meinen Oberkörper hochzustemmen. Die Schmerzen in Schulter und Brustkorb waren verschwunden. Ich nahm an, dass Tsunade mich bereits geheilt hatte. Nun gab es nur noch eine einzige Sache, die mich wirklich beschäftigte und abermals wandte ich mich an die amtierende Hokage. „Tsunade-sama, was ist mit der Frau, die noch im Haus war?“, fragte ich vorsichtig und die Ärztin sah mich verwundert an. „Welche Frau? Im Haus war niemand außer euch“, antwortete sie mir wahrheitsgemäß, „Du bist noch zu durcheinander. Ruh dich etwas aus! Ich schicke Naruto gleich zu dir.“ Ich ging nicht weiter auf das Thema ein und beobachtete stattdessen, wie sie aufstand und sich einer Gruppe Anbu zuwandte, um deren Bericht über den Zustand der oberen Stockwerke der Villa anzuhören. Mir war klar, dass ich früher oder später auch Naruto befragen würde, ob er sich an die Frau erinnerte und hoffte, dass er nicht völlig mit dem inneren Kampf gegen Kyûbi beschäftigt gewesen war. Vielleicht war es ein neues Jutsu von Orochimaru um Tote wiederauferstehen zu lassen? Doch wo war die Frau dann hin, wenn sie nicht mit Orochimaru und Kabuto geflohen war? Hatten die Anbu nicht das ganze Haus abgesucht? War sie vielleicht doch nur ein Geist oder pure Einbildung? Ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich auf diese Frage nie eine Antwort bekommen würde… Kapitel 5: [Winter] Eingeschneit (Slice of Life) ------------------------------------------------ Wir sahen einander an. Es mussten schon geschlagene zehn Minuten vergangen sein, seit ich in die Küche gekommen war und trotzdem hatte meine Mutter kein einziges Wort gesagt. Sie kannte mich und sie wusste, dass ich explodieren würde, wenn sie jetzt wagte nachzuhaken. Keine Ahnung, ob sie das an meinem Blick sah, aber sie kannte mich eben. Die Teekanne pfiff in lauten, schrillen Tönen und gab erst Ruhe, als meine Mutter aufstand, sie vom Herd nahm und ihren Inhalt in zwei ungleiche Becher goss. Dann kehrte die Frau zum Küchentisch zurück und nahm wieder ihren Platz mir gegenüber ein. Schweigend reichte sie mir eines der Gefäße und nippte anschließend an dem anderen, während sie mich über den Becherrand abschätzend beäugte. Ihre Iris hatte das gleiche Grün wie meine. „Sie ist nicht hier gewesen, oder?“, brach ich endlich die Stille und schloss meine, noch immer verfrorenen Hände um den heißen Tee. „Wer denn?“ Die Frage meiner Mutter kam einer Provokation gleich, denn sie wusste genau, wen ich meinte. Einen Moment zögerte ich und wollte überhaupt nicht antworten. „Ino“, entgegnete ich dennoch, unterdrückte die Wut und verkniff mir, ein forsches „natürlich“ hinterher zu werfen. Es wunderte mich nicht, als meine Mutter daraufhin den Kopf schüttelte. „Wart ihr verabredet?“ Verabredet? Ja, zumindest ich hatte das bis vor einer Stunde noch geglaubt. Es wäre unser erstes Treffen seit mehreren Wochen gewesen, doch meine beste Freundin war nicht erschienen und ich hätte es eigentlich ahnen müssen. Vielleicht war das einer der Gründe, warum der Zorn in meinem Bauch so brodelte. An Inos Zuspätkommen hatte ich mich gewöhnt und auch daran, dass sie mir kurz vorher absagte, weil ihr etwas dazwischen gekommen war. Das passierte in letzter Zeit nämlich sehr häufig. Da war es doch schon vorhersehbar gewesen, dass sie mich irgendwann versetzte, ohne sich zu melden. Ich war eine Idiotin! „Sie ist nicht gekommen“, erklärte ich mit gezwungener Ruhe. Meine Mutter öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn dann aber im nächsten Moment wieder und widmete sich erneut ihrem Früchtetee. Richtig so, denn schlechten Trost konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Wir hatten die letzten Wochen unzählige Gespräche geführt und ich hatte mich oft genug beschwert, aufgeregt und immer wieder bei ihr ausgeheult. Mittlerweile war ich sicher, dass sie das leidige Thema nicht mehr hören konnte und ihr auch kein neuer Ratschlag mehr dazu einfiel. Es sei eine Phase und das würde sich wieder geben, bekam ich genauso zu Ohren wie, ich solle mich nicht so anstellen oder endlich mal Klartext reden. Manchmal hatte ich das Gefühl, meine Mutter würde mich und meine Sorgen verstehen und dann schaffte sie es kurz darauf immer wieder, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ihre Ratschläge waren vielleicht gut gemeint, aber… Wortlos erhob ich mich und verließ mit meinem vollen Becher die Küche. War meine Mutter froh, dass ich ging, ohne mich vorher über Ino auszulassen? Hielt sie mich nicht auf, weil sie kein Salz in die Wunde streuen wollte? Ich wusste es nicht, doch zumindest sah sie mir nicht nach, bis ich die Tür leise hinter mir zugleiten ließ. Im Flur war es stockfinster und wirkte wie tiefste Nacht, obwohl die grünen Leuchtziffern auf dem Schränkchen neben der Haustür mir erst fünf Uhr nachmittags anzeigten. Dem gegenüber hing mein Mantel an der Garderobe und erweckte den Eindruck einer unförmigen, über dem Boden schwebenden Gestalt, die glänzte und tropfte. Meine nassen Winterstiefel standen darunter. So warm sie auch sein mochten, hatte ich doch jedes Mal, wenn ich sie trug, kalte Füße. Vorhin war es nicht anders gewesen. Seufzend wandte ich mich ab und folgte dem dunklen Flur. Ich kannte jeden Winkel dieses Hauses, indem ich schon seit meiner Geburt lebte, und stieg die steile Treppe empor, ohne das Licht einschalten zu müssen. Erst in meinem Zimmer ließ ich mich von der Deckenlampe blenden. Der Raum war nicht groß, recht schlicht gehalten und mit weniger Verzierungen und Dekorationen ausgestattet, als andere Mädchen hatten. Er war aber dennoch durch warme, rote Töne harmonisch, gemütlich und stets aufgeräumt. Mir reichte der Platz. Langsam ging ich auf mein Bett zu, ließ mich darauf sinken und stellte den Tee auf dem niedrigen Nachtschrank ab. Dabei fiel mir ein aufgeschlagenes Buch über medizinische Formeln auf, das mich an meine Pflicht zu lernen erinnerte. Tsunade war eine strenge Meisterin und sie würde sofort merken, wenn ich nachlässig geworden war. Allerdings war mir im Moment nicht danach zumute, auch nur eine Zeile zu lesen, geschweige denn, sie mir zu merken. Mein Blick wanderte zum Fenster und für eine Weile beobachtete ich die vielen kleinen weißen Flocken, die aus dem Himmel zu mir hinabtrudelten und vor der Scheibe tanzten. Den ganzen Tag lang hatte es immer mal wieder gerieselt, doch durch zwischenzeitlichen Regen war bisher nichts außer Matsch auf den Straßen liegen geblieben. Ich bedauerte das, denn Schnee hatte für mich etwas Beruhigendes und Sanftes; etwas Heiliges. So weich und lautlos legte er sich nieder, verdichtete die Stille und tauchte die düstere Jahreszeit in ein helles Licht. Gerade jetzt, wo es auf das Weihnachtsfest zuging, das in fünf Tagen stattfand, hatte ich mir vom Wetter wesentlich mehr erhofft. Aber eventuell konnte das ja noch werden. Ich stand wieder auf, zog die schweren Vorhänge zu und hielt sie plötzlich fest, als würden sie von allein wieder aufgehen, wenn ich losließe. Weihnachten, was war das überhaupt? Für viele Menschen bedeutete dieser Begriff, einander zu lieben, in Gesellschaft zu sein, sich nicht zu streiten und zurückzublicken auf schöne Erinnerungen. Ganz genauso sollte es für jeden sein; so war es richtig. Warum fühlte ich selbst dann nichts außer Einsamkeit und Trauer? Ich nahm die Hände von der Gardine und begann zu horchen. Im Haus war es immer noch angenehm ruhig und keine Stimmen drangen von unten zu mir vor. Das konnte nur bedeuten, dass mein Vater noch nicht von der Arbeit heim gekommen war. Um Weihnachten machte er oft Überstunden und das Geld, das er mit ihnen verdiente, kam mir, als seiner einzigen Tochter, natürlich auch zugute. Nein, ich war wirklich niemand, der sich über seine Eltern beschweren sollte. Nicht genug, dass sie mir fast jeden Wunsch von den Lippen ablasen, waren sie auch noch von der Sorte, die sich etwas zu sehr um einen kümmerte. Trotz aller Differenzen hatte ich eine tolle Kindheit verbracht und dass ich das endlich wertschätzte, war wohl den beiden Jungen zu verdanken, denen in ihrer Vergangenheit nicht so viel Glück gewunken und mit denen ich über ein Jahr lang Team Sieben gebildet hatte. Es war eine schöne Zeit gewesen, die wir genossen, die uns drei zu Freunden gemacht, die sich geändert und die schließlich uns geändert hatte. Nun fehlte von dem Abtrünnigen Sasuke jede Spur und Naruto war für eine Trainingsreise fort gegangen. Ich allein war im Dorf geblieben, studierte unter der Hokage die Kunst der Medizin und schien seit den letzten zwei Jahren eine Leere in mir zu haben, die sich einfach nicht füllen wollte. Zur Überraschung aller war es damals Ino gewesen, die mir Halt gab und die jetzt nicht mehr für mich da war… Ein Teil von mir wollte laut fluchend aufschreien, ein anderer benahm sich mit einem Mal so trotzig wie ein kleines Kind. Wenn Ino es nicht für nötig hielt, sich bei mir zu melden, würde ich ihr nicht mehr hinterher laufen. Wenn sie mich nicht mehr brauchte, würde ich lernen, ohne sie zurechtzukommen. Wenn ihr unsere Freundschaft so wenig bedeutete, würde sie mir ebenso wenig wert sein. Und dennoch wusste ich tief in meinem Inneren, hinter der sich vordrängenden Enttäuschung und Empörung, dass all diese Vorsätze nichtig sein würden, sobald Ino wieder vor mir stand. Ich wusste das genau und ich hasste mich selbst dafür. Wie ferngesteuert entfernte ich mich vom Fenster und kehrte zu meinem Becher Früchtetee zurück. Mittlerweile dampfte er nicht mehr. Mir war zum Heulen zumute und ich fragte mich ernsthaft, was das eigentlich für einen Sinn hatte, mir über diese eine Person so den Kopf zu zerbrechen! Sie war immerhin nicht meine einzige Freundin und von ihr abhängig war ich auch nicht. Weshalb also machte ich mir so viel aus ihr? Weshalb ging mir diese ganze Lage so unglaublich nah? Weshalb konnte, verdammt noch mal, nicht alles wieder so sein wie früher? Ich schloss die Augen und atmete bewusst ein und aus. Für diesen Abend wollte ich keine belastenden Gedanken mehr und wenigstens so tun, als sei mir alles gleichgültig. Ich wollte mich einfach gemütlich in mein Bett kuscheln; wollte meinen Tee genießen, ein paar Adventskerzen anzünden, schöne Musik hören und etwas lesen, das rein gar nichts mit Medizin am Hut hatte. Wahrlich, ein guter Plan. Nur durchführen konnte ich ihn nicht. Tsunade blickte abwechselnd von dem beschriebenen Blatt Papier in ihren Händen prüfend zu mir auf und wieder zurück. Ich konnte die Anspannung kaum noch ertragen und kaute nervös auf meiner Unterlippe. Ein Blick auf die Wanduhr verriet mir, dass ich noch eine halbe Stunde Unterricht auszusitzen hatte. Wie viele fachliche Fragen konnten meiner Lehrerin in dieser Zeit wohl noch einfallen? „Du hast geraten“, sagte sie schlicht und der Knoten in meiner Brust zog sich enger zusammen. Ich schwieg und senkte den Kopf, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Tsunade interpretierte die Geste goldrichtig. „Aber du hast logisch gedacht“, führte sie fort, „denn die Formel ist korrekt.“ „Bitte?“, tat ich meine eigene Verwunderung kund und versäumte so die Chance, mich doch noch aus der Misere zu befreien. Nun hatte sie mich endgültig ertappt. „Damit hast du wohl nicht gerechnet?“, lachte sie und mir wurde leichter ums Herz, als ich hörte, dass sie nicht ernst wurde, „Dein schlechtes Gewissen stand dir ins Gesicht geschrieben und du warst den ganzen Vormittag unkonzentriert. Sakura, was ist los mit dir? Du bist sonst so eine vorbildliche Schülerin.“ Ich hatte geahnt, dass ihr meine Verfassung nicht entgehen würde, aber ich war nicht bereit, ihr zu erzählen, was mich bedrückte. „Es ist nichts, Meisterin“, murmelte ich und merkte selbst, dass ich nicht überzeugend klang. Tsunade musterte mich besorgt und erinnerte dabei ganz an meine Mutter, war im Nachfragen aber scheinbar nicht halb so hartnäckig wie diese. „Nun gut“, gab sie sich rasch zufrieden, „wir beenden den Unterricht heute früher und dafür erwarte ich von dir, dass du fleißiger lernst und die komplette Lektion morgen sitzt.“ Ich nickte eifrig und begann, meine Bücher und Schriftrollen zusammen zu suchen. Seit Stunden hatte ich darauf gebrannt, diesen Raum verlassen zu dürfen, obwohl ich mich normalerweise auf Tsunades Lehren freute, jede von ihnen begierig aufsog und es kaum erwarten konnte, mehr Wissen zu erlangen. Doch heute war einfach nicht mein Tag und die Hokage schien es mir nachzusehen. Sie kehrte mir den Rücken zu, ging an ihren Schreibtisch und sortierte oberflächlich die Unterlagen, die Shizune vor einiger Zeit gebracht hatte. Mir kam es vor, als würde sie erwarten, dass ich sie ansprach, nur hatte ich nicht das kleinste Bedürfnis zu reden und stand bloß bewegungslos da, bis sie mir sagte, ich könne jetzt gehen. Ich verabschiedete mich, wie es sich gehörte, mit einer leichten Verbeugung und verließ – eiliger als gewollt – Arbeitszimmer und anschließend Gebäude. Deshalb hatte ich den Reißverschluss meines Mantels noch nicht richtig hochgezogen, als ich durch den Haupteingang ins Freie trat. Ich rückte meine Mütze zurecht, zog den Schal enger um meinen Hals, raffte die Schultern und stapfte los. Dabei versanken meine Stiefel einige Zentimeter im Neuschnee, wo die Wege des Dorfes noch nicht frei geräumt und die weißen Berge zur Seite geschafft worden waren. Der Winter hatte über Nacht Einzug gehalten und Konoha unter einer dichten Puderschicht begraben. Meine Bitte zum Fest musste jemand erhört haben. Bis vorhin hatte es unaufhörlich geschneit und nun erstreckten sich vor mir Landschaft und Himmel in farblichem Einklang; wirkten wie das gräulich-weiße Spiegelbild des jeweils anderen. Mir fielen verschiedene Spuren von Schuhsohlen, Reifenabdrücken und Tierpfoten am Boden auf und ich machte mir einen Spaß daraus, manche von ihnen nach zu treten, solange sie auf meinem Heimweg lagen. Einige Häuser hatten bunte Lichterketten und Weihnachtssterne in den Fenstern hängen und in den Gärten spielten Kinder, in viele Schichten Kleidung eingepackt und mit hochroten Gesichtern, zwischen geschmückten Tannen. Der Duft von frischem Gebäck stieg mir ebenso in die Nase wie die eisige Kälte, die bei jedem Atemzug ein Stechen in der Lunge verursachte. Ich hatte meine Handschuhe vergessen und wärmte mir die Finger in den Manteltaschen. Das brachte weniger als erwartet und ich war froh, als endlich mein Elternhaus in Sicht kam. Überraschenderweise passte mich meine Mutter schon im Flur ab. „Du hast Besuch“, sagte sie, während ich mich aus Mantel und Schuhen schälte, „oben in deinem Zimmer.“ „Wer ist es?“, fragte ich beiläufig und hing meinen Schal an einen freien Haken. „Deine beste Freundin“, bekam ich zur Antwort und bemerkte in ihrer Stimme die Unsicherheit, ob dies eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Zugegeben, ich wusste es auch nicht. Die Heizungsluft im Haus wirkte im Kontrast zu draußen unerwartet stickig auf mich, sodass ich meinte, nicht mehr atmen zu können. Mit einem mulmigen Gefühl und ohne ein weiteres Wort ließ ich meine Mutter stehen, erklomm die Treppe und hielt einen Moment am Absatz inne, bevor ich mich zögernd der Zimmertür näherte. Ino saß am Fußende meines Bettes; der Seite, auf der sie immer saß, wenn sie bei mir war. Ihre langen, blonden Haare hatte der Wind, durch den sie hergekommen war, wild durcheinander gewirbelt und sie strähnig und zerzaust an ihr herab hängen lassen. Glänzende blaue Augen stachen aus ihrem fleckigen Gesicht hervor und waren gerötet und verquollen. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass Ino geweint haben musste und bei dem Anblick, den sie mir bot, wäre ich vermutlich in jeder anderen Situation tröstend auf sie zugegangen. Doch ich riss mich mit Mühe zusammen und blieb distanziert; fragte mich, ob ich der Grund für ihre Tränen war und ob sie das Verhalten bereute, das sie mir gegenüber an den Tag gelegt hatte. Einerseits hoffte ich das und andererseits auch nicht, denn wenn sie sich sofort für alles entschuldigte, würde ich ihr nicht mehr böse sein können. Ich hatte mir fest vorgenommen, sie spüren zu lassen, wie es mir ging. Um nicht schwach zu werden, setzte ich mich nicht zu ihr, sondern blieb unschlüssig im Raum stehen. „Ich brauche deine Hilfe“, kam Ino ohne Umschweife zur Sache und schaute mich flehend an, „Ich hab Ärger zuhause.“ Mein Mund war plötzlich sehr trocken und mehr als ein kühles: „Ach ja?“ schien ich nicht hinaus zu bekommen. Weder mein Unterton noch mein Benehmen weckte Inos Misstrauen. Ihre Aussage und die Bitte, die dahinter stand, waren eindeutig, auch ohne sie richtig auszuformulieren. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie bei mir übernachten wollte, weil sie bis zum nächsten Morgen Abstand zu ihren Eltern brauchte. Bisher hatte ich ihr diesen Gefallen immer getan und sie gewähren lassen, doch diesmal hatte ich es satt, dass sie nur zu mir kam, wenn sie mich gerade brauchte. Zum Ausnutzen konnte sie sich jemand anderen suchen! Wie naiv war ich, auch noch Reue von ihr erwartet zu haben? Ich ärgerte mich über mich selbst und reagierte heftiger als geplant. „Warum schläfst du nicht bei Shikamaru?“, keifte ich mit bebender Stimme und die Botschaft hinter der deutlichen Ablehnung schien nun auch Ino zu erreichen. „Er ist nicht im Dorf“, entgegnete sie in ebenso scharfem Ton, „Außerdem warst du es ja, die erst neulich gesagt hat, ich würde zu sehr an ihm kleben.“ Damit hatte sie Recht, das konnte ich nicht bestreiten. Shikamaru war schon ein halbes Jahr mit Ino zusammen und trotzdem hatte ich mich bisher nicht vollkommen an diese Beziehung gewöhnen können. Zu Beginn war sogar eine gewisse Abneigung gegen ihn da gewesen und ich hatte mit meiner Eifersucht kämpfen müssen, um mir klar zu machen, dass er mir Ino nicht wegnehmen wollte und es auch gar nicht konnte. Mittlerweile verstand ich, dass man seiner besten Freundin ihr Glück gönnte, zumal Shikamaru vielleicht einer der Gründe, aber bei weitem nicht der einzige war, warum wir uns nicht mehr so häufig sahen. Ino und ich waren unterschiedliche Wege gegangen mit unterschiedlichen Freunden, Missionen und Ausbildungen, die uns Zeit raubten. Dennoch hatte ich immer die Möglichkeit gesehen, unsere Vergangenheit zu erhalten und mich wie früher mit ihr zu treffen. Viel zu oft war dieses Interesse nur von mir ausgegangen… „Schon, aber ich habe nie behauptet, sein Lückenbüßer sein zu wollen“, verteidigte ich mich, „Außerdem kannst du nicht hier bleiben. Ich muss noch viel lernen.“ „Ich störe dich nicht, versprochen!“ Unwillig verschränkte ich die Arme vor der Brust und wandte mich ab; spürte das Blut in meinen Ohren pulsieren, als wäre ich einen Marathon gerannt, und versuchte mich krampfhaft unter Kontrolle zu halten. „Es geht nun mal nicht.“ Ino blieb an mir dran und ich hatte damit gerechnet, denn ich kannte ihre penetrante Art nicht aufzugeben, wenn sie etwas erreichen wollte. „Was ist denn heute los mit dir? Bitte, lass mich nicht hängen! Ich dachte, wir sind befreundet.“ Auf einen solchen Satz hatte ich nur gelauert. Blitzschnell wirbelte ich wieder zu ihr herum und meine Wut drohte überzukochen. „Ja, das dachte ich auch mal!“, blaffte ich, „Was war mit gestern?“ „Gestern?“ „Wir waren verabredet, erinnerst du dich? Wir wollten mal wieder was zusammen unternehmen; die letzten Weihnachtsgeschenke kaufen! Ich habe zwei Stunden in der Kälte gewartet und dann bei dir zuhause nachgefragt – umsonst!“ Ino blickte mich erschrocken an. „Das hab ich ganz vergessen“, gab sie kleinlaut zu. „Vergessen? So wichtig bin ich dir, ja?“ „Sakura…“ „Weißt du, es ist ja nicht so, dass du mir über alles und jedes Rechenschaft ablegen müsstest. Das würde ich nie verlangen! Aber ist es denn wirklich so schwer, an mich zu denken und mir abzusagen? Oder mal von allein auf die Idee zu kommen, mir bescheid zu sagen, dass es dich noch gibt? Wenigstens einmal in der Woche?“ Die Flut meiner Worte verschlug Ino die Sprache und als sie im nächsten Augenblick doch zum Sprechen ansetzte, fuhr ich ihr dazwischen. „Du machst nie Vorschläge, wenn es um unsere Treffen geht! Langsam glaube ich, du hast überhaupt keine Lust mehr, mich zu sehen!“, schrie ich und all der Zorn, der sich die ganzen Wochen über angestaut hatte, schien sich mit einem Mal zu entladen. „Glaubst du das wirklich?“, fragte Ino so ruhig, dass es unheimlich wirkte. „Ja, genau das!“, bestätigte ich aufgebracht, „Ich glaube, unsere Freundschaft ist dir einen Dreck wert! Wenn du Probleme hast, kommst du zu mir, aber für mich hast du keine Zeit! Alles dreht sich immer bloß um dich! Dein Egoismus kotzt mich an!“ Ino stand vom Bett auf und ich realisierte, dass ich ihren wunden Punkt getroffen hatte. „Ich muss mir das nicht länger anhören“, zischte sie, „Deine Kränkungen und Vorwürfe kannst du dir sonst-wohin stecken! Überleg erstmal, ob die auch in eine Freundschaft gehören!“ Mit wehendem Haar stürmte sie an mir vorbei, aus dem Zimmer und knallte die Tür mit solcher Gewalt hinter sich zu, dass diese fast aus den Angeln sprang. „Ja, geh nur! Hau ab, wir sind sowieso fertig miteinander!“, rief ich Ino nach und hörte sie die Treppe hinabpoltern. Dann wurde es still um mich und ich stand zitternd und weinend auf der Stelle; unfähig mich zu bewegen. Sollte Ino künftig tun, was sie wollte und bleiben, wo sie war. Sich aufzuregen lohnte nicht und auf eine Freundin wie sie, konnte ich gut und gerne verzichten. Wenn sie zu verbohrt war, um zu verstehen, dass eine Freundschaft auf Gegenseitigkeit und nicht auf Einseitigkeit beruhte, musste sie sich eben einen anderen Dummen suchen. Ich hatte lange genug alles hinunter geschluckt und meine Auseinandersetzung mit ihr kam mir vor wie ein Befreiungsschlag, der so gut tat, als wäre eine riesige Last von meinen Schultern gefallen. Trotzdem fühlte ich mich schlecht; so schlecht, wie bisher selten in meinem Leben. Das letzte Mal, dass Ino und ich uns in dem Ausmaß gestritten hatten, lag Jahre zurück. Damals waren wir Rivalinnen gewesen; hatten um das Herz desselben Jungen gekämpft und darum, wer von uns beiden in den Künsten der Ninja die Bessere war, um der anderen in nichts nachzustehen. Diese Tage waren vorüber, seit Sasuke weder Ino noch mich gewählt, das Dorf verlassen und somit die Mauer aufgelöst hatte, die vielleicht auf Ewig zwischen uns gestanden hätte. Mit Shikamarus Eintritt in Inos Leben, war der Name unseres früheren Schwarms nie wieder gefallen, denn keine wollte alte Wunden aufreißen. Obwohl wir uns über die vergangenen Konflikte nicht richtig ausgesprochen hatten, konnten wir uns irgendwie zusammenraufen und begannen unmerklich, viele Stunden und Tage miteinander zu verbringen und zu reden. Wir verstanden und vertrauten einander und waren für den anderen da. Ich stand immer noch wie festgewachsen an einem Fleck und spürte den Groll gegen Ino verebben; sah den Schnee gemächlich am Fenster vorbei fallen und hörte den Wind an Glas und Rahmen rütteln. Das Ticken des Weckers passte zum Takt meines Herzens. Schwerfällig setzte ich mich in Bewegung und ließ mich auf der Bettkante nieder. Meine Aufmerksamkeit wurde zu dem Medizinbuch auf meinem Nachtschrank gelenkt und ich nahm es hoch, klappte es zu und wog den schweren Wälzer in den Händen. Lernen hatte keinen Sinn, ich verstand nicht mal den Titel auf dem Einband. So sehr ich auch versuchte, mir einzureden, nichts falsch gemacht zu haben, wurde ich doch das Gefühl nicht los, mich selbst zu belügen. Ich ließ das Buch in meinen Schoß fallen, kippte rücklings aufs Bett und zog die Beine nach. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht und den ganzen Tag – besser, den ganzen Winter – verschlafen, bis sich alles wieder von selbst in die richtigen Bahnen geschoben haben würde. Irgendwann käme Ino schon zu mir zurück, wenn ich nur so geduldig wartete wie gestern am Treffpunkt. Dann würde sie mir Recht geben, ihre Fehler überdenken und wir würden uns wieder versöhnen. Ich durfte einfach nur nicht die erste sein, die den Streit nicht länger aushielt. Aber reichte das auch, damit alles war wie früher? Und was tat ich, wenn Ino gar nicht kam; wenn ich ihr nicht mehr wichtig war? Hatte ich sie durch meine Worte womöglich verloren? War ich zu weit gegangen? Ohne jegliches Zeitgefühl lag ich regungslos da und starrte gegen die Zimmerdecke; beobachtete die Dunkelheit in den Raum kriechen und die Wände schwarz färben. Aus dem unteren Stockwerk nahm ich die gedämpften, unverständlichen Stimmen meiner Eltern wahr und lauschte dem Glucksen und Surren der Heizung. Hätte ich Ino von Anfang an vernünftig gesagt, was mich störte und nicht gleich geschrieen, hätte sie dann anders reagiert und etwas geändert? Wäre sie dann noch hier und würde die Sache mit mir klären? War ich wirklich so wenig erwachsen geworden, dass ich mich benehmen musste wie in der kindischen Feindschaft, die einst zwischen Ino und mir herrschte? Vielleicht hatte ich mehr kaputt gemacht als sie. Ich verfluchte mein voreiliges und unüberlegtes Temperament, da es niemals meine Absicht gewesen war, die vorige Diskussion soweit eskalieren zu lassen. Mein Entschluss stand fest: Es führte kein Weg daran vorbei, nochmals mit Ino zu sprechen. Ich setzte mich auf und hatte keine Ahnung, ob Minuten oder Stunden an mir vorbeigezogen waren. Das Lehrbuch rutschte mir von den Knien und fiel geräuschvoll zu Boden. Mir war es egal, ob Tsunade ihre Predigt morgen verschärfen würde, weil meine Leistung weiterhin nachließ und ich ihre Erwartungen nicht erfüllte. Unter Umständen war das der Preis, den ich für den Erhalt einer Freundschaft zu zahlen hatte. Der Wind war schneidend kalt, als ich wenig später in dicker Winterbekleidung aus der Haustür trat. Starker Schneefall trübte die Sicht und ich legte meinen Schal über Mund und Nase, um mich vor der Witterung zu schützen. Mit gesenktem Haupt schlug ich mir eine Schneise durch die zugeschneiten Straßen, auf denen nur sehr selten ein anderer Mensch an mir vorbei eilte. Der Weg zum Blumenladen, den Inos Familie betrieb und über dem deren Wohnung lag, war nicht weit und doch lang genug, damit abertausende Flocken, die an mir kleben blieben, das Rot meines Mantels überdecken konnten. Das Licht von überzogen kitschigen Weihnachtsdekorationen und Straßenlaternen reflektierte die weiße Umgebung und ließ sie trotz voranschreitender Dämmerung erstrahlen. Ich erkannte in der Ferne die schemenhaften Schriftzüge der Tafel, die am Geschäft der Floristen angebracht war und beschleunigte meine Schritte, um in den überdachten Eingang an der Hinterseite des Hauses zu gelangen. Nach dem Klingeln dauerte es nur ein paar Sekunden, bis mir Inos Vater die Tür öffnete. Wir begrüßten uns höflich und er wirkte etwas überrascht, mich zu sehen. „Du möchtest sicher zu Ino“, riet er und lächelte so sorglos, dass ich nie auf einen Konflikt zwischen ihm und seiner Tochter getippt hätte, wüsste ich es nicht bereits besser, „Aber du musst leider warten, denn sie ist noch nicht zurück. Ich hab gedacht, sie wäre bei dir.“ Er bat mich mit einer freundlichen Geste einzutreten, doch ich lehnte dankend ab und tat so, als habe mein Anliegen auch bis morgen Zeit. Natürlich wussten wir beide, dass Ino diese Nacht nicht heimkommen würde und jemand anderen gefunden haben musste, bei dem sie bleiben konnte. Die langjährige Erfahrung mit diesem Mädchen hatte uns das gelehrt. Ich wollte ein Gespräch mit ihr aber nicht auf die lange Bank schieben und die Angelegenheit möglichst schnell aus der Welt schaffen. Deshalb wünschte ich ihrem Vater einen schönen Abend und marschierte weiter durch die unberührte Schneewüste, in die sich Konoha verwandelt hatte. Meine Suche führte mich zum Anwesen des Akimichi-Clans, wo Inos früheres Teammitglied Choji wohnte. Schon ein Blick von außen genügte, um an den verdunkelten Fenstern zu erkennen, dass ich kein Glück haben würde. Als ich dennoch die Klingel betätigte, rührte sich wie erwartet gar nichts. Wenn Ino also weder zuhause noch bei mir oder Choji war und auch bei Shikamaru nicht sein konnte, hatte ich einen Grund mir Sorgen zu machen. Mir fiel niemand sonst ein, zu dem sie in solch einem Fall gehen würde. Ich versuchte die aufsteigende Panik zu verdrängen und stattdessen angestrengt zu überlegen, wo meine beste Freundin sein konnte; wohin ich gehen würde, um allein zu sein. Mir kamen so einige Plätze in den Sinn und ich machte mich schwermütig an die Arbeit, sie einen nach dem anderen abzuklappern. Es dauerte nicht besonders lange, bis meine Kleidung mir ihren Dienst zu versagen schien, meine Ohren und Füße taub wurden und ich glaubte, der Schnee würde mir bis auf die Haut dringen. Je länger ich draußen herumlief, umso größer wurde mein Wunsch, nach Hause umzukehren und ins Warme zu kommen. Ich war kurz davor aufzugeben, als ich eine Silhouette zwischen den Bäumen am Rande des Weges wahrnahm und stockte. Auf einer Parkbank, einige Meter vor der schimmernden Eisfläche eines zugefrorenen Sees, erkannte ich Inos blaue Mütze. Mit leise knirschenden Schritten näherte ich mich der starren Gestalt des Mädchens. Sie saß mit dem Rücken zu mir und erweckte durch den Schnee, der sich auf ihren Schultern und ihrem Kopf gesammelt hatte, den Eindruck, als habe sie sich eine Ewigkeit nicht bewegt und wäre eins mit der Landschaft um sich herum geworden. Einen Moment betrachtete ich die Szenerie wie ein gemaltes Bild. Nun wusste ich es wieder. Nun konnte ich mich erinnern, was es war, das mich mit ihr verband; erinnern, weshalb mich unsere derzeitige Krise so mitnahm und weshalb ich unsere Freundschaft nicht aufgeben konnte, wie meine Mutter es vorgeschlagen hatte. Nie wieder würde ich einen Menschen wie Ino finden, denn sie war etwas Besonderes und durch niemanden zu ersetzen. Keiner außer ihr kannte all meine Eigenschaften, Macken, Wünsche, Träume und Ziele. Keiner verstand meine Gefühle und deutete mein Schweigen so gut wie sie. Wirklich keiner hatte mir in schweren Zeiten so bedingungslos beigestanden. Da waren das viele gemeinsame Reden, Lachen und Herumalbern und die vielen Seiten an ihr, die ich kannte wie kein anderer, nicht mochte, aber trotzdem akzeptierte. Da waren so unglaublich tolle Momente, die wir zusammen erlebt und geteilt hatten, dass sie sehr viel mehr wogen als eine verpasste Verabredung. Wir hatten füreinander eingestanden, einander in Schutz genommen und kein schlechtes Wort auf den anderen kommen lassen. Dass ich unseren Bund unter keinen Umständen brechen konnte, begriff ich vermutlich jetzt erst richtig. Der Wind wirbelte die feinen Flocken auf, als ich meine Hand auf Inos Schulter sinken ließ und sacht den Schnee fortwischte. „Du wirst dich erkälten“, murmelte ich und Ino schnellte erschrocken hoch, bedachte mich mit einem so ungläubigen Blick, als wären die Heiligen höchstpersönlich vom Himmel gestiegen und fiel mir in der nächsten Sekunde um den Hals. Ich taumelte zurück, erwiderte aber ihre unerwartete Umarmung und eine ganze Weile standen wir versteinert da und ließen uns einschneien. Ihre Jacke war nass und glitschig, ihr Körper ein haltlos zitterndes Bündel und ihre Wangen so kalt wie meine eigenen. Ich spürte heiße Tränen auf ihnen und wusste nicht, ob sie von ihr oder mir kamen. „Es tut mir so leid“, flüsterte Ino schließlich mit erstickter Stimme, „Ich hab das nicht gewollt! Ich hab nicht gemerkt, dass-“ „Ich weiß doch“, unterbrach ich sie und Stille trat ein, weil ich nicht wusste, wie ich mich weiter ausdrücken sollte. „Wenn einer von uns egoistisch war, bin ich es gewesen“, setzte ich fort und bekam mein Eingeständnis ungewöhnlich schwer über die Lippen, „Ich habe dich verletzt, weil ich nur an meine Gefühle gedacht habe. Ich bin die, die keine Ahnung hat, was eine Freundschaft ausmacht.“ Ino schluchzte und drückte mich fester an sich. Ich wünschte mir, sie hätte widersprochen, doch vermutlich war dem einfach nichts entgegenzusetzen. „Wenn du noch willst“, formulierte ich vorsichtig, „dann komm heute Nacht mit zu mir.“ Ich spürte ihr Nicken an meiner Schulter und die Erleichterung durch meinen Körper strömen. Wir lösten die Umarmung und sahen einander an, während unser Atem sichtbar in der klaren Luft hing. „Verzeih“, wisperte Ino erneut gebrochen, „Wir werden das ändern.“ Ich tastete nach ihrer Hand und ergriff sie. „Ist vergessen“, versicherte ich leise, „Mein Leben wäre ja so langweilig ohne dich.“ Ich führte sie weg von der Bank und dem See, zum leeren Fußweg hinter den kahlen Bäumen. Gemeinsam machten wir uns auf den langen Nachhauseweg und die Vorfreude auf einen aufwärmenden Tee kam mir größer vor als sonst, weil ich wusste, dass ich ihn diesmal nicht alleine trinken würde. Wir sprachen kein einziges Wort, doch das leichte Lächeln auf Inos tränenverschmiertem Gesicht, war mir Aussage genug. Ich schämte mich, fast vergessen zu haben, wie schön es war, eine beste Freundin zu haben. Kapitel 6: [Frühling] So wie du bist (Abenteuer) ------------------------------------------------ Ihr großer Bruder war alles, was sie sich je erträumte. Er war mutig, er war selbstbewusst und vor allem war er kein bisschen kontaktscheu. Himawari bewunderte und beneidete ihn zugleich. Wenn Boruto wütend war, dann schrie er, wenn er traurig war, weinte er, wenn er glücklich war, lachte er und wenn er Aufmerksamkeit brauchte, forderte er sie ein – zur Not mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Es war nicht immer leicht, sich mit einem solch einnehmenden Charakter wie seinem nur ein Elternpaar zu teilen, denn Himawari war oft gezwungen zurückzustecken. Doch wenn die Schatten in ihrem Zimmer nachts zu dunkel wurden und sie leise und heimlich zu Boruto ins Bett kroch, sich an ihn schmiegte und in die Wärme seiner Arme gezogen wurde, war sie wieder unglaublich froh, einen großen Bruder zu haben. „Gib ihn her!“ „Ja ja, gleich.“ „Gib ihn sofort her!“ „Kleinen Moment, nur noch die zwei Seiten hier.“ „Es ist meiner! GIB IHN JETZT HER!“ Himawaris Wangen glühten zornesrot. Mit einem Hechtsprung warf sie sich auf Boruto, der bäuchlings auf dem Teppich in ihrem Zimmer lag, und versuchte ihm den Comic aus den Händen zu reißen. Doch blitzschnell war ihr Bruder auf den Beinen und hielt das Heft hoch über seinen Kopf. „Stell dich nicht so an!“, rief er. „Du kannst das ja eh noch nicht lesen!“ „MAAAMAAA!“ Mit Kochlöffel und Küchenschürze erschien Hinata im Türrahmen und blickte erwartungsvoll von einem Kind zum anderen. „Was ist denn los?“, fragte sie sanft. „Boruto hat meinen Comic!“, antwortete Himawari wie aus der Pistole geschossen. „Ich wollte ihn ja nicht behalten, nur mal reingucken“, verteidigte sich Boruto. „Da hast du ihn wieder!“ Und er pfefferte seiner Schwester das Heft ungestüm vor die Brust. „Boruto!“ Hinatas Stimme klang empört angesichts dieser Handlung. „Hat Papa dir nicht genau den gleichen Comic geschenkt? Warum liest du nicht deinen eigenen?“ „Den hab ich verliehen.“ „Dann musst du solange warten, bis du ihn zurückbekommst.“ Sie musterte ihn mit dieser Kombination aus Empathie und Strenge, wie es nur eine Mutter vermochte. „Und jetzt wascht euch die Hände und helft mir, den Tisch zu decken, bevor es noch mehr Zankerei gibt. Das Mittagessen ist gleich fertig.“ Kaum hatte sie ihren beiden Sprösslingen den Rücken zugewandt, streckte Himawari Boruto die Zunge entgegen. „Deswegen kannst du trotzdem nicht lesen“, zischte dieser daraufhin wütend und folgte Hinata in die Küche. Himawari hob das Comicheft vom Boden auf, strich es glatt und legte es sorgsam auf ihren Nachttisch. Zwei Superhelden in knallgelben Outfits lieferten sich auf dem Titelbild eine erbitterte Schlacht und wenn Himawari die Seiten aufklappte, konnte sie erkennen, wie eine Frau aus einem brennenden Haus gerettet wurde und dann ein schwarzgekleideter Bösewicht auftauchte. Das einzige, was ihr nur überhaupt nichts sagte, waren die vielen verschiedenen Kringel und Schnörkel in den Sprechblasen. Da half alles nichts – sie würde ihre Eltern bitten müssen, etwas daraus vorzulesen. „Hima, komm her! Das Essen wird kalt!“ „Schon unterwegs!“ Laut polternd jagte Himawari die Treppe hinunter, dem köstlichen Duft nach Reis und Fisch hinterher, und kam mit rutschenden Socken vor dem Küchentisch zum Stehen. Es war der leere Stuhl ihr gegenüber, der in den letzten Tagen schon viel zu oft leer geblieben war, welcher ihr als allererstes ins Auge fiel. „Wo ist Papa?“, fragte sie und war schon im Begriff sich zu setzen, als Hinata sie mit einem Wink zum Waschbecken daran erinnerte, dass sie etwas vergessen hatte. „Er ist auf einer wichtigen Mission und kommt erst morgen Abend heim.“ „Das ist ja mal was Neues“, murrte Boruto leise und lud sich den Teller voll, wobei er das Gemüse gekonnt außer Acht ließ. „Euer Vater macht das nicht, um euch zu ärgern, Boruto“, versuchte Hinata ihn zu beschwichtigen. „Er hat dem Dorf gegenüber Verpflichtungen und wenn du ein bisschen älter bist, wirst du das auch verstehen.“ Dann, noch bevor er es verhindern konnte, landete eine große Kelle Gemüse auf seinem Reis. Himawari nahm ihre Essstäbchen und begann mit der Mahlzeit. Es schmeckte so hervorragend wie immer, doch sie war sich sicher, dass es noch besser geschmeckt hätte, wäre ihr Vater jetzt bei ihnen gewesen. Sie akzeptierte den Grund für seine Abwesenheit – immerhin war er der Anwärter auf den nächsten Hokagetitel und das galt als ganz große Sache – aber das hieß nicht, dass sie ihn nicht trotzdem vermisste. Hinata schien das betrübte Gesicht ihrer Tochter zu bemerken, denn sie fragte so aufmunternd wie irgend möglich: „Hima, wie hat dir denn deine erste Woche an der Akademie gefallen?“ Nachdenklich schluckte Himawari ihren Bissen hinunter. „Es hat Spaß gemacht“, sagte sie. „Die Lehrer sind nett und wir haben noch gar keine Hausaufgaben bekommen.“ „Das ist ja schön. Sind deine Klassenkameraden auch nett? Hast du schon Freunde gefunden?“ Ein wenig beschämt senkte Himawari den Blick auf ihren Teller. „Eh, nein. Also, noch nicht richtig…“ „Wird sie auch nicht, wenn sie nicht lernt, ihre Comics zu teilen“, mischte sich Boruto ins Gespräch ein und erntete von Himawari einen saftigen Tritt unter dem Tisch. Während Mutter und Tochter noch mit ihrer ersten Portion beschäftigt waren, hatte Boruto längst die zweite vertilgt und rutschte nun ungeduldig auf seinem Platz hin und her. „Darf ich bitte aufstehen?“, fragte er so zuckersüß, wie er es nur tat, wenn er etwas haben wollte. „Ich bin mit Shikadai und Inojin auf dem Spielplatz verabredet. Sie warten sicher schon auf mich.“ Hinata zögerte einen Augenblick. „Aber nur ausnahmsweise“, sagte sie, „und spätestens um sechs bist du wieder hier.“ „Ja, weiß ich.“ Boruto hatte sich bei diesen Worten so rasch erhoben, dass sein Stuhl hintenüber gefallen war. Er stürmte in den Flur, nahm seine Jacke vom Haken und hatte nicht mal die Zeit, sie richtig anzuziehen, da war er schon halb aus dem Haus. „Wann bist du wieder hier?“, rief Hinata ihm nach und sie hörten nur noch ein fernes „um sechs“, bevor die Tür donnernd ins Schloss fiel. Auch Himawari legte jetzt ihre Stäbchen zur Seite, obwohl sie bisher kaum etwas gegessen hatte. „Bist du etwa schon satt?“, wunderte Hinata sich und erhielt zur Antwort bloß ein stummes Nicken. Sie räumten gemeinsam den Tisch ab und als hätte Hinata die Gedanken des Mädchens gelesen, fuhr sie fort: „Nimm dir das nicht so sehr zu Herzen. Manche Menschen brauchen eben etwas länger, um miteinander Freundschaft zu schließen.“ Himawari nickte abermals und nahm die sauberen Schüsseln vom Waschbrett, um sie abzutrocknen. Die Kehle schnürte sich ihr zu, wenn sie daran dachte, dass Boruto schon nach seinem ersten Tag an der Akademie bekannt gewesen war wie ein bunter Hund, während sie bei sich selbst nicht mal wirklich sicher war, ob überhaupt alle in der Klasse sie bemerkt hatten. Warum fiel es ihr so schwer, im Unterricht einen Ton herauszubringen, wo es Zuhause doch gar kein Problem war? „Magst du mir einen Gefallen tun, Hima?“ Hinata wischte sich die nassen Hände in ihrer Schürze ab, öffnete eine Schublade und holte eine Brieftasche hervor, aus der sie ein wenig Kleingeld abzählte. „Ich brauche für die Gräber noch einen schönen Strauß Blumen aus dem Laden der Yamanakas“, sagte sie. „Nimm, welche auch immer dir gefallen. Ich verlass mich da ganz auf deinen Geschmack.“ Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie alleine losschickte, um eine Besorgung zu erledigen und es erfüllte Himawari ein bisschen mit Stolz, dieses Vertrauen entgegengebracht zu bekommen. Vielleicht kam das ja daher, weil sie jetzt ein Schulkind war? „Ich suche die allerallerhübschesten Blumen aus!“, versprach sie, ließ das Geld in ihre Hosentasche gleiten und machte sich rasch auf den Weg nach draußen. Die gleißenden Sonnenstrahlen, die Himawari auf der Straße empfingen, wirkten ganz so, als wollten sie schon einen kleinen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Sommer geben, wenngleich der Wind immer noch winterlich kalt war. Hunderte Kirschbäume reckten ihre blütenschweren Zweige in den azurblauen Himmel und hüllten Konohagakure in zarte Rosafarben. Doch es war nicht ihr Anblick, sondern vielmehr der schwere süßliche Duft nach Frühling, der Himawari für ein paar herrliche Minuten all ihren Kummer vergessen ließ. Verträumt bog sie in die Einkaufsstraße ein, in der sich der Blumenladen der Yamanakas befand und jetzt, um die Mittagszeit, herrschte dort recht wenig Betrieb. Da rief eine fremde Stimme plötzlich ihren Namen. „Himawari! Hey, du bist doch Himawari, oder?“ Überrascht sah die Angesprochene sich um und entdeckte zwei Mädchen, die sie freundlich zu sich heranwinkten. Himawari konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wie die beiden hießen, obwohl sie alle in dieselbe Klasse gingen und sogar nur einen Tisch voneinander entfernt saßen. Umso mehr beeindruckte es sie, dass ihr eigener Name nicht in Vergessenheit geraten war und entgegen jeder Unsicherheit, die ihr Herz mit eisernem Griff umklammert hielt, kam sie der Aufforderung der Mädchen nach. „Ähm, j-ja, genau, Himawari. Das ist richtig“, stammelte sie schüchtern. „Und ihr seid…“ „Ich heiße Risa, das ist Mai“, stellte die eine sich umgehend vor. Sie hatte rote Locken, freche blaue Augen und viele Sommersprossen im Gesicht. Himawari war sie im Unterricht durch ihr vorlautes Mundwerk aufgefallen, das schon so manchen Lehrer in die Verzweiflung getrieben hatte. Im Gegensatz zu ihr wirkte ihre Freundin fast unscheinbar, mit kränklich blasser Haut und langen schwarzen Haaren. „Bist du zum Einkaufen hier?“, wollte Risa wissen und musterte Himawari voll unverhohlener Neugier. „Ja, meine Mutter hat mich geschickt. Ich soll für sie Blumen holen. Was- Was macht ihr so?“ „Ach, nichts besonderes“, sagte Mai. „Wir schlagen ein bisschen die Zeit tot.“ „Bis es los geht“, ergänzte Risa, hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen und wartete gespannt auf Himawaris Reaktion, die natürlich nicht lange auf sich warten ließ. „Was soll losgehen?“, fragte sie und Risa ruckte mit dem Kopf in Mais Richtung. „Sie hat heute Geburtstag.“ „Echt?“ „Ja, ganz ehrlich.“ „Oh, na dann… herzlichen Glückwunsch.“ „Danke sehr“, grinste Mai. „Hast du nicht auch Lust zu meiner Feier zu kommen? Wir treffen uns in einer halben Stunde zum Picknick an der großen Eiche.“ In Himawaris Bauch schien vor Freude ein kleiner Luftballon anzuschwellen. „Das würde ich wirklich gern“, sagte sie. Außer von Boruto – der sie notgedrungen hatte erdulden müssen – war sie noch nie zuvor auf eine Geburtstagsparty eingeladen worden. „Gut, aber du musst mir ein Geschenk mitbringen“, forderte Mai und deutete hinter sich auf das Schaufenster eines Juweliers, in dem Halsketten, Ringe und Uhren aus Gold und Silber ausgestellt waren. „Diese Kette da wünsche ich mir.“ Himawari trat nah an die Glasscheibe heran und besah sich das edle Schmuckstück. Sie musste nicht rechnen können, um zu wissen, dass es sehr teuer war und mehr kostete als der Betrag, den sie bei sich trug oder den ihre Mutter ihr dafür zu geben bereit sein würde. Der Luftballon schrumpelte wieder in sich zusammen. „Das kann ich nicht kaufen“, sagte sie traurig. „Dann darfst du auch nicht zu meiner Feier kommen“, entgegnete Mai, verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Schnute. „Jetzt warte doch mal.“ Mitfühlend legte Risa eine Hand auf Himawaris Schulter. „Gib uns einfach, was du hast“, schlug sie vor. „Das wird schon reichen und wir teilen uns ein Geschenk für Mai.“ „Wäre das wirklich in Ordnung?“ Himawari machte große Augen und nestelte hastig an ihrer Hosentasche, um das Geld herauszuholen. „Klar, kein Problem. Wir sind schließlich Freundinnen“, versicherte Risa ihr, während sie die Münzen an sich nahm. Zum ersten Luftballon gesellte sich ein zweiter und füllte Himawaris ganzen Körper mit einem kribbelnden Glücksgefühl aus. „Du kannst schon mal zum Treffpunkt vorgehen“, sagte Mai. „Wir müssen von Zuhause noch den Kuchen holen und kommen gleich nach.“ Sie verabschiedeten sich von einander und – mehr hüpfend als rennend – machte Himawari kehrt, lief von der Einkaufspassage bis zum Fluss, dann entlang des Deiches und über die Brücke auf die andere Seite, wo ein mächtiger Eichenbaum seine knorrigen Wurzeln in das fließende Wasser steckte. Dieser Ort war allen Kindern wohl bekannt, denn es gab niemanden, der noch nicht versucht hatte, bis hoch in die Krone hinaufzuklettern, um für seinen Wagemut bejubelt zu werden. Himawari sank ins hohe Gras, lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm und fixierte das gegenüberliegende Ufer. Es fiel ihr schwer, still zu sitzen, so aufgeregt war sie. Wer wohl noch zur Feier eingeladen sein mochte? Was für Geschenke Mai bekommen und was für Spiele es geben würde? Ob sie sogar Konfetti schießen und Luftschlagen pusten durften? Und erst der Kuchen! Wie der wohl schmecken würde? Obwohl Himawari sich ganz sicher war, dass keinem eine bessere Geburtstagstorte gelingen konnte, als ihrer Mutter. Ihre Mutter! Die Blumen! Siedend heiß fiel Himawari wieder der Grund ein, weshalb sie überhaupt aus dem Haus gegangen war und das schlechte Gewissen brannte ihr im Magen wie zu scharf gewürzte Speisen. Hecktisch überlegte sie, ob sie es zum Geschäft der Yamanakas, nach Hause und hierher zurück schaffen konnte, bevor die Gäste eintrafen, da wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie ja gar kein Geld mehr besaß. Halb erhoben, ließ sie sich wieder auf den Boden sacken und versuchte trotz ihrer Verzweiflung einen klaren Gedanken zu fassen. Sicher würde ihre Mutter Verständnis zeigen und sich freuen, weil ihre Tochter endlich Freunde gefunden hatte, wenn sie ihr die Umstände nur richtig erklärte. Diese Vorstellung beruhigte Himawari ein wenig. Ach, und sollte sie am Ende doch ausgeschimpft werden – das hier war es schließlich alle Mal wert! Über eine Stunde verging, bis Himawari in den Sinn kam, dass sie den Treffpunkt womöglich missverstanden hatte. Gab es im Dorf etwa noch eine andere Eiche, die gemeint gewesen sein konnte? Oder hatte Mai gar einen ganz anderen Ort genannt? Das konnte eigentlich nicht sein, hatte sie es vorhin doch ganz deutlich gehört. Mit der zweiten Stunde des Wartens fragte Himawari sich, warum ihr niemand Bescheid gab, sollte die Feier verlegt oder abgesagt worden sein und als dann die dritte Stunde anbrach, war sie sich ziemlich sicher, dass keiner mehr kommen würde und vielleicht auch niemals kommen sollte. Enttäuscht blickte sie in den klaren Himmel, beobachtete einen Vogelschwarm, der auf einem nahegelegenen Hausdach rastete und bemerkte nicht, wie Boruto auf der anderen Seite des Flusses stehengeblieben war und über die Brücke auf sie zukam. „Hey, was starrst du Löcher in die Luft?“, raunzte er, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor seiner Schwester auf. Himawari antwortete nicht, sondern zuckte beinahe gleichgültig mit den Schultern, was Boruto zutiefst irritierte. Normalerweise sprang sie sofort auf seine Sticheleien an und ein wenig behutsamer fuhr er fort: „Du bist doch nicht etwa immer noch sauer auf mich wegen diesem blöden Comic? Das war doch nur-“ „Es geht nicht um den Comic“, unterbrach Himawari ihn leise. „Sondern?“ Sie mied seinen Blick und er ließ sich neben ihr auf der Erde nieder. „Was ist los?“, fragte er und mit einem Mal war Himawaris Mund so trocken, dass sie glaubte, kein einziges Wort mehr über die Lippen zu kriegen. Tränen verschleierten ihre Sicht und obwohl sie Boruto überhaupt nichts hatte erzählen wollen, sprudelte plötzlich die ganze Geschichte in einem Atemzug aus ihr heraus. Als sie beendet war, wirkte Borutos Gesicht finsterer, als Himawari es sich je hätte vorstellen können. „Du musst dir das Geld wiederholen!“, sagte er bestimmt. „Los komm, lass uns nach den beiden suchen!“ Er schnelle hoch, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, doch da hatte Himawari ihn schon am Ärmel gepackt und entschlossen zurückgehalten. „Nein, bitte nicht!“, flehte sie. „Hä? Warum nicht?“ In Borutos Stimme vermischte sich Wut mit Unverständnis. „Ich will keinen Ärger haben.“ „Du kriegst auch keinen Ärger. Wenn hier jemand ein Problem hat, dann sind das deine ach-so-guten Freundinnen.“ Mit einem Ruck riss er sich los. „Wenn du Angst hast, erledige ich das eben für dich.“ „Nicht!“ Himawari heftete sich an das Bein ihres Bruders und hinderte ihn somit am Gehen. „Das ist allein meine Sache, also hör auf, dich einzumischen!“ „Ich will dir doch nur helfen!“ „Ich will deine Hilfe ja gar nicht!“ Sie zog Boruto das Bein weg, sodass er unsanft auf dem Hintern landete, verschränkte die Arme vor seiner Brust und vergrub das Gesicht in seinem Nacken. „Bleib bitte hier!“, schluchzte sie erstickt. „Tu einfach so, als wüsstest du von nichts! Mach nichts! Sag nichts! Ganz besonders nicht zu Mama und Papa. Ich verspreche auch, dass mir sowas nie, nie wieder passieren wird.“ Boruto ballte die Hände zu Fäusten, zwang sich aber, still sitzen zu bleiben und abzuwarten, bis sich sein Zorn verflüchtigt und Himawari sich ausgeweint hatte. Mühsam schluckte er all die Dinge hinunter, die ihm noch auf der Zunge lagen und nach einer langen Pause des Schweigens sagte er schließlich nur: „Hima, mein Rücken wird ganz nass.“ „Tut mir leid“, nuschelte sie, ließ ihn los und wischte sich mit der Hand über die Augen. Er rutschte herum, damit er ihr gegenüber saß und kramte in seiner Jacke nach einem Taschentuch, welches sie dankbar entgegennahm. „Wenn ich Mama erzähle, ich hätte das Geld verloren, bittet sie mich garantiert nie wieder um etwas“, verriet Himawari ihre Befürchtung und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase, „und ohne Blumen kann ich mich Zuhause auch nicht mehr blicken lassen.“ „Darüber mach dir mal keine Sorgen“, tröstete Boruto sie. „Die Blumen musst du nicht kaufen, die pflücken wir einfach selber. Ich kenne da einen guten Platz in der Nähe des Haupttors, wo es eine gigantische Wiese gibt. Mama wird keinen Unterschied merken.“ „Davon hab ich ja noch nie gehört“, schniefte Himawari. „Nun – nein. Es ist auch eher außerhalb-“ „Aber wir dürfen nicht aus dem Dorf raus! Das weißt du doch!“ „Es ist nicht gefährlich! Mit Inojin und Shikadai war ich schon unzählige Male dort!“ „Papa hat es verboten!“ „Willst du die Blumen nun oder willst du sie nicht?“ Unschlüssig biss sich Himawari auf die Unterlippe. Dann siegte Verlockung über Vernunft. „Na schön“, sagte sie, klang jedoch nicht recht überzeugt. „Du wirst sehen, es ist nicht weit von hier“, beteuerte ihr Bruder. „Wir sind zurück, noch bevor jemandem auffällt, dass wir überhaupt weggewesen sind.“ „Und was machen wir mit den Wachen am Tor?“ „Ach die!“ Borutos Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. „An denen kommen wir erst gar nicht vorbei.“ Es war so einfach – Himawari hätte es niemals für möglich gehalten. Das Loch in der Mauer war hinter einem dichten Gestrüpp aus Büschen versteckt und gerade mal so groß, dass ein schlankes Kind hindurch schlüpfen konnte. Die Benutzung von, wie es schien, bereits mehreren Generationen hatte auf dem Boden eine Mulde geschaffen und die einst scharfen Kanten im Stein abgeschliffen. Boruto krabbelte voraus, um zu prüfen, ob die Luft rein war und ließ Himawari dann nachkommen. Mit klopfendem Herzen und leisen Schritten folgte sie ihm in den Wald und obwohl sie wusste, dass sie gerade etwas Unrechtes tat, begann ein kleiner, unbekannter Teil ihres Bewusstseins diesen Nervenkitzel zu genießen. So weit weg von Zuhause war sie zuvor noch nie gewesen. Gemeinsam mit Boruto lief sie durchs Unterholz, verjagte Hasen und Hirsche, die ihren Weg kreuzten und hätte am liebsten vor Begeisterung laut aufgelacht. Sie waren schon eine Weile unterwegs, als sie vor dem Ufer eben jenen Flusses zum Stehen kamen, den Himawari schon aus Konohagakure kannte. Nur war aus dem gemächlichen Plätschern, das innerhalb des Dorfes herrschte, draußen vor den Toren ein reißender Strom geworden. Das Geländer einer durch Witterung zerstörten Holzbrücke spannte ihre morschen Bögen über das wilde Gewässer und von dem Übertritt waren nur noch einzelne Streben vorhanden. Himawari fand nicht, dass dieses Konstrukt irgendeine Vertrauenswürdigkeit ausstrahlte, während Boruto wie selbstverständlich darauf zuging. „Bist du dir auch sicher, dass das hält?“, fragte Himawari skeptisch. „Wenn wir ein Stück weitergehen, finden wir vielleicht eine andere Möglichkeit, um rüber zu kommen.“ „Nicht nötig“, antwortete Boruto leichthin. „Das wäre ein Umweg. Die Blumenwiese liegt gleich hinter den Bäumen auf der anderen Seite. Ich bin schon ganz oft hier gewesen, du musst mir nur alles nachmachen.“ Mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen hangelte er sich am Geländer über die Brücke. Himawari mochte überhaupt nicht hinsehen. Das Holz unter seinen Füßen schien lauter zu knarzen als das Rauschen des Flusses und als hätte sie es vorausgeahnt, rutschte Boruto in der Hälfte der Strecke plötzlich ab. Einen grauenvollen Moment lang strauchelte er haltlos auf den Balken, drohte zu stürzen und fand nur ganz knapp wieder das Gleichgewicht. Sofort winkte er seiner Schwester zu, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung war, auch wenn das vermeintlich sorglose Lächeln nicht ganz über den Schreck hinwegtäuschen konnte. Himawari war jedenfalls nicht im Geringsten beruhigt. Sie spürte, wo sich ihre Fingernägel unbewusst in die Wangen gegraben hatten. Dann ging alles viel zu schnell. Ein unachtsames Auftreten – und die Brücke brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus bei einem kräftigen Windstoß. Begleitet von Himawaris Entsetzensschrei wurde Boruto unter Holz- und Wassermassen begraben und verschwand für ein paar Sekunden vollständig unter der Oberfläche. Dann tauchte sein blonder Schopf einige Meter flussabwärts wieder auf, nur um erneut von der Strömung hinab gedrückt zu werden. Wie ferngesteuert wandelte Himawari durch einen Nebel aus Panik. „Oh nein“, stöhnte sie. „Oh nein, oh nein, oh nein.“ Sie merkte, dass ihre Beine rannten und ihr Kopf den Befehl gab, etwas zu unternehmen, doch sie konnte weder einen konkreten Plan entwerfen, noch eine gezielte Handlung ausführen. Es war pures Glück, als Boruto schließlich die Zweige eines Strauchs zu fassen bekam und somit verhinderte, noch weiter fortgetrieben zu werden. Sein Hilferuf erstarb in einem Keuchen und Gurgeln und es bereitete ihm sichtlich Mühe, aus eigener Kraft wieder an Land zu kommen. Als hätte Himawari nie etwas anderes im Sinn gehabt, warf sie sich auf die Knie, krabbelte so nah wie möglich ans Wasser und streckte den Arm nach Boruto aus. „Nimm meine Hand!“, brüllte sie, doch es fehlte noch mindestens ein halber Meter, bis sie in seine Reichweite kam. Um sich länger zu machen, legte sie sich flach auf den Bauch und reckte sich so stark, dass ihre Muskeln begannen zu protestieren. Aber was immer sie tat, sie kam nicht an ihn heran. Wenn Boruto losließ und nach ihr greifen wollte, zerrte der Fluss an seinem Körper und zwang ihn in seine vorherige Position zurück. Mittlerweile fiel es ihm schwer, nach Luft zu schnappen und nicht selten war kaum mehr als seine Stirn zu sehen. Himawari fühlte, wie kalte Schauer ihren Rücken hinunterliefen und gerade, als die Situation nicht aussichtsloser hätte erscheinen können, lag auf einmal ein großer Schatten über ihr. Ein Arm, viel länger als ihr eigener, packte den geschwächten Boruto und zog ihn mit einem einzigen, heftigen Ruck ans Ufer. Atemlos wandte Himawari sich um und blickte in das bleiche, aber hellerzürnte Gesicht ihres Vaters. „Was zum Teufel habt ihr euch dabei bloß gedacht?!“, presste er mit bebender Stimme hervor, vermutlich ohne eine wirkliche Antwort zu erwarten. „Ist euch eigentlich klar, in welche Gefahr ihr euch gebracht habt?! Was macht ihr überhaupt hier draußen?“ Boruto, von oben bis unten vor Kälte schlotternd, richtete sich auf und schüttelte die Haare wie ein Hund. Er war kreideweiß, hielt die Augen gesenkt und bekam keinen Ton mehr über die Lippen, ebenso wie Himawari. „Hab ich euch beiden nicht schon tausend Mal gesagt, dass ihr das Dorf nicht verlassen sollt?!“, brachte sich Naruto nun endgültig in Rage. „Ich will mir gar nicht ausmalen, was gewesen wäre, hätte ich mich erst morgen auf den Heimweg gemacht. Was, wenn ich nicht zufällig hier vorbeigekommen wäre?“ Für den Hauch eines Wimpernschlags schauten die Kinder sich an und es war nicht zu beschreiben, welche Miene betretener wirkte. „Ich frage jetzt noch ein allerletztes Mal: Was treibt ihr hier?“ Himawari schrumpfte bei den ungewohnt harschen Worten in sich zusammen. Sie fixierte einen Käfer im Gras, der sich über Halme und Kleeblätter eilig aus dem Staub machte und verspürte den sehnlichsten Wunsch, es ihm gleichzutun. Die Wahrheit, die ihr Vater verlangte – eine Wahrheit, so eng mit Scham verknüpft – würde sie ihm niemals geben können. „Es ist meine Schuld.“ Fassungslos hob Himawari den Kopf und hätte sie sich nicht vergewissert, dass dieser Satz aus Borutos Mund gekommen war, hätte sie ihren Ohren wohl nicht getraut. „Ich war sauer, weil Hima mir ihren Comic nicht leihen wollte“, führte er weiter aus, „und hab ihr das Geld weggenommen, das sie von Mama zum Blumenkaufen bekommen hat. Hima wollte es sich zurückholen und hat mich hierher verfolgt. Ich wollte über die Brücke abhauen, aber sie ist eingestürzt und nun hat der Fluss das Geld weggespült. Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich wollte Hima nur ein bisschen ärgern. Es tut mir leid.“ Die Reue, die sich unter Borutos Lüge mischte, war echt, auch wenn es nicht so wirkte, als habe diese Geschichte Naruto restlos überzeugt. „Mir ist egal, wer mit dem Ganzen angefangen hat“, sagte er ein wenig milder. „Das hier war unglaublich dumm und ich möchte nie wieder solche Angst um euch haben.“ Vorerst schien das Thema damit für ihn beendet. Er stand auf, zog seine Jacke aus und legte sie seinem Sohn um die Schultern. Himawari fiel ein riesiger Stein vom Herzen und so viel Dankbarkeit, wie in diesem Moment, hatte sie für Boruto in ihrem ganzen Leben noch nicht empfunden. Die Sonne stand schon tief am rotgoldenen Himmel, als das Dreiergespann die Wälder des Feuerreichs endlich hinter sich ließ und durch das Haupttor nach Konohagakure zurückkehrte. Anspannung gipfelte allmählich in Erschöpfung und machte Himawaris Glieder schwer wie Blei, sodass sie froh war, in der Ferne irgendwann die Lichter ihres Elternhauses zu erblicken. Eine völlig aufgelöste Hinata rannte ihnen schon am Anfang der Straße entgegen und schloss sowohl ihre Kinder als auch ihren Ehemann weinend in die Arme. Da Naruto sie über die Begebenheiten informierte, blieb es Himawari zu ihrem Glück erspart, selbst eine Erklärung abzugeben, denn sie wusste, dass sie eine bei weitem schlechtere Lügnerin war als ihr Bruder. Der schmale Schein, der wenige Stunden später durch den Türschlitz in Himawaris dunkles Zimmer fiel, zeichnete sich hell auf ihrer Bettdecke ab. Aus der Küche konnte sie die leisen Stimmen ihrer Eltern vernehmen, auch wenn sie nicht verstand, was dort gesprochen wurde. Gewiss würde da morgen noch eine lange Unterhaltung auf sie und ihren Bruder zukommen. Unruhig wälzte sie sich auf die Seite, drückte sich ihren Stoffpanda fest an die Brust und versuchte in den Schlaf zu finden. Doch ihre Lider weigerten sich beharrlich zuzufallen. Die Ereignisse des Tages schwirrten in ihrem Kopf herum wie Puzzleteile, aus denen noch kein vollständiges Bild entstanden war. Sie dachte an Boruto und daran, dass er weder beim Abendessen, noch beim anschließenden Zähneputzen auch nur einen Mucks von sich gegeben hatte. War er vielleicht wütend auf sie? So lautlos, wie sie nur konnte, schlüpfte Himawari aus dem Bett, drückte die Tür einen Spalt breit auf und tapste barfüßig über den beleuchteten Flur. In Borutos Zimmer herrschte die gleiche Dunkelheit wie in ihrem. Er lag mit dem Gesicht zur Wand und rührte sich nicht, als der unerwartete Besuch sich gegen seinen Rücken presste, aber er stieß sie auch nicht weg. Himawari merkte sofort, dass er noch wach war. „Du bist böse auf mich, stimmt’s?“, flüsterte sie. „Nein, bin ich nicht“, antwortete er. „Doch, das bist du. Weil ich ein Feigling bin. Ich hätte Papa erzählen sollen, was heute wirklich passiert ist.“ „Das ist doch Unsinn.“ „Du hast alles auf dich allein genommen.“ Himawari kämpfte gegen den Kloß, der sich in ihrem Hals zu bilden begann. „Ich wünschte, ich wäre wie du“, gestand sie beinahe unhörbar. „Du bist viel mutiger als ich. Du hättest dich gegen die Mädchen gewehrt. Bei dir hätten sie sich bestimmt gar nicht erst getraut, einen Streich zu spielen. Wenn ich mir das nicht gefallen gelassen hätte, wären wir niemals zu dieser Blumenwiese gegangen.“ Seufzend drehte Boruto sich um und streichelte Himawari zärtlich übers Haar. „Es war meine Entscheidung auf die Brücke zu gehen“, sagte er, „und wenn du so wärst wie ich, wären wir heute vermutlich beide ertrunken. Ich will nicht, dass du dich veränderst. Ich mag dich genauso, wie du bist. Die Mädchen in deiner Klasse müssen blöd sein, wenn sie dich nicht zur Freundin haben wollen. Außerdem hast du dich selbst in Gefahr begeben, um mich zu retten. Wie kannst du da behaupten, nicht mutig zu sein?“ Niemals hätte Himawari diese Reaktion erwartet und fast wäre ihr rausgerutscht, wer dieser fremde Junge sei und was er mit ihrem Bruder gemacht habe. Boruto musste sich einen Lachkrampf verkneifen, um ihre Eltern nicht auf den Plan zu rufen, so verdattert starrte sie ihn an. „Mach den Mund zu, das sieht echt dämlich aus!“, meinte er und klang nun zu Himawaris Erleichterung wieder ganz wie der alte. Sie bewarf ihn mit seinem Kissen und kuschelte sich dann unter die Decke, damit er ihr verlegenes Grinsen nicht sehen konnte. Noch lange, nachdem er längst eingeschlafen war, lag sie wach, lauschte dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr und betrachtete, wie das fahle Mondlicht durch die Gardinen schimmerte. Boruto hatte auf ihren eigenen Wunsch hin nichts von Risa und Mai verraten und das, zusätzlich zu der Tatsache, dass er vor ihren Eltern für sie in die Bresche gesprungen war, machte Himawari nicht gerade stolz. Aus einem zögerlichen Vorhaben wurde allmählich ein handfester Entschluss und sie nahm sich vor, gleich morgen die Konfrontation zu suchen und ihr Geld wieder zurückzufordern. Das war sie Boruto, ihren Eltern und vor allem sich selbst einfach schuldig. Kapitel 7: [Sommer] Eigene Wege (AU) ------------------------------------ Die Gänsehaut breitete sich unangenehm von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen aus und ein kalter Schauer nach dem nächsten jagte Itachi über den Rücken. Schützend schlang er die bloßen Arme um seinen frierenden Körper und wippte mit den Fußballen ungeduldig auf und ab. Ein verstohlener Blick zur Wanduhr über dem harten Plastikstuhl, den man ihm zum Warten zugewiesen hatte, verriet, dass bereits eineinhalb Stunden vergangen waren, seit sich das letzte Mal jemand um ihn gekümmert hatte. Wenn vereinzelt ein Beamter den langen Flur entlang und an Itachi vorbeikam, nahm er keine Notiz von dem schlaksigen Sechzehnjährigen in seiner Baggy und dem viel zu großen T-Shirt. Und auch, dass er im Gebäude seine Basecap nicht abgenommen hatte, schien hier vor Geschäftigkeit und Ignoranz niemanden zu interessieren. Gelangweilt betrachtete Itachi die verschlossenen Türen um ihn herum, die sich nur gelegentlich öffneten, um jemanden eintreten oder hinausgehen zu lassen und fragte sich, wie lange es noch dauern konnte, bis man ihn endlich wieder in die Freiheit entließ. Denn noch mehr als die Klimaanlage, die ihn unaufhörlich zum Schlottern brachte, hasste er es, irgendwo eingesperrt zu sein. Gerade als er begann, seine Chancen abzuwägen, sich heimlich bis zum Haupteingang durchzuschlagen, glitten die Fahrstuhltüren am anderen Ende des Flurs auseinander. Itachis Vater Fugaku Uchiha kam mit langen Schritten auf seinen Sohn zu, gefolgt von einem hageren Mann mit hellen Haaren, den Itachi unter dem Namen Yashiro zu kennen glaubte. Mit wütender Miene packte Fugaku den Jungen am Arm und zog ihn grob auf die Beine. Seine Finger bohrten sich schraubstockartig in Itachis Haut – erinnerten einmal mehr an den Griff eines Polizisten – und seine bebenden Lippen zeugten von dem inneren Kampf, der um die Oberhand seiner Selbstbeherrschung tobte. „Danke, dass du dich um Itachi gekümmert hast“, sagte er schließlich mit gepresster Stimme an Yashiro gewandt. „Die Anzeige werde ich natürlich selbst bearbeiten.“ „Nicht der Rede wert“, murmelte der Angesprochene und klang unsicher, wie er auf diese so persönliche Situation seines Kollegen reagieren sollte. Doch Fugaku erlöste ihn, indem er keine weitere Konversation aufkommen ließ und Itachi schnurstracks in Richtung Aufzug bugsierte. Schweigend fuhren die beiden bis in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums, wo ihr schwarzer Kombi sie mit dem Aufblinken seiner Lichter begrüßte, als Fugaku ihn aus der Ferne entriegelte. Der Wagen war brandneu, penibel gewachst und sorgfältig ausgesaugt. Mit grimmiger Überzeugung dachte Itachi daran, dass seinem Vater der Zustand des Autos womöglich mehr bedeutete als das Befinden seiner eigenen Söhne. Teilnahmslos stieg er auf den Beifahrersitz und wartete, bis Fugaku den Motor startete. Dann fuhren sie hoch ins grelle Sonnenlicht des schwülheißen Sommertages, der ihnen selbst in dem abgekühlten Fahrzeug entgegenschlug wie ein Flammenwerfer. Nach dem langen Aufenthalt unter der Klimaanlage empfand Itachi die Hitze als reine Wohltat, schloss die Augen und reckte den Hals zur Sonne, um das Kribbeln ihrer Strahlen auf seinem Gesicht zu spüren. Noch immer hatte Fugaku kein einziges Wort gesagt, doch Itachi kannte ihn gut genug um zu wissen, dass dies bloß die Ruhe vor dem Sturm war. Tatsächlich dauerte es lediglich noch bis zur Autobahnauffahrt und er schien die Stille nicht mehr länger zu ertragen. „Warum hast du das gemacht, Itachi?“, fragte er in bemüht ruhigem Ton und warf einen flüchtigen Seitenblick auf seinen Sohn. „Denkst du, ich kann dich da jedes Mal rausboxen, nur weil ich bei der Polizei arbeite?“ Itachi reagierte nicht und beobachtete, wie die Bäume vom Rand des Fahrbahnstreifens an ihnen vorbeizogen. Den Ablauf der Predigt kannte er mittlerweile fast auswendig und deshalb war ihm auch klar, welcher Teil nun folgen würde. „Ich weiß bald nicht mehr, was ich mit dir machen soll“, fuhr Fugaku genauso fort, wie Itachi es vorausgesehen hatte und ungeachtet dessen, dass ihm nicht geantwortet wurde. „Körperverletzung, Sachbeschädigung, Einbruch, Diebstahl… Du bist bereits weit über Sozialstunden hinaus und jetzt knackst du einfach ein Auto und fährst damit durch die Gegend! Bursche, du bist minderjährig und hast keinen Führerschein!“ Ungerührt streckte Itachi den Arm aus und betätigte den Knopf für das Radio, sodass für einen Moment in voller Lautstärke aus den Boxen schallte: -had everything, your head is running wild again, my dear we still have everything, and- Fugaku drückte das Radio mit einer blitzschnellen Bewegung wieder aus und musste sich kurz besinnen, bevor er erneut zum Sprechen ansetzte. Diesmal gelang es ihm wesentlich schlechter, die Aufregung in seiner Stimme mit Gelassenheit zu überspielen. „Du hättest durch meine Beziehungen große Chancen haben können, aber mit diesem Vorstrafenregister kriegst du bei der Polizei keinen Fuß mehr in die Tür“, sagte er. „Außerdem bringst du aus der Schule nur Bestnoten mit nach Hause, hast aber so viele Fehlzeiten, dass es den Anschein macht, als wärst du dieses Jahr noch überhaupt nicht hingegangen. Was soll das denn werden, Junge?“ Es war ein Gespräch, wie vom Recorder aufgenommen und zum tausendsten Mal abgespielt. Wie immer drehte es sich um Itachis zukünftige Laufbahn, die am besten aus einem Studium und einer Karriere bei der Polizei bestand – völlig irrelevant, was Itachis eigener Wunsch diesbezüglich war. Sein Vater wusste nicht, dass er noch nie Polizist hatte werden wollen und dass er eigentlich viel lieber Sport machte oder plante, irgendwann einmal die Welt zu bereisen. Er hatte keine Ahnung, dass Itachi nur die Schule schwänzte, weil sie ihn langweilte und unterforderte und keiner seiner Klassenkameraden ihm je das Wasser reichen konnte. Nein, das alles waren Themen, die niemanden interessierten. Noch bevor Fugaku es verhindern konnte, hatte Itachi abermals das Autoradio bedient. -we're not broken just bent, and we can learn to love again, it's in the stars, it's been written in the scars- „Sag mal, willst du mich eigentlich provozieren?“ Fugakus Blick war mörderisch. „Ich weiß zwar nicht, was in deinem Kopf vorgeht, aber eines verrate ich dir: Das war das letzte Mal, dass ich für dich in die Bresche gesprungen bin! Du wirst ab nächsten Monat auf ein Internat gehen und da kannst du dir dann überlegen, wie es weitergehen soll! Vielleicht kriegst du auch endlich mal einen vernünftigen Umgang, wenn du ein bisschen aus deiner kleinen Straßenclique rauskommst. Ich will dich jedenfalls nicht mehr zuhause haben!“ Itachi merkte, wie die Aussage seines Vaters ihm einen schmerzhaften Stich versetzte, doch sein Stolz war mächtiger als der Impuls, den aufgestauten Gefühlen Luft zu machen. Stur blickte er geradeaus auf die Straße und versuchte, sein Gedankenkarussell zum Stillstand zu bringen. Wenn er aufs Internat musste, würde er sowohl von seinen Freunden als auch von seinem kleinen Bruder für eine sehr lange Zeit getrennt sein – mal ganz davon abgesehen, dass man ihm damit die Freiheit raubte, die er unter keinen Umständen aufgeben wollte. Da die Erfahrung Itachi gelehrt hatte, dass Proteste und Diskussionen seine Lage höchstens verschlimmern konnten, beschloss er, mit der Sache so zu verfahren wie er es üblicherweise immer tat: in stummer Hinnahme abzuwarten, bis sich die erste Gelegenheit ergab, um wieder auszubrechen. Ein guter Plan! Der schwarze Kombi rollte in die Einfahrt zum Wohnhaus der Uchiha und noch bevor Fugaku den Motor ausgestellt hatte, erschien seine Frau Mikoto mit banger, nervöser Miene an der Haustür. „Was ist passiert?“, fragte sie prompt und ihre Augen huschten erwartungsvoll von einem zum anderen. Itachi drängte sich wortlos an ihr vorbei, steuerte auf sein Zimmer zu und hörte seinen Vater nur noch etwas von „Hausarrest“ rufen, bevor er die Tür kraftvoll hinter sich zuschlug. Einen Moment lang stand er bewegungslos da, den Rücken gegen das kalte Holz gepresst und atmete in tiefen Zügen ein und aus. Dann wandte er sich seinem Bett zu – war im Begriff, sich bäuchlings auf die Matratze zu werfen – und bemerkte plötzlich, dass es bereits besetzt war. „Was machst du denn hier drin?“, fragte Itachi ungehalten und musterte seinen Bruder mit Argwohn. „Ich hab auf dich gewartet“, entgegnete Sasuke. „Mama und ich haben uns Sorgen gemacht, als der Anruf von der Polizei kam.“ „Ach, und ich dachte, ihr seid schon dran gewöhnt.“ Gleichgültig ging Itachi zum Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und holte eine halb zerdrückte Schachtel Zigaretten hervor. „Du sollst nicht rauchen“, sagte Sasuke tadelnd, als der Ältere das Fenster weit öffnete, sich hinaus lehnte und die Zigarette ansteckte. „Meint wer?“ „Ich“, antwortete Sasuke kleinlaut. „Es ist ungesund.“ Itachi blies den Rauch in die flirrende Sommerluft und beobachtete einen kleinen Vogel, der durch die Hecke ihres Vorgartens raschelte, etwas vom Rasen aufpickte und anschließend hochstieg über die Dächer der Stadt, in dem stahlblauen Himmel. Sehnsüchtig dachte er daran, wie es sich wohl anfühlen musste, die eigenen Flügel auszubreiten und dem goldenen Käfig zu entfliehen. Mit einem langen Seufzer drückte er die angerauchte Zigarette auf dem Fensterbrett aus und schnippte sie achtlos nach draußen. Sasuke lächelte selbstzufrieden. Er streckte sich auf dem Bett seines großen Bruders aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sagte: „Übrigens war einer deiner Kumpel vorhin hier und wollte dich abholen.“ Itachi drehte sich so rasch zu ihm um, dass sein alter vertrockneter Kaktus vom Sims auf den Teppich fiel und ihn mit schwarzer Erde bedeckte. „Wer?“, fragte er schneidend. „Keine Ahnung, so ein Junge mit orangegefärbtem Haar. Mama ist beim Anblick seiner Piercings fast in Ohnmacht gefallen und hat ihn sofort wieder weggeschickt.“ „Und hat er vorher noch irgendwas gesagt?“ Sasuke verzog nachdenklich das Gesicht. „Nur, dass ihr euch um fünf am Güterbahnhof treffen wollt“, erwiderte er schulterzuckend. Überstürzt klaubte Itachi seinen Wecker vom Nachschrank und las die Anzeige, die in eben dieser Sekunde auf 16:43 Uhr umsprang. Es blieb ihm also noch eine knappe Viertelstunde, um rechtzeitig bei seiner Clique zu sein, bevor sie womöglich begann durch die Straßen zu ziehen und damit für ihn unauffindbar werden würde – schließlich hatte generell keiner von ihnen Geld auf dem Handy. „Ich muss los“, entfuhr es Itachi und er hatte schon ein Bein durchs Fenster gesteckt, als Sasuke entsetzt aufsprang. „Aber du hast doch Hausarrest“, erinnerte er ihn unsicher und als müsse er sich plötzlich zum Weitersprechen zwingen, biss er sich auf die Unterlippe und fügte völlig unerwartet hinzu: „Kannst du mich bitte mitnehmen?“ Itachi hielt augenblicklich inne und starrte seinen Bruder wie vom Donner gerührt an. „Nein, ich fürchte, das geht nicht“, formulierte er vorsichtig. „Du bist dafür noch zu jung.“ „Ich bin schon elf!“ In Sasukes Stimme klang sowohl Entrüstung als auch Stolz mit. „Ich werde dich und deine Freunde auch ganz sicher nicht stören.“ „Vielleicht ein anderes Mal, okay?“ Leichtfüßig landete Itachi in dem pedantisch hergerichteten Vorgarten seiner Familie, wandte sich um und lief die Einfahrt bis zur Hauptstraße entlang. Hinter sich hörte er Sasuke wütend „Das sagst du immer!“ rufen, doch er achtete nicht mehr auf ihn und genoss stattdessen, wie der Wind durch sein Haar peitschte und die Sonne ihm auf der Haut brannte. Es brauchte nur wenige Minuten, bis der Schweiß ihm aus allen Poren schoss. Sicher waren es heute Nachmittag über 30 Grad! Ungeachtet des Verkehrs oder der Passanten rannte er über Kreuzungen und Spielplätze, dass ihm die Lunge schmerzte, als er endlich das verfallene Gebäude des alten Güterbahnhofs erreichte. Es stand verlassen am Rande der unbenutzten Gleisanlagen, war von Generationen Jugendlicher über und über mit Graffiti besprüht worden und hatte von Steinen eingeworfene Fensterscheiben. Itachi betrat die dunkle, kühle Ruine durch einen schmalen Eingang mit fehlender Tür. Das löchrige Dach ließ vereinzelte Sonnenstrahlen auf den voll Scherben, Müll und Staub bedeckten Boden fallen und beleuchtete die Silhouetten mehrerer Personen, die im Schatten auf ihren Nachzügler warteten. „Na endlich, wir dachten schon, sie hätten dich eingebuchtet!“ Peins Stimme hallte laut von den kahlen Wänden wider. Er war selbsternannter Anführer ihrer Gruppe und der gepiercte Junge, von dem Sasuke zuvor gesprochen hatte. Grinsend bedeutete er Itachi, sich zu ihnen zu setzen und legte dann den Arm wieder um die Taille seiner Freundin Konan, einem hübschen Mädchen mit blaugefärbtem Haar. „Was denkst du denn von mir?“, gab Itachi überlegen zurück. „Die werden mich auch weiterhin laufen lassen.“ Er nahm zwischen seinen Freunden auf einem moosbewachsenen Sicherungskasten Platz. „Tja, echt gut wenn dein Alter bei der Polizei arbeitet, Mann“, mischte sich Deidara ein und strich sich eine Strähne der langen, blondierten Haare aus dem Gesicht. „Das mit dem Auto war schon eine echt krasse Aktion. Und jetzt gib mal ‘ne Kippe rüber!“ Widerwillig kramte Itachi seine Zigaretten aus der Hosentasche, schmiss Deidara die Packung zu und griff sich im Gegenzug eine Flasche Alkohol aus der Kiste zu ihren Füßen. Vermutlich hatte Sasori sie gekauft, denn er machte von ihnen allen zwar den jüngsten Eindruck, war jedoch bei weitem der Älteste. Er hockte neben Hidan, ihrem neusten Bandenmitglied, der sich mit nacktem Oberkörper auf einem besonders breit beschienenen Abschnitt des Bodens sonnte und den Ereignissen um ihn herum keinerlei Aufmerksamkeit schenkte. Entspannt lehnte Itachi sich zurück, setzte die Flasche an die Lippen und nahm ein paar kräftige Schlucke, als plötzlich fremde Schritte die Clique aufhorchen ließen und sich alle Augenpaare dem Eingang zuwandten. Eine kleine Person betrat zögerlich den alten Bahnhof. Sie wirkte in Anbetracht der älteren Jugendlichen ein wenig eingeschüchtert und schaute hilfesuchend in die Runde, bis ihr Blick auf Itachi fiel und sie merklich erleichtert sagte: „Und ich dachte schon, ich wäre falsch.“ Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Itachi, dem Alkohol müssten noch andere Stoffe beigefügt sein, wenn er schon von dem Bisschen Halluzinationen bekam. Was zur Hölle hatte Sasuke hier verloren? War er ihm etwa die ganze Zeit über gefolgt? Und wie hatte er das nur nicht bemerken können? Auch die anderen schienen zu perplex, um zu reagieren und schließlich war es Deidara, der als erster die Fassung zurückgewann. „Hey, wo kommt denn der Zwerg her?“ Eilig stand er auf, näherte sich dem Neuankömmling und knackte bedrohlich mit den Fäusten, doch Itachi war schneller bei Sasuke als er. Gerade rechtzeitig stellte er sich zwischen die beiden und sagte unwirsch: „Du Idiot, das ist mein Bruder!“ Deidaras Augen blitzten gefährlich auf und musterten die Geschwister mit übertriebener Geringschätzung, denn für Handgreiflichkeiten hatte er eindeutig zu viel Respekt vor dem Uchiha. „Okay, dann frage ich mal anders“, zischte er. „Was will dein Bruder hier?“ „Ja, das wüsste ich allerdings auch gern.“ Wutentbrannt drehte Itachi sich zu Sasuke um und mit trotzigem Ton antwortete dieser: „Ich will bei euch mitmachen!“ Sofort brach die ganze Gruppe in schallendes Hohngelächter aus. Itachi spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss und sein Gesicht zu glühen begann. „Zieh Leine!“, befahl er und schubste den widerspenstigen Sasuke ruppig bis zum Ausgang. „Ich hab dir bereits gesagt, dass du dafür noch zu klein bist! Hau wieder ab nach Hause!“ „He halt, warte mal, Itachi!“ Pein hatte sich erhoben und damit dem Rest der Clique unbewusst das Schweigen befohlen. „Warum geben wir ihm nicht eine Chance sich zu beweisen, wenn er sich uns unbedingt anschließen will?“, fragte er und sein anhaltendes Grinsen glich jener bösen Grimasse, die Itachi nichts Gutes ahnen ließ. „Ich denke nicht, dass-“, setzte er an, doch ehe er sich versah, hatte Sasuke sich seinem Griff entwunden und war auf Pein zugetreten. „Was soll ich machen?“, fragte er mutig und der Anführer deutete mit dem Finger nach oben zum Dachgebälk, wo sich ein Basketball zwischen zwei Holzstreben festgeklemmt hatte. Er war über einen großen Stapel leerer Kisten und Fässer zu erreichen, die den Anschein erweckten, als stünden sie bereits so lange hier wie der Bahnhof selbst. „Der ist uns gestern dort hängen geblieben“, erklärte Pein seelenruhig. „Hol ihn runter und du darfst bleiben.“ Itachi merkte wie Sasuke angesichts der Höhe leicht schauderte, doch mit blass-grünem Gesicht machte er sich furchtlos an den Aufstieg über das wackelige Gebilde aus Frachtgütern. „Lass das bleiben!“, schrie Itachi ihm nach, während sein Bruder immer weiter und weiter kletterte und mit jeder Bewegung ein beunruhigendes Knacken die gespannte Stille zerschnitt. Dann befand sich der Basketball nur noch wenige Zentimeter über seinem Kopf und Itachi wagte kaum zu atmen. Vorsichtig stellte sich Sasuke auf die Zehenspitzen und unter den spöttischen Anfeuerungsrufen von Deidara und Hidan streckte er langsam den Arm aus. Es passierte innerhalb von Sekunden und Itachi hatte es bereits kommen sehen: Die oberste Kiste, auf der Sasuke sich reckte, kippte seitlich vom Stapel und fiel laut krachend zu Boden. Instinktiv griff der Junge nach einem der Querbalken, klammerte sich mit aller Kraft daran fest und baumelte, verzweifelt um Hilfe rufend, mit den Füßen frei an der Decke. Die Clique um Pein johlte und grölte vor Schadenfreude auf, sodass der ganze Bahnhof erzitterte. „Sasuke! Lass nicht los!“ Itachi war vorgesprungen und versuchte nun mit bangem Blick sowohl achtsam als auch schnell den Berg aus Kisten zu erklimmen. Das war gar nicht so leicht wie er zuvor angenommen hatte, denn er war schwerer als Sasuke und viele Behälter waren brüchig und instabil. „Ich kann nicht mehr“, kam Sasukes bebende Stimme von oben und Itachi, von Panik gepackt, wuchs plötzlich über seine eigenen Fähigkeiten hinaus – dankte dem Himmel, dass er so sportlich war – und erreichte mit einem letzten langen Satz endlich die Spitze. Sofort legte er die Arme um Sasukes Hüfte, pflückte ihn runter von dem Querbalken und stellte ihn sanft neben sich auf die Beine. Sasuke schlotterte am ganzen Leib und drückte sich, ängstlich nach Halt suchend, an Itachi. Unter dem dröhnenden Lachen der anderen wagten sie zusammen Schritt für Schritt den nicht minder gefährlichen Abstieg über die morschen Kisten und Fässer und erst, als beide wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten, merkte Itachi die blanke Wut durch seinen Körper wallen. „Was seid ihr eigentlich für Freunde?“, donnerte er und sah vorwurfsvoll in die Runde. „Das war wirklich überhaupt nicht lustig!“ Doch alles, was er für seinen Zorn erntete, war weiteres Gelächter von Deidara und Hidan, verständnislose Blicke von Sasori und Konan und eine gleichgültige Miene Peins, die Itachi nur umso rasender machte. „Ich fass‘ es nicht! Seid ihr denn alle zu blöd, um den Ernst einer Lage zu begreifen?“, brüllte er entrüstet und Deidara, der nur allmählich die Beherrschung zurückgewann, hob beschwichtigend die Hände. „Reg dich mal ab, Alter!“, sagte er noch immer grinsend. „Ist doch nichts passiert.“ „Nichts passiert? Nichts passiert?“, wütete Itachi weiter, packte Sasuke am Handgelenk und stapfte mit ihm in Richtung Ausgang davon. „Wisst ihr was? Ich scheiß auf euch!“ Ohne auch nur ein einziges Mal über die Schulter zu sehen trat er hinaus in den stickigen Dunstschleier aus schwüler Luft, der sich wie eine schwere Decke über sie gelegt hatte und folgte dem Gleisbett weg vom Güterbahnhof und hin zur Innenstadt. Noch nie in seinem Leben hatte er sich betrogener gefühlt als in diesem Moment. Sasuke musste fast rennen, um das Tempo seines großen Bruders mitzuhalten, denn er hatte seine Hand bis jetzt nicht losgelassen und bedrückt dachte er darüber nach, was um alles in der Welt er nur sagen konnte. Schließlich entschied er sich für das Banalste, das ihm gerade in den Sinn kam: „Tut mir leid.“ Itachi blieb stehen und drehte sich zu Sasuke um, blickte ihm direkt in die Augen und statt der erwarteten Härte zeigte sich eindeutige Reue auf seinem Gesicht. Nein, Sasuke war nicht derjenige, der sich zu entschuldigen hatte. Wie hätte er es besser wissen sollen, wenn Itachi nie ein gutes Vorbild gewesen war? Sein Vater hatte Recht gehabt, wenn er meinte, dass sich etwas ändern musste, auch wenn Itachi das niemals laut zugegeben hätte. „Bist du sehr sauer?“, deutete Sasuke das lange Schweigen falsch und wirkte noch eine Spur elender als zuvor. „Ich weiß, ich hab echt Mist gemacht und wenn du mich nicht-“ „Ach, halt die Klappe!“ Itachi umschloss die Hand seines Bruders stärker und zog ihn weiter den Weg entlang. „Leute, die so einen Schwachsinn verlangen damit man zu ihnen gehören darf, kannst du echt vergessen“, sagte er leise. „Die sind dich doch gar nicht wert.“ Er wandte sich nicht noch einmal um und wusste trotzdem genau, dass er Sasuke mit diesen Worten wieder zum Lächeln gebracht hatte. Vielleicht würde er sich das mit dem Internat später doch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen – aber bestimmt nicht, weil sein Vater es so wollte! Kapitel 8: [Herbst] Was übrig bleibt (Darkfic) ---------------------------------------------- Morgens mit der Gewissheit aufzuwachen, dass alles, was eben noch so schrecklich real erschien, bloß ein böser Traum war, bezeichne ich als eines der schönsten Gefühle, die ein Mensch überhaupt haben kann. Wenn die letzte Furcht mit dem ersten Wimpernschlag verfliegt und Verwirrung abgelöst wird durch die Erkenntnis, sich an einem sicheren Ort zu befinden, ist das die pure Erleichterung. Doch was passiert, wenn der Albtraum gar keiner war? Ich wusste sofort, dass die harte, unebene Fläche unter meinem Körper nicht mein Bett sein konnte. Helles Sonnenlicht brannte sich durch meine geschlossenen Lider und ein erbarmungslos kalter Wind wirbelte einige Blätter in der Nähe geräuschvoll auf. Während mein Bewusstsein nur getrübt seine Rückkehr antrat, strömten die Schmerzen umso klarer auf mich ein. Ich wagte es nicht, mich zu rühren, obgleich ich es vielleicht gekonnt hätte. Jede Faser meines Körpers schien sich den Qualen der Hölle auszusetzen und eine einzelne Quelle derselben zu fokussieren, erwies sich als unmöglich. Vergebens wartete ich auf die Erinnerungen, die mir die vielen Fragen in meinem Kopf beantworten sollten. Wo war ich? Weshalb befand ich mich an diesem Ort und wie lange schon? Wie spät mochte es nun wohl sein? Mein Zeitgefühl schien mich vollkommen verlassen zu haben und es fiel mir schwer, die Augen zu öffnen. Unglücklicherweise halfen mir auch die verschwommenen Bilder, die langsam auftauchten, nur bedingt weiter und erst, als mir etwas angenehm Weiches an meinem Rücken bewusst wurde, durchfuhr es mich wie ein Blitz. „Akamaru?“, flüsterte ich mit heiserer Stimme und versuchte, mich schneller aufzurichten, als meine Verfassung es zuließ. Stöhnend hob ich meinen Oberkörper an und hielt inne, als mir im ersten Moment schwarz vor Augen und im zweiten speiübel wurde. Ich spürte gebrochene Rippen, Prellungen und eine feuchte Spur, die sich von meiner Stirn über meine Wange zog und am Kinn abtropfte. Blinzelnd sah ich mich um und erfasste umgestürzte Bäume mit abgeknickten Ästen, verbrannte Sträucher und nassen, roten Rasen, der unter meinen Fingern klebte. Der Anblick der Kampfspuren holte mein Gedächtnis an seinen richtigen Platz zurück. Im Auftrag, Sasuke und sein Team zu suchen, hatten Akamaru und ich uns von den anderen Kameraden aus Konoha getrennt. Dabei waren wir Mitgliedern der Akatsuki begegnet. Sie hatten uns entdeckt, bevor wir die Flucht antreten konnten und sofort angegriffen, in der Befürchtung, wir könnten sie verfolgen oder Verstärkung anfordern. Akamaru und ich waren nicht schwach und hatten uns mit allen Mitteln zur Wehr gesetzt, doch mir lief es immer noch kalt den Rücken herunter, wenn ich bloß an die Überlegenheit der zwei Abtrünnigen dachte. Was danach geschehen war, bekam ich nicht mehr zusammen. „Akamaru?“, murmelte ich abermals und drehte mich zu meinem Gefährten um. Der große Hund lag regungslos neben mir; das weiße Fell struppig, glanzlos und an einigen Stellen rötlich gefärbt. Mein Blick wanderte von den offenen Wunden, die seinen Leib übersäten, zu der langen Blutspur am Boden. Ergriffen schloss ich, dass das Tier sich aus einiger Entfernung zu mir hergeschleppt haben musste, um sich zu mir zu legen und mich zu wärmen. Akamarus Augen waren geschlossen und die Zunge hing ihm einen Spalt aus dem Maul. Er sah aus, als würde er schlafen – genauso wie ich ihn schon unzählige Male beobachtet hatte. Ich streckte meine Hand aus und streichelte sanft über seinen Rücken; ließ sie auf ihm ruhen und wartete darauf, zu spüren, wie sie sich hob und senkte. Doch nichts dergleichen geschah. Die Beine des Hundes zuckten nicht, wie sonst, wenn er träumte, und er knurrte auch nicht vor sich hin oder rümpfte die Nase. Mein Körper wurde plötzlich taub und ich fühlte mich nicht mehr, als steckte ich wirklich in mir. Ich hatte kein Gefühl mehr in den Fingern, die auf meinem Begleiter ruhten, und bewegte sie, um sicher zu gehen, dass sie wirklich mir gehörten. Abwesend sah ich mir selbst zu, wie ich Akamarus Schnauze anhob, über seine Lefzen strich und seine Ohren kraulte, ohne eine Reaktion zu erhalten. Die Schmerzen, die mich eben noch so beherrscht hatten, waren mit einem mal verschwunden, als hätte ich sie nie erlebt. Gedanken, die ich nicht begreifen wollte, kamen und gingen, wie in einer unsortierten Diashow. Mein Kopf glich einem überlaufenden Fass, indem mein Geist das Durcheinander nicht mehr steuern konnte, und schließlich drängte mich die Verwirrtheit zum Warten. Ich wartete auf die Auflösung der Situation; wartete auf die Erkenntnis, dass alles nur eine Wahnvorstellung oder eine optische Täuschung war; wartete auf jemanden, der kommen würde, um mir zu sagen, dass es sich hier um einen Scherz handelte; wartete, dass Akamaru sich endlich erhob… Ich wartete Minute um Minute und ich wartete umsonst. Meine Hilflosigkeit strebte ihrem Höhepunkt entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde ging mir meine Familie durch den Sinn und ich dachte an meine Schwester, die als Tierärztin unseren Hunden immer wieder erfolgreich geholfen hatte. Vielleicht würde sie auch jetzt etwas für Akamaru tun können? Hastig blickte ich mich um, aber niemand war zu sehen. Ich war enttäuscht und fühlte mich im Stich gelassen. Wo war Hana? Wenn jemand da wäre – nur irgendjemand – bekäme man sicher alles in den Griff. Von heilenden Kräutern bis Magie gingen mir alle Möglichkeiten durch den Kopf, doch keine schien realisierbar. Ich wurde wütend darauf, dass keiner kam und wütend auf mich und meine schreckliche Ohnmacht. Zorn und Trauer schienen sich gegenseitig zu lähmen und verboten mir jegliche Gefühlsregung. Ich wollte laut loslachen und gleichzeitig losweinen und konnte doch nichts weiter, als tatenlos dasitzen. Die Zeit zog sich dahin wie zäher Kaugummi und noch immer geschah nichts. Voller Furcht vor der Wahrheit begannen meine Hände den kalten, starren Körper Akamarus abzutasten und zitterten dabei so sehr, dass ich mühe hatte, sie ruhig zu halten. Schon wenige Augenblicke genügten, um mir klar zu machen, dass ich unter der Kruste aus Blut keinen Puls mehr finden würde. Die Gewissheit, die ich bis jetzt so vehement von mir abzuweisen versuchte, brach wie ein Sturm über mich herein. Ungläubig starrte ich hinab auf das Tier, eine leere Hülle, von dem ich nicht glauben konnte, dass es tatsächlich der echte Akamaru war. Unter keinen Umständen wollte ich das akzeptieren! Das konnte, nein, durfte nicht sein! Er konnte mich nicht verlassen haben! Und doch, obwohl ich es tief in meinem Inneren bereits gewusst hatte, drang die schreckliche Klarheit nur sehr langsam zu mir vor. Schmerz und Schwindel eroberten meine Sinne von neuem und ließen mein Bewusstsein schwanken. Ich spürte, wie der Schweiß mir aus jeder Pore kroch und mein Herz mir gegen die Brust donnerte, als wollte es mich daran erinnern, dass ich noch am Leben war. Der Wald engte mich ein; schien seine Zweige auszustrecken, um nach mir zu greifen und mir die Luft zum Atmen zu rauben. Eine Windböe trug die eisige Kälte dieses Herbstes zu mir herüber und ließ mich erschauern. Dann kam die Angst dazu; viel zu schnell, viel zu unerwartet und unmittelbar nachdem ich mir bewusst gemacht hatte, was geschehen war. Akamarus Tod bedeutete Endgültigkeit. Er war unwiderruflich; war nichts, was man durch Worte oder Taten wieder beheben konnte, wie bei einer Entschuldigung, nach der jeder Fehltritt vergeben sein würde. Das hier war kein Spiel, in dem man es nach einem Scheitern einfach noch mal von vorne probierte und auch keine schlechte Note in der Akademie, die man durch die nächste bessere wieder ausglich. Wenn jemand fortginge, könnte man ihm folgen oder hätte zumindest die Möglichkeit auf ein Wiedersehen, egal wie viele Jahre es auch dauern möge. Man könnte Ungesagtes in Briefe schreiben und sicher sein, dass der Empfänger die Worte bekäme, die er lesen soll. Doch der Tod lässt sich nicht bestechen und wenn die Zeit gekommen ist, ist er erbarmungslos. Ich ließ die Augen nicht von meinem Hund ab und streichelte wieder und wieder über sein geschundenes Fell, das einst fast schneeweiß gewesen war. Akamaru war so groß geworden, dass es mir wie eine Ewigkeit vorkam, seit ich ihn das letzte Mal hatte tragen müssen. Sogar bis zu den Schultern hatte er mir gereicht, wenn er mich ansprang und sich auf seine Hinterbeine stellte. Ich wusste, das würde er jetzt nie wieder tun. Die Tränen kamen, ohne dass ich Notiz von ihnen nahm. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es ohne Akamaru weitergehen würde; hatte vergessen wie war, bevor ich ihn kannte. Dieser Hund war weit mehr gewesen, als nur mein Haustier und ich hatte mir niemals angemaßt, mich seinen „Besitzer“ zu nennen, weil wir in meinen Augen immer gleichwertig gewesen waren. Nein, vielmehr hatte ich Akamaru bezeichnet als steten Begleiter, besten Freund, kleinen Bruder… Seit meinem neunten Lebensjahr war er mir wichtiger gewesen als mein eigenes Leben. Meine Erinnerungen holten mich zurück an die unzähligen Tage, an denen er tröstend zu mir kam und seine nasse Nase an mir rieb, wenn ich traurig war und jemanden an meiner Seite brauchte; an denen er die Menschen anknurrte, die ich nicht leiden konnte oder an denen er auf mich zustürmte und mich umriss, sobald ich ihn für eine Weile alleine gelassen hatte. Es gab keine Marotte, die ich nicht kannte und es gab noch so verdammt viel, das ich ihm sagen wollte. Ich wollte mit Akamaru spazieren gehen, Kämpfe bestehen, spielen, zusammen essen, gemeinsam einschlafen… Nun kauerte ich neben ihm auf dem Boden und fühlte mich schuldig dafür, dass er fort war. Das Versprechen, das ich ihm damals gegeben hatte – dass ich ihn nie wieder würde leiden lassen – hatte ich nicht einhalten können. Abermals war ich zu schwach gewesen, es mit den Angreifern aufzunehmen und dieses Mal hatte das Wesen, das mir am meisten bedeutete, dafür zahlen müssen. Was würden die anderen denken, wenn sie wüssten, wie ich versagt hatte? Hätten sie Mitleid mit mir? Was würde meine Mutter sagen? Würde sie mir mehr Vorwürfe machen können, als ich mir ohnehin selbst machte? Auf die Wut, die folgte, war ich vorbereiteter als auf jedes andere bisherige Gefühl. Obwohl meine Augen brannten, schien ich klarer zu sehen, als jemals zuvor und meine Nase konnte den verbliebenen Gestank der Akatsuki so deutlich wahrnehmen, dass ich ihn förmlich auf der Zunge schmeckte. Die Kameraden aus Konoha, die viele Meilen weit weg und über Funk unmöglich zu erreichen waren, spielten plötzlich keine Rolle mehr. Der blinde Zorn schlug in so hohen Wellen um mich, dass er die Hilflosigkeit davon schwemmte. Ich blendete meine Wunden aus, hievte mich entgegen der rasenden Schmerzen auf die Beine und blieb taumelnd stehen, um die wenige Kraft, die mir verblieben war, zu sammeln. Langsam und ohne mich umzublicken trat ich den Weg durch die Verwüstung an und schleppte mich immer weiter fort von dem Leichnam meines Tieres. Jeder Schritt, den ich wagte, verstärkte die angenehme Leere und Stille in meinem Kopf, die jedes rationale Denken besiegte und die unbändige Wut, die mich antrieb, stärker wallen ließ. Der einzige Gedanke, der mich nun noch beherrschen konnte war, die Personen zu finden, die dieses grausame Verbrechen begangen hatten. Mir war plötzlich klar, ich würde solange suchen, bis ich diese Menschen gefunden hatte, selbst wenn es bis an mein Lebensende dauern würde. Und wenn es soweit war, würde ich sie bestrafen. Ich wollte sie leiden lassen wie Akamaru gelitten hatte und noch nie zuvor war ich mir so sicher gewesen, dass ich dieses Mal töten wollte. Ich würde töten – für meinen Begleiter, besten Freund und kleinen Bruder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)