DOLL von Rose ================================================================================ Kapitel 2: Vor und hinter dem Glas ---------------------------------- Als Kaiko die Augen öffnete, neigte sich der Tag schon seinem Ende zu. Die Wohnküche, die ihr Bruder provisorisch zu einem Krankenzimmer umfunktioniert hatte, lag im warmen Licht der untergehenden Sonne. Vorsichtig fuhr sie sich mit der flachen Hand über die Stirn, um ihre Temperatur zu überprüfen. Sie spürte kaum einen Unterschied zu den schweißnassen Fingern, aber das Fieber schien leicht gesunken zu sein. In den letzten Tagen hatte sie sich gewiss schon schlechter gefühlt. „Brüderchen?“ Kaiko richtete sich auf, während sie auf eine Reaktion wartete. Wie angenehm sich die Abendluft auf ihrer Haut anfühlte! Sie wäre zu gerne draußen gewesen, hätte sich ins Gras gelegt und den Grillen gelauscht, wie sie es früher so oft getan hatte. Sie wollte Glühwürmchen jagen und die Füße ins Wasser halten, während die Fische um ihre Beine tanzten. Aber so liefen die Dinge eben nicht, dachte sie. Sich mit ihrem Schicksal abzufinden wurde für sie schnell zur Notwendigkeit, um die Tage hinter dem Fenster zu ertragen, während ihre alten Freundinnen in der Sonne tobten. Immerhin hatte sie ihren Bruder. “Brüderchen, bist du da?“ Aus Kaitos Zimmer drangen leise Geräusche, dann riss jemand plötzlich die Tür auf. Kaiko wusste sofort, dass es nicht ihr Bruder war. „Er ist nebenan“, sagte der junge Mann, der seiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur kräftiger und mit wilderem Haar. Meito zog den Vorhang auf, um die letzten Sonnenstrahlen hereinzubeten. Er wusste, dass Kaiko das Abendrot liebte. “Nicht fair! Er sagte, er würde bei mir sein, wenn ich aufwache!“ “Nun“, meinte Meito und deutete auf den Stuhl, auf dem Kaito seinen Schal abgelegt hatte, „er saß bis vor einer Stunde noch hier und hat darauf gewartet. Aber es wirkte nicht, als würdest du bald aufwachen und aufwecken wollte er dich schon gar nicht. Immerhin scheint der Schlaf dir dieses Mal gut getan zu haben.“ Kaiko verzog den Mund zu einer Grimasse und gluckste. Wenn die Abendsonne ihn anstrahlte, wirkten seine Haare so rot wie der Umhang, den er trug, wenn er auf Beutejagd war. Sie mochte rot. Was machte ihr schon ein tristes Leben hinter Glas? Sie hatte ihren Bruder – und Meito. „Ich verzeihe ihm. Aber nur ausnahmsweise.“ Für einen Augenblick sahen die Beiden einander an. Es war eine ganz besondere Spannung, die zwischen ihnen in der Luft lag. Sie bedurfte nicht vieler Worte. „Ich mach dir Tee. Jasmin?“ Er wartete nicht darauf, dass sie nickte, sondern trabte langsam zur Holztheke, auf der der alte Kupferkessel ruhte und machte sich an die Arbeit. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht und sie folgte den roten Sonnenstrahlen in seinem Haar. Ja, eine ganz besondere Spannung und trotzdem, irgendetwas an Meito schien heute anders. Er ließ es sich nicht anmerken und Kaiko konnte es selbst nicht benennen, aber sie ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war. Wenn sie ihn danach fragte, würde er sie bestimmt mit einer Lüge abspeisen, um sie nicht zu beunruhigen. Dabei war er so ein miserabler Lügner. Vielleicht würde es sich als klug erweisen, den richtigen Moment abzuwarten. „Können wir nach draußen?“, fragte sie vorsichtig. Der angenehme Duft des Tees füllte den Raum aus. Kaito mochte es nicht, wenn seine Schwester dass Bett in ihrem Zustand verließ, schon gar nicht ohne sein Wissen. Er beharrte stur darauf, dass sie sich schonen musste und obwohl er wahrscheinlich recht damit hatte, sehnte Kaiko sich oft danach, wenigstens für einen kurzen Moment die Welt von außerhalb des Fensters zu betrachten. Die frische Brise, die vom Meer in der Ferne herüber getragen wurde, reichte ihr oft schon. In diesem stickigen Zimmer kam ihr der salzige Geruch falsch vor. Für gewöhnlich genügte ihr schon ein kurzer Moment, in dem sie mit Meito zusammen an der Hauswand lehnte um sich ins Bewusstsein zu führen, dass es sinnlos war. Sie würde sterben, ohne noch einmal barfuß über die Wiesen zu laufen oder auf den alten Kirschbaum auf der Rückseite des Hauses zu klettern. Vielleicht wollte ihr Bruder sie einfach vor dieser Erkenntnis schützen. Meito hingegen spürte ihren Drang nach Freiheit und obwohl er zunächst Kaitos Ansichten teilte, merkte er schnell, wie unglücklich er sie damit machte. Es war ihm unmöglich, Kaiko gefangen zu halten. Sie wusste, dass sie sterben würde und hatte sich damit abgefunden. Er nicht. „Ich habe ihm doch gesagt, er muss sich nicht die Mühe machen, diesen schleimigen Typen um Hilfe zu bitten. Seine Medizin ist nicht nur vollkommen überteuert sondern auch noch unwirksam“, beschwerte sie sich, als die Beiden unter dem alten Holzdach Platz genommen hatten, zu dem immer wieder vertrocknete Kirschblütenblätter geweht wurden. Innerhalb weniger Sekunden war eine einzelne Blüte in Kaikos Tasse geflogen. Entnervt fischte sie das schrumpelig-braune Knäuel aus dem noch heißen Tee, an dem sie sich sofort die Fingerspitzen verbrühte. Meito warf ihr einen scheltenden Blick zu. Er bewunderte sie für ihre Unbekümmertheit an Tagen wie diesen, wenn es ihr besser zu gehen schien, doch gleichzeitig machte es ihm Angst. In solchen Momenten glaubte er sie als ein ganz normales, gesundes Mädchen zu wissen - bis ihn die Realität wieder einholte, wenn sie sich in Fieberträumen auf dem Bett wand. „Er hat noch nicht aufgegeben, Kaiko“, sagte er, während er mit seinen Händen Wasser aus dem Teich schöpfte. Er ließ das kühlende Wasser über Kaikos Finger laufen. Sie waren immer noch schweißnass und er glaubte, ein leichtes Zittern zu spüren. „Du weißt, was die Ärzte gesagt haben. Er täte besser daran, es einfach zu akzeptieren.“ Angetrieben vom Abendwind bildeten die Kirschblüten bizarre Muster auf der Wasseroberfläche. Kaiko verfolgte, wie sie sich drehten und umeinander herumtänzelten. „Weder er noch ich werden einfach so hinnehmen, dass du vor unseren Augen stirbst.“ „Irgendwen trifft es immer, Meito. Dieses Mal bin es eben ich.“ „Jetzt hör endlich auf, so stark zu tun!“ Seine Stimme klang gereizt. Er vermied es stets, Kaiko anzuschreien und musste so einen Schluck Tee nehmen, um sich zu beruhigen. Als er weitersprach, tat er dies nur unter Anspannung: „Ich weiß besser als jeder Andere, dass du furchtbare Angst hast, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Wen würde das auch verwundern? Der Tod ist endgültig und ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass man ihm nicht entgehen kann, ist furchtbar! Also bitte spar dir diese Worte, denn sie tun nicht nur mir weh, sondern auch dir!“ Wie Recht er hatte. Mit Tränen in den Augen ließ Kaiko sich einfach in seine Arme fallen. Ihr Schluchzen hallte in Meitos Ohren wider. Ohne schlechtes Gewissen umarmte er sie und drückte ihre Hand an seine Wange. Sie zitterte nun deutlich spürbar. Kaiko hatte furchtbare Angst vor dem Tod, eine solche Angst, dass sie sich selbst Mut machen musste in den Stunden hinter dem Glas, in denen sie die Vögel beobachtete, die in den Hecken ihre Nester pflegten und dann davonflogen, als könnte sie nichts halten. Wie sehr Meito es hasste, sie zum weinen zu bringen, doch er wusste sich oft nicht anders zu helfen. Im Grunde war er genauso hilflos wie Kaito. Nur blieben ihm nicht mehr als stille Gesten, um Kaiko zu helfen, denn er vermied es, allzu direkt über ihre Situation zu reden. Dieses Mal war es anders. „Niemand erwartet von dir, dass du all deine Energien darin investierst, für deine eigene Rettung zu kämpfen. Doch es ist falsch, einen Menschen seinem Schicksal zu überlassen, den man in sein Herz geschlossen hat. Deswegen werden wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen, die dir in irgendeiner Weise Besserung verspricht, ganz gleich, wie unwahrscheinlich ihre Hilfe sein mag. Das solltest du verstehen. Wir können nicht einfach zusehen.“ „Ich weiß…“ „Du solltest mit Kaito sprechen. Ich konnte seiner Geschichte zwar keinen Glauben schenken, aber er scheint der festen Überzeugung zu sein, eine Magie gefunden zu haben, die dich heilen kann.“ Kaiko sah zu ihm auf, als würde sie nicht richtig verstehen. In seinen klaren Augen spiegelte sich ihr bleiches Gesicht mit den geröteten Wangen. Wie ein kleines Kind wirkte sie im Schoße des viel größer geratenen jungen Mannes, der besorgt auf sie herabblickte und ihr die Schulter tätschelte, während er sagte: „Er hat sich bereits entschieden. Morgen wird er seine Reise antreten, um dem Gerücht um diese Magie auf den Grund zu gehen.“ Für einen Moment starrten sie sich wieder stumm an, dann begriff das kleine Mädchen von damals in ihr, das Meer und Himmel und weiche Erde unter den Füßen wusste, was seine Worte bedeuteten. Ihr Bruder würde sie verlassen. Ganz gleich, ob er es als letzte Maßnahme tat, um ihr zu helfen, er würde sie zurücklassen. Ruckartig riss sie sich hoch, stolperte über die Terrasse, lief so schnell ihre starr gewordenen Füße sie trugen durch das Gras und hielt erst wieder vor der alten Holztür von Gegenüber an, gegen die sie nun ungeduldig hämmerte. Meito war so erschrocken, dass er kaum hinterherkam. Er war ihre impulsive Art und ihre vorschnellen Reaktionen zwar gewohnt, hatte jedoch nicht die Kraft erwartet, die ihre schwachen Beine noch hervorbringen konnten, wenn sie es darauf anlegte. Als er sie einholte, hatte Meiko bereits die Tür geöffnet. Kaiko lief schnurstracks an ihr vorbei in den großen Wohnraum, in dem sie manchmal alle zusammen saßen, wenn ihr Zustand es zuließ und Meiko Kaito ausreichend beschwatzen konnte. Ihr Bruder saß an der gleichen Stelle wie immer und ordnete seine Utensilien für die bevorstehende Reise. Als sie hereingestürmt kam, hielt er inne. Er wirkte sichtlich erschrocken. „Kaiko…“ „Du bist gemein, Brüderchen! Du darfst nicht einfach so gehen!“, fuhr sie ihn an. Die anderen Geschwister waren hinterhergekommen und beäugten Kaito, der erst wild mit den Armen wedelte, in der Absicht, sich zu verteidigen, dann inne hielt und in sich hinein seufzend aufstand. Meiko überlegte, dazwischen zu gehen, doch ihr Bruder hielt sie zurück. Kaito hingegen suchte sichtlich nach den richtigen Worten; sie kamen einfach nicht. Doch das kleine Mädchen von damals schien überhaupt nicht gekommen zu sein, um ihm die Vorwürfe zu machen, die er erwartet hatte. Ein heimliches Lächeln huschte über Meitos Lippen. Sie hatte es begriffen. „Versprich mir, dass du rechtzeitig zurückkehrst“, sagte die Kaiko hinter dem Glas, die in seinen Armen einen Hauch Hoffnung eingeatmet hatte, und umarmte ihren Bruder. „Und dieses Mal brich es nicht.“ --- Danke für's lesen. Beim nächsten Mal geht die Reise dann los. Bis dahin. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)