Brüderlich von Kunoichi (19. Adventskalendertürchen 2012) ================================================================================ Kapitel 1: Brüderlich --------------------- Eliots Welt war ungerecht. Sie war gemein, verständnislos und absolut ungerecht. Vielleicht war sie das nicht immer, doch zumindest war sie es oft genug und das war auch der Grund, warum Eliot sagte, er würde sie hassen. In diesen Momenten, wenn er so wütend wurde, dass er sich auf den Boden warf, weinte und schrie, hasste er jeden auf dieser Welt – seine Eltern, seine Geschwister und die Bediensteten – ganz egal, ob sie Schuld an Eliots Zorn trugen oder nicht. Meistens wurden diese Ausbrüche ignoriert, manchmal belächelt und oftmals gescholten. Doch Eliots Gefühl hinterher war immer das Gleiche und er schämte sich, die Menschen gehasst zu haben, die er doch eigentlich liebte. Gleichzeitig fragte er sich dann, was Liebe und Hass überhaupt bedeuteten – so wie jedes Kind, das gerade erst sechs Jahre alt geworden war. Auch heute war wieder einer dieser Tage. Eliots kleine Hände drückten sich sehnsüchtig gegen die kalte Fensterscheibe und hinterließen überall schmierige Abdrücke auf dem Glas. Draußen hatte der Schnee das Grundstück der Nightray-Villa in eine weiße Wüste verwandelt. Bäume ragten wie Pyramiden aus der Landschaft empor, der zugefrorene See glitzerte als Oase in der schwachen Mittagssonne und lediglich die Auffahrt zum Haupttor war in aller Frühe von den Angestellten freigeräumt worden, so dass sich an ihren Seiten große Schneedünen aufgetürmt hatten. Eliot hätte alles gegeben, um dort im Garten spielen zu dürfen, doch weder Betteln noch Toben hatten etwas genützt. Nun saß er gebadet, frisiert und in seinen feierlichsten Kleidern vor dem Fenster und verwünschte das Hausmädchen dafür, ihm auch noch das Herumrennen verboten zu haben – aus Angst, er könne sich sonst wieder schmutzig machen. Ihre schrille Stimme klang ihm immer noch mahnend in den Ohren: „Du willst doch für deinen Onkel und deine Tante hübsch aussehen, nicht wahr? Dann bleib brav hier und warte, bis man dich abholt! Es dauert nicht mehr lang.“ Es dauert nicht mehr lang. Eliot hatte diese Worte seit Stunden gehört und das endlose Warten vertrug sich überhaupt nicht gut mit seinem ungeduldigen Gemüt. Wieder huschten seine Augen nervös zur Auffahrt. Einerseits hoffte er, die Kutschen würden bald vorfahren und ihn und seine Geschwister abholen, andererseits, sie seien irgendwo auf dem Weg im Schnee stecken geblieben und kämen niemals an. Denn der alljährliche Besuch bei seinen Verwandten war mit Abstand das Langweiligste, was Weihnachten mit sich brachte. Nun, wo das Fest vorbei war und das neue Jahr unaufhaltsam näher rückte, gab es in der Villa gar kein anderes Thema mehr. Wie eine ganze Schar aufgescheuchter Hühner rannte das Dienstpersonal durchs Haus und traf die entsprechenden Vorkehrungen. Nicht einmal nach der gestrigen Abreise des Herzogs Nightray und seiner Frau, die mit den Geschenken für die Angehörigen bereits einen Tag früher aufgebrochen waren, hatte sich die angespannte Stimmung wieder gelegt. Deshalb verwunderte es Eliot auch nicht, als er auf dem Flur vor seinem Zimmer plötzlich einen kleinen Tumult ausbrechen hörte. „-hassen euch-“ „-nicht zur Familie-“ Eliot wurde stutzig und horchte auf. Diese Wortfetzen passten weder in der Aussage noch von der Stimmlage zu den Bediensteten und neugierig rutschte der kleine Junge von der Fensterbank, schlich zur Tür und schob sie einen Spaltbreit zur Seite, so dass er gerade hindurch linsen konnte. Auf dem Flur fand er Claude und Ernest, seine älteren Brüder, die mit dem Rücken zu ihm standen und offenbar jemandem den Weg aus der Besenkammer gegenüber versperrten. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Eliot, dass es sich bei den anderen Personen um Gilbert und Vincent handelte. „Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!“, rief Ernest und stieß Vincent so hart gegen die Brust, dass er nach hinten taumelte. „Nur weil unsere Eltern euch aufgenommen haben, werden wir euch niemals als gleichwertig anerkennen.“ „Hör auf! Lass ihn in Ruhe!“, schrie Gilbert zurück und klang dabei sowohl wütend als auch hilflos. Rasch schob er Vincent hinter seinen Rücken, um ihn vor weiteren Angriffen des älteren zu schützen, hatte dafür aber keine Möglichkeit selbst auszuweichen, als Ernest‘ Hand mit voller Wucht auf ihn niederfuhr. „Du hast mir gar nichts zu befehlen!“, donnerte er. „Für mich bist du nichts weiter als ein armseliger Diener!“ Schlagend und tretend drängte er die beiden Kinder weiter in die Besenkammer und als sie sich schließlich ergeben an der hinteren Wand zusammenkauerten, warf er die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss. „Ihr werdet nicht mit zur Feier kommen!“, sagte er hochmütig. „Euch steht nicht zu, dabei zu sein. Wir werden allen sagen, dass wir gesehen haben, wie ihr davongelaufen seid!“ Eliot stand noch immer zitternd vor Aufregung an der Zimmertür. Es war nicht das erste Mal, dass er eine solche Szene beobachtet hatte. Wenn ihre Eltern nicht in der Nähe waren, ließen Claude und Ernest keine Gelegenheit aus, um Gilbert und Vincent zu schikanieren. Sie hatten Eliot erklärt, dass sie das machten, weil die beiden adoptiert waren und der Familie Nightray nicht würdig seien. Sie hatten auch gesagt, Eliot müsse sich von ihnen fernhalten und dürfe nicht mit ihnen reden. Sie hatten ihm eingebläut, genauso ablehnend und hasserfüllt zu sein wie sie… Doch Eliot hasste Gilbert und Vincent gar nicht. Er kannte Vincent seit seiner Geburt und war mit ihm aufgewachsen, wie mit seinen anderen vier Geschwistern auch. Gilbert war erst in diesem Jahr von seinen Eltern adoptiert worden, nachdem er eine lange Zeit als Diener bei der Familie Vessalius gelebt und nichts vom Verbleib seines leiblichen Bruders Vincent gewusst hatte. Beide Jungen waren stets zurückhaltend und höflich gewesen und hatten ihren neuen Eltern nie Anlass zum Schimpfen gegeben. Eliot wusste, dass seine Mutter sie behandelte wie ihre eigenen Kinder. Warum also sollte Eliot sie hassen, wo sie doch eigentlich immer sehr lieb zu ihm waren? „Die Kutschen sind da!“ Aufgeregte Rufe und hektisches Fußgetrappel drangen vom unteren Stockwerk zu ihnen herauf. Eliot sah Claude und Ernest nach, bis sie am Treppenabsatz ins Erdgeschoss verschwunden waren, ehe er sich langsam auf den leeren Flur hinaus traute und zögernd zwischen seinem Zimmer und der Tür zur Besenkammer stehen blieb. Was sollte er jetzt bloß tun? Gilbert und Vincent allein zu befreien war ohne den Schlüssel undenkbar und wenn Eliot den Hausmädchen Bescheid gab, würden seine Brüder sicher viel Ärger bekommen. Ganz abgesehen davon, dass Claude und Ernest wahrscheinlich böse auf ihn wären, wenn er sie verriet und Gilbert und Vincent doch mit zur Feier könnten. Kurz entschlossen lief Eliot zur Treppe und sprang gleich drei Stufen auf einmal hinunter, ohne daran zu denken, dass er ja eigentlich nicht rennen durfte. Vermutlich war es das einfachste, wenn er so tat, als hätte er überhaupt nichts mitbekommen. Selbst wenn das zur Folge hatte, dass am Ende Gilbert und Vincent den Ärger kriegen würden, musste doch zumindest er selbst sich mit niemandem auseinandersetzen. Als Eliot die Haustür erreichte wartete bereits eines der Dienstmädchen auf ihn, um ihm einen warmen Mantel überzuziehen. Ungeduldig kniete sie sich auf seine Höhe und schlang einen hässlichen, kratzigen Schal um seinen Hals, während sie sich darüber ausließ, was für ungezogene Adoptivkinder die Familie doch habe. „Das ist frech und undankbar einfach wegzulaufen, obwohl sie genau wissen, dass sie jeden Augenblick abgeholt werden!“, ereiferte sie sich. „Wenn der Herzog das erfährt… Die werden ihr blaues Wunder erleben, wenn wir sie nachher finden!“ „Können wir denn nicht einfach warten, bis sie wieder da sind?“, fragte Eliot hoffnungsvoll, doch die Dienerin strafte ihn mit einem gereizten Blick. „Es sieht nach Schnee aus“, antwortete sie, „und die Abreise ist bereits verzögert.“ Eliot wertete ihre Aussage als „nein“ und schwieg, bis sie ihn fertig angezogen und nach draußen zu den Kutschen gebracht hatte. Dort bugsierte sie ihn zu einem der hinteren Wagen, in dem noch ein Platz frei war und bisher nur Claude und Ernest saßen. Eliot behagte es überhaupt nicht, dass er mit den beiden die ganze lange Fahrt verbringen sollte, denn die Angst, sich vor ihnen auf irgendeine Weise zu verraten, kribbelte ihm unangenehm im Bauch. Trotzdem konnte er nicht heimlich darum bitten, woanders sitzen zu dürfen, und so blieb ihm nichts weiter übrig als einzusteigen und zum ersten Mal in seinem Leben zu hoffen, möglichst bald bei seinen Verwandten anzukommen. Doch wie Eliot bereits geahnt hatte, wurde es eine äußerst langweilige und langwierige Fahrt und er musste sich die meiste Zeit damit vertreiben, durchs Fenster den vorbeiziehenden Bäumen zuzuschauen. Ihre schneebeladenen Äste bogen sich gefährlich nah zum Waldboden hinunter und hin und wieder konnte Eliot zwischen den Stämmen ein paar Rehe entdecken, die aufgeschreckt davon sprangen, wenn sie das Klackern der Pferdehufe und das Rattern der Kutschenräder näher kommen hörten. Die Sonne war längst hinter großen, dicken Wolken verschwunden und hatte am Himmel den Eindruck einer einheitlich grauen Decke hinterlassen, die baldigen Schnee versprach. Claude und Ernest unterhielten sich eine ganze Weile miteinander, doch für Eliot waren es nur belanglose Erwachsenenthemen für die er sich nicht interessierte und von denen er auch noch nicht viel verstand. Immer wieder schweiften seine Gedanken zurück zur Villa und zurück zu der kleinen, stickigen Besenkammer, in der Gilbert und Vincent nun seit bestimmt schon einer Stunde eingesperrt waren und aus der sie sich unmöglich selbst wieder würden befreien können. Eliot fragte sich, ob sie wohl um Hilfe riefen und wie lange es dauern konnte, bis die Angestellten sie hörten? Vielleicht würden sie auch den ganzen Tag an diesem engen und ungemütlichen Ort verbringen müssen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, weil keiner auf sie aufmerksam wurde? Und ganz sicher hatten sie schreckliche Angst, weil es in der Kammer kein Licht gab und stockfinster war. Eliot spürte die Schuldgefühle entsetzlich an seinem Gewissen nagen. Hätten sich Gilbert und Vincent an seiner Stelle genauso feige verhalten wie er? Hätten sie ihn in einer solchen Lage auch allein gelassen, nur um allen Problemen aus dem Weg zu gehen? Reue und Scham loderten in Eliots Brust auf, als er sich bewusst machte, dass bestimmt keiner der beiden eine Sekunde gezögert hätte, um ihrem kleinen Bruder zu helfen. Schließlich waren sie wirklich immer sehr lieb gewesen... Die Kutsche kam abrupt zum Stehen und Eliot sah, wie Claude und Ernest verwirrte Blicke tauschten. Dann nahmen sie von draußen plötzlich die Stimmen einiger Männer wahr und die zwei älteren erhoben sich, um auszusteigen und nach dem Rechten zu sehen. „Du bleibst sitzen!“, forderte Claude Eliot mit einem Fingerzeig auf und noch bevor dieser protestieren konnte, hatten die Brüder die Kutsche bereits verlassen und die Tür hinter sich wieder geschlossen. Leise robbte das Kind näher ans Fenster, legte ein Ohr gegen die Scheibe und versuchte sich aus den Gesprächen, die er so belauschen konnte, einen Reim zu machen. Er verstand, dass die fremden Männer zu Pandora gehörten, wusste aber nicht genau, was das zu bedeuten hatte, außer dass es sich dabei um eine Organisation handelte, in der auch sein Vater mitwirkte. Normalerweise war sie dafür zuständig, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, aber dieses Mal schien es keinen besonderen Grund zu haben, dass sie die Kutschen gestoppt hatte, sondern eine reine Routinemaßnahme zu sein. Eliot sah in dem Zwischenfall eine günstige Gelegenheit, denn er hatte für sich schon längst entschieden, was zu tun war. Langsam und vorsichtig drückte er die Kutschentür auf und sprang mit einem langen Satz hinab auf den matschigen Waldboden. Claude und Ernest standen mit Fred, seinem ältesten Bruder, und den Mitgliedern von Pandora ganz vorne beim ersten Pferdegespann und hatten ihm den Rücken zugekehrt, so dass keiner von ihnen bemerken konnte, wie sich Eliot ganz still und unauffällig davonstahl. Eilig lief er, den Spuren folgend, die die Kutschen auf der dünnen Schneedecke hinterlassen hatten, den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er musste sich beeilen, damit niemand ihn einholen konnte, falls jemand die Verfolgung aufnahm, und er so schnell wie möglich die Nightray-Villa erreichte. Vielleicht war es noch nicht zu spät, Gilbert und Vincent zu befreien! Dicke Schneeflocken tanzten in sanften Wogen vom Himmel herab und Eliot hob fasziniert den Kopf. Er streckte die Zunge aus, um einige von ihnen aufzufangen, vergaß dabei jedoch zu beachten, wohin er trat und kam über einer Baumwurzel ins Stolpern, die seitlich in den Weg hineinragte. Schmerz und Schreck trieben ihm die Tränen in die Augen, als er der Länge nach in den Schlamm fiel. Ungeschickt rappelte er sich wieder auf und sah mit klopfendem Herzen an sich hinunter. Nun waren seine schicken Kleider doch noch schmutzig geworden und sicher würden die Hausmädchen furchtbar wütend auf ihn sein, wenn sie ihn später so zu Gesicht bekämen. Provisorisch klopfte sich Eliot die Hose ab und rannte weiter – diesmal den Blick fest auf den Boden gerichtet. Es gab wichtigere Dinge, als saubere Kleidung… Der frühe Abend kroch unaufhaltsam in die dichten Wälder hinein und legte den Schatten der Nacht über seine alten Bäume. Schon bald konnte Eliot nicht mehr einschätzen, wie lange er bereits unterwegs war, doch er merkte deutlich, wie er müde und immer langsamer wurde, bis aus seinem anfänglichen Lauf nur noch ein klägliches Gehen geworden war. Dass der Weg so weit sein würde, hatte er zu Beginn nicht gedacht. Vom Sturz war seine Hose an den Knien durchnässt und die Kälte zog ihm unangenehm die Beine hinauf. Eliot vergrub das Gesicht tiefer im Schal und stemmte sich gegen den eisigen Wind. Mittlerweile war es so dunkel und schneite so stark, dass er kaum ein paar Meter weit sehen konnte. Wenn er doch nur endlich Zuhause wäre! Sicher brannten in der ganzen Villa schon die Kaminfeuer und in der Küche würden die Dienstboten sich an die Vorbereitung des warmen Abendessens gemacht haben. Eliots Magen knurrte schmerzhaft, als er an das Festmahl dachte, das seine Verwandten immer für die Feiertage auftischten und welches er dieses Jahr nicht würde probieren können. Ob seine Geschwister wohl nach ihm suchten? Und ob seine Eltern sich Sorgen machten, weil die Kutschen noch nicht angekommen waren? Für einen Moment fragte Eliot sich, wie es wohl wäre einfach umzukehren, doch dann schlugen seine Gedanken wieder zu Gilbert und Vincent um und ihm wurde bewusst, dass es für einen Rückzieher nun zu spät war. Schritt für Schritt kämpfte er sich weiter vor, bis sich der Weg plötzlich in zwei Äste aufgabelte und Eliot vor die Wahl stellte, welchem der beiden er folgen sollte. Die Spuren der Kutsche waren vom Neuschnee längst überdeckt und auch sonst gab es keinen Anhaltspunkt auf die richtige Richtung. Eliot spürte die blanke Panik in seine Glieder fahren. Schlotternd vor Kälte und Erschöpfung blieb er vor der Abzweigung stehen und schlang die Arme fest um seinen frierenden Körper. Erst als in der Ferne ein Rudel Wölfe aufheulte, konnte er seine Starre lösen und zu dem großen Baum schleichen, der in der Mitte die Wege teilte. Mit letzter Kraft ließ sich Eliot den Stamm hinuntergleiten und zog die Beine eng an die Brust. Er würde Gilbert und Vincent nicht mehr helfen können, denn er hatte keine Ahnung, wie er zu ihnen gelangen sollte und wieder tat es ihm schrecklich leid, dass er ihnen nicht von vorn herein beigestanden hatte. Bestimmt hassten sie Eliot jetzt genauso, wie seine älteren Brüder sie hassten… Wie aus einem tiefen Tunnel konnte Eliot gedämpfte Rufe hören, doch der Sinn ihrer Worte schien seinen Verstand nicht erreichen zu wollen. Mühsam hob er den Blick und erkannte dunkle Schemen zwischen den wirbelnden Flocken auf sich zukommen. Dann legte sich eine warme Hand auf seine Stirn und tastete unter dem Schal nach seinem Puls. Eliot blinzelte, konnte die Gestalt aber nicht klar erkennen. Zu schwach um zu sprechen oder sich zu rühren, nahm er nur noch wahr, wie sein Körper immer schwerer und schwerer wurde und sein Bewusstsein allmählich hinab fiel, in eine tiefe schwarze Schlucht. Schwere Decken hatten Eliot umwickelt wie eine Zwangsjacke, als er das erste Mal seit der Begegnung im Wald wieder die Augen aufschlug. Für einen Moment fehlte ihm die Orientierung und er konnte nicht ganz unterscheiden, was er gerade eben noch geträumt hatte und was davon der Wirklichkeit entsprach. Das Bett, indem er lag, war behaglich warm und weich und Eliot überlegte, wie er hierhergekommen war, bis die Erinnerung stückchenweise zu ihm zurückkehrte. Hatte er es am Ende doch selbst bis zur Villa geschafft oder hatte ihn jemand draußen im Schnee gefunden? Zumindest war er sicher, in seinem Zimmer zu sein… „Du bist wach?“ Gilbert betrat den Raum, kam mit sorgenvoller Miene auf Eliot zu und setzte sich auf dessen Bettkante. „Geht’s dir gut?“ Eliot versuchte zu antworten, doch der Kloß, der auf einmal in seinem Hals steckte, hinderte ihn daran, auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen. Stattdessen begannen ihm die Tränen unkontrolliert über die Wangen zu laufen, ohne dass er es schaffte, sie irgendwie zurückzuhalten. Gilbert blickte ihn erschrocken an. „Was ist denn jetzt?“, fragte er verunsichert. „Tut dir was weh?“ „Nein“, würgte Eliot zwischen den Schluchzern hervor. „Es ist nur- Bitte verzeih mir, Gilbert! Ich wollte das nicht!“ „Aber worum geht es denn?“ Nun schien Gilbert ernsthaft irritiert. Eliot weinte so bitterlich, wie er es bei ihm noch nie gesehen hatte, und schien nicht in Lage, sich wieder zu beruhigen. „Ich hätte euch helfen müssen, als Claude und Ernest euch eingesperrt haben“, entgegnete er mit bebender Stimme. „Ich habe es gesehen und habe trotzdem nichts gemacht.“ Die großen, blauen Augen starrten Gilbert voller Verzweiflung an. „Hasst du mich jetzt?“ Lächelnd streckte der ältere die Hand aus und wuschelte Eliot durchs hellblonde Haar. „Da kannst du doch gar nichts für“, sagte er sanft. „Du musst dir keine Vorwürfe machen! Außerdem hat einer der Diener uns gefunden, gleich nachdem die Kutschen abgefahren waren. Wir mussten also nicht lange aushalten. Und nun hör auf zu weinen! Wir hassen dich doch nicht, Eliot!“ Gilbert nahm einen Becher mit dampfenden Tee vom Nachtschrank und gab ihn an den Jungen weiter, der sich behutsam aufrichtete und dankend ein paar Schlucke nahm. Die wohltuende Wärme breitete sich bis zu den Fingerspitzen in seinem Inneren aus und Eliot wusste, dass sie nicht allein vom Trinken kam. Glücklich wischte er sich das nasse Gesicht an der Bettdecke trocken und Gilbert nutzte diesen Moment, um noch etwas anderes anzusprechen, was ihm auf der Seele lag. „Weißt du, dass du dich in große Gefahr gebracht hast?“, sagte er ernst. „Du wärst fast erfroren, wenn Pandoras Leute dich nicht rechtzeitig entdeckt und zu uns gebracht hätten. Deine Geschwister haben sich schreckliche Sorgen gemacht. Sie wissen Bescheid, wo du bist, und sind schon auf dem Rückweg. Unsere Eltern hat man auch informiert.“ Eliot nickte stumm und wich Gilberts gold-braunen Augen aus, die ihn vorwurfsvoll taxierten. Er hatte bereits damit gerechnet, sich diese Predigt anhören zu müssen und gab sich gar nicht erst Mühe, die Wahrheit zu leugnen. „Warum hast du nur so etwas Dummes gemacht?“, fragte Gilbert leise und versuchte dabei möglichst einfühlsam zu klingen. „Wenn es nur wegen mir und Vincent war, hättest du das wirklich nicht tun müssen! Ich wäre lieber eine Woche in der Besenkammer gewesen, als dass dir irgendwas passiert!“ Eliot umklammerte den heißen Becher mit klammen Fingern und wog ihn betreten hin und her, so dass der restliche Tee fast über den Rand schwappte. „Aber ihr seid doch auch meine großen Brüder“, gab er ein wenig kleinlaut zurück, „und Weihnachten soll man schließlich mit der ganzen Familie verbringen! Oder?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)